Sie war einsam.
Zum widerholten Mal stand sie an diesem Ort und blickte in das schwarze Meer hinaus. Ihre hellblauen Augen schlossen sich fast schon wie von selbst.
Sie atmete tief durch, sog die kalte Nachtluft ein, öffnete ihre Augen wieder und ging näher auf das Geländer zu, welches vor ihr lag.
Warum hatte es je so weit kommen müssen?
Was hatte sie schließlich dazu gebracht, diesen einen Schritt zu tun?
Sie spürte nichts mehr. Rein gar nichts mehr. Außer Hass und Trauer. Sie wusste, es gab für sie kein Zurück mehr! Es war unmöglich! Kein Ausweg! Es gab kein Zurück mehr!
Nur noch der Sprung zum Himmel und sie wäre endlich frei!!!
Noch ein Schritt vorwärts. Ihr Herz schlug so heftig, sie hatte schon fast Angst es könnte explodieren. Doch selbst das wäre nicht mehr von Bedeutung. Jedenfalls nicht für sie.
Entschlossen blickte sie auf das Wasser und ging immer weiter nach vorne, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ihr Entschluss stand schon seit Jahren fest.
Schon seitdem es passiert war.
Seit diesem einen Tag hatte sie gewusst was zu tun war!
Seitdem ihr Herz den letzten Schlag getan hatte. Seitdem sie tot war. Es war nun endlich Zeit. Noch mehr Schmerzen würde sie nicht mehr ertragen. Es war vorbei!
Langsam umschloss sie mit den Fingern das dürre Geländer und kletterte so schnell, wie sie nur konnte hinauf. Ihr Blick versteifte sich, als sie nach unten blickte und sich die hohen Felsen und das eiskalte Wasser vor ihr aufbäumten. Ihre langen, dunkelroten Haare wehten im Wind und ließen sie wirken wie Andromeda, nur dass dieses Mädchen nicht auf ihre Rettung wartete, sondern hier stand um sich diese Rettung selbst zu verschaffen. Mit ihren hellblauen Augen, die wie Katzenaugen in der Nacht zu leuchten begannen fixierte sie den Weg der nun noch vor ihr lag, welcher an sich kein langer war.
Ihr Herz war verschlossen, war dunkel und gefüllt voller Hass und Trauer. Ihr schwarzes Herz war schon immer umschlossen gewesen, von einer undurchbrechbaren Mauer, welches nur an Einsamkeit zerbrochen war.
Sie hatte nie Gefühle wie Liebe zugelassen.
Das einzige was sich je in ihr ausgebreitet hatte wie ein Lauffeuer und immer mehr zugenommen hatte, war der Hass gegenüber der Menschheit, welcher sich immer und immer stärker in ihr aufgestaut hatte!
„Ich hasse euch.“, flüsterte sie in die Nacht hinein und eine stumme Träne lief ihre blasse Wange hinab.
Erneut schloss sie die Augen und ihr Herz begann wild zu schlagen, wie immer, wenn sie ihrem Ziel näher gekommen war.
„Der Tag wird kommen.“
Sie öffnete die Augen wieder und ein gefährliches Lächeln stahl sich auf ihre Züge.
„Eines Tages werdet ihr zahlen. Für alles.“, murmelte sie und ihre weichen Gesichtszüge verkrampften sich.
„Ihr werdet dafür zahlen was ihr mir genommen habt!!!“, schrie sie verzweifelt in die dunkle Nacht hinein.
„UND ZWAR MEIN LEBEN!!!!“
Ihr letzter Schrei war mehr ein Schluchzen bevor ihre Finger das dürre Geländer losließen und sie mit wehendem, dunkelrotem Haar in den Tiefen des dunklen Meeres verschwand und nie wieder zurückkehren würde!!!!
„Was heißt Leben?“, fragte sie in die Dunkelheit hinein.
„Leben bedeutet frei sein.“, antwortete die Stimme.
Sie senkte ihren Blick und ließ sich auf den Boden fallen, schlang die Arme um ihren zierlichen, aber trotzdem muskulös gebauten Körper.
Tränen schossen ihr in die Augen, etwas was sie noch nie zuvor getan hatte. Solche Schwäche hatte sie noch nie zulassen wollen. Warum jetzt? Warum ausgerechnet jetzt?
Die junge Frau fuhr sich mit dem Finger über den Arm, realisierte wie sich alles in ihr anspannte, ihr Herz pochte immer schneller, sie konnte kaum noch atmen.
Ein kurzer Schmerz durchfuhr ihren Körper, als sie weiter mit dem Finger über ihren Arm strich. Ein kurzer Schrei entglitt ihr.
„Freiheit?“, wiederholte sie und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ja. Leben bedeutet Freiheit.“
Freiheit also. Sie biss sich kurz auf die Lippe und kaute unsicher darauf herum.
„Warum bin ich so?“, dachte sie. „ich habe so etwas noch nie getan, warum denn ausgerechnet jetzt? Ich war doch immer selbstsicher und ich habe nie solche lächerlichen schwächlichen Gefühle gehabt. Was passiert hier nur?“
„Deine wahren Gefühle kommen hoch. Das ist nur natürlich.“, flüsterte ihr die Stimme zu.
Sie zuckte kurz zusammen.
„Wahre Gefühle?“, fragte sie unter Tränen. „Meine wahren Gefühle…sie sind…ich habe keine Gefühle!“
Die Stimme kicherte etwas. Sie sagte etwas, doch die Dunkelhaarige hörte nicht hin. Sie hing ihren Gedanken nach.
„Clare, Chris, Lucy...Hana...“, dachte sie. Den letzten Namen unterdrückte sie, weil sich sofort ein gewaltiger Hass in ihr breit machte, wenn sie nur an diesen Namen und der Person, die dahinter steckte, dachte.
„Du kannst das Geschehene nicht rückgängig machen! Lass die Vergangenheit endlich Vergangenheit sein, denn du lebst nun mal jetzt!!!“, rief die Stimme.
„Es ist meine Schuld.“, flüsterte sie. „Alles meine Schuld.“
„Nein, ist es nicht! Dafür konntest du nichts!!“
Sie schüttelte nur den Kopf.
„Es IST meine Schuld!“, schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Sie lehnte sich gegen ihr Bett, das hinter ihr stand.
„Du sprachst davon, dass leben Freiheit bedeuten würde.“, sagte sie mit zittriger Stimme.
„ja, habe ich.“, sagte die ihr nur so vertraute Stimme.
Ein trockenes Auflachen hallte durch den dunklen Raum.
„Freiheit?“, fragte sie spöttisch.
„Ich bin am Leben. Doch frei bin ich noch lange nicht! Ganz im Gegenteil! Ich bin gefangen! Innerlich als auch äußerlich! Die halten mich gefangen! Behaupten ich bräuchte ihre Hilfe, weil ich ja ein „ach-so-armes-Mädchen“ wäre. Das ich nicht lache! Nennst du das Leben? Heißt das Freiheit? Wenn das die Freiheit ist, dann bin ich lieber auf alle Ewigkeit gefangen!!“
Sie schluchzte noch lauter, weinte zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben- so lange, bis sie einen sehr unruhigen Schlaf fand.
Als die Tür ihres Zimmers am nächsten Tag geöffnet wurde, war das erste was man sehen konnte rot. Es war Blut. Viel Blut. Zu viel Blut.
„Ist das die einzige Möglichkeit mein Leben zu genießen???“, dachte sie und begann zu lächeln, als sie das Blut auf dem Boden sah, welches sich langsam auf dem Boden verteilte.
Es war eine düstere und regnerische Nacht, der Wind peitschte um die Dächer, das fahle Mondlicht warf nur ab und an sein Licht in das Innere der Großstadt.
Zum Anschein war es eine Nacht wie jede andere und doch sollte sie mehr als alles andere verändern.
Leise trat aus dem Dunklen der Nacht eine finstere Gestalt heraus.
Es war eine junge Frau.
Ihre langen, dunklen Haare waren von dem Regen durchnässt, ihre Augen blitzten vor Zorn, als sie in das Mondlicht trat.
Die Wut, genau wie der Schock, saßen ihr noch tief in den Knochen.
Langsam, bedrohlich langsam setzte sie sich in Bewegung und verschwand erneut in der Dunkelheit. Ihre Züge verkrampften sich von Schritt zu Schritt.
Je weiter und schneller sie ihrem Weg folgte, desto zorniger wurde sie.
Wieso? Wie hatte das nur passieren können?
Warum um alles in der Welt hatte es ausgerechnet sie treffen müssen?
Ab und an blieb sie stehen und sah in den regnerischen Nachthimmel, setzte sich aber sofort wieder in Bewegung.
Die Hand hatte sie um etwas Kleines, Unscheinbares geschlossen.
So fest wie es ihr nur möglich war, hielt sie es und drückte diesen kleinen Gegenstand an ihre Brust.
Ihre Gedanken waren schon lange nicht mehr bei dem Weg, den sie vor sich hatte und was sie als nächstes zu tun hatte.
Sie befand sich in der Vergangenheit.
Den Momenten, als alles noch in Ordnung gewesen war. Die Momente, in denen sich keine Sorgen um geliebte Menschen hatte machen müssen.
Die Zeit, in der sie nicht den größten Fehler ihres Lebens begangen hatte.
Noch immer hatte sie Tränen in den Augen und verspürte nichts außer abgrundtiefem Hass.
Wie sie diese Personen doch hasste!
Alle!
Dafür würden sie alle bezahlen! Sie hatten doch alle keine Ahnung, wer sie überhaupt war!
Keine Ahnung, wer sie für SIE ALLE war!
Wütend blieb sie stehen und ballte die Hand zur Faust. Wenn sie auch nur einen von ihnen in die Finger bekommen würde!
Hass brodelte in ihr auf.
Tief atmete sie durch, sog die Nachtluft tief ein und blieb für einen Moment stehen.
Wieder blickte sie in den dunklen, regnerischen Nachthimmel und schloss die Augen, während ihr der Regen ins Gesicht tropfte.
Erinnerungen bildeten sich vor ihrem inneren Auge.
Momente, die sie hatte vergessen wollen. Schmerzende Erinnerungen, die ihr Tränen in die Augen jagten.
Aber diese Trauer blieb nicht lange. Ihr Hass war stärker.
Hass und Trauer.
Seufzend öffnete die die Augen und lehnte sich an eine Wand.
Jetzt erinnerte sie sich wieder.
All diese Erinnerungen, die sie jahrelang unterdrückt und verdrängt hatte, kamen wieder hoch.
Diese Bilder…
Vor ihrem inneren Auge erschien wieder dieses Bild eines jungen Mädchens.
Sie hatte dunkles, glattes Haar, welches ihr bis zu den Schultern reichte.
Die dunklen, braunen Augen waren seh groß, mit extrem langen Wimpern. Ihr Lachen war offen und warmherzig.
Allein dieses Lachen. Wie sehr sie es doch vermisste.
Ihre dunklen Haare schimmerten leicht rötlich, wenn sie in der Sonne stand.
Sie war glücklich.
Dieses Strahlen in ihren Augen, wenn sie sich freute und eigentlich freute sie sich oft.
Es war ein glückliches Mädchen.
Ein Kind voller Lebensfreude. Ein Mädchen, das viele Höhen und Tiefen hatte, das auch viel Zeit für sich benötigte, aber im Großen und Ganzen war sie glücklich und zufrieden.
War.
Erneut öffnete sie die Augen und seufzte. Weiterhin sah sie gedankenverloren in den Nachthimmel.
Wie sollte sie sich das nur verzeihen sollen?
Alles war es ihre Schuld.
Wieso hatte es so weit kommen müssen?
Wer hätte denn ahnen sollen, dass alles so eskalieren würde? Woher hätte sie wissen sollen, dass sie dadurch andere gefährden würde?!
Tränen bildeten sich in ihren Augen, als sie daran dachte, was sie angerichtet hatte.
Immer hatte sie gewusst, dass es in ihrem Plan einen Haken gab, einen Schwachpunkt, aber so etwas?
Das hätte doch niemand erahnen können!
Sofort setzte sie sich wieder in Bewegung, stoppte kein einziges Mal, bis der Hafen in Sicht kam.
Noch immer regnete es in Strömen und es machte nicht einmal die Anstalten, dass es aufhören würde.
Doch wen interessierte das?
Dieses Wetter war mehr als passend.
Es kam der jungen Frau nur angemessen vor.
Langsam trat sie an das Wasser und setzte sich auf den Boden.
Sie ließ den Kopf sinken und betrachtete ihre Hände.
Das einzige was sie bemerkte, was dieses Armband, welches an ihrem Handgelenk hing.
Ein leichtes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht, als sie darüberstrich und doch spürte sie sofort wieder diesen Stich.
Dieser schreckliche Schmerz, der sich in ihrer Brust ausbreitete.
Es war nicht wirklich ein Schmerz, eher eine Leere.
Zaghaft öffnete sie ihre Hand und betrachtete den Gegenstand, den sie die ganze Zeit über umklammert hatte.
Ein Gefühl von Hass stieg in ihr auf, als sie dies betrachtete, doch sofort kehrte die Trauer zurück.
Es war stärker, als die Wut und der Hass.
Das saß einfach zu tief.
Viel zu tief, um ihn je vergessen zu können.
Wütend ballte sie ihre Hand zur Faust und bohrte sich dabei die Fingernägel tief ins Fleisch.
So viel Hass hatte sie noch nie zuvor verspürt!
Wieso hatte das alles passieren müssen?!
Es war nie so von ihr gewollt gewesen!
Wieso?
Wieso hatte es so passieren müssen?
Es war nicht fair!
Immer widerfuhr den Menschen, die es am wenigsten verdienten ein solch schreckliches Schicksal! War das Leben immer so unfair und bestrafte nur die Unschuldigen?
Wieder begannen ihre Augen zu brennen, als ihr diese Bilder vor Augen kamen.
Alles in ihr verkrampfte sich.
Sie hatte es nicht verhindern können!
Es war trotzdem passiert- gegen ihren Willen- gegen ihren Befehl!
Wieso?!
Für einen Moment schloss sie erneut die Augen und sofort war alles wieder da.
Sofort war sie wieder dort.
Wieder in der Zeit, wo alles noch in Ordnung gewesen war…
„Ich weiß es ist weit weg, aber wir werden uns doch wieder sehen, oder?“
„Sicher. Ich will dich nicht verlieren. Niemals.“
Gedanken und Bilder kamen ihr vor Augen. Bilder, die sie nie wieder sehen wollte. Nicht nachdem sie es nicht verhindern hatte können!
Nicht nachdem sie die Schuld dafür hatte!
Nicht nachdem sie genau diese Person nicht hatte beschützen können!
Wie sollte sie sich das je verzeihen können?
Nichts als Schuldgefühle brannte sich in ihr Unterbewusstsein.
Schuldgefühle und die Erinnerungen, die ihr blieben.
Würde sie je in der Lage sein alles zu vergessen?
Immer mehr Erinnerung fanden ihren Weg zu ihrem Unterbewusstsein…
„Ich weiß es klingt merkwürdig. Aber ich hab nur Angst davor, von allen vergessen zu werden, wenn ich eines Tages sterbe. Darüber mach ich mir immer Sorgen.“
„Ich werde dich sicher nie vergessen, du Dummerchen. Ich hab dich schrecklich lieb, das weißt du doch.“
„Und ich dich erst. Ich will dich nie verlieren.“
Sie biss sich auf die Lippe, als ihr dieser Satz im Kopf widerhallte.
Wieso?
Wieso dieses Vertrauen? Woher?
„Meine Schuld. Alles ist es meine Schuld.“, ging es ihr durch den Kopf.
Immer und immer wieder hallten ein und dieselben Worte in ihrem Kopf wider.
„Wenn ich…wenn ich aus irgendeinem Grund nicht mehr hier wäre, damit meine ich für immer, würdest du mich vergessen? Oder es wollen?“
Nein, sie wollte und würde es nie tun!
Das konnte sie nicht einmal.
Es würde ihr immer bleiben. Egal was auch passieren würde.
Diese Gedanken würde sie immer haben!
Bis zu ihrem Tod!
Leise seufzte sie auf und sah in die Dunkelheit hinein.
„Ich hasse euch.“, murmelte sie leise.
Wie hatten sie das nur tun können?!
Hass!
Blanker Hass brodelte in ihr auf.
Ohne zu Zögern erhob sie sich und schlug eine völlig andere Richtung ein.
Sie würden es mehr als bereuen! Dessen war sie sich sicher!
Auch wenn es das Letzte sein sollte, was sie in ihrem ganzen Leben tun würde.
Doch dieses Mal…waren sie zu weit gegangen!
Ich liege auf der Erde und starre ausdruckslos in den roten Himmel über mir. Es war so schön.
Einfach nur schön. Anders kann ich es nicht bescheiben. Rot, orange, rosane Farben tauchen den sonst so blauen Himmel in eine völlig andere Atmosphäre. Ich spüre den Boden unter mir, kann mit meinen Fingen das grüne, zarte Gras ertasten. Ich rieche den einzigatigen Duft des Abends.
Es ist etwas ganz Besonders. Für mich ist jeder Tag, als sei es mein Letzter.
Je mehr Zeit vergeht, desto weniger werde ich mich erinnern, bis ich eines Tages aufwachen werde und mit dem Wissen eines Neugeborenen sehen werde.
Ich fürchte diesen Tag. Kann ich heute vielleicht für ein letztes Mal in meinem Leben, die Schönheit des Abends genießen? Oft versuche ich mich an Dinge zu erinnern, doch ich weiß es nicht mehr. Es ist so vieles, wie ausradiert aus meinem Gedächtnis.
Das einzige, oder eher der Einzige, an den ich mich erinnere, ist dieser Mann.
Der Mann, mit seinen braunen Haaren und den grünen Augen, die so hell leuchten, wie Kristalle.
Wenn ich ihn sehe, habe ich das Gefühl ich bin sicher. Wenn ih ihn sehe, wird mir nichts passieren.
Er passt auf mich auf. Dieser Mann mit den strahlenden Augen.
Ich sehe ihn an und weiß, dass ich ihm vertrauen kann. Ich kenne ihn bestimmt schon seit Jahren.
Auch wenn ich mich von Tag zu Tag immer weniger erinnern kann, so wache ich doch auf und weiß, dass er bei mir ist. Der Mann mit dem braunen Haar. Er ist alles für mich. Mein Beschützer. Ein Freund.
Mein Retter in der Not. Mein Gedächtnis. Ich kann ihm trauen. Ich kenne ihn, auch wenn ich nichts über ihn weiß. Ich kenne ihn, obwohl ich ihn nicht kenne. Er ist der Mann mit den braunen Haaren und den hellen Augen. Er rettet mich vor jeder Gefahr und zeigt mir Dinge, die ich nicht kenne. Er lehrt mich. Er kennt mich.
Langsam schließe ich die Augen. Morgen werde ich wieder weniger wissen. Alles, was ich heute erfahren habe, werde ich morgen bestimmt nicht mehr wissen. Aber das ist einfach so. Es ist okay, denn ich weiß, an eines werde ich mich immer erinnern, egal wie viel Zeit vergeht. Er wird immer da sein. An meiner Seite.
„Miss Evans?“
Ich höre diese Stimme erneut. Ich weiß, dass er mit mir spricht. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber er spricht zu mir.
Langsam öffnen sich meine Lider wieder und ich sehe ein paar strahlende Augen, leicht verdeckt von dunklen Haarsträhnen Seine raue Hand berührt meine Stirn.
„Ma'am?“
Ich sehe ihn an und nicke dann. Ich weiß, dass dies eine Geste ist, welche ihm zeigt, dass ich ihn verstanden habe. Seine Miene ist wie immer. Versteinert, kalt. Aber er ist nur außen kalt und hart. Sein Inneres ist weich und warm. Er sieht mich an.
„Ma'am, kommen Sie.“
Er steht auf und hält mir seine Hand entgegen.
Ich sehe ihn an- ich verstehe nicht.
„Ma'am.“
Er meint mich- aber ich verstehe nicht, was er möchte. Minuten verstreichen und ich sehe ihn einfach an- verstehe nicht, was er möchte. Langsam beugt er sich zu mir und nimmt meine Hand.Ohne etwas zu sagen, zieht er mich hoch- ich kippe leicht gegen ihn. Ich sehe ihn an- und versehe.Wir gehen nach Hause. Ich muss lächeln und lege meine Hand fest in seine, umschließe meine Finger mit seinen. Sie sind rau, zerkratzt, fühlen sich verletzt an. Es macht mir nichts. Denn so ist er. Der Mann mit den braunen Haaren. Langsam setze ich mich in Bewegung- lehne mich leicht an ihn- meinen Beschützer.Ich weiß nicht was morgen sein wird. Wie viel ich noch wissen werde, ob ich noch etwas wissen werde. Aber egal was passiert, er wird bei mir sein- für lange, lange Zeit.
Der Mann mit den braunen Haaren und den grünen Augen.
25. Dezember 1901
(2: 04 Uhr)
Schluchzend sinke ich neben dir zu Boden und umklammere fest deine blutige Hand. Du erwiderst meinen Griff nicht. Deine Hand ist kalt, genau wie dein Körper. Zaghaft hebe ich dich hoch und drücke deinen Körper fest an mich. Blut läuft dein hübsches Gesicht hinab und färbt auch den Stoff meiner Kleidung in dunkles Rot.
„Es…es tut mir…leid.“, schluchze ich so laut ich nur kann und wische dir das viele Blut aus dem Gesicht.
Sanft küsse ich deine kalte Stirn und lege dich in meine Arme. Ich zittere am ganzen Körper und frage mich nur 'Warum'? Warum musste es je soweit kommen? Ich liebe dich doch so sehr. Ich war so dumm. Wieso habe ich das getan? Es ist so schrecklich kalt, aber es ist mir egal. Tränen und noch mehr Tränen fließen meine Wangen hinab und tropfen auf dein Gesicht, genauso wie der Regen, welcher das Blut unter dir verwischen lässt.
Weinend presse ich dich an mich und küsse dein Gesicht, streiche immer wieder das Blut, das noch immer seinen Weg hinab findet, weg.
„Ist ja…gut…“, flüstere ich und küsse weiterhin dein kaltes Gesicht. „Ich bin ja bei dir, Schatz. Keine…Angst. Ich bin da…“
Ausdruckslos und seelenlos starren mich deine sonst so wunderschönen und vor Freude strahlenden Augen an, dein Mund ist geöffnet und Blut läuft daraus hervor. Meine Lippen zittern, als ich dich so in meinen Armen liegen sehe.
„Ver-zeih…m-mir…“, schluchze ich.
Langsam schließe ich deine Augen, dass es aussieht, als würdest du nur schlafen. Auch deinen Mund schließe ich und drücke sanft meine Lippen auf die deinen. Sie sind so kalt, aber noch immer so traumhaft weich, wie zuvor. Mein Herz tut so weh, wie deine kalten Lippen so unter meinen liegen und sich nicht mehr bewegen, dass ich deinen Atem nicht spüre, in dem Wissen dies nie wieder spüren zu können und deine Stimme auch nie wieder hören zu können.
Dieses Wissen, dich wegen meiner eigenen Dummheit verloren zu haben, schmerzt so sehr.
Ich liebe dich doch so, mehr als alles andere, mehr als mein Leben!
Wieso? Wieso war ich nur so schrecklich eifersüchtig?? Wie sehr ich meine Worte doch alle bereue! Es fühlt sich an, als sei nun auch ich tot! Dieser Schmerz, diese Leere, sie erdrückt mich. Du bist fort! Wer?! Wer war es?! Wer hat dich mir genommen? Wie sehr ich mir jetzt doch wünsche aufwachen zu können! Zu erwachen und dann war alles nur ein schrecklicher, grausamer Traum!
Du liegst dann neben mir, umarmst mich ganz fest, streichst mir beruhigend über den Rücken und sagst mit deiner traumhaften, beruhigenden, sanften Stimme: „Keine Angst. Beruhige dich, Schatz. Das war doch nur ein Traum. Ich bin doch da. Es ist alles gut.“
Doch ich wache nicht auf und du wirst diese Worte auch nie wieder zu mir sagen können. Nein, es ist kein Traum. Sondern Realität!Du liegst hier …wirklich tot in meinen Armen. Es war Mord! Ja, du wurdest ermordet und es ist alles meine Schuld!
Dein verletzten Blick, deine letzten Worte, die du mir sagtest, ich werde sie nie vergessen können.
Immer und immer wieder hallen sie in meinem Kopf wider.
„Warum? Was habe ich getan? Nein! Tu mir das bitte nicht an! Ich liebe dich doch!! Bitte nicht!!“
Du hast geweint, geschluchzt, dich an meinem Arm festgeklammert und mir immer ein- und denselben Satz gesagt: ich liebe dich! Doch ich habe nicht auf dich gehört. Anstatt dich anzuhören, habe ich mich losgerissen und bin gegangen. Auch als du mir nachgerannt bist und mich angefleht hast, dir zuzuhören, es dir zu erklären, habe ich nicht auf dich gehört. Ich habe dich angeschrien. Habe dir entgegengeschrien, dass du mich nicht mehr zurückbekommen kannst, dass es vorbei ist und ich dich nie wieder sehen will. Mit diesen Worten bin ich gegangen, habe dein Schluchzen und deine Rufe nach mir ignoriert und war einfach weg.
Erst zwei Stunden später habe ich die Wahrheit erfahren. Es hat mich getroffen, als hätte man mir direkt ins Gesicht geschlagen und mir anschließend ein Messer direkt in den Rücken gejagt.
Sofort war ich zurück zu dir gerannt, doch du warst nicht zu Hause. Stundenlang habe ich nach dir gesucht. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, als ich durch die ganze Stadt gerannt bin und dich überall gesucht habe.
Bis ich dich dann gefunden habe und dadurch den größten Schreck meines Lebens erleiden musste.
Den größten Schreck und mein Herz hatte sich so schrecklich leer angefühlt. Alles schmerzte! Mein Herz, meine Seele. Ich habe gezittert, war neben dir auf die Knie gefallen und hatte hemmungslos angefangen zu weinen, zu schluchzen und hatte minutenlang nicht aufgehört! Noch nicht einmal entschuldigen konnte ich mich Nein, ich habe dich tot gefunden!
Ermordet! Wieso? Alles, alles ist es meine Schuld!
Warum bin ich überhaupt in dein Leben getreten?! Es wäre nie passiert, wenn ich nicht gewesen wäre. Alles war es ein Fehler! Mein Fehler! Wie ein Film scheint alles vor meinem inneren Auge abzulaufen. Ich sehe alles wieder vor mir. Unsere erste Begegnung.
Du hattest dich verlaufen, es hatte in Strömen geregnet und so hattest du mich nach dem Weg gefragt.
Doch so gut hatte ich mich damals noch nicht in New York ausgekannt. Als du dann allerdings wieder gegangen bist und wahllos in der Großstadt herumirrtest, hatte ich mir Sorgen um dich gemacht. Sehr große Sorgen sogar.
So war ich dir einfach gefolgt. Gefunden habe ich dich schließlich auch. Um genau zu sein gerade noch rechtzeitig, denn du warst mitten auf der Straße zusammengebrochen.
Also hatte ich dich mitgenommen und mich um dich gekümmert, bis du wieder komplett gesund warst, weil dich eine schlimme Erkältung erwischt hatte.
Lange, sehr lange warst du bei mir. Vermutlich zu lange. Denn irgendwann ist es dann passiert und es ist um uns geschehen. So hatte ich dich nie wieder aus meinem Leben streichen können. Dich für immer an meiner Seite behalten und bis zu deinem Tod beschützen wollen.
Und jetzt? Jetzt ist unsere schöne, gemeinsame Zeit vorbei! Ich habe dich nicht beschützen können! Denn wegen mir liegst du jetzt hier! Nur wegen mir! Alles ist es meine Schuld!
Total verzweifelt klammere ich mich an dich und drücke dich so eng an mich, wie ich nur kann.
„Ich…ich liebe dich…“, schluchze ich und küsse deine Lippen noch intensiver.
Dein Körper ist so schrecklich kalt, deine Kleidung von Blut und Regen durchnässt.
Liebevoll streiche ich dir über dein Gesicht und halte dich fest in den Armen. Anschließend ziehe ich langsam meine Jacke aus und lege sie vorsichtig über dich. Ich will nicht, dass du frierst und dein Körper so kalt ist.
„Schatz, es ist schon gut.“, schluchze ich. „ich bin…ja da. Ich lasse dich nicht allein, mein Schatz.“
Wieder küsse ich deine Stirn und sinke zusammen mit dir auf den kalten Boden.
Meine Arme sind fest um deinen Körper geschlungen, während ich mich aus lauter Verzweiflung mit dir auf dem Boden zusammenkauere und dich so eng an mich presse, dass ich normal deinen Atem hätte spüren müssen.
Tu ich aber nicht! Normal, wenn es so kalt war und du gefroren hast, hast du dich immer ganz fest an mich gedrückt und mir immer zugeflüstert: „Es ist so kalt. Bitte halt mich noch etwas fester.“
Jedes Mal wenn du gefroren hast, habe ich alles getan, dass dir wärmer wird, einmal habe ich dir sogar im tiefsten Winter all meine warmen Sachen gegeben, die ich gerade getragen hatte. Es hatte damit geendet, dass ich mich selbst erkältet hatte. Aber besser ich war krank, als du.
Weiterhin schlinge ich meine Arme ganz fest um dich und küsse dich immer wieder sanft auf die Wange.
Eine halbe Ewigkeit liege ich hier neben dir und drücke deinen kalten Körper an mich.
Ich zittere wie verrückt, denke aber nicht einmal im Traum daran jetzt aufzustehen und dich allein zu lassen.
Nein! Niemals! Ab jetzt werde ich nie wieder von deiner Seite weichen! Ich bleibe bei dir! Für immer! Ich weiß, das ist ein magerer Trost, aber ich bleibe hier! Werde dich nie wieder verlassen! Für immer werde ich bei dir bleiben, mein Schatz!
Kurz schließe ich die Augen und drücke dich noch fester an mich. Als ich sie wieder öffne, muss ich leicht lächeln.Der Sonnenaufgang sieht mir entgegen.
„Sch-Schatz…“, flüstere ich leise und streiche dir durch das Haar. „S-Sieh nur…“
Sehr langsam fallen mir die Augen zu.
Sanft drücke ich meinen Kopf gegen deinen und küsse dich leicht auf deine kalten Lippen.
„Es…ist alles…meine…Sch-Schuld…“, bringe ich keuchend hervor, schmiege meinen Kopf noch fester an deinen…und…und im nächsten Moment…ist alles vorbei.
Und die Schuld, an dem Tod der wichtigsten Person meines Lebens…stirbt mit mir.
Entschuldigen kann ich mich nicht mehr. Nie wieder! Es ist vorbei. Ich liebe dich und trotzdem habe ich dir wehgetan.
Leb wohl.
Werde ich eines Tages, eines wunderbaren Tages, dich doch noch um Verzeihung bitten können??
Texte: Alle Rechte der Texte liegen bei mir
Bildmaterialien: Cover by: http://s1186.photobucket.com/user/RockkChickk/media/Dawn-s-eye-eyes-7680223-454-550-1.jpg.html
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Saki, und Alice :*
Meine wohl größten Fans~