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Kapitel 1


Ich rannte, so schnell mich meine Beine trugen. Meine Lungen schmerzten von meinen rasselnden Atemstößen in der kalten Nachtluft. Über mir durchbrach ein Blitz die Dunkelheit, gefolgt von einem lauten, grollenden Donnerschlag. Der Regen hatte meine lederne Kleidung völlig durchgeweicht. Klamm klebte sie an mir und rieb bei jeder Bewegung an meiner Haut. Ich betete innerlich zum großen Geist, dass es mich nicht bemerkt hatte.

Mir war, als wäre ich stundenlang gerannt, ehe das große Felsmassiv in Sicht kam. Noch immer wagte ich es nicht mich umzudrehen. Was wenn es mir doch folgte? Wenn es direkt hinter mir war und mich jeden Moment von den Füßen werfen und zerfetzen würde? Ich stoppte viel zu ruckartig vor der steilen Felswand und suchte panisch nach einer geeigneten stelle für den Aufstieg. Erneut brach ein Blitz durch die Wolken und der Donner ließ meine Umgebung erzittern, also wollte sogar das Gewitter mich weiter zur Eile antreiben. Das Blut pochte mir in den Ohren und mein Herz schlug so schnell, als wolle es die vielen Schläge, die ihm für ein ganzes Leben gegeben waren, in wenigen Augenblicken unterbringen. Endlich hatten meine zitternden Finger Halt gefunden, und ich zog mich atemlos hoch. Als ich den oberen Rand der Wand erreicht hatte, drückte ich meine von der Steinwand aufgeriebenen Hände an meine Brust und hastete auf das dunkle Loch zu, dass sich nur wenige Meter vor mir in die Felsen fraß. Ich stolperte in die Höhle und schreckte mit meinem keuchenden Atem eine Horde von Fledermäusen auf, die panisch nach draußen flatterten.
Ich drückte mich eng an die Seite des felsigen Gangs und duckte mich hinter einen Vorsprung in der Wand. Dann erst wagte ich es, einen Blick durch den Höhleneingang nach draußen zu werfen. Der Schamane hatte uns gewarnt. Kinder sollten in der Dunkelheit nicht nach draußen gehen. Schon garnicht allein. Und vor allem sollten sie nicht allein so weit weg von zu Hause sein. Warum war ich nur so dumm gewesen? Vor mir peitschten Windböen durch das hohe gelbliche Gras und vereinzelte Bäume warfen zuckende Schatten, wann immer die Blitze den Himmel erneut erhellten. Langsam schob ich mich weiter in die Finsternis der Höhle. Von dem Wesen war draußen nichts zu sehen. Meine nassen Haare, die noch immer von einigen Lederbändchen zusammengehalten wurden, tropften und hinterließen eine kleine Pfütze auf dem Boden.

Ich sehnte mich danach, zu Hause zu sein. Mich neben meiner Mutter in die Felle zu kuscheln, oder einer gruseligen Geschichte des Schamanen zu lauschen, während das Feuer langsam herunterbrannte. Der Schamane hatte uns von Wesen erzählt, deren Körper aus Nebel waren. Dunklem, finsterem Nebel, der die Gestalt von Menschen annehmen konnte. Oder von Tieren. Nebel, der einem folgte, wie ein Schatten, um dann mit riesigen Klauen zuzuschlagen. Warum war ich nur heimlich zu den Beerenbüschen zurückgeschlichen? Warum hatte ich nicht einfach meine Körbe schnappen und sie nach Hause tragen können? Ich wusste doch, dass es Herbst war. Wir würden wieder zu den Beerengründen gehen, bis auch die letzte aufgesammelt war. Sie würden noch lange frisch schmecken und selbst getrocknet waren sie noch lecker genug. Aber nein, ich hatte mich davongestohlen und versteckt. Nur um mir allein den Bauch mit den süßen Früchten vollschlagen zu können, ohne dass mich irgendjemand dafür schimpfte. Ich war so lange geblieben, dass es schon dunkel geworden war. Und dann war ich in Regen und Dunkelheit auch noch diesem Wesen begegnet.
Ich hatte es nicht genau gesehen. Ein unförmiger Schatten, der sich bewegt hatte. Zwei giftige Augen, die in der Finsternis aufgeblitzt waren. Es musste einer dieser Nebeldämonen gewesen sein. Wenn er mich bemerkt hatte würde er mir sicher folgen. Was, wenn er mich hier fand?
Ich schniefte und versuchte, mir die Tränen aus den Augen zu wischen. Ob die anderen mich schon vermissten? Ob sie wohl nach mir suchen würden? Ich wollte meine Mutter wiedersehen. Ich wollte ihr sagen, wie leid es mir tat, dass ich mich einfach weggeschlichen hatte. Ich wollte nicht von diesem schrecklichen Dämon geholt werden!
„Oh großer Geist, bitte lass sie nach mir suchen... bitte lasse sie mich finden, bevor der Dämon mich findet!“, wimmerte ich leise und rutschte weiter in den kalten Gang.
Ich konnte den Eingang der Höhle nicht mehr sehen. Zitternd verschränkte ich die Arme vor der Brust und schluchzte. Als der Wind um die Felsen stürmte und heulte, krümmte ich mich zusammen. War das wirklich der Wind gewesen? Oder war es der Dämon? Ein weiteres grollen erschütterte die Erde. Es klang hier seltsam dumpf. Tief. Als würde es aus den Felsen selbst kommen. War es am Ende das Knurren dieses Monsters, das ich hörte?
Ich wusste nicht, wie lange ich schon dort in der Dunkelheit gekauert hatte, ehe ein neues Geräusch mich zusammenfahren ließ. Ein schlurfender Schritt. Und das Klackern eines weggestoßenen Steinchens. Irgendetwas war am Eingang der Höhle. Er kommt, dachte ich. Er kommt, um mich zu holen. Das ist das Ende.
Ich drückte mich fest gegen die Wand. Einige hervorstehende Steine drückten sich schmerzhaft sich in meinen Rücken. Doch ich wagte es nicht, mich weiter zu bewegen. Meine Augen huschten durch die Dunkelheit, doch ich kannte diesen Ort gut genug, um zu wissen, dass meine Lage aussichtslos war. Von diesem Gang führte nur ein kleines Loch weg, das viel zu hoch lag, als dass ich es allein hätte erreichen können. Der einzige Weg hinaus war der Höhleneingang. Und dort saß ein hungriger Dämon, der nach mir suchte. Für einen kurzen Moment durchbrach ein schwacher Lichtschein die Dunkelheit vor mir. Ich dachte an die Augen, die vor mir in der Finsternis geleuchtet hatten und erstarrte. Er war hier. Gleich hinter der Biegung des Ganges. Sicher konnte er mich schon riechen. Ich kniff die Augen zusammen. Ich wollte nicht sehen, wie diese gräßlichen Augen mich anstarrten und große Klauen auf mich niedersausten um mich zu töten. Durch meine Augenlider bemerkte ich, dass das Licht heller geworden war. Ich vernahm weitere schlurfende Bewegungen. Mutter! Vater! Es tut mir so leid!
Ein weiterer schwerer Schritt. Der Dämon musste jetzt genau vor mir sein. Eine kalte Klaue packte mich am Arm und ich kreischte auf.

„Ich habe sie!“, rief eine raue, vertraute Stimme, die zwischen den Wänden der Höhle widerhallte. Langsam öffnete ich ein Auge und starrte auf die Klaue, die meinen Arm noch immer umfangen hielt. Es war keine Klaue! Es war eine kalte, regennasse, faltige Hand! Ich starrte nach oben, und im Licht einer notdürftigen Fackel erkannte ich das Gesicht unseres Schamanen. Obwohl sein Gesicht im hüpfenden Schein der Fackel schaurig aussah, war es für einen Moment das schönste, was ich mir vorstellen konnte. Ich drückte mich an seine durchnässte Fellweste und vergrub das Gesicht darin. Meine Finger krallten sich so fest in das durchweichte Leder, dass man die Spuren sicher noch lange sehen würde. Doch das war mir egal. Alles war mir egal.
„Es tut mir so leid...“, schluchzte ich leise und erneut erschallte die Stimme des Schamanen in Richtung des Höhleneingangs:
„Hier ist sie! Ich habe sie gefunden!“

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Tag der Veröffentlichung: 12.10.2012

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