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Es kam ihr so vor, als würden sich die letzten Minuten vor den Sommerferien fast schon ins Endlose ziehen. Die Schülerin seufzte schwer und fuhr sich durch ihr kurzes braunes Haar. Es war nicht so, als würde sie nicht gerne in die Schule gehen, ganz im Gegenteil sogar, aber sie brauchte jetzt einfach eine Pause von all dem. Dann endlich ertönte die Schulglocke und erlöste sie. Rasch hatte die Schülerin ihre Sachen zusammen gepackt und verließ das Klassenzimmer. Die Worte des Lehrers, dass sie in den Ferien fleißig lernen sollten, nahm sie kaum noch wahr. So wie ihre Mitschüler es nicht wahrnahmen, dass das Mädchen ohne ein Wort einfach verschwand. Seit fast einem Monat ging sie nun schon in diese Klasse, doch sie konnte sich einfach nicht in die Klassengemeinschaft einfügen. Wieder seufzte die Braunhaarige. Die letzten zwei Jahre hatte sie im Krankenhaus gelegen und man sah ihr immer noch an, dass sie noch vollkommen gesund war. Vielleicht war das ja der Grund, warum es ihr so schwer fiel. Ihre Klassenkameraden sahen in ihr wahrscheinlich nur ein immer noch krankes Mädchen, dass wohl möglich bei der kleinsten Berührung zerbrechen würde. Dabei konnte die Schülerin doch nichts dafür, dass sie zwei Jahre ihres Lebens einfach so verloren hatte.
Vor zwei Jahren war sie beim Sport einfach zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Bis dahin war ihr Leben ganz normal gewesen. Sie hatte Freunde mit denen sie sich treffen konnte und sie besuchte viele AGs, doch mit diesem Tag hatte sich alles geändert. Die Ärzte entdeckten im Hals des Mädchens einen Tumor, der, wenn sie sie nicht sofort operieren würden, tödlich sein könnte. Also wurde sie operiert und es verlief auch alles gut, nur dass die Schülerin einfach nicht wieder aus ihrem Koma erwachte,bis vor einem Monat. Einige Tage musste sie dann noch im Krankenhaus bleiben, doch dann durfte sie wieder nach Hause und in die Schule, doch dort war niemand mehr den sie kannte. All ihre Freunde hatten schon längst ihren Abschluss gemacht und sie stand jetzt ganz alleine da.
Allerdings hatte sie doch eine einzige Freundin an ihrer Schule. Dieses Mädchen hatte sich an ihrem ersten Tag direkt an sie gehängt und sich langsam mit ihr angefreundet. Diese wartete sicher schon auf sie, weswegen sich die Braunhaarige etwas beeilte. Schnell hatte sie ihre Haussuche gegen Straßenschuhe getauscht und trat nach draußen. Dort stand ein Mädchen mit langen, dunkelblonden Haare und schaute immer wieder ungeduldig auf ihre Armbanduhr.
„Du bist mal wieder ganz schön ungeduldig Kate. Du weißt doch, dass ich die Treppen nicht schnell runter laufen darf“, sagte das Mädchen und ging zu der Blonden.
„Ich weiß, aber du hättest dich trotzdem etwas beeilen können Hana“, erwiderte die Angesprochene und wandte sich ihrer Freundin zu.
Obwohl Kate ganze drei Jahre jünger war als Hana verstanden sich die beiden Mädchen wirklich sehr gut und aßen auch immer ihr Mittagessen zusammen auf dem Schuldach. Aber auch außerhalb der Schule machten die Beiden viel zusammen. Die Braunhaarige konnte wirklich behaupte, dass die Jüngere inzwischen ihre beste Freundin war.
„Du hast recht“, meinte Hana. „Wir sollten nicht so herum trödeln.“
„Ich hab zwar gesagt, dass wir es eilig haben, aber willst du nicht noch von ihm verabschieden?“, fragte Kate und grinste die Ältere an. „Ich meine, du wirst ihn die ganzen Sommerferien nicht sehen.“
Leicht wurden die Wangen der älteren Schülerin rot und sie ging ein paar Schritte vor. Sie wusste ganz genau, wenn ihre Freundin damit meinte. Die Rede war von ihrem noch recht jungen Klassenlehrer Ryo Kira, der zur gleichen Zeit wie sie an die Schule kam und der es Hana doch sehr angetan hatte.
„Nein, ich werde mich nicht verabschieden“, sagte das braunhaarige Mädchen schließlich. „Das wäre mir auch viel zu unangenehm, denn er ist schließlich mein Lehrer.“
Seufzend trat Kate neben sie und schaute ihre Freundin leicht kritisch an.
„Ich weiß doch auch, dass er dein Lehrer ist, aber du magst ihn doch trotzdem sehr gerne?“, meinte die Blonde. „Außerdem ist das hier dein letztes Schuljahr und im nächsten Jahr gehst du dann vielleicht auf eine tolle Uni. Dann ist er nicht mehr dein Lehrer, sondern einfach nur noch ein Kerl, in den du verliebt bist.“
Hana wusste, dass ihre Freundin recht hatte. Im nächsten Frühling würde sie ihren Abschluss machen und dann hatte sie vielleicht doch die Chance auf eine Zukunft mit Ryo.
„Nanu? Was macht ihr beiden denn noch hier?“, hörten die beiden Mädchen eine männliche Stimme hinter ihnen Fragen. „Normalerweise seid ihr doch immer die ersten die weg sind, sobald die Schule aus ist.“
Die ältere Schülerin zuckte kaum merklich zusammen, denn sie kannte die Person zu der die Stimme gehörte nur zu gut. Es war jene Person, über die sie eben noch gesprochen hatten.
„Oh, hey Sensei“, sagte Kate ganz locker und rückte etwas ihre Brille zurecht. „Sie haben ja recht, dass wir sonst immer die Ersten sind, aber heute konnte Hana nicht so schnell.“
Leicht verlegen blickte Hana zu ihrem Lehrer. Er war gerade mal 26 Jahre jung, war groß gewachsen, hatte etwas längere rotbraune Haare und strahlend blaue Augen. Jedes Mal wenn sie ihn ansah bekam sie ganz weiche Knie.
„Geht es dir etwa nicht gut Kanegawa?“, fragte er sie plötzlich.
„Nein, es geht mir gut“, antwortete das Mädchen, doch Kate übertönte sie einfach.
„Ihr geht es wirklich nicht gut. Sie sagte vorhin, dass ihr etwas schwindelig ist.“
„Dann sollte ich dich lieber nach Hause fahren. Nicht dass du mir noch auf dem Heimweg einfach zusammen brichst“, sagte Ryo. „Du kannst natürlich auch mitfahren Misato.“
„Das würden Sie wirklich tun Sensei? Das ist furchtbar nett von Ihnen. Wir nehmen Ihr Angebot sehr gerne an.“
Ohne darauf zu warten, was Hana dazu sagte, zog Kate sie hinter sich her zum Wagen des Lehrers. Manchmal war es mit der Blonden nicht besonders einfach. Zwar behandelte sie sie ganz normal, doch gelegentlich nutze sie es doch etwas aus, dass die Ältere noch etwas schwach war. Nun saß sie neben Ryo auf dem Beifahrersitz, während ihre blonde Freundin es sich auf dem Rücksitz bequem machte. Der Lehrer startete den Motor und fuhr langsam los.
„Da fällt mir noch etwas ein. Das wollte ich dir eigentlich schon den ganzen Tag geben“, sagte die Brillenträgerin und zog aus ihrer Schultasche ein kleines Beutelchen, das mit Sternen bedruckt und mit einer gelben Schleife geschlossen war und reichte es Hana nach vorne. Leicht verwundert nahm sie das Beutelchen an sich.
„Was ist das?“, wollte die Dunkelhaarige wissen.
„Mach es doch auf, dann siehst du es“, erwiderte die Andere.
Langsam löste die Schülerin die Schleife und zum Vorschein kam eine kleine weiße Katze, die so etwas wie gelbe Handschuhe mit Krallen trug, an dessen Seite kleine orange Zacken zu sehen waren. Die Ohren- und Schwanzspitze des Tieres war ganz ausgefranst und lila. Auch der restliche Schwanz war mit lila Streifen versehen. Am oberen Teil des Schweifs hatte Kate mit etwas gelben Stoff noch einen winzigen Ring befestigt.
„Ein Gatomon“, hauchte die Ältere überrascht.
„Was ist das denn für ein lustiges Tier?“, fragte der Lehrer, der einen kurzen Blick auf das Tier in der Hand seiner Beifahrerin geworfen hatte.
„Also das ist...das ist“, stotterte Hana.
„Das ist nicht wirklich ein Tier. Es ist ein Digimon und sein Name ist Gatomon. Vor kurzem erst hat Hana Digimon für sich entdeckt und das hier ist ihr Lieblingsdigimon“, antwortete die Blonde anstelle ihrer Freundin.
„Soso, ein Digimon also“, erwiderte Ryo und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen.
Leicht beschämt und mit tief roten Wangen rutschte die Schülerin tiefer in ihren Sitz und hoffte, dass die Fahrt bald zu ende sein würde.
„Wissen Sie was Sensei? Sie können mich hier einfach raus lassen. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu mir nach Hause“, sagte Kate.
„Na gut“, entgegnete der Lehrer und fuhr rechts ran, damit die Brillenträgerin aussteigen konnte.
Auch das dunkelhaarige Mädchen verließ den Wangen und seufzte leise.
„Was ist denn los Kanegawa?“, fragte Ryo sie. „Ist dir vielleicht etwas schlecht geworden?“
„Nein, es alles bestens“, sagte die Schülerin und versuchte ihrem Schwarm ein Lächeln zu schenken. „Ich hab es von hier aus auch nicht mehr weit. Ich möchte Ihnen nicht noch mehr Umstände machen. Ich wünsche Ihnen schöne Ferien.“
Leicht verbeugte sie sich, wandte sich dann um und ging. Verwirrt sah der Lehrer ihr nach, dann seufzte er und fuhr weiter.
„Hana, was sollte dass denn?“, fragte die Blonde und lief ihrer Freundin schnell nach. „Von hier aus sind es doch noch fast fünf Stationen mit der Bahn. Warum hast du dich denn nicht einfach von ihm Heim fahren lassen?“
„Ich hab mich nicht wohlgefühlt“, antwortete Hana ihr. „Ich hatte das Gefühl, dass er sich wegen Gatomon über mich lustig macht.“
„Das ist doch Unsinn. Warum sollte er sich über dich lustig machen? Also ich fände das als Kerl richtig süß.“
„Eigentlich ist es jetzt auch egal. Es lässt sich eh nicht mehr ändern. Danke für dieses tolle Geschenkt Kate. Du hattest sicher sehr viel Arbeit damit.“
„Schon, aber...“
„Ich muss jetzt los, sonst verpasse ich noch meine Bahn. Wir sehen uns dann nachher um 17 Uhr im Park.“
„Klar, aber...“
Hana gab ihrer Freundin nicht die Chance noch etwas zu sagen und war dann auch schon Richtung Bahnstation verschwunden. Als sie schließlich zu Hause ankam und die Wohnungstür aufschloss, war es still. Niemand war da, der sie erwartete. Wer sollte auch hier auf sie warten. Sie lebte ganz alleine in der Wohnung, denn ihre Eltern arbeiten im Ausland. Sie schickten ihrer Tochter jeden Monat Geld und eine ziemlich kurze Mail. Das war der einzige Kontakt den die Schülerin noch zu ihren Eltern hatte. Eigentlich hatte sie sich schon daran gewöhnt, trotzdem war sie manchmal etwas einsam.Heute war einer dieser Tage, an denen die Einsamkeit schon fast unerträglich war. Langsam schloss sie die Tür hinter sich und schlüpfte aus ihren Schuhen. Nach dem sie kurz nach oben in ihrem Zimmer verschwunden war, um sich umziehen, ging das Mädchen nun in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen. Als sie in den Kühlschrank sah, seufzte sie leise.
Ich sollte mal wieder einkaufen gehen, ging es ihr durch den Kopf, als sie den recht mageren Inhalt ihres Kühlschrankes betrachtete.
Da der Kühlschrank nicht wirklich etwas zu essen her gab, schloss sie die Tür wieder, ging ins Wohnzimmer und legte sich aufs Sofa, wo sie für einen kurzen Moment die Augen schloss. Als sie die Augen wieder öffnete und einen kurzen Blick auf die Wanduhr warf, war es schon weit nach 17 Uhr. Sie musste eingeschlafen sein.
„Verdammt“, fluchte die Braunhaarige leise und sprang auf.
Sie kam viel zu spät zu ihrer Verabredung mit Kate. So schnell sie konnte packte sie ihr Handy, ihren Schlüssen und noch einige andere Sachen in ihre Umhängetasche. Im Flur hielt sie kurz inne. Auf einem kleinen Tisch, der dort stand, saß das kleine Plüschgatomon von Kate direkt neben einem Bild, das die beiden Mädchen zeigte. Hana konnte sich nicht daran erinnern, dass sie Gatomon dort abgesetzt hatte. Kurz zuckte sie mit den Schultern und steckte es kurzerhand auch in ihre Tasche. Nun war höchste Eile geboten. Kate konnte es nicht ausstehen, wenn man sie lange warten ließ. So schnell wie sie konnte, rannte das Mädchen zum Park. Etwas außer Atem und leicht hustend kam sie dort an, doch von ihrer Freundin war keine Spur zu sehen.
Sie wird doch nicht etwa nach Hause gegangen sein?, fragte sich Hana.
Eigentlich war das so gar nicht die Art der Blonden. Die Schülerin zog ihr Handy hervor, um zu sehen, ob ihre Freundin sie vielleicht angerufen oder ihr eine Nachricht geschickt hatte, doch dem war nicht so. Kein Anruf und auch keine Nachricht. Mit leicht gerunzelter Stirn nahm das dunkelhaarige Mädchen auf einer Bank platz, auch weil ihr etwas schwindelig vom rennen wurde. Kurz schloss sie die Augen, um wieder zur Ruhe zukommen.
„Hana“, flüsterte eine sanfte Stimme.
Sofort schlug Hana die Augen wieder auf und blickte sich suchend um. Niemand war nah genug an ihr dran, als das er ihr hätte ihr etwas zuflüstern könnte. Aber woher war die Stimme nur gekommen?
Ich hab mir das ganz sicher nur eingebildet, dachte sie sich.
Einige Minuten blieb sie noch sitzen, dann stand sie langsam auf. Vielleicht sollte sie Kate anrufen, um zu erfahren wo sie war. Gerade wollte die Schülerin die Nummer ihrer Freundin wählen, als sie spürte wie die Erde unter ihr erzitterte.
Ein Erdbeben, schoss es ihr sofort durch den Kopf, doch schien dies niemand außer ihr zu bemerken.
Kinder spielten weiter im Sandkasten und Spaziergänger gingen ungerührt weiter. Vielleicht lag es ja an ihr? Wohl möglich war sie doch noch nicht ganz wieder fit. Gerade wollte sich das Mädchen wieder setzten, als ihre Beine einfach nach gaben und sie mit dem Kopf hart gegen die Bank schlug. Nach und nach wurde es dunkel um sie herum, bis sie schließlich das Bewusstsein verlor.
„Hana? Hana wach doch bitte auf“, sagte eine sanfte Stimme leise zu ihr.
Es war nicht Kates Stimme und doch kam sie dem Mädchen bekannt vor. Langsam öffnete sie ihre Augen und strich sich schwach ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie blinzelte etwas, da die Sonne sie leicht blendete. Mühsam setzte sie sich auf und ihre grünbraun Augen huschten kurz über ihre Umgebung. Sie befand sich ganz sicher nicht mehr im Park. Überall um sie herum standen. Es musste sich um einen Wald handeln, doch wie war sie hier hergekommen?
„Man brummt mir der Schädel“, murmelte Hana und rieb sich leicht den Hinterkopf.
„Das kommt sicher von dem harten Aufprall.“
Das Mädchen fuhr zusammen. Da war wieder diese sanfte Stimme. Nun war ihr klar, wo sie die Stimme schon einmal gehört hatte. Es war im Park gewesen, als diese Stimme ihr ihren Namen zugeflüstert hatte. Die Schülerin warf einen Blick neben sich und erschrak. Neben ihr saß ein Gatomon und sah sie mit seinen großen hellblauen Augen besorgt an. Das konnte doch nicht wahr sein. Digimon gab es nicht, wahrscheinlich war das alles nur ein Traum. Schließlich war sie wirklich ziemlich unsanft zusammen gebrochen und hatte sich den Kopf gestossen.
„Geht es dir nicht gut? Du siehst furchtbar blass aus“, fragte Gatomon. „Du solltest dich jetzt noch ein bisschen ausruhen. Wir müssen bald aufbrechen, denn wir haben viel vor.“
„Das muss wirklich ein Traum sein“, nuschelte Hana.
„Oh, das ist kein Traum und wenn, dann ist es nur ein furchtbarer Alptraum. Du bist in der Digiwelt Hana.“

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Tag der Veröffentlichung: 25.01.2010

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