Cover

Prolog

 Ich hasse mich, ich verabscheue mich, mein Körper ist

abartig!

Ich liebe mich, ich achte mich, ich liebe meinen Körper!

 

Ich bin zu dick, ich MUSS abnehmen! Mich kann man ja

gar nicht erst ansehen!

Ich bin viel zu dünn, ich muss zunehmen! Schaut mich nur

an!

 

Ich bin widerwertig!

Ich bin einzigartig und gut so wie ich bin!

 

Hallo, erst einmal. Hier sehr ihr zunächst einige

Einblicke in meine Gedankenwelt. Oder sollte ich eher

sagen,

in meine „schizophrenen“ Gedanken, wie ich sie gerne

beschreibe?

Die zwei Seiten in mir. Aber bevor ich euch

das schildere, sollte ich mich vielleicht erst

einmal vorstellen.

Fangen wir lieber einmal so an:

 

Mein Name ist Kristine ich bin 17 Jahre alt, Tochter,

Geschwisterkind- und ach ja, da war ja noch etwas.

Ich bin seit 2 Jahren essgestört. Anorexia Nevosa mit

einer Tendenz zu Anorexia Atletika.

Ich erspare euch lieber diese elendige Geschichte, wie

ich in diesen Teufelskreis geraten bin und fange da an,

wo ich jetzt stehe.

Mit meinem Kampf.

Damit klar zu kommen. Mit dem Gewicht klar zu

kommen. Aber genau das tue ich nicht. Ich verabscheue

meinen Körper. Fett. Ich bin fett! Wie oft höre ich diesen

Satz jetzt schon in meinem Kopf? Es kommt mir vor, als

würde ich sie schon immer hören.

Manchmal quält es mich. Doch den Großteil der Zeit

liebe ich diese Seite in mir. Ich liebe meine Krankheit.

Mit ihr kann ich eine Sache kontrollieren! MICH!

Ich erlangte so die Kontrolle über mich und ich will sie

behalten! Sie bleibt ein Teil von mir!

FÜR IMMER!

1.

Es war 5:37 Uhr, als ich wach wurde. Ich weiß kaum

noch, wie ich mich gefühlt habe, als ich diese

Uhrzeit auf dem

Display meines Handys erblickte. Ich stand fast

schon unter Schock. Es war viel zu spät! Zu spät

für mich!

Fast alle da draußen, die um diese Zeit an einem

Samstag aufwachten, würden sich wieder umdrehen

und weiteerschlafen.

Aber nicht ich! Ich konnte nicht! Früher war ich ein

richtiger Langschläfer gewesen, doch diese Zeit war für

mich vorbei. Meine Beine konnten schon nicht mehr still

liegen.

Ohne es hinauszuzögern, gab ich dem Impuls, den mir

mein verhasster/geliebter Körper gab, schwang ich die

Beine aus dem Bett und erhob mich. Mein erster

Weg führte mich zu allererst ins Badezimmer, welches gleich

neben meinem Zimmer lag. Dort angekommen ging ich

auf die Toilette, so lange bis ich mir wirklich sicher war,

dass meine Blase entgültigt entleert war, legte

meine Schlafkleidung ab und stieg auf die Waage.

Mein bester Freund und größter Feind zugleich.

Ich befeuchtete meine Füße. Es hieß, dadurch würde

die Waage ein noch genaueres Gewicht anzeigen.

Jedenfalls verlangte das meine Mutter jedesmal

von mir, wenn sie mich wiegen wollte, seitdem ich

nicht mehr zu der ambulanten Gruppensitzung für Mädchen

mit Essstörungen ging.

Mein Blick war wie fixiert auf die Ziffer der

Waage, welche sich Ziffer für Ziffer veränderte.

Für ein paar Sekunden schwankte sie zwischen der vier und der

fünf, bis sie schließendlich genau 48,4 kg anzeigte. Mein

Magen krampfte sich zusammen.

300 Gramm hatte ich verloren. Den Tag zuvor waren

es 500 gewesen! Entschlossen beugte ich mich über das

Waschbecken und spuckte mehreres an Speichel in

das Becken. Solange bis sich meine Kehle ganz trocken

anfühlte. Noch einmal schaltete ich die Waage ein

und wiederholte den Vorgang.

48,4 kg. Es blieb dabei. Ein ungutes Gefühl breitete

sich in meiner Magengegend aus.

Du fette Kuh!, schrie eine Stimme in mir.

Ich schluckte, stieg von der Waage und zog meine Kleidung wieder an, noch bevor ich mich unbekleidet im

Spiegel hätte sehen können. Ich hasste diesen Anblick von meinem Körper im Spiegel! Es widerte mich so an!

Schon immer war ich, wenn ich aus der Dusche gekommen war, gebückt am Spiegel vorbeigelaufen, weil ich

es nicht hatte sehen wollen. Weil ich meinen Körper nicht hatte ansehen wollen!

Nachdem ich meine Schlafsachen wieder angezogen hatte, schlich ich barfuß die Treppen zum Wohnzimmer

hinunter, wo der Crosstrainer meiner Mutter stand. Sie wusste noch immer nicht, dass ich hier heimlich

trainierte. Meine Finger waren schon ganz unruhig, als ich ihn anschaltete und mich daraufsetzte.

100 Watt. 30 Minuten. Dabei verbrannte ich genau 154 Kalorien. Jackpot! Das entsprach genauso viel wie 40

Gramm Müsli mit 60 ml Soya Milch light. Also verbrannte ich in einer halben Stunde schon fast das halbe

Früühstück, dass ich später zu mir nehmen musste. Allein bei dem Gedanken daran krampfte sich alles in mir

zusammen. Ich schüttelte den Kopf, konzentrierte mich und fuhr los.

 

Es war anstrengend. Furchtbar anstrengend. Nach wenigen Minuten schon ging mir die Puste aus, doch ich

fuhr weiter. Immer weiter. Ich konnte nicht aufhören.

48,4 kg, rief ich mir immer wieder ins Gedächtnis, was mich schließlich dazu brachte trozu Atemnot und

Seitenstechen weiterzufahren. Mein Magen begann zu rumoren, doch ich ignorierte es nur.

Nein!, rief ich mir in Gedanken immer wieder zu. Ich werde jetzt sicher nichts essen! Du bekommst jetzt nichts,

zu drecks Magen!

Mir lief der Schweiß die Stirn hinunter, doch es war mir egal. Ich würde fahren! Mein Blick glitt zum Display.

Zehn Minuten. Ich hatte es gleich geschafft. Fürs Erste.

Weiterfahren!, rief ich mir ein. Es war als stünde eine zweite Katie da, genau neben mir und dem Crosstrainer,

wie eine Trainerin, die mir immer wieder entgegenschrie ich sollte schneller machen, ja nicht aufhören!

Manchmal hasste ich meine „Trainerin“. Doch sagt das nicht jeder Profisportler? Am Ende sind sie ihren

Trainern doch auch nur dankbar, dass sie ihnen immer in den Arsch getreten haben- oder etwa nicht? Genau

deshalb verfluche ich meine „Trainerin“ nicht. Nein, ich bin glücklich, dass es sie gibt. Denn sie zeigt mir

schließlich welchen Weg ich gehen muss, was ich tun muss, um das zu erreichen was ich will!

Mit ihr habe ich gelernt, mich der alten Katie zu widersetzen. Der faulen Katie, die immer nur am zeichnen,

lesen, Serien schauen oder schreiben war.

Das war die alte Katie. Die Katie, die es noch vor 2 bis 2 ½ Jahren gegeben hat. Aber diese habe ich

erfolgreich zum Schweigen gebracht. Manchmal kommt sie noch hoch, denkt sie müsse ihre Meinung äußern.

Mir einreden, ich wäre zu dünn und müsse zunehmen!

Soll sie doch sehen, wie ich aussehe! Ich bin fett! Viel zu fett! Kein Wunder, dass ich noch nie eine Beziehung

hatte und sich auch nie jemand für mich interessiert hat. Wer möchte schon eine fette Kuh als Freundin

haben?

 

---

 

Der Trainer piepste laut. Die 30 Minuten waren um. Schnell drückte ich auf STOP, bevor meine Eltern davon

noch wach werden würden. Mir war bewusst, dass sie zwar nicht so schnell aufwachten, doch meine Mutter

hatte extrem gute Ohren entwickelt, wenn es um das Sport treiben ging. Ich stieg vom Trainer und schaltete ihn

aus Meine Beine waren ganz zittrig, als ich wieder auf dem Boden stand, so dass ich mich erst einmal

festhalten musste.

„Wasser.“, dachte ich mir. „Ich brauch etwas zum Trinken.“

Langsam ging ich in die Küche und trank etwas aus der Wasserflasche, die dort stand. Ich blickte zur Uhr, die

neben dem Fenster hing.

6:20 Uhr. Ein leichtes Grinsen überkam mich. Ich hatte noch genügend Zeit. Sofort ging ich im Kopf durch, was

ich als nächstes tun könnte. Entschied mich schließlich für das Joggen auf der Stelle.

Leise schaltete ich mein Handy an und hörte nebenbei Musik. Sonst würde es mir zu langweilig werden. Ab

und an lief ich durch das Wohnzimmer, in die Küche, hinaus in den Flur und wieder zurück.

Ich lief genau 43 Minuten und 10 Sekunden. 269 Kalorien verbrannt. Also waren es zusammen 423 Kalorien.

Und das in Einer Stunde und 13 Minuten. Langsam fing ich an mich besser zu fühlem,wie ich so diese Anzahl

der Kalorien vor mir hatte. Es war jedesmal so. Ich fühlte mich besser, wenn ich mich bewegte. Sitzen war

etwas Unproduktives! Ich musste mich bewegen, sagte ich mir immer wieder!

7:03 Uhr. Für einen Moment blieb ich stehen und spannte jeden einzelnen Muskel in meinem Körper an.

Langsam ging ich in Richtung Küche und öffnete den Kühlschrank. Nein, ich hatte nicht vor etwas zu essen.

Ich studierte nur die Lebensmittel, welche ich heute Morgen vermutlich zu mir nehmen müsste.

Soja Milch light. Normale fettarme Milch mit 3,5 prozent Fett. 64 Kalorien bei 100 ml.

Käse, Schinken, vegetarischer Schinken, verschiedene Aufstriche, Marmelade (nur über meine Leiche würde

ich so etwas essen!), Gemüse, wie Gurken, Tomaten, Paprika, dann noch Butter, mein wohl größter Feind und

noch fertige Salate. Meine Augen zogen sich zusammen, ehe ich den Kühlschrank wieder schloss. Ich öffnete

den Geschirrspüler. Ein wenig an Geschirr stand noch vomVortag herum. Eine weitere Möglichkeit in

Bewegung zu bleiben.

7:30 Uhr.

Ich hatte noch in etwa 2 ½ Stunden bis meine Eltern aufstehen würden und ich etwas essen müsste. Ich

genoss diese Zeit am Morgen. Die Zeit wo ich ungestört meine Übungen machen konnte. Die Zeit wo ich das

tun konnte, was ich am besten konnte.

Nicht essen!

Essen würde mich nur fett und hässlich machen! Man brauchte mich nur anzusehen, um darin bestätigt zu

werden! Mein Herz begann schneller zu schlagen, als ich daran dachte.

Ich kannte meine Stimmungsschwankungen. Im einen Moment ging es mir gut und im nächsten hatte ich das

Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Das ging schon seit Jahren so. Seitdem sich meine Depressionen zum

ersten Mal gezeigt hatte. Also seit mindestens fünf Jahren. Als ich in die 5. Klasse gekommen war.

Na ja, so war es eben. Es war ein Teil von mir- und ändern konnte ich es auch nicht mehr. Meine Kontrolle

hatte ich bekommen- und es fühlte sich verdammt gut an! Mir war bewusst, dass ich noch lange nicht am Ziel

war, doch ich war bereit diesen Weg zu gehen.

An einem gewissen Tag, ich kann nicht mehr sagen welcher es war, so lang kommt es mir schon vor, trat

jemand in mein Leben.

Meine Trainerin. Diejenige, die mir zeigte, welchen weg ich gehen würde.Sie trat neben mich, reichte mir ihre

Hand und flüsterte mir leise zu:

Komm mit mir. Ich kann dir helfen, das alles weiter zu ertragen. Du musst nicht diesen Weg gehen. Komm

einfach mit mir- und ich zeige dir wolang du gehen musst.“

Und ich nahm ihre Hand. Sie zeigte mir den Weg, offenbarte mir Wege, die ich nie so gesehen hatte.

Seitdem ging ich diesen Weg mit ihr.

Seit gut zwei Jahren ist das jetzt so. Kurz nach meinem 16 Geburtstag ging es los, so viel weiß ich. Jedenfalls

aktiv. Meine Trainerin war schon längere Zeit an meiner Seite, nur habe ich sie nicht gesehen. Die war hinter

einem Schleier aus Nebel versteckt. Doch in meiner schlimmsten Lebenssituation trat sie hinter dem Schleier

hervor, so dass ich sie klar und deutlich sehen konnte.

 

Genau um 9:55 Uhr schlich ich zurück in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und schlüpfte zurück in mein

Bett. Auch wenn ich lieber noch mehrere Übungen gemacht hätte, doch ich sollte lieber nichts riskieren. Nicht,

dass meine Mutter dahinterkam. Ich drehte mich auf die andere Seite und sah an die Wand. Während ich in

meinem Bett lag, konnte ich nicht einen Muskel still halten. Wie fremdgesteuert wippte ich mit den Füßen und

Händen.

„Ich muss aufstehen!“, dachte ich die ganze Zeit über.

Mein Blick huschte auf das Display meines Handys. 10: 05 Uhr! Ich begann zu zittern. Ich hätte noch Zeit

gehabt! Stattdessen lag ich jetzt 15 Minuten hier rum und tat nichts!Wie wütend mich das doch machte!

Wenn ich in absehbarer Zeit schon etwas essen musste, weil meine Eltern darauf bestanden, dann könnten

sie sich wenigstens beeilen mit dem Aufstehen! Ich hätte ausrasten können!

10: 08 Uhr!

Mein Blick war starr auf die Uhrzeit gerichtet. Warum brauchten sie so lange?! Es zeigte 10:20 Uhr an, als sich

meine Tür langsam öffnete.

„Kristine?“, hörte ich die verschlafene Stimme meiner Mutter. „Bist du wach?“

Gespielt verschlafen drehte ich mich und streckte die Arme etwas.

„Ja...“, gab ich geübt verschlafen klingend von mir. „Wie...spät haben wir es?“

„Gleich halb elf.“,sagte sie, kam in mein Zimmer und zog die Rolläden hinauf. „Hast du gut geschlafen?“

Ich nickte und rieb mir die Augen. Sie gab mir einen Kuss auf die Wange.

„Stehst du dann auf? Es gibt gleich Frühstück.“

Mein Herzschlag erhöhte sich. Schmerzhaft hämmerte mein Herz gegen meine Brust. Langsam nickte ich.

Meine Mutter verließ mein Zimmer und ging ins Badezimmer.

Heftig musste ich schlucken. Mein Atem wurde immer schneller, mein Körper begann zu zittern, das Herz

hämmerte mir wie verrückt gegen die Brust.

Angst. Angst staute sich in mir auf. Nein, keine Angst. Es war Panik. Blanke Panik, die hier in mir aufstaute.

Essen. Das Essen würde mich fett machen! Warum wollten sie mir das antun? Sie wollten also, dass ihr Kind

fett und hässlich wurde? Das war ich doch schon und trotzdem unterstützten sie es weiterhin, dass ich so

blieb?! Was für Eltern waren das nur!? Heftig biss ich mir auf die Lippen!

Sie hatten gewollt, dass ich mich in einer Klinik für Essstörungen anmeldete. Eine Klinik die auf dieses Gebiet

spezialisiert war.

Die London Clinic For Eating Disorder's.

Allein wenn ich daran dachte krampfte sich alles in mir zusammen. Eine psychosomatische Klinik. Ich war seit

Anfang Februar dort angemeldet. Jetzt war es Mai. Wenn ich dort hingehen würde, musste ich meine

Ausbildung unterbrechen!Es versetzte mich sogleich unter Panik als auch unter Wut.

Völlig unter Strom setzte ich mich auf und atmete mehrere Male tief ein und wieder aus.

„Willkommen in der Hölle, Kristine Wood...“, murmelte ich leise und stand auf...

 

2.

Es war ein völlig normaler Tag. Ein Tag, wie jeder andere auch. Es war fünf Uhr morgens, als ich aus dem Bett kletterte. Ich hatte heute nur eine halbe Stunde! Eine verdammte halbe Stunde! 30 Minuten!

Das alles nur wegen dieser verdammten Blockwoche! Schnell rappelte ich mich auf und ging im Kopf durch, was am Praktischsten wäre.

Übungen. Eindeutig. Sportübungen hier in meinem Zimmer. Um halb sechs würde mein zweiter Wecker klingeln und da musste ich mich fertig machen. Denn um halb sieben ging mein Bus zum Bahnhof, wo ich weiter mit dem Zug musste, da die Fachakademie in der ich zur Schule ging, nicht genau in Swindon lag, sondern etwas außerhalb.

Ich verlor nicht eine Minute an Zeit, legte mich auf den Boden und begann Sit-Ups zu machen.

10. 20. 30.

Ich drehte mich um und machte Liegestützen. 20 Stück. Dann kam ich zu den Sit Ups' zurück und wiederholte das so lange, bis die 30 Minuten um waren.

Um Punkt halb sechs klingelte mein Wecker. Sofort sprang ich auf und schaltete ihn aus, legte mich noch einmal zurück ins Bett und machte dort noch fünf bis acht Minuten Sit-Ups', bis ich es mir erlaubte damit aufzuhören.

Bis zu diesem Zeitpunkt verlief mein Tag wie sonst auch. Aber wie gesagt, nur bis zu diesem Zeitpunkt.

Heute war Mittwoch. Nicht mehr lange Kris, sagte ich mir immer wieder, während ich im Pädagogikunterricht saß und unruhig mit den Füßen und Händen wippte. Vom Unterricht bekam ich kaum noch etwas mit. Zum Glück kannte ich den Stoff schon. Denn ich hatte dieses Jahr schon einmal gemacht, aber freiwillig wiederholt. Für mich war es wohl die bessere Entscheidung gewesen, da ich zu diesem Zeitpunkt schon sehr tief in meiner Depression gewesen war. Aber dieses würde ich nicht zu Ende machen können. Wegen dieser scheiß Klink!

Wie mich das jetzt schon wieder ankotzte!

Was für eine Ironie man nur in einem Satz haben konnte, kam es mir sofort in den Sinn. Wenn ich mir einfach so den Finger in den Hals stecken und mich übergeben könnte, dann wäre ich Bulimiker geworden und keine sportsüchtige Anorektiker, verdammt noch mal!!!

Aber genau das konnte ich eben nicht, Keine Ahnung wie oft ich es jetzt schon versucht hatte. Aber ich konnte das nicht. Nein, ich musste den ganzen Tag in Bewegung bleiben und Abfühmittel schlucken! Ich hatte die altbekannte, klassische Anorexie, mit einer Tendenz zur Sport-Anorexie.

Man kann sich bestimmt vorstellen, dass meine Gedanken damit völlig weg waren. Ich dachte nur noch an meine Krankheit. Daran was sie mir gab. Meine Gedanken schweiften weiter.

 

Warum bin ich magersüchtig? Wieso habe ich eine Essstörung entwickelt?“

 

Dieser Gedanke war absolut zentral vor mir. Als stünde er als Mensch direkt vor mir. Ja, warum war ich überhaupt magersüchtig? Diese Frage stellte ich mir immer wieder einmal. Die Antwort welche sich aber langsam in meinem Kopf anbahnte verscheuchte ich so schnell ich nur konnte. Mein Blick wanderte zur Uhr. Gleich hätte ich Pause. Wenigstens ein Gutes. Ich musste aufstehen. Manchmal ging ich auch einfach so aus dem Unterricht, mit der Begründung ich müsse auf die Toilette, um dort ein paar Sportübungen zu machen. Ich hasste es, wenn ich Schule hatte.

Jeden Donnerstag musste ich hier her und jetzt auch noch die ganze Woche! Die wollten mich doch ernsthaft umbringen!

Unruhig sah ich alle paar Minuten auf die Uhr. Konnte die Stunde nicht endlich vorbei sein?! Kurz holte ich mein Handy aus der Hosentasche hervor, um dort noch einmal die Uhrzeit zu überprüfen.

Ich stutzte. Wer zur Hölle rief mich denn um diese Uhrzeit an?!

Unauffällig ging ich auf meine Anruferliste. Mum. Jetzt war ich noch verwirrter, als zuvor. Was gab es denn, dass sie mich um die Zeit dreimal anrief?! Sie wusste doch genau, dass ich Unterricht hatte! Verwirrt steckte ich mein Handy zurück in die Hosentasche und schrieb das ab, was meine Pädagogiklehrerin soeben an das Whiteboard gekritzelt hatte.

Rechts neben mir saß Liz, eine Klassenkameradin und inzwischen auch Freundin von mir. Sie hatte mich vor ein paar Wochen zu ihrem 18. Geburtstag eingeladen, was mich wirklich sehr gefreut hatte. Ich war noch nie wirklich zu einem Geburtstag eingeladen worden. Jedenfalls kam es mir so vor. Lag bestimmt daran, dass mein Gedächtnis eine totale Niete war und dass es einfach viel zu lange her sein musste, wann ich das letze Mal eingeladen worden war.

Zurück zum Thema. Rechts neben mir saß Liz, links neben mir Arian, ein albanischer Junge aus meiner Stadt, mit dem ich mich auch sehr gut verstand. Er war der Einzige, der von meiner Krankheit, oder meinen Krankheiten wusste. Ebenso wie die Tatsache, dass ich in eine Klinik musste. Als ich ihm das gesagt hatte, meinte er, dass er dies nicht gedacht hätte.

Seht ihr, was ich meine? Man sieht mir meine Essstörung nicht an. Ich bin einfach noch viel zu fett, um als magersüchtig angesehen zu werden.

Jedenfalls verstand ich mich sehr gut mit ihm. Er war gläubiger Moslem und hatte mir, als ich ihn danach gefragt hatte, auch einmal eine Übersetzung vom Koran mitgebracht, die ich immer wieder, kurz vorm Einschlafen, am Lesen war.

Man muss verstehen. Lesen war eine Tätigkeit in der ich nichts tat, im Sinne von Bewegung. Ich würde einfach rumliegen und in ein Buch oder in diesem Fall in den Koran starren. Das konnte ich mir nicht erlauben. Also war es nur in Momenten möglich, in denen ich mich auch nicht mehr bewegen konnte. Die Worte die ich in der Übersetzung las...ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll, jedenfalls ergaben sie so Sinn für mich und aus irgendeinem Grund berührten sie mich. Man konnte sagen nach 17 Jahren absoluter Ungläubigkeit begann ich langsam mich mit etwas wie Glauben zu beschäftigen. Irgendwie klang es schon lustig, so etwas zu sagen. In einer Situation wie meiner, als essgestörtes, depressives Mädchen, näherte ich mich an etwas wie Glauben. Etwas, womit ich mich in meinem ganzen Leben noch nie wirklich beschäftigt hatte. Irgendwie klang es lustig aber auch sinnvoll in meinen Ohren.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit zeigte die Uhr endlich 10 Uhr. Die Doppelstunde war vorbei! Eine richtige Erleichterung überkam mich. Endlich durfte ich aufstehen! Endlich konnte ich mich bewegen!

Ich war mit eine der Ersten, die das Klassenzimmer verließ und vor die Tür der Schule ging, wo sich alle Raucher versammelten. Ich ging noch ein stück weiter, da ich nicht unbedingt belauscht werden wollte, wenn ich meine Mutter anrief. So ging ich die ganze Zeit auf dem Parkplatz herum und wählte die Nummer von der Arbeit meiner Mutter.

„RWN npower. Kundenbetreuung Judith Wood. Guten Tag.“, meldete sie sich.

Ich musste mir immer wieder aufs Neue das Grinsen verkneifen, wenn ich sie anrief. Einmal wollte ich mich schon als Kunde ausgeben, der heftige Probleme mit seinem Stromzähler hatte oder eine Rechnung nicht zahlen konnte. Bis jetzt hatte ich es aber noch nicht durchgesetzt.

„Hi Mum.“, meldete ich mich dann. „Du hast angerufen?“

„Kris, du bist es. Ja hab ich.“

Ich zog eine Augenbraue hoch, ehe ich bemerkte, dass sie das ja nicht sehen konnte.

„Was gibt’s?“, wiederholte ich mich also.

 

„Kris. Die Klink hat angerufen. Sie haben einen Platz frei.“

 

Ich musste mir Mühe geben, das Handy nicht aus der Hand fallen zu lassen! Mir war als würde man mir direkt ins Gesicht schlagen!

Nein, war mein einziger Gedanke! Das kann nicht wahr sein! Das ist nicht wahr!

„O-okay.“, sagte ich schließlich zögerlich. „U-und?“

Das Zittern in meiner Stimme konnte ich nicht unterdrücken. Auch ich zitterte. Nur mit Mühe konnte ich mein Handy noch festhalten. Klinik!, schoss es mir durch den Kopf. Warum!? Nein, nein, nein!!!

„Sie haben vermutlich ab nächstem Montag etwas frei. Aber sie rufen am Freitag noch mal an.“

Ich nickte.

„Okay.“

Montag. Das bedeutete ich könne mich noch nicht einmal von den Kindern verabschieden! Das konnte doch alles nicht wahr sein! Bitte lass das nur einen Traum sein!!! Ich war völlig unter Schock, verabschiedete mich von meiner Mutter und legte auf. Ich zitterte noch immer, als ich zurück in den Unterricht ging, versuchte es mir aber nicht anmerken zu lassen.

Das konnte doch alles nur ein verdammt schlechter Scherz sein!!!

 

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Es war Freitag. Völlig unruhig saß ich im Unterricht. Heute war der Tag. Heute würde die Klinik noch einmal anrufen und völlig über mich entscheiden. Wann musste ich jetzt anreisen?!

Meine Konzentration konnte ich sowieso vergessen. Seit diesem Anruf am Mittwoch war ich mit den Gedanken komplett abwesend. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran, dass ich in ein paar Tagen schon in London sein könnte, denken. Das schien wohl auch meinen beiden Sitznachbarn aufgefallen zu sein, doch sie sprachen mich nicht darauf an.

Meine Finger zitterten, ich konnte kaum meinen Stift halten, als ich mir Notizen zum Unterricht machte.

Langsam ziehe ich einen Block aus meiner Tasche heraus und setze den Stift an, schreibe das Datum vom kommenden Montag auf. 10. Mai 2015.

Vorraussichtlicher Aufenthalt waren 3 Monate wurde immer gesagt. Das bedeutete, dass mein frühester Entlassungstermin der 10. August wäre. Wenn dem so war konnte ich in das zweite Jahr meiner Ausbildung einsteigen. Ein leichtes Lächeln glitt auf meine Züge. Das war das Wichtigste. Ich musste zurück! Es ging nicht anders! Darum ging es! Das war das wichtigste, was es für mich gab!

Zuhören konnte ich schon seit Tagen nicht mehr, dafür waren meine Gedanken viel zu verworren. Ich nahm nicht mehr wirklich etwas wahr. Das einzige was in meinem Kopf Platz hatte, war ddie Angst vor der Klinik.

Denn ich wollte nicht dort hin. Was sollte es denn bringen?

Gar nichts.Erst fünf Minuten nachdem es zur Mittagspause geläutet hatte, realisierte ich das und hob den Blick von meinem Block, wo ich sämtliche Sachen aufgeschrieben hatte, was mir gerade so im Kopf herumgegangen war, wie ich es schon immer getan hatte:

 

Klinik. Anorexia Nevosa. Magersucht. Depression. Angst. Gewicht. 50. 47. Essen. Kalorien. Gewichtsverlust. Sport. Zunehmen. Selbstverletzung. Therapie.

 

Seufzend legte ich den Stift zur Seite und ließ den Block zurück in die Tasche gleiten. Mit trägen Bewegungen schob ich meine Hand in meine Hosentasche und zog mein Handy hervor. Keine neue Nachricht. Einerseits erleichterte es mich, andererseits spannte es mich nur noch mehr an. Denn ich wusste, dass sie heute anrufen würden. Heute würde es sich entscheiden!!

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Noch völlig in Gedanken saß ich schließlich im Zug, auf dem Weg zurück. Mein Blick war starr aus dem Fenster gerichtet. Mein Kopf war einfach nur leer. Gerade hatte ich die SMS von meiner Mutter bekommen. Mittwoch, 13. Mai 2015.

Ich hörte gar nicht worüber meine Klassenkameraden sprachen, auch wenn ich eine Person so gut wie es ging ignorierte, weil mir dieser Typ einfach abgrundtief auf den Zeiger ging! Ich kannte ihn aus meinem letzten Ausbildungsjahr in das er eingestiegen war, weil er das zweite nicht geschafft hatte und dieser Typ war auch noch in meiner Ausbildungsstätte gewesen.

Ich kann nur so viel sagen, da ich es nicht für wert empfinde mich sonderlich viel über ihn zu äußern. Er war eine nervende Klette, der ständig mit mir versuchte zu reden und mir einfach nur auf meine ohnehin schon strapazierten Nerven ging! Einmal hatte er mein Buch lesen wollen! MEIN BUCH!

Niemand, wirklich niemand, fässt meine Bücher an, es sei denn ich erlaube es! Denn ich liebe Bücher. Ich finde sie so wunderschön und liebe es, sie in der Hand zu halten, sie anzusehen. Früher hatte ich es auch über alles geliebt sie zu lesen. Doch das ging nun nicht mehr.

Denn die Zeit, welche ich mir Lesen verbrachte konnte ich sinnvoll nutzen, im Sinne von Sport. Doch auf die Literatur konnte ich trotzdem nicht verzichten.

So hörte ich inzwischen Hörbücher, während ich meinen Sportablauf durchzog. Ich weiß noch, wie die ursprüngliche Kris in mir manchmal richtig danach gefleht hat, sich dieses Buch aus der Bücherei auszuleihen, sich hinzusetzen, mit einer Tasse Kaffe (mit Milch und Zucker!) und den Abend so einfach schön ausklingen zu lassen, anstatt das Hörbuch anzuschalten und den Abend mit Sportübungen zu verbringen.

Aber wie sollte ich mir das bitte erlauben! Es war schwach! Es war nichts als Schwäche! Und ich durfte nicht schwach sein! Ich musste stark sein! Ich musste perfekt sein!

 

Als ich am Bahnhof von Swindon ausstieg, sprach ich nicht wirklich viel, sondern hörte mehr den Worten von Arian zu,mit dem ich immer zu den Bushaltestellen ging. Er wohnte genau in demselben Ortsteil Swindons' wie ich.

Kurz bevor er zu seiner Haltestelle hatte gehen wollten, viel mir ein, dass ich mich vielleicht von ihm für diese paar Monate verabschieden sollte. Schließlich waren wir so etwas ähnliches wie Freunde.

„Hey Arian.“, sagte ich schließlich. „Ich muss mich jetzt für ein paar Monate von dir verabschieden. Ich hab nämlich ...am Mittwoch einen Platz.“

Mein Stimme war leise, leicht gebrochen, dennoch so laut, dass er es hörte.

„Oh.“, war das Erste was er darauf antwortete. „Na dann...wünsche ich dir alles Gute Kris. Das wird schon werden. Lass den Kopf nicht hängen.“

Ich musste lächelnd.

„Danke. Allerdings...weiß ich jetzt auch nicht wann ich dir die Übersetzung zurückgeben kann. Keine Ahnung, wie lange ich da bleiben muss. Aber wir sehen uns wahrscheinlich nächstes Jahr wieder.“

„Was zurückgeben?“

Eine Weile sah ich ihn an, als zweifelte ich nun an seinem Verstand.

„Die Übersetzung vom Koran, was sonst?“

Jetzt ging ihm anscheind auch ein Licht auf, denn er grinste.

„Ach die. Die brauchst du mir gar nicht zurückgeben. Die hab ich dir doch geschenkt.“

Ich hob die Brauen und starrte ihn etwas perplex an, was mit Sicherheit total bescheuert aussah.

„Echt? Dein Ernst?“

Er nickte.

„Ach so. Na dann...danke.“

Wir verabschiedeten uns und jeder ging zu seiner Bushaltestelle. Irgendwie war es wirklich schön mit ihm zu reden. Einfach aus dem Grund, da ich mir ernst genommen vorkam und nicht, wie sollte ich das beschreiben, nicht wie ein Mädchen. Ich mochte es nicht, wenn ich wie ein typisches Mädchen behandelt wurde. Das ging mir richtig auf die Nerven. Daher war es eine wirklich gute Abwechslung, mit einem Jungen reden zu können, ohne dass ich da sofort anders behandelt wurde.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.12.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all Diejenigen, welche an dieser elendigen Krankheit erkrankt sind. Für alle Angehörigen und auch für Außenstehende

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