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Prolog : Inneres Licht




Habt ihr euch schon mal darüber Gedanken gemacht wie eine Seele aussieht?
Ob sie wohl farbig oder durchsichtig ist.
Ob sie wohl fest oder weich ist.
Ob sie wohl gut oder böse ist.
Als ich klein war, habe ich mir die Seele immer als eine Art leuchtende Kugel vorgestellt, die die Farbe des Charakters annahm, der in einem steckte.
Heute weiß ich, dass Seelen eigentlich Kerzen sind.
Je dunkler die Flamme, desto bösartiger die Person. Außerdem brennt sie nicht ewig, wie viele denken mögen.
Sie erlischt nach einer gewissen Zeitspanne und lässt nur noch einen leblosen, kalten Wirtskörper zurück.
Also rein objektiv betrachtet, könnte man die Flamme der Kerze auch mit einer inneren Heizung gleichsetzen, die erst erlöschen muss um den Körper auf ewig kalt werden zu lassen.
Ärzte würden jetzt sagen, dass man dies algor mortis nennt.
Leichenkälte, die die Glieder einfrieren und ersteifen lässt.
Ich jedoch, nenne es Seelenlosigkeit, die nur die Toten besitzen. Egal wie böse, gemein, kalt und niederträchtig ein Mensch sein mag, eine Seele hat er immer.
Nur die Toten wandeln ohne diesen wichtigen Bestandteil umher.
Sie sind, wie ihr Name schon sagt, tot.
Woher ich das alles weiß, wollt ihr jetzt bestimmt wissen.
Nun, ich bin eine der wenigen, die die Gabe des ‚Sehens‘ besitzen. Ich kann durch die fleischliche Hülle eines jeden Menschen hindurchsehen und in den Abgründen ihrer Seelen lesen, wie in Hochglanzmagazinen.
Manchmal ist es von Vorteil, zu wissen mit wem man zu tun hat.
Manchmal ist es ein Nachteil, zu wissen, dass der Gegenüber nicht mehr lange zu leben hat.
Und manchmal, aber nur ganz selten, wird es einem zum Verhängnis, diese ‚Gabe‘ zu besitzen.
Denn wenn man einen Totgeweihten zu nahe an sich heranlässt, stirbt ein Teil von einem selbst mit dieser geliebten Person. Ich habe versucht es zu vermeiden.
Ich hatte es wirklich versucht.
Doch ironischer weise ist es mir nicht gelungen.
Ich konnte mich nicht völlig von der Außenwelt abkapseln, schließlich brauchte jeder Mensch so etwas wie Liebe, Trost und Zuwendung.
Und doch hatte ich mit allen Mitteln gekämpft.
Ich hatte tatsächlich geglaubt meine ganzen menschlichen Triebe abstellen und nur meinem Tod entgegen leben zu können.
Fast hätte ich es sogar vollbracht, fast, wäre die Zeit für mich abgelaufen gewesen, wenn er nicht gekommen wäre.
Eher unfreiwillig hatte er mich am Leben gehalten und dafür gesorgt, dass ich vor Schmerz und Einsamkeit nicht ganz umkam. Er war das letzte Fünkchen Hoffnung gewesen, an das ich mich geklammert hatte.
Auch wenn ich es nicht gewollt hatte.

Heute, kann ich mir nur immer wieder sagen wie dumm es war. Letztenendes hatte er mir doch weh getan und mir gezeigt, dass es sich nicht lohnte an andere zu glauben oder ihnen zu vertrauen.
Am Ende würden sie einen doch nur in Stücke reißen und auffressen.
So war es schon immer und so wird es auch für immer bleiben.


Kapitel 1 : Blue Heights


[13 Jahre zuvor]



Der Wind wehte in starken Böen die dunkelbraunen, toten Blätter umher und unterstrich deutlich das dunkle Grau der flauschigen Wolken, die am Himmel türmten.
Baumkronen wurde mit sanfter Gewalt hin und her gewogen und das letzte Laub sank hinab auf das feuchte Erdreich.
Im Großen und Ganzen konnte man dieses Szenario als typischen Herbst in ‚Blue Heights‘ bezeichnen, nur der Regen hatte das Kinderheim bis jetzt noch nicht gegrüßt. Doch Ethan Goddale war sich sicher, dass dies bald folgen würde.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stand er vor dem hohen Panoramafenster in seinem Büro und blickte hinab auf das weite Gelände. Einzelne, schon ergraute, Haarsträhnen fielen in sein markantes Gesicht und er wischte sie mit einer mühelosen Bewegung nach hinten. Doch anstatt dort zu ruhen hatten sie sich bald wieder an ihren ursprünglichen Platz in seinem Gesicht bewegt. Ein entnervtes Seufzen entwich seiner Kehle und Ethan massierte sich müde den Nasenrücken.
Sein Kopf schmerzte in einem unerträglichen Pochen und der ältere Mann nahm nun beide Hände zur Hilfe, um sich Linderung zu verschaffen.
Mit kreisenden Bewegungen fuhr er über seine Schläfen und knurrte kurz erbost, als alles Massieren nichts half.
Wieso er ausgerechnet heute Kopfschmerzen hatte, verstand er nicht.
Heute war ein ungewöhnlich ruhiger Tag gewesen und alle Dinge waren friedlich und reibungslos vergangen. Mr. Goddale hätte zig andere Tage aufzählen können, an denen Migräne-Anfälle berechtigt gewesen wären, doch nicht heute.
Kraftlos ließ er sich in den großen schwarzen Ledersessel sinken und verschränkte die Hände vor seinem Bauch.
Er schloss die Augen und atmete tief und ruhig ein und aus.
Vielleicht würden diese ‚Atemübungen‘ die Heilung fördern.

Nach zehn weiteren Minuten hielt er es nicht mehr aus und rief bei seiner Sekretärin Chloe Millers an, die in dem Raum vor seinem Büro hockte und wahrscheinlich nichts Besseres zu tun hatte, als irgendwelche Tratsch-Zeitschriften zu lesen und dabei aufgeregt zu schnattern.
„Miss Millers, dürfte ich Sie bitten mir eine Kopfschmerz-Tablette und ein Glas Wasser zu bringen?“, fragte Ethan in gequältem Tonfall, während er sich über sein schwarzes Telefon gebeugt hatte und den roten Knopf gedrückt hielt.
Er hörte seine Sekretärin leise grummeln, doch sie bejahte seine Frage und Ethan schüttelte den Kopf. Wieso stellte er sich nicht eine neue, freundlichere und vielleicht auch etwas arbeitstüchtigere Sekretärin ein, die seine Anfragen sofort bearbeitete, mit einem freundlichen Lächeln auf den rot-geschminkten Lippen.
Doch so sehr er sich auch über Miss Chloe Millers aufregen mochte, seiner Bitte kam sie sofort nach und klopfte binnen der nächsten zwei Minuten artig an. „Herein!“, rief Ethan und zuckte zusammen.
Selbst der Klang seiner eigenen Stimme fügte ihm Schmerzen zu.
Chloe trat ein, lächelte kurz auf und stellte dann das Wasserglas vor ihm ab.
„Wo ist denn die Tablette?“, fragte er und blickte seiner Sekretärin mit hochgezogener Augenbraue in das junge Gesicht.
„Ich habe mir das Privileg zu Teil kommen lassen Ihnen eine wasserauflösende Aspirintablette in das Wasser zu tun“, erwiderte sie und stöckelte mit höchster Eleganz auf ihren 9-cm Absätzen hinaus in ihren Arbeitsbereich.
Überrascht folgten Ethans Augen Chloe hinaus und er grinste flüchtig.
Das war der Grund warum er sie nicht feuerte.
Weil sie eben doch gut war, auf ihre spezielle Art und Weise. „Danke!“, rief er nach draußen und trank das Glas in nur einem einzigen kräftigen Zug leer.
„Schmeckt scheußlich“, murmelte er zu sich selbst und lehnte sich in seinem Sessel zurück, um sich zu entspannen und das Aspirin wirken zu lassen.
Tatsächlich begann der Schmerz abzuschwellen und fast fühlte sich Ethan wieder besser, aber nur fast eben.
„Mr. Goddale, Mrs. Terrell ist mit dem Kind eingetroffen“, verkündete Chloe und trat, dieses Mal ohne zu klopfen, in sein Büro. „Dann lassen Sie sie das Kind doch einfach in seinen Raum bringen“, sagte Ethan, nicht in der Lage nun mit dieser schrecklichen Person namens Abigail Terrell auch nur ein vernünftiges Wort zu wechseln.
„Auch wenn es mich eigentlich nicht interessieren sollte, beziehungsweise gar nicht interessiert, möchte ich Sie an Ihre Prinzipien erinnern, dass sie sich jedes Kind ansehen und sich eine eigene Meinung bilden wollten.“
„Sie müssen mich nicht an meine Prinzipien erinnern“, seufzte Ethan schwer und richtete sich kurz seine gelockerte Krawatte. Elegant erhob er seinen Körper von dem schwarzen Polster und positionierte sich schweren Herzens vor dem Fenster, um hinauszusehen.
Dort parkte ein schwarzer Bentley, Baujahr 1960, dessen Beifahrertür aufgestoßen wurde und eine brünette Frau zu Tage beförderte, die mit ihren spitzgekräuselten Lippen dem Fahrer wahrscheinlich irgendeine spitze Bemerkung über seinen Fahrstil zu fauchte.
Der Fahrer ließ dies ohne großes Murren über sich ergehen, stieg aus und öffnete die hintere Tür für ein kleines Mädchen.
Sie war nicht größer als 1, 30m und wirkte noch etwas kleiner durch ihre langen rosenholzfarbenen Haare, die ihr bis zu der schmalen Hüfte reichten.
Der zierliche Körper steckte in einem weinroten Kleid, welches Ethan unheimlich unbequem und einengend vorkam, sodass sofort so etwas wie Mitleid mit diesem hübschen Mädchen aufflammte.
Ohne großes Interesse huschten die großen Kinderaugen über das Gelände und blieben an seinem Fenster hängen.
Ethan verzog die schmalen Lippen zu einem freundlichen Lächeln, welches das Mädchen –zwar nicht sofort, aber immerhin- erwiderte. Sie hob ihre kleine Hand und winkte ihm etwas geniert nach oben.
Überrascht hob auch der Direktor die Hand und winkte zurück.
Selten passierte es, dass Kinder zu solch freundlichen Gesten direkt am Anfang ihrer Karriere in Blue Heights fähig waren. Fast jedes Geschöpf, welches hierher kam wirkte zu Anfang eingeschüchtert und verängstigt. Wie ein erschrockenes Tier.
Doch dieses Mädchen schien anders zu sein.
Viel offener und vertrauensvoller.

Abigail packte die Hand des Mädchens mit ihrer eisernen Vogelklaue und zerrte sie beinahe mit hohler Gewalt zum Eingang des hohen Gebäudes.
Zum wiederholten Mal fragte sich Ethan wie es diese schreckliche Person geschafft hatte Jugendarbeiterin zu werden.
Sie war kein Mensch, zu dem Kinder schnell und einfach Vertrauen aufbauen konnten. Eher erinnerte sie an die Hexe aus Hänsel und Gretel, die Kinder bei lebendigem Leib fraß.
Ohne die Miene zu verziehen ließ sich die Neue von Mrs. Terrell in das Büro von Ethan führen, wo sie ohne zu klopfen hineinstürmte.
Der Direktor blickte mit unverhohlener Missbilligung in den Augen über sein Schultern zu den eingetroffenen Personen. „Dürfte ich Sie bitten das nächste Mal anzuklopfen. Es ist kein gutes Benehmen, was sie dem Kind dort vermitteln“, sagte Mr. Goddale ruhig, lächelte höflich und deutete auf die beiden kleineren Ledersessel vor seinem glänzenden Mahagoni Tisch.
Er selbst nahm Platz auf seinem Ledersessel.
Die Furie und das Mädchen nahmen wortlos Platz und richteten ihr beider Augenmark auf Ethan Goddale, den Direktor von Blue Heights, dem Kinderheim, welches bekannt für die strenge Ausbildung und Erziehung war.
Aus ihrem Hause stammten einige wichtige Männer und Frauen aus dem Parlament sowie große Firmenbosse, die nun in Geld badeten.
„Also, Mrs. Terrell. Dürfte ich fragen, wen sie mir da hergebracht haben?“, begann Ethan und lächelte dem neuen Mädchen noch einmal freundlich zu.
„Stell dich vor!“, herrschte die Frau das Kind an.
Wie geprügelt krampfte sich der kleine Körper zusammen und die Augen huschten nervös im Raum umher.
Ihre kleinen Fingerchen hatte sie in ihrem Schoss zusammengefaltete, während sie mir einer leisen, aber melodischen Stimme begann zu sprechen: „ I-ich bin Elizabeth Florence Lyall und sechs Jahre alt. Meine Eltern sind vor acht Monaten bei ihrer Afrika – Reise umgekommen und seitdem habe ich bei meiner Grandma und meinem Grandpa gewohnt, doch die beiden sind schon viel zu alt um sich um mich zu kümmern. Ich habe keinerlei Verwandten, deshalb hat mich Mrs. Terrell hierher gebracht.“
Der Direktor verschränkte seine Hände ineinander und blickte auf die kleine Elizabeth, die hier vor seinem Tisch saß und mit den Tränen zu kämpfen schien.
Ob dies wegen ihren Eltern, wegen dem Aufenthalt in Blue Heights oder wegen all den Dingen zusammen war, wusste er nicht, doch er hatte die Aufgabe diesem Kind wieder ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
Abigail saß neben Elizabeth und lächelte ihr schadenfrohes Lächeln. „Damit ist mein Auftrag erledigt“, erwiderte sie und erhob sich von der Sitzgelegenheit.
Widerwillig hielt Ethan ihr seine Hand hin. „Bis zum nächsten Mal, Mr. Goddale“, sagte sie, berührte nur kurz seine Hand mit ihrer und huschte dann wie ein hinterhältiger Luchs aus seinem Büro.
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen Ethan und Elizabeth, welches der ältere Mann letztendlich überbrückte, indem er sie fragte, ob sie nicht ein paar Süßigkeiten wolle.
Langsam schüttelte sie ihren Kopf, wobei ihre langen Haare seicht mit wehten. „Süßigkeiten sind schlecht für die Zähne.“
Ethans linke Augenbraue schoss überrascht in die Höhe.
So etwas hatte noch kein Kind zu ihm gesagt.
Noch nie, in seiner gesamten Laufbahn als Direktor dieses Kinderheims, hatte ein Kind Süßigkeiten ausgeschlagen.
„Nun, das schon, aber der Körper braucht auch ab und zu Zucker. Dadurch wird ein Glückshormon ausgeschüttet und wir sind, wie der Name sagt, glücklich“, mit diesen Worten schob er die Schüssel voller Nougatbonbons zu Elizabeth hinüber.
Nachdenklich ruhten ihre Augen lange auf der Schüssel, bis sie seufzend zulangte. „Ja, das hat mir Mutter auch schon gesagt. Endorphine werden freigesetzt und lassen den Menschen Glück und Zufriedenheit empfinden“, murmelte das Mädchen und kaute gedankenversunken auf dem Nougat herum.
Sprachlos öffnete Ethan den Mund einen Spalt breit und war für kurze Zeit nicht in der Lage etwas zu sagen.
Dieses Mädchen war eindeutig jemand sehr ungewöhnliches.
Normale sechsjährige hatten noch nicht einmal eine vage Ahnung, was ein Glückshormon sein könnte. Dieses
Mädchen konnte sogar das richtige benennen, welches bei dem Genuss von Schokolade und anderem Süßstoff ausgeschüttet wurde. „Du bist ein sehr kluges Mädchen. Woher weißt du so viel?“, fragte er neugierig und beugte sich über seinen Tisch.
Sie hob das Gesicht und blickte dem älteren Mann direkt in die Augen.
„Meine Eltern waren oft nicht da und mir war langweilig. Da habe ich nach einiger Zeit angefangen in Vaters Bibliothek zu lesen. Erst einfach Bücher, später habe ich es dann mit etwas komplizierteren versucht“, erzählte Elizabeth ruhig, während sie noch ein Nougat nahm. „Die schmecken gut“, bemerkte sie am Rande und Ethan glaubte so etwas wie kindliche Freude in ihren, sonst so erwachsenen, Augen zu erblicken.
Ein kurzes väterliches Lächeln huschte über seine Züge und er stand von seinem Platz auf. „Das ist schön. Aber jetzt bringe ich dich auf dein Zimmer, damit du dich einrichten kannst und die anderen Kinder kennen lernst“, damit öffnete er die Tür und deutete mit seiner Hand nach draußen, als er bemerkte, dass Elizabeth keine Anstalten machte ihm zu folgen. „Kann ich nicht ein Einzelzimmer haben?“, fragte sie leise und senkte das Puppengesicht wie so oft schon zu Boden.
Wieder etwas, was noch kein Kind verlangt hatte.
Alle anderen bettelten förmlich um irgendwelche sozialen Kontakte mit gleichaltrigen und sie wollte lieber für sich allein bleiben.
„Es tut mir Leid Elizabeth, aber wir haben nur Gemeinschaftszimmer. Wieso willst du denn alleine sein? Das ist doch langweilig.“
„Dann kann man nichts machen“, flüsterte sie, erhob sich und trat neben den Direktor.
Sie hatte die schmalen Schultern nach hinten gestrafft und ihr Kinn fast schon arrogant in die Höhe gestreckt.
„Elizabeth, du hast mir meine Frage nicht beantwortet“, erinnerte sie Ethan und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Eine Weile schwieg sie eisern und beinahe erwartete Ethan keine Antwort mehr, doch sie blickte zu ihm hoch mit diesen klugen Augen und lächelte traurig.
„Weil ich anders bin und das wissen die Kinder, sie werden mich hassen!“




Kapitel 2 : Die Gabe des Sehens



So bin ich also in das Heim ‚Blue Heights‘ gekommen.

Eigentlich hätte die Geschichte hier enden können.
Mit einem traurigen, elternlosen Mädchen, welches jahrelang vor sich hin vegetieren und dann irgendwann, wenn sie die Volljährigkeit erreicht hatte, einen langweilen Bürojob annehmen würde.
Ja, wenn ich heute darüber nachdenke wäre ich ungemein froh gewesen wenn es genau so gekommen wäre, doch das Schicksal hatte andere Dinge mit mir vor.
Viel größere Dinge.

Einmal hatte ich einem Pfarrer mein Herz ausgeschüttete in der Hoffnung damit vielleicht etwas Minderung meiner enormen Last zu erfahren.
Doch anstatt mich mit tröstenden Worten zu heilen, blinzelte er mich eine Weile überrascht an und griff dann nach meinen Schultern.
„Meine Güte, Mädchen, das ist doch etwas wunderbares! Du kannst die Seele eines Menschen sehen, nein, besser noch, du kannst in ihr lesen wie in einem Buch. Dir muss doch klar sein, welche Vorteile diese Gabe mit sich bringt. Es muss eindeutig ein Geschenk Gottes sein, was dich da erreicht hat!“, hatte er in völliger Euphorie gerufen und anscheinend vergessen, was ich ihm mitgeteilt hatte.
Dass ich es als Last und vor allem als Behinderung empfand.
Dass es mich innerlich auffraß, mich immer von anderen Menschen abkapseln zu müssen.
Und dass mir diese „Gabe“ nichts weiter als Schmerz bereitete.

Während der Geistliche also damals, fröhlich wie ein Schulmädchen, durch sein Büro geschritten war, hatte ich mich erhoben und war mit mindestens drei Tonnen mehr Last auf den Schultern aus dem rechteckigen Raum geschritten.
Zwei Monate später war dieser besagte Geistliche an einem Herzinfarkt gestorben.

Nun, aber ich denke ich sollte meine Geschichte weiter erzählen, schließlich sind wir in dieser fernen Zukunft noch nicht angekommen, sondern schwelgen noch in meiner melancholischen Vergangenheit in dem Kinderheim.
Wenn man es rein objektiv betrachtete, hätte diese Zeit eigentlich nicht schmerzhaft werden müssen. Schließlich war der Direktor sehr nett gewesen genauso wie seine Sekretärin, die zwar immer etwas mürrisch schaute, aber dafür eine sehr reine Seele hatte.
Und selbst die Kinder, die mir diese „Gabe“ beschert hatten waren im Grunde genommen gute Menschen gewesen, mit nur dem Schwachpunkt, dass sie eben normale, kindlich denkende Geschöpfe waren, die ihre Verachtung mir gegenüber noch nicht in klaren Worten ausdrücken konnten und es deswegen in Taten formulierten.
Oft hatte ich mir gewünscht sie wegen all dem hassen zu können, doch es gelang mir nicht. Schließlich wussten sie nicht was sie mir mit ihrer ‚feuchten Überraschung‘ wie sie es damals genannt hatten, antun würden.
Trotzdem hätte es mir gut getan, wenn ich wenigstens irgendeinen Sündenbock gehabt hätte, auf den ich alle Schuld schieben konnte.
Denn so entstand mein Selbsthass.
Aber erst mal genug von diesen Ansichten. Ich werde sie schon noch oft genug ansprechen, da kann ich nun zur Abwechslung mal versuchen mich auf die eigentlichen Begebenheiten konzentrieren, die ich schildern will.



Kapitel 3: Kuss des Verderbens


Und Elizabeth sollte Recht behalten.
Die Tage, Monate und Jahre im Heim wurden eine einzige Tortur. Die Kinder schienen sie alle aus tiefstem Herzen zu hassen, obwohl sie sie im Grunde genommen nicht kannten.
Sie spürten einfach, dass dieses Mädchen mit den klugen, grünen Augen anders war und dies verabscheuten sie.
Wieso sie anders war konnte sich Elizabeth nicht erklären.
Vielleicht lag es daran, dass sie noch nie mit gleichaltrigen Kindern in Berührung gekommen war, denn einen Kindergarten hatte sie nicht besucht. Dies war ihren Eltern zu ‚niedrig‘ gewesen, wie sie es immer ausgedrückt hatten.
Ihrer Ansicht nach hätte Elizabeth die Kindheit gleich überspringen können und zu einer feinen, intelligenten Dame werden können, doch zu ihrem Leidwesen ging dies nicht so einfach. Sie mussten ihr erst all den kindlichen Glauben austreiben und ihr dafür die eiskalte Realität in ihren Kopf pflanzen.
Wenn sie jetzt doch nur sehen würden, was sie ihrer Tochter angetan hatten mit ihrer verkorksten Erziehung. Sie würden sich selbst ohrfeigen, bis sie bittere Tränen weinten, nur für diese kleine Erwachsene, die in einem Kinderkörper feststeckte.

Doch Elizabeth stellte diese Erziehung nicht infrage.
Es war für sie natürlich geworden. Dieses Verhalten, dass man sich eigentlich bis ins Erwachsenenalter aufsparen sollte und auch das angeeignete Wissen.
Und es war schwierig, ja fast schon unmöglich, diese eingeprägten Verhaltensweisen beziehungsweise diesen unnatürlichen Wissensdurst, der in Regionen ausartete, von denen sie noch nichts wissen sollte, zu unterdrücken oder gar zu stoppen. Daher blieb Elizabeth allein und gedemütigt.
Sie versuchte zwar über diesen Sachen zu stehen, doch dies gestaltete sich zunehmend komplizierter, da alle älter wurden und somit auch ihr Horizont weiter wurde. Daher der logische Schluss, dass auch die Palette an Gemeinheiten zunahm.
Somit lag Elizabeth immer öfter auf ihrem Bett und starrt stur nach oben an ihre Zimmerdecke.
Sie blieb einfach liegen, bis sie zum Essen kommen musste oder –als die Jahre voran geschritten waren- zum Unterricht zu erscheinen hatte.
Sie war ein Geist geworden, der nur real wurde, wenn die anderen eine Puppe brauchten, an der sie sich austoben konnten mit ihren imaginären Schlägen und Tritten.
Wirklich geschlagen hatten sie sie nie. Glücklicherweise. Bis jetzt.
Es war auf verbaler Ebene geblieben oder auch in kleineren Taten ausgeartete, die ihr zeigten, dass sie hier nichts wert war.
Die einzigen Personen, die sie mochte waren der Direktor, seine Sekretärin und die alte Köchin Zoe, die jeden Mittag etwas Warmes zubereitete.
In ihren Augen spiegelte sich keine Abscheu oder Verachtung ihr gegenüber, nur ab und an mal ein ehrliches Interesse, an ihrem Wesen, welches sich so sehr von anderen Gleichaltrigen unterschied.
Diese Menschen waren die einzigen mit denen sie Kontakt hatte. Allen anderen ging sie nach Möglichkeit aus dem Weg.

Und das alles im Alter von gerade mal acht Jahren.

Daher war es auch nicht verwunderlich, als Elizabeth eines Abends endlich alles raus ließ. Alle angestauten Gefühle brachen aus ihr heraus und sie drehte vollkommen durch.
Noch nie hatte man ihr ruhiges Gemüt in solch einem Sturm erlebt und Ethan Goddale entschied dieses Mädchen für eine Weile vom Unterricht zu befreien und ihr einen Psychiater zur Seite zu stellen, der ihr entlocken sollte, was es mit diesem Ausbruch auf sich hatte.
Doch Elizabeth schwieg eisern.
Sie sagte nur immer wieder, dass es ihr Leid täte und sie so etwas sicherlich nicht noch einmal machen würde.
Die Gründe für diesen Kurzschluss kannte nur sie selbst und vielleicht die paar Zeugen, die in ihrer Nähe gesessen hatten.

Ein Junge namens Blake Hastings war an ihren Tisch gekommen, den sie meistens für sich alleine hatte.
Das schmierige Lächeln auf seinen Lippen hatte Elizabeth schon immer angeekelt, sodass sie nur mit einem schwachen Abklatsch eines Lächelns dienen konnte. Doch das schien diesem Jungen herzlich egal zu sein, denn er setzte sich dicht neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern.
Erschrocken zuckte sie zusammen und wäre am liebsten aufgesprungen und weggelaufen.
Was sollte das?
Wieso umarmte er sie, nach all dem, was er ihr angetan hatte?
War das eine Entschuldigung, oder doch nur ein weiterer Versuch sie endgültig zu brechen?

Es stellte sich als letzteres heraus.

Eine Weile saß er schweigend da und blickte von oben auf sie herab – das tat er wirklich, denn er war mindestens einen Kopf größer, was wahrscheinlich daran lag, dass er schon 14 war. Doch dann huschte ein Grinsen über seine Lippen und er drehte Elizabeths Kopf zu sich, sodass sie ihm in seine eisblauen Augen blicken musste.
„Sag mal Lizzy“, begann er und Elizabeth knirschte leise mit den Zähnen. Sie wussten, dass sie es hasste so genannt zu werden, so durfte nur ihre Mutter mit ihr reden und genau deswegen taten sie es auch.
„Wie kommt’s denn eigentlich, dass Direx Goddale dich so sehr mag? Sonst ist er auch eher von der Sorte strenger Pauker und hält privates von beruflichem getrennt nicht wahr? Was hast du gemacht, damit er dich ins Herz schließt? Hast du ihm einen gewichst mit deinen kleinen Händen oder hast du es ihm mit dem Mund besorgt? Oder noch besser, hatte deine Mutter einfach nur keinen Bock mehr auf ein Balg wie dich und dich deswegen hierher abgeschoben? Was hat sie wohl dafür getan, dass er dich annimmt? Wahrscheinlich auch ganz dreckige Sachen“, seine Augen blitzten anzüglich und er fuhr mit seiner Hand über ihren Oberschenkel.
Genau das war der Moment, als Elizabeth aus ihrem Schneckenhaus gekrochen kam und sich auf ihn stürzte wie eine wildgewordene Katze.
Sie wusste nicht genau, was er da eigentlich gesagt hatte. Sie kannte die Worte ‚gewichst‘ und ‚geblasen‘ nicht und konnte sich auch nicht erklären, was sie zu bedeuten hatten, doch er hatte etwas über ihre Mutter gesagt und das war genug, um ihren Hass auf ihn zu beschwören.
Obwohl Blake eigentlich hätte stärker sein müssen, als dieses kleine Mädchen bekam er sie nicht von sich runter. Sie hatte sich in seiner Gesichtshaut festgekrallt und schlug mit ihren fast schon winzigen Fäusten auf ihn ein.
Alle Wut, die sie ihm gegenüber jemals empfunden hatte kam hoch und gab ihr die Kraft ihnen allen endlich mal zu zeigen, dass sie kein Trampolin war, auf dem man einfach herum hüpfen konnte, wie es einem beliebte.
Andere Leute stürzten hinzu.
Mitarbeiter zerrten an ihr, um sie endlich von Blake zu trennen, doch sie schaffte es immer wieder noch ein paar zufällige Treffer zu landen, bevor sie auf den Boden gedrückt wurde und sich nur noch wie eine Schlange hilflos hin und her winden konnte.
Wütend blickte sie auf und sah wie Blake mit Tränen und Blut verschmiertem Gesicht aufstand und aus dem Speisesaal wankte, gestützt von zwei seiner Freunde. Wahrscheinlich gingen sie in das Krankenzimmer, um dem armen, armen Blake zu verarzten, der doch das ganze Opfer dieser Sache war.
Elizabeth wurde ohne ein Wort zu verlieren in das Zimmer gebracht, das sie sich mit zwei weiteren Mädchen teilte und dort eingeschlossen, bis irgendwann Mr. Goddale kam, um ihr zu sagen, dass sie vom Unterricht befreit wäre und mit einem Mann sprechen würde, der ihr helfen könnte.
Elizabeth glaubte nicht daran, doch sie wollte sich diesem gütigen Mann, der vor ihr stand nicht widersetzen, daher willigte sie mit einem schwachen Kopfnicken ein.
Doch dieser sogenannte Seelenklempner hatte nichts bewirkt.
Er hatte eine paar oberflächliche Dinge mit ihr gewechselt und war dann in dem Glauben abgezogen, ein normales 8-jähriges Mädchen vor sich gehabt zu haben, welches einfach etwas wütend gewesen und deswegen auf einen ihrer Heimgenossen losgegangen war.
Natürlich, was hätte er sonst denken sollen?

Nach der Attacke auf Blake verschärfte sich die Situation um Elizabeth.
Wo vorher mit neckischen Worten herumgeworfen wurde, waren es nun verfaulte Tomaten und Wasserbomben, gefüllt mit irgendwelchen undefinierbaren Flüssigkeiten, die auf sie abgefeuert wurden.
Es schien für das kleine Mädchen so, als wäre sie in der Hölle am heißesten Punkt angekommen, doch das war sie noch lange nicht.
Es sollten noch einige viel heißere Punkte auf sie zukommen.

Einer dieser weiteren heißen Punkt wurde von ihr im November desselben Jahres erreicht.
Es war ihr neunter Geburtstag.

Als sie an diesem Morgen aufwachte hatte sie Kopfschmerzen und wusste, dass etwas Schreckliches in den nächsten Stunden passieren würde, doch trotz des Protests, den ihr Körper ihr entgegen schrie erhob sie sich von ihrem Bett und blickte aus dem Fenster.
Dunkle Wolken zogen sich in bleierner Schwere über den Himmel und raubten jeglichen Funken von Glücksgefühl. Unbarmherziger Wind peitschte das Feld entlang und bog die Bäume wie es ihm beliebte. Wie ein Hund heulte er um das Haus und stieß damit genau die Laute aus, die auch in Elizabeths Inneren tobten, jedoch keinesfalls an die Oberfläche durften.
„Hey Elizabeth“, riss sie eine Stimme aus ihren Gedanken und sie blickte überrascht über ihre Schulter. Da stand eine ihrer Zimmergenossinnen.
Es war die Blonde mit den außergewöhnlichen schokoladenbraunen Augen.
Sie hatten noch nie ein Wort gewechselt und es wunderte Elizabeth, dass sie es jetzt taten.
„Was ist denn Harriett?“, fragte sie leise und stieg von dem breiten Fenstersims herunter. Harriett lächelte.
Es war ein ehrliches Lächeln, welches Elizabeth noch nie von einer Gleichaltrigen gesehen hatte. „Ich soll dir von Zoe ausrichten, dass sie dich später sehen möchte. Sie hat eine Überraschung für dich oder so“, berichtete Harriett ihr und wandte sich dann zur Tür. „Ich muss dann wieder los, ich hab heute Küchendienst“, als sie diesen Satz sagte verzog sie ihr feines Gesicht angeekelt und schüttelte kurz den Kopf, wobei ihre Locken fröhlich mit hüpften.
Sie lächelte noch einmal in Elizabeths Richtung, winkte und verschwand dann aus dem Zimmer.
Mit offenem Mund und vor Überraschung aufgerissenen Augen starrte Elizabeth ihrer Zimmergenossin hinterher und lächelte dann irgendwann leicht.
Vielleicht ging es ja jetzt endlich mal bergauf, anstatt immer nur weiter nach unten.

Der Tag verlief sonst ereignislos, was Elizabeth wunderte. Heute wurde sie nicht mit Essen beworfen oder herum geschubst.
Heute wurde sie einfach nur ignoriert und jetzt kam ihr das mulmige Gefühl von heute Morgen lächerlich vor.
Schließlich war heute einer der schönsten Tage, wenn nicht sogar der Schönste ihres bisherigen Aufenthalts in ‚Blue Heights‘!
Nach dem Unterricht verschwand Elizabeth in ihrem Zimmer, befreite sich von der Schuluniform, die sie zu tragen hatte und erledigte in Windeseile ihre Hausaufgaben. Sie war neugierig, was Zoe geplant hatte.
An ihren letzten Geburtstagen hatten sie bei ihr in der Küche gesessen und Kekse mit Milch gegessen. Vielleicht würden sie es ja dieses Jahr wieder tun.
Zwar war es Heimkindern eigentlich nicht erlaubt das heilige Reich der Küche zu betreten, aber bei Elizabeth hatte Zoe schon immer eine Ausnahme gemacht. Immer wenn es Elizabeth besonders schlecht gegangen war, durfte sie bei der netten Köchin einkehren und ihr von ihren Problemen und Sorgen erzählen und Elizabeth wusste, dass diese ihr zuhörte und es auch für sich behalten würde.
Sie war für sie wie eine zweite Grandma geworden.
Eine warme, alte Frau, an die sie sich in allen Situationen lehnen konnte.
Lächelnd strich sich Elizabeth noch einmal durch die Haare und huschte dann hinaus auf den Korridor. Leisen Schrittes lief sie über den weichen, mitternachtsblauen Teppich und blickte sich kurz um, als zu der Tür kam über der mit schwarzen Buchstaben ‚Speisesaal‘ stand.
Versichert, dass niemand dort war, der sie sehen konnte ging sie durch die Doppeltür und blickte sich neugierig um.

Was sie erblickte ließ ihr sofort das Blut in den Adern gefrieren.

Es war keine Zoe im Raum, nur ein lächelnder Blake mit drei seiner Freunde und ein paar anderen Leuten.
Sie alle blickten mit freundlichen Augen zu Elizabeth, die deswegen an die Tür zurückwich und ihren Körper nahe an das Metall drückte. Wenn einer von ihnen einen Schritt näher kommen würde, würde sie die Beine in die Hand nehmen und rennen was ihr Körper hergab.
Doch als sie noch weiter nach hinten, aus der Tür, taumeln wollte prallte sie gegen einen nachgiebigen, menschlichen Körper. Ein kurzer Blick nach oben genügte ihr, um zu sehen wer ihr da den Fluchtweg versperrte. Kieran O’ Murphy, ein breiter 13-jähriger mit schmierigen braunen Haaren und so dunklen Augen, das sie fast schwarz wirkten.
Wie rußschwarze Kohlenstücke.
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und der kalte Schweiß benetzte ihre Stirn sowie ihren Rücken. Gegen Kieran würde sie nicht ankommen.
Wieso nur war sie dumm genug gewesen auf Harriett zu hören, die ihr diese Nachricht überbracht hatte?
Wieso war sie nur so blind und naiv gewesen?
Sie wusste doch ganz genau, dass es niemanden in diesem verdammten Heim gab, dem sie über den Weg trauen konnte.

„Elizabeth, ich will dir nichts tun. Ich will nur mit dir reden. Aber das geht hier so schlecht, lass und das draußen machen, an der frischen Luft, einverstanden?“, begann Blake und trat auf sie zu. Er lächelte immer noch und auf den ersten Blick sah es echt aus.
Doch irgendetwas daran störte Elizabeth. Sie wusste nur nicht was es war.
Die Antwort sprang sie förmlich an, doch so schnell sie kam, so schnell zog sie sich auch wieder zurück, bevor Elizabeth sie ergreifen und analysieren konnte.
„W-worüber willst du mit mir reden? Und wieso draußen? Das können wir doch auch hier erledigen?“, vor lauter Nervosität hatte sie hastig gesprochen und hätte sich beinahe an ihren eigenen Worten verschluckt.
Blake stand nun direkt vor ihr und tätschelte sanft ihren Kopf. „Über mein bisheriges Verhalten dir gegenüber.
Ich will mit dir draußen reden, weil es sich dort besser reden lässt. Es ist neutrales Gebiet, falls du verstehst was ich meine. Wenn du möchtest, können wir das auch ganz allein machen. Die anderen werden uns einfach nur in sicherem Abstand folgen, denn sie wollen sich auch bei dir entschuldigen.“
Elizabeth ging seine Erklärungen durch. Alles schien richtig und logisch, trotzdem war dieses Gefühl von Falschheit da, welches sie sich einfach nicht zu erklären wusste.
Etwas, was er ihr nicht gesagt hatte, schien im Raum zu sein und alle außer ihr waren eingeweiht.
Ihr Kopf sagte ihr, dass es okay wäre mit ihm zu reden und diese ganze Feindschaft aus der Welt zu schaffen, doch ihr Herz –oder war es doch ihre Seele?- flüsterte beharrlich, dass er etwas im Schilde führte.
Letztenendes siegt ihr Kopf und sie nickte zaghaft.
„Ich hole nur kurz meine Jacke“, flüsterte sie, als sie ihr bereits hingehalten wurde.
„Ich hab es mir erlaubt sie aus deinem Zimmer zu holen“, erwiderte Blake und hielt ihr höflich den Mantel hin.
Misstrauisch griff sie nach dem ihr, bekannten Stück Stoff und zog ihn sich schnell über die Schultern. Sie nickte Blake zu, als Zeichen, dass sie so weit war loszugehen und somit trat die Gruppe aus Leuten hinaus in den kalten Nachmittag.
Löchrige Blätter umspielten ihre Schuhe und Elizabeth strich sich widerspenstige Haare aus ihrem Gesicht.
Blake nickte den anderen zu und legte eine Hand auf Elizabeths Schulter.
Mit sanfter Gewalt schob er sie voran und als sie über die Schulter blickte sah sie, dass die anderen warteten und erst nachdem Blake und sie schon eine Entfernung von ca. 75 m zu ihnen aufgebaut hatten, wie dressierte Welpen folgten.
Einige Zeit lang gingen die beiden schweigend nebeneinander her, bis sie die kleine Baumgruppe durchquert hatten, die die Westseite des Hauses flankierte.
Ein weiter See erstreckte sich vor ihnen und gab Elizabeth sofort das Signal nicht zu nahe heranzugehen.
Mit ihren neun Jahren war sie immer noch ein Nichtschwimmer, so peinlich es auch sein mochte.
Nie hatte ihr jemand beigebracht die richtigen Bewegungen zu machen, um sich geschmeidig wie ein Fisch durch das Wasser zu schlängeln. Sie hatte nur die trockene Theorie gesehen und das reichte nicht aus, um schwimmen zu können.
„Also Blake, was willst du mir sagen?“, fragte Elizabeth leise. Sie wollte diese Sache so schnell wie nur irgend möglich hinter sich bringen.
„Nun…“, fing er an, schritt etwas näher an den See und richtete nachdenklich den Blick auf die Weite des Wassers. Das dunkle Wasser war ruhig und nur die Windböen erzeugten Bewegung an der Oberfläche, ansonsten regte sich nichts.
Mr. Goddale hatte Elizabeth mal erzählt, dass der See eine ungeheure Tiefe hatte und sie auf gar keinen Fall zu tief reingehen durfte.
Wenn das Wasser ihr bis zu den Schultern ging und wenn sie den Grund sehen konnte, war es okay, wenn ihre Augen dann den Boden verloren wurde es langsam gefährlich, denn es gab Schlaglöcher in dem See, die für das menschliche Auge unsichtbar waren und deswegen zur Todesfalle werden konnten.
„Ich will dir sagen, dass mir nichts von alldem Leid tut, was ich dir angetan habe. Es ist berechtigt. Du bist eine miese Missgeburt, die aus gutem Hause kommt und keine Ahnung davon hat, wie hart die Welt sein kann. Du hast doch schon immer in deiner verdammten Prinzessinnen-Welt gelebt und nicht die eisige Kälte gesehen, die dich umgibt. Und ich glaube immer noch, dass deine Mutter eine verdammte Schlampe war“, dies alles sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen, welches von einer ähnliches Kälte wie in der Arktis durchzogen war.
Elizabeths Mund klappte auf und sie starrte ihn an, als hätte er ihr gerade erklärt, dass es Santa-Claus nicht gäbe – wobei sie eh wusste, dass dies nur die Fiktion einer großen Erfrischungsgetränke Firma war.
Gerade wollte sie zum Sprechen ansetzen, um sich gegen diese Anschuldigungen zu wehren, doch in diesem Moment hatte er schon mit den Fingern geschnippt und schneller, als es ihr lieb war, traten zwei muskulöse Freunde von Blake jeweils rechts und link neben sie und packten ihre Arme.
„Was soll das?“, fragte Elizabeth panisch, als sie bemerkte, dass sie sie zum Ende des Stegs schliffen. Verzweifelt wandte sie sich hin und her, um aus dieser Umklammerung frei zu kommen, doch es gelang ihr nicht.
Sie waren einfach zu stark.
„Hilfe!!!“, schrie Elizabeth und das erste Mal in ihrem gesamten Leben verspürte sie so etwas wie Todesangst. Wenn sie sie in den See warfen, würde sie nicht überleben, schließlich konnte sie nicht schwimmen. Sie würde einfach versinken wie ein Stein, nur mit dem Unterschied, dass sie kein Stein war, sondern ein menschliches Wesen, welches Schmerz und Leid empfinden konnte.
Sie trat um sich, schrie was das Zeug hielt und versuchte die beiden Jungs, die sie festhielten, irgendwie von sich loszubekommen. Sie sank sogar soweit herab, dass sie sie bespuckte.

Elizabeth hätte alle Schläge in Kauf genommen, wenn sie jetzt nicht in den See geworfen wurde.
Sie hätte alles über sich ergehen lassen. Wirklich alles. Bloß nicht diesen langsamen, nassen Tod.
„Bitte, bitte, bitte. Ich tue alles, nur werft mich nicht in den See. Oh Gott, bitte!!!“, krisch sie in schrillem Ton und Tränen begannen über ihre Wangen zu laufen.
„Tja Lizzy, das hast du nun davon gegen mich die Faust erhoben zu haben“, kicherte Blake hinter ihr bösartig und sie spürte wie er ihr durch die Haare strich und plötzlich ihren Kopf zurückriss.
Gepeinigt schrie sie auf und blickte in seine Augen, die irrwitzig funkelten. „Das hast du nun davon“, flüsterte er, atmete sie an, wie um ihr Leben einzuhauchen und schubste sie dann nach vorne, sodass sie auf die Knie fiel.
Während sie immer noch versuchte loszukommen packte der Typ, der rechts stand, sie unter den Armen und der andere griff sich ihre Beine. So lag sie in ihren Armen und bäumte ihren Körper immer wieder auf, mit der letzten Hoffnung, dass sie sie dadurch vielleicht fallen lassen würden, aber auf trockenen Boden, nicht in diese Wasserhölle.
Doch sie lachten nur und verschmälerten somit diesen letzten Versuch von Befreiung.
Sie begannen Elizabeths Körper hin und her zu schwingen, so als wäre sie eine Hängematte, die man anschubsen müsste.
Wie am Spieß schrie Elizabeth und es fühlte sich so an, als wäre ihre Kehle blutig und aufgerissen vom lauten Brüllen, doch sie schrie weiter.
Immer weiter und weiter, bevor sie ihren Höhepunkt an Lautstärke erreichte, während sie durch die Luft segelte und letztendlich die Wasseroberfläche mit einem Bersten durchbrach. Diesem ganzen Geschehen folgte das höhnische Lächeln von Blake, auch als Elizabeth um sich strampelte, versuche an der Oberfläche zu bleiben, jedoch immer wieder unterging, grinste er nur.
Erst als sie realisierten, dass Elizabeth nicht so tat, als könne sie nicht schwimmen, sondern, dass dies tatsächlich der Fall war, begannen sie nervös zu werden.

Währenddessen wich der Sauerstoff aus Elizabeths Lungen und auch die Kraft schien ihren Körper verlassen zu wollen, so als wäre er ein zu eng zugeschnürtes Korsette.
Trotz alldem schlug sie um sich, um irgendwie an der Wasseroberfläche zu bleiben.
Irgendwie musste sie doch überleben.
Irgendwie…
„Ich will nicht sterben!“

Dies waren ihre letzten Gedanken, bevor neonbunte Lichter vor ihren Augen begannen zu flimmern und sie es aufgab gegen das unvermeidliche anzukämpfen.
Ihre sauerstoffarmen Lungen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment platzen und Elizabeth hätte es nicht gewundert wenn es bald so weit gewesen wäre.
Sie sank immer weiter runter und wartete nur noch darauf den sandigen Grund berühren zu können und sich dort endlich auszuruhen.
Doch so weit sollte es nicht kommen, denn plötzlich packten klamme, kalte Finger ihre Taille und zogen sie hinauf.
„Du willst doch noch gar nicht das Zeitliche segnen, nicht war, kleines Mädchen? Du willst leben und noch ganz viele schöne Sachen erleben“, flüsterte eine leise Stimme ihr ins Ohr und Elizabeth hatte in diesem Moment einfach nicht genug von ihrem Verstand, um sich zu fragen wie es sein konnte, dass jemand unter Wasser mit ihr reden konnte.
Deshalb nickte sie kraftlos und hörte im nächsten Moment ein kehliges Kichern. „Dein Wunsch soll erfüllt werden meine Süße, doch wir machen einen Deal, schließlich gibt es nichts umsonst, nicht wahr?“, erklärte die Stimme weiter und Elizabeth konnte so viel sagen, dass es sich um eine Frau handelte.
Um eine uralte Frau, deren Stimme sich anhörte wie totes Laub, welches aneinander raschelte.
„Ich will dir für dein Leben eine Gabe geben. Man nennt sie die Gabe des Sehens. Ist das in Ordnung für dich? Möchtest du diesen Vertrag mit mir eingehen?“
Faltige Finger streichelten über ihre Wange, während sie nach oben glitten.
Wieder ohne richtig nachzudenken, stimmte Elizabeth zu.
Es war ihr egal, was diese Frau von ihr verlangte. Um am Leben zu bleiben, würde sie nahezu alles tun.
„Nun denn, dann ist ja alles geregelt“, noch ein Kichern entwich der Kehle der Frau, bevor Elizabeth die Wasseroberfläche ein wiederholtes Mal durchbrach, nur mit dem Unterschied, dass es diesmal von unten geschah.
Wie von Geisterhänden wurde sie auf den Steg getragen und dort abgelegt. Ihr Atem ging flach und unregelmäßig und mit jedem Atemzug entwich ihrem Körper überschüssiges Wasser.
Ein lautes Husten erlöste die Lungenflügel von Elizabeth und sie erbrach letztendlich einen Schwall eiskaltes, dreckiges Seewasser.
Mit einem Röcheln packte sie sich an den Hals und würgte erneut, nur um noch mehr Wasser aus sich hinauszubefördern.
Langsam fing alles an sich in seinen Normalzustand zu versetzen und Elizabeth ließ sich nach hinten fallen.
Sie presste den Sauerstoff gierig in sich und bemerkte erst einige Zeit später, dass sie erbärmlich fror und jetzt die Gefahr bestand an Unterkühlung zu sterben.
Zitternd rieb sie sich ihre Finger und atmete in ihre blau angelaufenen Hände, nur um etwas mehr Gefühl in ihren Körper zu bringen und um sich zu zeigen, dass sie noch etwas spürte.
So lag sie einige Zeit da und starrte in den trüben Himmel.
Er schien dunkler geworden zu sein, seit sie ihn das letzte Mal heute Morgen betrachtete hatte. Noch viel schwerer und melancholischer.
„Mädchen, du hast dich für das Leben entschieden und nimmst dafür die Gabe des Sehens in dir auf, darin besteht unser Pakt. Bist du immer noch bereit ihn einzugehen oder willst du doch lieber zurück in den See?“, flüsterte es plötzlich hinter ihr und alle Alarmsysteme, die sie im Wasser nur ganz verschwommen hatte fühlen können, begannen zu klingeln.
Wer war diese Frau?
Was hatte sie davon ihr zu helfen?
Und was war die Gabe des Sehens?
Elizabeth wollte gerade zum Sprechen ansetzen und begann bereits ihren Körper in die Richtung zu drehen, aus der die Stimme kam, als sie ein wütendes Fauchen vernahm. Es war keineswegs menschlich, eher animalisch oder monströs. Doch es war die Frau, die dieses Geräusch von sich gegen hatte.
„Wag es ja nicht dich umzudrehen. Wenn du es tun solltest, werde ich dir deinen kleinen, klugen Schädel einschlagen!“
Sofort verstummte Elizabeth und drehte ihr Antlitz wieder zum See um.
Kalte Angst durchflutete ihren Körper und Panik vernebelte ihr Denkvermögen. Ihr kleiner Körper begann nur noch mehr zu zittern und dann spürte sie tote Arme, die sich um ihren Körper schlangen und lieblos an einen ebenso toten Körper schmiegten.
„Hab keine Angst vor mir mein Kind, hab lieber Angst vor den Menschen da draußen. Es gibt so viel Böses auf dieser Welt und du musst dir das alles mit deinen hübschen Augen ansehen. Schrecklich. Aber du hast dich dafür entschieden. Ich hab dir die Wahl gelassen“, hauchte sie und ein fauliger Atem umkreiste Elizabeths Geruchssinn, sodass sie fast noch einmal gewürgt hätte.
„Aber was ist die Gabe des Sehens? Ich kann doch schon sehen…“, fiepte Elizabeth und krampfte sich enger zusammen, als der Körper hinter ihr sich noch näher an sie schmiegte.
Ein Kopf, voll von nassem Haar – sie wusste nicht ob es ihr eigenes war oder doch das der Fremden – bettete sich auf ihre schmale Schulter und der sanfter Atem streifte ihren Hals und ließ eine Gänsehaut nach der anderen über ihren Rücken huschen.
„Nein, meine Liebe. Du kannst nicht sehen. Du siehst nur oberflächliche Dinge.
Dinge die eben jeder auf dieser verkorksten Welt sieht. Doch es gibt die Gabe des Sehens. Sie ermöglicht uns Dinge zu sehen, die ein normaler Mensch nicht sieht. Die für das menschliche Auge einfach verborgen geblieben sind. Ob vom lieben Gott gewollt oder nicht“, erklärte die alte Frau und strich mit ihren Fingern über Elizabeths Hände, die ineinander verschlungen auf ihren Knien lagen.
Und dann ohne Vorwarnung packte die Frau Elizabeths Kopf, riss ihn zu sich herum und drückte ihre bleichen, eiskalten Lippen auf ihren.
Die Augen des kleinen Mädchens weiteten sich und ein stummer Schrei kroch in ihrer Kehle hinauf, doch er wurde durch ein merkwürdiges Gefühl erstickt, welches von dem Mund der Alten ausging und auf sie übertragen wurde.
Als sich die Frau von ihr löste, hustete Elizabeth lautstark und krallte ihre Finger in das Fleisch ihres Halses.
Es kam ihr so vor als hätte sich ihre Luftröhre zu einem Knoten zusammengebunden und konnte somit nicht mehr genug Luft in sie transportieren.
Das gespenstische Kichern der Frau ließ Elizabeth aufhorchen und sie blickte auf, sah jedoch niemanden. „Dieser Kuss ähnelt einem Todeskuss. Oder nein, ich würde ihn eher als Kuss deines Verderbens bezeichnen, denn genau das war er. Er hat dir die Gabe des Sehens übertragen, also geh‘ und sieh, kleines Mädchen, sieh was die große weite Welt für Missgeburten zu bieten hat.“


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Tag der Veröffentlichung: 13.10.2009

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