Die wirkliche Zeit ist nicht nach der Uhr und dem Kalender zu messen.
Alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird,
ist so verloren wie die Farben des Regenbogens für einen Blinden
oder das Lied eines Vogels für einen Tauben.
(Aus: "Momo" von Michael Ende)
Es ist ein ewiger Quell der Freude und der Inspiration, Märkte zu besuchen. Zäh schleppen sich die Tage dahin, für Besucher weniger, als für die Menschen, die Waren aller Art herbeischaffen und feilbieten. Früher war ich jeden Tag hier, damals, als ich noch jung war. Zu jener Zeit hatte ich nicht nur einen Ehemann und acht Kinder. Meine Tage waren lang und die Nächte kurz. Das, was wir der Erde abrangen, füllte unsere Mägen kläglich und die der zahlungsfähigen Kunden üppig. Auch Brot buken wir selbst, verzierten es liebevoll mit Mohn und Sesam, was allgemein gerne gekauft und verspeist wurde. Wir lebten inmitten der Natur, im späteren Ala Artscha Nationalpark. Damals, als ich jung war.
Zu einem späteren Zeitpunkt würde sie an Das Parfüm denken. Anders als Jean Baptiste Grenouille fällt sie jedoch nicht zu den Fischabfällen unter den Verkaufstisch der Mutter. Anders als er leidet ihr Körper nicht an Geruchslosigkeit, was wohl die Folge des ohne Bedacht gewählten Ortes dessen Geburt war. Anders als er wird sie nicht an allgemeiner Lieblosigkeit leiden, was sich bereits an diesem regnerischen Sonnabend abzeichnet.
Das alte Kopfsteinpflaster ist nass und als ihr kleiner Körper auftrifft, vernimmt der streunende, schwarze Köter neben ihr ein zäh klingendes, platschendes Geräusch, übergehend in eines, das an schleimige Spurengebilde einer bedächtig dahinkriechenden Schnecke erinnert, die nach längerer Pause weiterkriecht und beinahe festgeklebt, sich erneut bewegt. Der Hund hat darauf gewartet. Er ist sofort zur Stelle, um dem neuen Erdenbürger seine Aufwartung zu machen. Seit einigen Minuten harrt er dieses Augenblickes und verschlingt nun gierig die Nachgeburt. Ohne Rivalität, er behauptet sich erfolgreich in dieser Gegend seit seiner eigenen Geburt. Die Schnur, die das Kind mit der Mutter verbindet, reißt geräuschlos. Die siebzehnjährige hat Kundschaft und ohnehin ist ihr das Kind gleichgültig. Sie war zwölf, als sie ihr erstes Kind verlor und dieses hier würde nicht das letzte sein. Lag es nun daran, dass sie einfältig war oder einfach pragmatisch. Für ein wenig Fleisch verkaufte sie ihr eigenes, gab ihren schlanken Körper hin. Natürlich hielt sich kein Kerl, mit dem sie sich einließ, jemals zurück. Allgemeines Verständnis oder gar Gefühle erwartet sie nicht, es genügt ihr völlig, irgendwo in einem Stall neben Schafen oder besser noch unweit von duftenden Pferden einen ruhigen, wohlig warmen Platz zu finden. Mutter ist das alles vollkommen egal. Wenn sie heute nach Hause kommt, in die glasklare Luft der Berge, wird sie ohne das Kind eintreffen. Vorzeitig, wie das andere auch, drängt dieses neue Leben ans Licht. Es ist nicht ihr Problem. Es wird keinen Namen haben, so wie sie selbst stets namenlos blieb.
"Kind!" tu dies, mach jenes - anders ist sie es nicht gewohnt, angesprochen zu werden. Und Mutter ist es gleichgültig, welches Kind gehorcht, es sind genügend vorhanden, irgendeines bewegt sich immer rechtzeitig.
Der Regen hat nachgelassen und die Sonne sendet ihre wärmenden Strahlen auf das Pflaster.
Irgendwann, in einem unbeobachteten Augenblick, im Gedränge der vielen Marktbesucher, schnappt er sich das Neugeborene und verschwindet. Der große schwarze Hund hat das, was den Menschen fehlt, vielleicht auch ist es so, dass er selbst keine Ahnung hat, was er da tut und einer inneren Eingebung, einem angeborenen Instinkt, Folge leistet. Die freundliche, warme Zärtlichkeit des Hundes ist die erste Empfindung des Mädchens. Es gibt keinen Ton von sich und lässt sich tragen in die neue Welt, die sich bereitwillig ausbreitet. Die beiden scheinen zu fliegen. Über Wiesen und blühende Felder, Hügel hinauf und andere hinunter, über Geleise einer Bahn, die ihren Dienst eingestellt hat, vor langer Zeit. Fröhliche Lieder von Vögeln, die keinen Kummer zu kennen scheinen, Rufe der Grillen, Summen unzähliger Insekten, erreichen ihr Ohr. Farben der Freiheit strahlen ihre blauen Augen wider und über alldem wölbt sich ein weiter Himmel, die Ewigkeit versprechend.
Die lautstarke Welt der Menschen und des Marktes liegen weit hinter ihnen, als sie den Bau der Partnerin erreichen. Die Hündin hat Platz, ein Welpe hat es nicht geschafft.
Aus dem Baby wird das Kind und aus dem Mädchen die alte Frau, die heute auf dem Markt steht. Wie einst ihre Mutter und deren Mutter zuvor. Kann sie sich erinnern an die Zeit in der Natur, fernab der Menschen? Ein Traum, der nicht ewig anhält ist fern. Und doch gibt es Zeiten, da sitzt sie träumend in dem alten Kinderwagen und denkt sich zurück zu den Tieren, die immer ihre besonderen Freunde waren. Sie lächelt wissend. Ihre Enkel und deren Kinder kommen heute zu Besuch und sie hält Geschichten für sie bereit, so wie alle Großmütter dieser Erde sie erzählen können.
Tag der Veröffentlichung: 07.10.2016
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dem wunderbaren Gesicht auf dem Osch-Markt in Bischkek. Danke für die Inspiration.