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"Ein Kind
ist sichtbar
gewordene Liebe."
Novalis

 

 

"Die Kinder

finden im Nichts

das Gesamte,

die Erwachsenen

im Gesamten das Nichts."

 

Giacomo Graf Leopardi




 

Ein Himmel ohne Wolken am Tage ist leer wie der Himmel ohne Sterne bei Nacht. Am Firmament ziehen, von Manchem unbemerkt, die ersten Schneewolken schwer atmend auf.

Der Schnee, den er so sehr liebt, ließ in diesem Jahr lange auf sich warten. Nun hüllt er das Land mit einem warmen, schillernden Mantel behütend ein.

Als der kleine Junge von seinen Eltern träumt, sieht er sich auf dem Weg zum Sinnbild des japanischen Volkes mit seinen langen, gleichmäßigen Hängen. Woher nur kannte er diesen Berg, dessen Namen er nicht aussprechen konnte. Die unbeschreibliche Anziehungskraft, die Magie, die er im Traum fühlt, begleitete ihn sein ganzes Leben lang.

Der Aufstieg wird von einem ungewöhnlich vollen Mond bestrahlt, der gleichwohl am Tage überirdisch hell zu leuchten schien und den Weg in irreal wirkendes, schwefelgelbes Licht taucht. In seinen pelzgefütterten Stiefeln, eingehüllt in den weißen Anorak, erinnert der Anblick des Jungen an einen kleinen Eisbären, der tollpatschig aber zielbewusst voranstrebt.

Im Land der aufgehenden Sonne war am 6. August 1945, um acht Uhr fünfzehn ein greller künstlicher Sonnenaufgang zu sehen, der die Zeit anhielt und als sie sich weiterbewegte, war das alte Japan untergegangen. Der heilige Berg speicherte die Erinnerung in seinem großen, uralten Gedächtnis, das tief in seinem Inneren dafür sorgte, dass nichts verloren ging. Dass sich ein Jeder an Herzlosigkeit, aber auch an Großzügigkeit erinnerte, die stets im krassen Gegensatz zueinander stehen und doch das Eine nicht ohne das Andere zu existieren vermag.

Der Junge fühlt sich vollkommen zufrieden im Besitze des wenigen, was er sein Eigen nennen durfte und entnimmt seinem Beutel die Flasche mit heißem Tee, schraubt leise lächelnd den Deckel ab und trinkt einen großen Schluck. In seiner Jackentasche wartet der Zwieback, von welchem er nun ein Stück abbricht und es genüsslich isst.

Die Gestalt eines Schneehasen, mit nickenden Federn auf einem weißen Hut, sieht ihn mit klaren Augen an und er teilt mit einer grenzenlosen Selbstverständlichkeit den Rest des Imbisses. Die zurückhaltende und schüchterne Persönlichkeit des Hasen indes war aus dem Bauch des Berges empor geklommen, um zu sehen, wie es um den Jungen bestellt war. Als Abgesandter des heiligen Berges suchte er seit langer Zeit nach einem Menschen, dessen tiefe Intention es war, herzlich und gut zu sein. Viele Menschen kamen auf diesen Berg, aber nie war er einem begegnet, der so reinen Herzens, so selbstlos war, wie dieser Junge, der mit seiner beherzten Art die Seele des Hasen gefangen nahm.

 

Der bewegliche Geist des Jungen folgt dem Hasen sich selbst vergessend in die Tiefe des Berges hinein. Er taucht in die entspannt ruhige Haltung der Zazen auf dem Boden sitzend, tief in die vollkommene Stille des Körpers ein, und endlich in die offenen Arme seiner Eltern geschmiegt, während der Körper des Kindes gähnend und sich dehnend im Schlafsaal des Waisenhauses erwacht.


 

Elijahs große braune Augen sahen die Backsteingebäude des Waisenhauses vor genau einem Jahr das erste Mal. Sie stehen umgeben von einem großen, parkähnlichen Garten, den er sofort erkunden wollte. Amalie, die Hausdame achtet mit Adleraugen darauf, dass die Kinder das Gelände nicht alleine betreten.

Als der kleine Junge nun an ihrer Hand die mächtige Freitreppe hinauf hüpft, begegnet er dem Blick eines großen, breitschultrigen Mannes, dessen strenge Augen ihm beinahe das Blut in den Adern gefrieren lässt. Seine Stimme bebt und der Blick ist klirrendes Eis.

"Wen haben wir denn da? Einen neuen kleinen Nichtsnutz, der mir die Haare vom Kopf fressen wird."

Amalie wendet sich leise an den Direktor, damit das Kind die Worte nicht hört.

"Die Eltern des armen Wurmes sind in Nagasaki ums Leben gekommen, sie haben das Kind zu einer Freundin gebracht, die am Fuße des Feuerberges lebt. Sie kann nicht für den Unterhalt des Kindes aufkommen." Der Hüne nimmt das Kinn Elijahs zwischen Daumen und Zeigefinger.

"Aber ich kann, ja? Wir werden sehen, Frau Amalie." Dem Jungen wird seltsam übel und er ringt japsend nach Luft.


 

Das Wasser ist unsagbar trübe und tropft monoton auf die hölzernen Dielen, auf denen die alte Zinkbadewanne steht, die den kleinen leblosen Körper Phillipps beherbergt.

Hastiger Atem mischt sich mit blinder Wut als Herr Victor aufgebracht mit durchdringender Stimme nach der Hausdame ruft.

"Wie oft soll ich ihnen noch sagen, dass sie die Kinder nicht alleine baden lassen sollen. Was denken sie, wie ich das nun wieder den aufgebrachten Eltern vermitteln soll", schreit er sie an.

"Aber ich war damit beschäftigt, alles für morgen herzurichten, wie sie befahlen, außerdem hat der Junge keine Eltern mehr, wenn ich das einwenden darf", versucht sich die "rechte Hand" Herrn Victors, Amalie, zu entschuldigen.

Weinend erwacht Phillipp aus seinem Traum.

Im Schlafsaal ist es den Kindern untersagt zu sprechen. Jeder hat gefälligst sein eigenes Bett zu hüten.

Elijah kriecht unbeobachtet zu Phillipp und hält ihn tröstend im Arm; er ist darauf bedacht, nicht einzuschlafen. Um sich den Zorn der Aufseherin zu ersparen, huscht er leise im Morgengrauen zurück in sein eigenes Bettchen.

Zwanglos spielen und toben die Kinder manchmal in ihren Träumen. Sie akzeptieren das Verhalten der Erwachsenen, obwohl sie sich daran verbiegen. Die Grausamkeit schleicht sich wie langsames Gift in die Gemüter und legt sich über die unschuldigen Seelen der Kinder.

Gnadenlos.

Unbemerkt leise und umso tiefer.


 

Elijah findet sich im Inneren des Fudschijamas wohl behütet, wie im Schoße seiner Mutter, an deren Aussehen er sich nicht erinnern kann. Und eines Tages geschieht es: weil er es sich so sehr wünscht, mehr als alles andere auf der Welt, trifft er eines Tages in der Realität des Gartens auf den Schneehasen.

"Elijah, wie geht es dir?" Freudig hoppelt der Hase auf den Jungen zu.

"Sehr gut, jetzt wo ich dich gefunden habe, liebe Niëves, dein Name passt so gut zu dir!"

Während dicke Schneeflocken die Sträucher und Hecken zudecken, führen die beiden ein langes Gespräch über die Schikane, die Gemeinheit und Heimtücke mancher Menschen; aber auch über die Sehnsucht nach dem Wohlgefühl der Geborgenheit, über die Zuwendung, Stabilität und Sicherheit in einer Familie, nach der sich der Junge so unendlich sehnt.

Elijah ist zu ausgeschlafen, als dass er sich erwischen ließe und schlüpft unbemerkt zurück in die Kälte des großen warmen Hauses.


 

Als besonders behütender Ort galt dieses Haus nach außen hin, jedoch in seinen schweren Mauern herrschte keine Freude und manchmal oberflächliche Freundlichkeit.

Gerade jetzt, kurz vor Weihnachten wurde das Gebäude wieder durch Victor Maria Hogo einem reichen Mann, der seine Absolution bei keiner Einzelbeichte erreichen konnte, heimgesucht. Er schritt mit mächtigen Füßen durch die langen, blank gewienerten Gänge und trieb das Personal mit herrischen Worten zur Tat. Kinder, die seinen Weg kreuzten, wischte er zur Seite, wie man Schmutz mit einem Besen wegfegt.

Lange bevor es ihn sah, konnte eines der Kinder seinen Geruch wahrnehmen, eine Mischung des Duftes, der entsteht, wenn eine Kerze erlischt, verbunden mit einem leichten Hauch von Anis. Elijah fand schnell heraus, dass es besser war, Victor Maria Hogo aus dem Weg zu gehen. Wenn er dies nicht tat, wurde ihm übel, es war, als würde jemand seine Kehle zudrücken.

Als einen Tempel der Absolution hatte Herr Hogo vor zweiundzwanzig Jahren das, aus mehreren Gebäuden bestehende Anwesen für einen Spottpreis erstanden. Keine Frage, der Unterhalt des Anwesens und des Personals fraß eine Menge Geldes, aber Victor wusste sein Ansinnen zu vermarkten.

In jedem Jahr zur Weihnachtszeit befahl er die Kinder in die Aula, den repräsentativsten Raum, einer Halle, deren Decke von acht mächtigen schneeweißen Säulen getragen wurde. Auf der Bühne stand der riesige Weihnachtsbaum, der von den fleißigen Händen der Kinder im unteren- und von den Erwachsenen im oberen Bereich festlich geschmückt wurde. Da hingen gar liebliche Dinge aus Holz, die die Kinder im Laufe der letzten Monate ausgesägt und von Hand in den schönsten Farben bemalt hatten. Es gab kleine Eisenbahnen, Autos, Fahrräder, Schaukelpferde, Schlitten, Rentiere, Schafe, Schweine, Hasen - nein, halt! Es gab einen Hasen und der war schneeweiß, da Elijah sich geweigert hatte, ihn braun zu bemalen.

"Schneehasen sind weiß“, sagte er fest, als er wieder Luft bekam. Herr Victor war rot vor Wut, ließ sich aber auf keine weitere Diskussion mit dem Jungen ein.


 

Die Halle war, wie stets, am Morgen des vierundzwanzigsten Dezember fertig geschmückt und wartete am Abend auf zahlreiche zahlungskräftige Besucher. Das ganze Spektakel war in jedem Jahr eine Farce, denn es lagen keine Geschenke für die Kinder unter der mächtigen Tanne. Die geladenen Gäste bekamen auch niemals die Kinder zu sehen, um die es genau genommen bei der Veranstaltung ging.

"Meine Damen und Herren," begann Herr Victor seine Rede, "sehr verehrte Gäste, ich freue mich außerordentlich, dass sie auch in diesem Jahr so großzügig sind, die Spenden zu erhöhen. Unsere Ausgaben sind ins Uferlose gestiegen und die armen kleinen Würmchen können ja nichts dafür. Sie sind hier wartend gestrandet, um..."

Die Frau in der ersten Reihe unterbricht ihn an dieser Stelle mit einer wohlklingenden Alt-Stimme und nickenden Federn auf einem weißen Hut.

"Herr Victor, wo sind denn die lieben Kleinen. Bisher haben wir sie nie zu Gesicht bekommen. Sie behaupten doch nicht wieder, dass einige krank und daher in Quarantäne sind."
Mit beschwichtigender Geste kommt Herr Hogo auf die Dame zu.

Wenn sie nur ein Wort fände, ein einziges, das etwas ändern könnte. Wenn sie nur endlich einen Weg fände, einen kleinen Jungen mit in ihr großes, leeres Haus zu nehmen.

Als Niëves Elijah im Garten erspäht, erkennt sie das Kind aus ihren Träumen.

"Heute wirst du nicht frieren," sagt sie und umschließt den Jungen mit ihrem weiten, weißen Mantel aus Kunstpelz. Er schmiegt sich in das flauschige Fell und erkennt das Kaninchen aus seinen Träumen.

Die Worte des herbei eilenden Direktors können ihm nichts mehr anhaben.

"Die Formalitäten übernehmen meine Anwalte", hört Herr Hogo und sieht die junge Frau in ihren schneeweißen Wagen steigen. Als Elijah sich zögernd umblickt, wechselt der Schnee in Regen, der strömend die vergangenen zwölf Monate rein wäscht.

 

 

 

 

Viele verlangen, während sie einem übel mitspielen,

daß man bei Strafe ihres Hasses so klug sei,

ihrer Niedertracht keine Hindernisse in den Weg zu stellen,

und zu gleicher Zeit sie nicht als niederträchtig erkenne.

Zen

 

 

 

 

 

 

"Mit leeren Händen gehe ich dahin,

und siehe, der Spaten ist in meinen Händen.

Ich wandere zu Fuß, und reite dabei

auf dem Rücken eines Ochsen.

Wenn ich über die Brücke schreite,

siehe, so fließt nicht das Wasser;

sondern die Brücke."

 

Meister Shan-hui

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Alea Gabrusch
Lektorat: M.B. Scheel
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dem heiligen Berg Fujisan und seinen Schwestern und Brüdern

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