Alles begann in der Winternacht, in der meine Mutter zu lange im Tempel des Nachbardorfes war und sich in der Dunkelheit den Weg durch die Schneewehen suchte. Es war eine mondlose Nacht. Meine Mutter sah bereits das Licht ihres Dorfes in der Ferne. Doch sie hielt inne, denn nicht weit von ihr glühten zwei goldgelbe Augen in der Finsternis. Sie dachte ein Raubtier hätte sie verfolgt und schrie um Hilfe, doch als das Wesen die warme Stimme erhob und sie bat sich zu beruhigen, verstummte sie.
„Wer seid Ihr?“, fragte sie und Angst schwang in ihrer Stimme mit.
„Ethnael.“, antwortete das Wesen ruhig.
„Was wollt Ihr?“, fragte meine Mutter erneut, diesmal schon etwas ruhiger.
Sie versuchte das Wesen durch die Schneeflocken besser zu erkennen. Das Wesen sprach ruhig weiter:
„Es ist gefährlich hier. Ich möchte nur sicher sein, dass Ihr sicher nach Hause gelangt.“
Spöttisch antwortete meine Mutter: „Und deshalb folgt Ihr mir in den Schatten?“
Sie machte einige Schritte zurück.
„Die Schatten sind mein Zuhause.“, sprach Ethnael und trat hervor, so dass meine Mutter im Licht der Sterne etwas erkennen konnte.
Ein schlanker, junger Mann stand vor ihr. Seine goldgelben Augen blickten wie Lichter in die Nacht hinaus. Sein Haar wirkte zerzaust, und zugleich fein und weich. Als er lächelte, entblößte er jedoch glänzende Fangzähne. Unsicher sah meine Mutter ihn an. „Ihr seid kein Mensch. Und auch kein Elf.“ „Ich werde Euch kein Leid zufügen.“, versprach Ethnael, doch meiner Mutter drehte sich um und lief weiter zum Dorf. In einiger Entfernung folgte Ethnael ihr.
Als sie sicher in ihrem Bett lag, dachte sie noch einmal an die goldgelben Augen, die gar nicht aggressiv ausgesehen hatten. Es war kein Hass in ihnen gewesen, auch keine Gier. Ganz sanft hatten sie die Augen angesehen. Mit einer angenehmen, beruhigenden Wärme. Und doch hatte etwas Wildes in dem Blick gelegen, das sie nicht zu beschreiben vermochte.
Als meine Mutter einige Tage später erneut zum Tempel des Nachbardorfes ging, hatte sie die Begegnung mit Ethnael schon beinahe vergessen. Doch als sie in der Dämmerung den Rückweg antrat, stand er plötzlich wieder vor ihr. Unsicher blickte sie den jungen Mann an.
„Was wollt Ihr dieses Mal?“
„Euch ein sicheres Geleit zurück zu Eurem Dorf geben.“, antwortete er.
Schweigsam, und sich immer wieder umdrehend zog meine Mutter weiter zurück zu ihrem Dorf. Sie wusste noch immer nicht, was für ein Wesen Ethnael war, doch wenn sie in seine Augen sah, verlor sie die Angst vor ihm.
Ethnael begleitete meine Mutter noch oft, wenn sie des Nachts zwischen den Dörfern unterwegs war. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihn schon nach wenigen Wegbiegungen anzutreffen und freute sich geradezu darauf, wieder einmal in der Dunkelheit aufzubrechen.
Eines Tages jedoch wartete er nicht auf sie. Sie sah sich immer wieder um, rief sogar seinen Namen, doch niemand antwortete ihr. Plötzlich spürte sie jemanden in ihrer Nähe. Es fühlte sich bedrohlich an, nicht freundlich und beruhigend. Sie beschleunigte ihre Schritte und dachte daran, was Ethnael nicht müde wurde zu betonen: Es war gefährlich hier draußen. Besonders in der Nacht.
Meine Mutter rannte. Hoffte, dass sie schnell genug in ihrem Dorf sein würde um dem Wesen hinter ihr nicht zum Opfer fallen. Das helle, kalte Mondlicht gab einmal einen kurzen Blick auf ihren Verfolger frei, der sich durch die Schatten stahl. Sie sah, dass es nicht nur einer war, es waren viele. Wölfe. Große Wölfe. Wölfe, die ihre Beute bis zur völligen Erschöpfung jagen würden.
Das Dorf war fast erreicht. Doch die Wölfe waren nah. Meine Mutter schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, auf das die Tiere sie verschonen würden. Sie spürte, wie etwas über sie hinweg sprang und in den Schatten verschwand, ehe sie sich umdrehen konnte. Nur noch wenige Meter. Hinter ihr jaulten Wölfe auf. Sie hörte das Scharren der Pfoten. Starke Kiefer schnappten zu. Dann verschwanden die Laute hinter den sicheren Mauern ihres Dorfes. Sie war gerettet.
Als sie sich das nächste Mal in die Dämmerung wagte, um Wasser vom Fluss zu holen, stand er wieder vor ihr. Ethnael, der immer auf sie gewartet hatte. Sie wollte ihm schon Vorwürfe machen, doch sie sah, dass er von Wunden übersät war. Womöglich hatte er sie nicht beschützen können, weil er so schwer verletzt war? Sie bat darum, sich um seine Wunden kümmern zu dürfen und er willigte ein.
„Es sind Bisspuren.“, sagte Ethnael, ruhig wie es seine Art war.
Meine Mutter zögerte. Sie sah in die Augen, die ihr schon so vertraut waren. Und ihr wurde es plötzlich klar.
„Du bist ein Werwolf nicht wahr? Du hast mich gerettet, als mich die Wölfe bei Vollmond gejagt haben…“
Ethnael nickte.
„Ich lasse nicht zu, dass mein Rudel dich anfällt.“
Die Wildheit in den sonst so ruhigen Augen flammte auf. Es war der Wolf der in ihm steckte. Und für meine Mutter hatte er sich gegen das eigene Rudel gestellt.
Meine Mutter ging nun immer häufiger hinaus, wenn es dunkel war. Jedoch ging sie nicht mehr ins Nachbardorf. Sie ging um sich mit Ethnael zu treffen. Dem Werwolf mit den sanften Augen.
Ein Jahr später wurde ich geboren. Ein Kind von der Statur und der Hautfarbe eines Menschen. Doch Haar und Augen sprachen eine andere Sprache. Die der Wölfe. Die anderen aus dem Dorf gingen mir aus dem Weg, hatten sogar Angst vor mir. Ebenso vor meinem Vater, Ethnael, der uns in manchen vollmondlosen Nächten zu besuchen pflegte. Er würde nach einer Möglichkeit suchen, auch am Tage bei uns sein zu können und auch wenn der Volllmond am Himmel stand. Er wollte die Verwandlungen unterbinden und endlich auch dem Sonnenlicht standhalten können. Immer wieder erzählte er uns davon, dass er menschlich werden würde. Für uns.
Meine Mutter lachte und glaubte ihm kein Wort. Noch immer liebte sie die sanften, goldgelben Augen. Doch sie war sicher, dass die Wildheit niemals gänzlich aus ihnen verschwinden würde. Die Wildheit blitzte auf und schimmerte uns an, wenn mein Vater uns von den Beutezügen seines Rudels erzählte. Sie funkelte wütend, wenn die anderen Leute unseres Dorfes ihm und mir, dem Mischlingskind, böse Blicke zuwarfen. Diese Wildheit würde nicht verschwinden.
Am Abend meines fünften Geburtstages brachte meine Mutter mich ins Bett. Es war Vollmond. Ich wusste er würde nicht herkommen können. Sein Rudel duldete seine kurzen nächtlichen Ausflüge zu uns, aber in Vollmondnächten waren sie auf der Jagt. Seinetwegen hatten sie einmal ihre Beute entkommen lassen müssen. Er hatte sie davon abgehalten meine Mutter zu reißen. Sie würden sich keinen weiteren Beutezug entgehen lassen. Und wollte er nicht verstoßen werden, musste mein Vater sich ihnen fügen. Auch war er ein guter Jäger. Stark. Ruhig. Ich hatte geweint, weil ich meinen Vater an meinem Geburtstag nicht sehen würde. Trotzig lag ich unter der Decke und starrte in die Dunkelheit.
Plötzlich hörte ich Schreie vor dem Haus. Ein Jaulen. Mein Vater?! Dann Stimmen. Ich setze mich auf und sah zum Fenster. Der Vollmond sah mich kalt an. Das konnte nicht mein Vater gewesen sein… nicht bei Vollmond. Ich ging auf das Fenster zu. Das kalte Mondlicht strich über meine Haut. Ich sah hinaus. Und mir wurde kalt.
Was mir das eisige Licht des Vollmonds zeigte war grauenvoll. Ein großer Wolf lag vor unserem Haus. In einer Lache von Blut. Die Dorfbewohner standen daneben. Fackeln in den Händen. Der Feuerschein zauberte Schatten in das weiche Wolfsfell. Doch ich erkannte meinen Vater, auch wenn ich ihn vorher nie in dieser Gestalt gesehen hatte. Meine Mutter rannte aus dem Haus und sank auf den Boden. Ihr markerschütternder Schrei ließ alle Stimmen verstummen. Ein Aufschrei voller Trauer, Schmerz, Angst.
Sie weinte in den Wolfspelz. Ihre Kleidung sog das Blut auf, doch sie bemerkte es nicht. Weinte. Immer weiter. Mit zerrissenem Herzen. Ich spürte nur noch Leere in mir, wankte zurück zu meinem Bett. Zitterte. Zog die Decke über mich und hoffte, so das Mondlicht zu vertreiben. Doch der Anblick hatte sich in meinen Kopf gebrannt. Nie wieder würde ich dieses Bild vergessen. Niemals würde es fort sein. Nie.
Die Dorfbewohner hatten uns verraten. Sie hatten meinen Vater getötet. Aus Angst. Sie wollten nicht, dass er ihnen in Wolfsgestalt zu nahe käme. In der nächsten Nacht besuchte der Leitwolf des Werwolfrudels meine Mutter. Sprach sein Beileid aus. Ich sah seine Augen. Voller Wildheit. Doch auch bei ihm schwang etwas Sanftes, Liebevolles im Blick mit. Das, was meine Mutter an meinem Vater so sehr geliebt hatte. Der Leitwolf wuschelte durch mein kurzes Haar. Wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Sagte, dass ich ein schöner Wolf geworden wäre. Dann wurde ich in mein Zimmer geschickt.
Meine Mutter ging mit mir in ein anderes Dorf. Ein Dorf, das jedes Leben achtete. Ein Dorf, das keine Angst hatte vor meinen Augen. Doch noch immer wünsche ich mir Rache für meinen Vater. Rache für den stolzen Werwolf Ethnael mit den schönen Augen.
Texte: angelneko
Bildmaterialien: angelneko
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2012
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