Es war schon dunkel, als eine Frauengestalt das hell erleuchtete Krankenhaus am Ende der Straße verließ. Mit festen Schritten betrat sie den Parkplatz vor dem Gebäude. Einige Laternen beleuchteten den Platz, der von Büschen und Bäumen umsäumt war. Sie war müde von ihrem Arbeitstag. Ihre Lieben warteten schon zu Hause auf sie.
»Bestimmt haben sie schon etwas gekocht«, dachte sie mit freudiger Erwartung und einem leeren Magen.
Eilig lief sie auf den Parkplatz zu. Ruckartig blieb sie stehen und durchsuchte ihre Handtasche nach dem Autoschlüssel. Ihre Finger durchforsteten den Inhalt, bis sie schließlich das Klimpern ihres Schlüssels hörte.
Für einen Moment wurde sie durch ein Geräusch abgelenkt und hielt inne. Ihr Auto stand circa 30 Meter entfernt. War da etwas?
Sie sah in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. Eilig ging sie weiter, bis sie endlich vor ihrem Auto stand. Froh, nach diesem langen Tag Feierabend zu haben, schloss sie die Fahrertür auf, als sie ein zweites Mal innehielt. Diesmal hatte sie es ganz deutlich gehört. Das Rascheln kam aus den Büschen.
Nervosität machte sich in ihrer Brust breit. Das Geräusch war ihr vertraut. Sie kannte es. Sie hörte es beinahe täglich. Neugierig, aber auch vorsichtig trat sie langsam näher. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Angestrengt konnte sie tatsächlich einen schwarzen Schatten erkennen. Und dann wiederholte sich das Geräusch wieder, das von einem Säugling kommen musste. Sie war sich fast sicher.
Hatte vielleicht jemand ein Kind ausgesetzt? Es wäre nicht das erste Mal gewesen. So ging sie an ihrer Autotür vorbei und versuchte, in dem Gebüsch etwas sehen zu können. Für einen Säugling war der Schatten allerdings zu groß. Viel zu groß.
Mutig fragte sie: »Hallo? ... Kann ich Ihnen helfen?«
Jetzt bewegte sich eine schwarze Gestalt und stand langsam auf. Es war eine junge Frau, die sich zwischen dem Auto und dem Gebüsch versteckt hatte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und trug in ihren Armen ein Bündel. Ihre Jacke und Hose waren verschmutzt und auch ihr Gesicht wies Spuren von Matsch und Dreck auf. Die Augen waren gerötet und unter ihnen lagen dunkle Schatten. Sie musste geweint haben. Die Frau wirkte verängstigt und stand offenbar unter großem Stress. Immer wieder sah sie sich um. Versteckte sie sich vor jemandem?
»Sind Sie Schwester Mary?«, fragte sie unsicher und bedeckte schützend ihr Bündel in ihren Armen.
Schwester Mary steckte die Autoschlüssel wieder in ihre Handtasche zurück. Sie wusste instinktiv, dass sie einen Säugling unter ihrem Mantel versteckte. In ihrem Kopf ging sie die Gesichter der Frauen durch, die in den letzten Tagen auf der Station entbunden hatten.
Sie versuchte sich zu erinnern. Aber dieses Gesicht hatte sie noch nie gesehen. Nein, an diese klaren und strahlenden Augen konnte sie sich wirklich nicht erinnern.
»Ja, … ich bin Schwester Mary«, sagte sie vorsichtig. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
Die junge Frau sah Schwester Mary eine Weile schweigend an. Es schien, als würde sie sich kurz entspannen, aber es war mehr ihre Art von Erleichterung, als sie wusste, dass sie vor der Frau stand, die sie gesucht hatte.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie ärztliche Hilfe? Soll ich einen Arzt rufen?«
Sie erschrak und wich sofort einen Schritt zurück, als sie den Vorschlag der Schwester hörte.
»Nein«, meinte sie bestürzt, »bitte …! Niemand darf wissen, dass ich hier bin. Ich brauche wirklich nur Ihre Hilfe.« In ihrer Stimme schwangen Angst und Traurigkeit mit, was Schwester Mary innehalten ließ. Die Fremde sah sich vorsichtig um. Sie musste sich bedroht fühlen und Schwester Mary hatte den Eindruck, dass die Frau in ernsten Schwierigkeiten steckte. Wäre es nicht doch besser, sie würde die junge Frau überreden, mit ins Krankenhaus zu gehen? Dort könnte sie ihr viel besser helfen. Vielleicht könnte sie auch ein Arzt untersuchen und nach dem Baby sehen.
»Mir bleibt nicht viel Zeit. Sie sind seine einzige Chance. Er ist in großer Gefahr. Bitte! … Sie müssen mir helfen. … Man sagte mir, dass er bei Ihnen sicher sein würde«, jammerte sie.
Welche Gefahr?
Die Frau machte den Eindruck, völlig verwirrt zu sein.
»Beruhigen Sie sich! Lassen Sie uns ins Krankenhaus gehen. Dort können Sie mir alles erzählen. Ich kann Ihnen dort besser helfen, glauben Sie mir.«
»Nein«, schrie sie fast, »sie werden mich bald gefunden haben. Ich bin hier nicht sicher. Er ist nicht sicher! Bitte nehmen Sie ihn.« Die Fremde übergab Schwester Mary das Bündel, welches sie die ganze Zeit über fest an ihren Körper gepresst hatte. Mary hatte keine andere Wahl, als es an sich zu nehmen. Die Frau wirkte jetzt noch aufgeregter als vorher. Ihr Atem ging schneller.
»Versprechen Sie mir, dass Sie ihn beschützen werden, egal was auch passieren wird.«
Ein leiser Donnerschlag war plötzlich in der Ferne zu hören, worauf sie panisch wurde. Ihre Stimme begann zu zittern und sie entfernte sich von Mary ein paar Schritte.
»Bitte geben Sie ihn niemals her«, weinte sie. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, die ihr über die Wangen liefen.
»Aber …«, erwiderte Mary. Viel weiter kam sie nicht.
»Ich muss fort, gleich werden sie mich entdecken und ...!«
Ein weiterer Donnerschlag war nun zu hören, doch dieses Mal lauter. Das erschreckte sie so sehr, dass, bevor Mary nochmals versuchen konnte, auf sie einzureden, sie schon quer über den Parkplatz rannte und schließlich in der Dunkelheit verschwand. Sie lief ihr ein paar Schritte hinterher und rief nach ihr. Vergebens.
Das Gewitter, welches sich angekündigt hatte, war nun fast da, als das Kind in ihren Armen zu wimmern begann. Es bewegte die Ärmchen unter dem dunkelblauen Tuch, in dem es eingewickelt war. Mary befreite es, so dass sie sein Gesicht sehen konnte und augenblicklich hörte das Kind auf zu weinen.
Das Baby war höchstens ein paar Wochen alt. Es besaß die gleichen strahlenden und klaren Augen wie die junge Mutter. Seine Haare waren blond, fast golden und er sah Mary ruhig und gelassen an.
Der Wind frischte weiter auf und das Gewitter, das sich schon angekündigt hatte, brach nun schnell und tosend über sie herein.
Etwas zu verlieren, das man liebt, ist schwer. Sehr schwer. Man muss für immer darauf verzichten und der Schmerz bleibt. Einige Leute sagen, die Zeit heilt alle Wunden. Was wissen die schon? Ich empfinde das leere, dumpfe Gefühl noch genauso wie vor ein paar Monaten. Es fühlt sich an, als ob es erst gestern passiert wäre. Es gibt immer noch Tage, da wünsche ich mir, endlich aus dem Albtraum aufzuwachen. Doch leider holt mich die Realität jedes mal aufs Neue ein und hinterlässt dieses machtlose Gefühl in mir, das mich zwingt, ein Schluchzen zu unterdrücken. Ich muss stark sein – für Ethan und Michael.
Meine Brüder sind jünger als ich und haben den Verlust unserer Eltern genauso wenig verkraftet wie ich. Aber ich muss es aushalten. Sie brauchen mich.
Ich bin ihre große Schwester, die jetzt für sie da sein muss. Irgendwie werden wir es schaffen. Tante Edna hat versprochen, uns zu helfen. Und ich weiß, dass wir alle eines Tages wieder glücklich sein können. Wenn ich an die Beerdigung denke, sind meine ganzen Erinnerungen wie in Zeitlupe. All die vielen Gesichter, die ich kannte und auch die vielen Gesichter, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Völlig fremde Menschen, die versuchten uns etwas Tröstendes zu sagen, die nach hoffnungsvollen Worten suchten. Die unzähligen Blumen und Gestecke, die vielen Blicke, die mitleidig auf uns herabsahen. Die vielen Hände, die wir geschüttelt hatten und die Hände, die uns berührten oder über unsere Köpfe strichen. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich war so froh, als alles vorbei war. Unser ganzer Schmerz wurde wie ein Kaugummi in die Länge gezogen. Dadurch spürten wir den Verlust noch genauso intensiv wie zu Beginn des schrecklichen Unfalls.
Fürs Erste brauchten wir einen Tapetenwechsel und vor allem Zeit. Wir würden mit Tante Edna und Onkel Martin neu starten. Zumindest hatten wir eine Chance.
Nach endloser Wartezeit erhielten wir unsere Zollpapiere für unseren Pick-up. Endlich konnten wir ihn in Empfang nehmen und unsere mehrstündige Fahrt nach Cavalano fortsetzen. Ethan hatte, wie immer, seine Stöpsel mit Musik in den Ohren und ignorierte mich. Das tat er öfter, wenn er sauer auf mich war. Und diesmal konnte ich ihn sogar verstehen. Er war ganz und gar nicht damit einverstanden, nach Cavalano zu ziehen und schon gar nicht in die Kleinstadt, die schöne Erinnerungen mit unseren Eltern in ihm wach riefen.
Ich hatte seine Vorwürfe immer noch im Kopf. Er sei schließlich schon siebzehn und könnte selbst über sich entscheiden. Er hatte ja recht. Ich wusste, dass es nicht leicht für ihn war. Ich riss ihn aus seiner gewohnten Umgebung, fort von seinen Freunden und der Schule. Noch dazu war es schwierig für ihn zu akzeptieren, dass er auf mich hören sollte. Aber ich war nun einmal die Älteste von uns Dreien.
Seit dem Tod unserer Eltern hatte er sich sehr verändert. Er tat einiges, um mir das Leben noch schwerer zu machen und unterstützte mich überhaupt nicht. Ethan ignorierte mich, wo er nur konnte und ließ keine geschwisterliche Nähe zwischen uns mehr zu.
Seit Mum und Dad tot waren, hatte ich es mir, mit Hilfe des Jugendamts, zur Aufgabe gemacht, mich um meine Brüder zu kümmern. Es war leichter gesagt, als getan. Ich schaffte das einfach nicht mehr allein, zu groß war die Belastung. Ich konnte von Glück sagen, dass die Fürsorge mir meine Geschwister nicht weggenommen hatte.
Es hatte einen großen Krach gegeben, der beinahe schlecht für uns ausgegangen wäre, wenn uns Tante Edna nicht gerettet hätte. Deshalb wurde beschlossen, dass es wohl das Beste wäre, wenn Michael und Ethan zu ihr in Obhut kämen. Damit war sichergestellt, dass sie zumindest nicht getrennt wurden. Ich zog auf besonderen Wunsch meiner Tante und meinem Onkel ebenfalls mit um, damit hatten wir die Chance, als Familie zusammenzubleiben, und wir hatten keine andere Wahl. Ich allein hätte diese Aufgabe niemals bewältigen können. Ich war selbst noch nicht über den Tod von Mum und Dad hinweg.
Wir fuhren mit unserem alten Pick-up durch die hügelige Landschaft Italiens. Die Sonne schien warm und freundlich. Vorbei an den Alpen, die sich gewaltig neben uns empor streckten. Wir folgten schon seit Stunden dem schlangenartigen Straßenverlauf. Ich hatte Spaß daran, unser Auto durch die bildschöne Gegend zu lenken. Ich konnte Michael durch meinen Rückspiegel beobachten, wie er sich gelangweilt die Gegend ansah. Er saß hinter Ethan und schon seit Stunden sah er aus dem Fenster und ließ sich den Fahrtwind ins Gesicht blasen.
Michael war sieben Jahre alt und hatte seit dem Tod meiner Eltern kein einziges Wort mehr gesprochen. Die Ärzte sagten, er sei schwer traumatisiert durch den Verlust. Dass Michael nicht mehr sprach, war nicht das einzige Problem, seine Gefühlsregungen schienen eingefroren zu sein. Er besaß so gut wie keine Mimik mehr in seinem Gesicht. Fast wirkte er wie erstarrt. Dr. Bennett sprach von einer tiefen Verlust-Depression, die er vielleicht durch einen Neuanfang überwinden könne. Für mich stand Michael immer noch unter Schock. Seine kleine Seele war gefangen. Seine körperliche Hülle funktionierte motorisch, aber wie es in ihm aussah, das wusste niemand.
Er war sehr scheu geworden, vertraute niemandem und ließ sich auch niemals von Fremden berühren. Außer von uns. So war es schwierig geworden, ihn nach einer gewissen Zeit wieder in die Schule zu bringen. Die Ärzteschaft, die sich um ihn gekümmert hatte, befürwortete es, ihn in ein Heim zu geben, um ihm durch Medikamente und Therapie besser helfen zu können. Aber das ließ ich nicht zu.
»Nur über meine Leiche«, hatte ich damals Chefarzt Dr. Bennett angeschrien. Tante Edna und Onkel Martin hatten nach vielen geduldigen Gesprächen erreicht, dass Michael bei uns bleiben konnte. Unsere einzigen Verwandten hatten um uns gekämpft, bis man ihnen schließlich den Vorschlag machte, dass Ethan und Michael, da sie noch minderjährig waren, zu ihnen ziehen sollten. Sie sahen es für Michael als Chance. Denn durch eine neue Umgebung und ein liebevolles Zuhause hofften sie, dass er irgendwann alles verarbeiten würde. Ich wünschte es mir so sehr für ihn.
Ethan hatte ganz andere Probleme. Er beschäftige sich ausschließlich mit sich selbst. Sein Egoismus kotzte mich an. Unser Verhältnis hatte sich sehr verschlechtert. Seine Noten in der Schule waren miserabel, er hatte seltsame Freunde, rauchte und seit Neustem schwänzte er schon mal den Unterricht. Alles in allem war es für mich sehr schwierig, mit ihm auszukommen. Nichts konnte ich ihm recht machen. Ethan schloss mich aus seinem Leben fast komplett aus. Ich wusste einfach nicht mehr weiter. Auch für ihn hoffte ich, dass dieser Neuanfang der Beginn einer besseren Zeit sein würde.
Das Haus meiner Tante war groß und bot genügend Platz für uns. Ethan könnte in Cavalano weiter zur Schule gehen, Michael würde eine besondere Therapie machen und ich hatte vor, mir einen Job zu suchen.
Noch drei Kilometer bis nach Cavalano. Das letzte Hinweisschild zog an uns vorbei und ich gab noch ein letztes Mal mehr Gas. Ich wollte endlich ankommen. Die vielen Stunden im Auto waren auch an mir nicht spurlos vorübergezogen. Dann endlich! Nichts hatte sich verändert, als wir in der kleinen Stadt ankamen. Wie damals standen die weißen Häuser verträumt rechts und links entlang der Hauptstraße. Die kleinen Vorgärtchen waren alle gut gepflegt und an den Fenstern waren weiße und rote Blumen in Kästen, die schwer und ausladend herunterhingen. Hier und da mähte jemand seinen Rasen und die Sonne schien warm unter dem azurblauen Himmel Italiens. Cavalano glich einer Bilderbuch-Kleinstadt.
Ich nahm meinen Fuß vom Gas herunter, um mir das kleine Städtchen in Erinnerung zu rufen. Das Einzige, was sich wirklich verändert hatte, waren die vielen Boutiquen und kleinen Souvenirgeschäfte, die sich auf beiden Seiten der Zufahrtsstraße erstreckten. Auch das Straßencafé hatte ich hier noch nicht gesehen. Das kleine Städtchen war zu einem Touristenmagnet herangewachsen. Es war lange nicht mehr das verschlafene kleine Nest, das ich als Vierzehnjährige kannte. Zumindest die Innenstadt nicht.
»Kannst du etwas schneller fahren? Ich muss mal«, sagte Ethan brummig, ohne mich dabei anzusehen.
Den Weg zu Tante Ednas Haus kannte ich noch genau, und ich ließ mich von ihm jetzt nicht mehr aus der Ruhe bringen. Den ganzen Weg musste ich meistens wegen Ethan anhalten und unsere letzte Pause war vor fünfundvierzig Minuten gewesen, so lange konnte er es wohl noch aushalten.
Ich lenkte das Auto von der Hauptstraße rechts in die Seitenstraße, hier wurde das Leben wieder ruhiger. Still standen die Häuser in der Mittagssonne und das geputzte Fensterglas glitzerte. Es waren kaum Leute auf der Straße.
Uns trennten nur noch ein paar Minuten von unserem
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Texte: © 2013 Any Cherubim Alle Rechte liegen bei der Autorin. Kopie und Weitergabe sind ausdrücklich untersagt. Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Anja Horn/ Katrin Hirsch
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2010
ISBN: 978-3-7309-3718-1
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Für Harald