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Rattenzauber

1

Viele Menschen denken, eine königliche Speisekammer sei ein Paradies für meinesgleichen, aber da irren sie sich. Getreidespeicher sind nicht übel, aber es geht nichts über den Abfallhaufen einer großen Burg. Wo Äpfel zwischen Käserinden und Brotrinden faulen, wo Kartoffelschalen ausgekochte Knochen überdecken, ja dort lässt es sich leben.
Ein derartiges Glück war mir leider nicht beschieden. Meine Mutter hatte ihr Nest in einer Mauerlücke hinter einem Fass eingelegte Gurken gebaut. Und eben dort, in der königlichen Speisekammer von Noricand erblickten meine fünf Geschwister und ich das Dunkel der Welt, denn wie alle Ratten wurden wir blind geboren, und außerdem herrschte in der fensterlosen Kammer stets Finsternis.
Noch heute erinnere ich mich an meine ersten Gerüche, an den Duft von Käserädern, Wurstketten, Honig und Salzgurken. Ratten haben keine Namen. Unser beschränktes Repertoire an Lauten reicht gerade für Ausdrücke wie „Das ist mein, Zähne weg oder es gibt was auf den Nackenpelz“ oder „Wenn dir deine Ohren lieb sind, dann verzieh dich“. Wir erkennen uns an Gerüchen. Ich bin bis heute den Geruch der Salzgurken nicht losgeworden, und meinen Geschwistern sitzt er auch immer noch im Fell.
Wir lernten rasch, weshalb das Königsschloss ganz unten auf der Beliebtheitsliste für Rattenlöcher stand. Zum einen war der König ein begeisterter Jäger. Um Fasane oder Rehe aufzuspüren braucht es natürlich bessere Nasen, als die verkümmerten Zinken, die in den nackten Menschengesichtern sitzen. Die gehorsamen Hilfsriecher der Menschen, die Hunde mit ihren Schlabberzungen und Dolchzähnen hatten freien Zugang zu den meisten Räumen im Schloß. Ich fürchte mich nicht vor Katzen. Die einzige Katze im ganzen Schloss war das überfütterte Schoßtier der Königin, sie zog höchstens ihre vornehme Plattnase hoch, wenn eine Ratte ihr zu nahe kam. Die Hunde jedoch sahen die Rattenjagd als leichtes Training zwischen ihren Ausflügen an.Wehe dem Nager, der ihnen vor die Schnauze kam.
Der zweite Grund roch beständig nach Zwiebeln und Fett. Greinolf, des Königs Chefkoch, liebte Sauberkeit über alles. Des abends wurde die Küche bis auf den kleinsten Winkel ausgekehrt und blankgeschrubbt. Hinterher streuten sie frisches, mit getrockneten Kräutern durchmischtes Stroh. Jeder Teller, jede Tasse, jeder Topf wurde gescheuert, bis sich die verschwitzten Gesichter der Küchenmägde darin spiegelten. Kein Krümel war so klein, dass er Meister Greinolf verborgen blieb, und dann setzte es harte Worte und noch härtere Kopfnüsse. Die Küchenjungen und die Mägde zogen die Köpfe ein, aber hinter seinem Rücken schnitten sie wilde Grimassen. Zu ihrem Glück ahnte Greinolf nichts davon.
Täglich wanderten die Abfälle in einen Eimer, den einer der Küchenjungen zum Müllplatz schleppte. Normale Schlösser und Burgen hatten Abfallhaufen, Berge schimmeliger Köstlichkeiten, die zum Himmel stanken.
Das Köngisschloss hingegen besaß eine Reihe tiefer Gruben. War eine voll, wurde sie mit Laub, Ästen und Erde zugeschüttet. Vielleicht hätte die eine oder andere Ratte dennoch ein sattes Dasein führen können, wären nicht die Jagdhunde gewesen, die unter den wachen Augen des Meutenführers um den Müllplatz herumtobten. Von den Ratten, die den verlockenden Düften des Abfalleimers folgten, sah man kaum eine lebend wieder.
Ratten und Mäuse standen bei Greinolf gleich nach Schmeißfliegen und Küchenschaben auf der Die-Welt-wäre-ohne-sie-besser-dran-Liste. Der Chefkoch duldete keine Hunde in der Nähe der Speisekammer, Blutwurst und Schinken schmeckten besser, als jede noch so fette Ratte, daher wandte er sich an Meister Sebiond, den königlichen Hofzauberer.
Meister Sebiond war über diesen Auftrag alles andere als erbaut. „Ihr wollt, dass ich meine magischen Kräfte an Gurkenfässer und Käseräder verschwende? Die größten Geheimnisse der Welt harren der Entdeckung.“
Greinolf ließ sich von Sebionds theatralischem Gehabe nicht beeindrucken. „Die größten Geheimnisse der Welt sind bisher ganz gut ohne Euch zurechtgekommen“, sagte er. „Seid versichert, wenn der König über einen abgeknabberten Kuchen und angefressene Schinkenscheiben in Zorn gerät, werde ich ihm von Eurer Hilfsbereitschaft berichten. Das Essen im Kerker soll nicht sehr bekömmlich sein, wie ich gehört habe.“
Sebiond funkelte Greinolf an und machte sich zähneknirschend ans Werk. Der Schutzzauber, den er über die Köstlichkeiten der Speisekammer sprach hatte in etwa die Wirkung als würde man eine Glasglocke darüber stülpen. Wir Ratten sahen die Würste, konnten sie aber weder riechen, noch beknabbern. Somit waren die versiegelten Leckereien für mich und meine Geschwister von da an so interessant wie Pflastersteine. Erst wenn eine Wurst die Kammer verließ, wurde sie zu einer Verlockung.
In der Küche wußte Greinolf sich selbst zu helfen. Sein Sauberkeitswahn hielt Schaben in Schach. Lederbezogene Brettchen aus elastischem Holz machten jede erreichbare Fliege platt. Nur wenige entkamen Greinolfs Jagdeifer, und die landeten in einem der vergifteten Honigschälchen. Auf uns Ratten warteten in dunklen Winkeln Fallen. Sie kosteten jedem Wurf etwa ein Viertel der Jungratten. Nachdem ich in die gebrochenen Augen zweier Schwestern geblickt, den schimmligen Speck und den alten Käse in ihren Mäulern beschnuppert hatte, machte ich einen Bogen um alles was nach schimmligem Speck, altem Käse und rostigem Metall gleichzeitig roch.
Das hatte nichts mit der vielzitierten Schläue von Ratten zu tun. Sie ist ein Hirngespinst von Menschen, die ihre Instinkte längst unter flohbesetzten Perücken begraben haben. Der Überlebensinstinkt allein befahl meinen Pfoten links oder rechts abzubiegen, wenn eine Situation nach Tod stank.
Der einzige Ort, wo weder Greinolf noch Hunde uns vertrieben, war der königliche Speisesaal. Der König und seine Frau speisten zusammen mit dem Hofstaat. Da Tischmanieren bei so feinen Leuten keine Rolle spielten, geriet immer wieder mal ein Stück Brot oder ein Bissen Braten unter den Tisch. Zwar war der Spießrutenlauf unter den lackierten Absätzen kein Vergnügen, aber die Reste reichten aus, um die meisten von uns am Leben zu halten. Sicherer freilich war es bei Nacht das Stroh zu durchstöbern.
In einer solchen Nacht ergatterte ich eine halbe Brotscheibe und verschlang fast die Hälfte, ehe eine ältere Ratte mir den Rest stahl. Satter als üblich wagte ich mich in einen für mich bis dahin unbekannten Teil des Schlosses. Neben einem Schrank entdeckte ich ein gemütliches Loch. Dort döste ich, bis kurz vor Morgengrauen plötzlich stumpfe Krallen über den Steinboden klapperten. Ich schreckte hoch, wollte fliehen, aber da hatten die beiden Hunde mich schon entdeckt. Ich huschte unter den Schrank und da sie nur zwei der drei offenen Seiten belauern konnten, gelang mir die Flucht. Hechelnd und sabbernd hetzten sie hinter mir her. Ich sauste den Korridor hinunter, so schnell mich meine Beine trugen. Kurz vor seinem Ende, das auch das meine gewesen wäre fand ich einen Spalt in der Wand und zwängte mich hindurch. Ich hörte die Hunde draußen scharren und jaulen, aber ich war in Sicherheit. Zumindest bildete ich mir das ein. Zurück konnte ich nicht und so quetsche ich mich zwischen den Mauersteinen hindurch direkt in die Falle. Das Gitter fiel herunter, und da saß ich, eingeklemmt in eine Drahtröhre, in die ich gerade noch hineinpasste.
Kein Wesen, das ein bisschen Verstand besitzt, verkündet der ganzen Welt, dass es in der Falle sitzt. Doch so etwas wie Verstand hatte unter meinem Kopfpelz keinen Platz. Ich nagte verbissen an den Stäben, pfiff frustriert und quietsche ängstlich. Kaum hatte ich mich mit meinem Gefängnis vertraut gemacht, da wurde die Gitterröhre hochgehoben. Ich hing in der Luft vor dem feixenden Gesicht Morinors. Der Gestank nach halbverdautem Fisch und schlecht vergorenem Bier entströmte seinem breiten Grinsen.
„Was haben wir denn da?“ fragte er. Seine Eulenaugen glitzerten.“ Auf eine wie dich warte ich schon seit einer Woche. Sebiond kann euch Ratten genau so wenig leiden wie die Läuse unter seiner Perücke.“ Er lacht, schwenkte mich herum und trug mich zum Tisch, auf dem zwischen Pergamentrollen und Büchern ein alter Vogelkäfig stand. Morinor hielt die Röhre an das offene Türchen, klappte das Gitter hoch und schüttelte mich hinein. Ich landete auf dem mit Sand bestreuten Käfigboden und schüttelte verwirrt den Kopf. Ehe ich reagieren konnte, klappte das Türchen zu. Ich saß erneut in der Falle. „Du bleibst darin, bis Sebiond kommt“, sagte Morinor und warf die Röhre in eine Ecke. Er beachtete mich nicht weiter, sondern begann, eine Reihe seltsamer Dinge zusammenzutragen.


Ich scharrte im Sand, steckte meine Nase soweit als möglich zwischen die Käfigstangen, fiepte, kurz tat, was alle Ratten tun, die sich in einem Vogelkäfig wiederfinden. Während ich vergeblich versuchte, mich zwischen den Stäben durchzuzwängen, sondierte ich den Geruch des Raumes. Staub, Mottenpulver und brüchiges Leder beherrschten die Bibliothek des Hofzauberers. Bücherregale nahmen zwei der drei Wände ein. Jedes Brett war mit dicken Wälzern oder Schriftrollen vollgepackt und auf jedem Stück lag der Staub mehr als vier Pfoten dick. Selbst die zähesten Bücherwürmer wären darin erstickt.
Damals sagte mir das nichts, aber heute weiß ich, dass die Zauberei der Menschen eine geliehene, um nicht zu sagen eine gestohlene Gabe ist. Sie entspringt nicht dem Geist der Menschen, sondern den magischen Worten ihrer Zauberbücher und Zauberschriften. Sie sind in keiner menschlichen Sprache geschrieben. Manche glauben, sie stammen vom Goldenen Volk, das vor den Menschen dieses Land beherrschte. Als die Menschen immer mehr wurden, zogen sich die Goldenen in die finstersten Wälder zurück, wohin kein Mensch je seinen Fuß setzte. Die meisten Menschen glauben nicht, dass es je ein Goldenes Volk gegeben hat. Für sie existieren die Goldenen nur in den Märchen. Doch die Zauberer wissen es besser, und sie hüten dieses Wissen eifersüchtig. Das Vermächtnis der Goldenen besteht aus Büchern und Schriftrollen, die sie an verschiedensten Orten zurückließen.
Harrikon fand vor vielen hundert Jahren das erste Buch, er enträtselte die Sprache und wurde zum ersten Zauberer. Jeder, der Geduld und eine bewegliche Zunge besitzt, kann die Zauberei erlernen. Je mehr Bücher er besitzt, desto mächtiger ist er. Daher will jeder Zauberer so viele Bücher wie möglich besitzen. Nach seiner Lehrzeit durchstreift er als Geselle das Land auf der Suche nach unentdeckten Büchern und einem greisen Zauberer, den er beerben kann.
Sobald er auf die eine oder andere Weise in den Besitz von mehr Büchern gelangt, als er mit sich herumschleppen kann, braucht er eine feste Anstellung auf einer Burg oder einem Herrschaftsgut, um in der Nähe seiner Bücher bleiben zu können. Es mag seltsam scheinen, dass ein Zauberer sein wertvollstes Gut dermaßen verstauben lässt, aber ein Nachfolger Harrikons, ein besonders fauler Kerl, entdeckte, dass der Staub auf den Büchern sich im Laufe der Zeit magisch auflud. Wer diesen Staub lange einatmet, auf der Haut und in den Haaren spazieren trägt, kann sein Leben bis um das dreifache verlängern. Es gehen sogar Gerüchte um, dass die Spinnen des Goldenen Turmes, des Lehrstuhls für Zauberei, bis zu hundert Jahre alt geworden sind.
Aus Furcht, ihr Altern zu verkürzen, wagt sich kaum ein Zauberer auf eine längere Reise, zumindest nicht ohne einen Beutel voll Bibliotheksstaub und einigen Wälzern im Gepäck.
Morinor war Sebionds Lehrling. Sebiond erfreute sich ausgezeichneter Gesundheit. Seine Bibliothek war nach jeder des Goldenen Turmes am besten bestückt. Er würde noch viele Jahre leben, es sei denn...
Morinor sortierte einige Pergamentrollen, als sein Meister die Bibliothek betrat. Der Hofzauberer hatte schlecht geschlafen und brummte: „Was treibst du denn da, Morinor?“
„Ich bereite das große Experiment vor, Meister. Ich habe Euch doch davon erzählt.“ Morinors Stimme triefte vor jungendlicher Begeisterung und Respekt. „Ich möchte den neuen Spruch ausprobieren, den ich auf der Innenseite des schwarzen Einbands gefunden habe. Ihr erinnert Euch doch gewiss daran.“
„Bist du sicher, dass der Spruch zu etwas taugt?“ fragte Sebiond skeptisch.
„Ein Spruch, um das gesamte Wissen und die Intelligenz eines Lebewesens auf ein anderes zu übertragen darf keinesfalls verachtet werden. Seht Euch doch die Ratte an.“ Er zog den Käfig ins Licht. „Sie ist bestimmt eines der schlauesten Tiere im Schloss.“ Das war natürlich Humbug, aber damals glaubten fast alle Menschen an unsere vermeintliche Schläue. „In der kleinen Schachtel dort drüben sitzt eine Assel. Wenn ich die Schläue und das Wissen der Ratte auf die Assel übertrage, können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir zerquetschen die schlaue Assel und die Ratte, die jetzt so dumm wie ein Stein ist, werfen wir den Hunden zum Fraß vor. Funktioniert mein Plan, und der Spruch lässt sich auf das ganze Schloss mit allen Asseln und Ratten ausdehnen, müsst Ihr nie mehr Eure Zauberkraft an die Speisekammer verschwenden. Mehr noch vielleicht könnten wir im Kriegsfall sogar feindliche Soldaten übertölpeln und ihre Intelligenz in Heuschrecken oder Käfer stecken. Überlegt Euch nur, was dem König ein solcher Spruch wert wäre!”
Der Meister musste gar nicht erst lang überlegen. “Geht ans Werk”, forderte er seinen Gesellen auf. Menschen sind seltsam. Eine Ratte weiß, dass sie keiner anderen trauen darf, Menschen hingegen werfen mit Worten wie Ehre und Vertrauen nur so um sich, und einige sind sogar dumm genug, diese Worte für bare Münze zu nehmen.
Sebiond war zweifelsohne einer von diesen Menschen. Vielleicht hatte er einfach vergessen, wie jung und ehrgeizig er selbst als Geselle gewesen war, oder er der Staub hatte seine Gehirnwindungen verklebt.
Ohne Arg setzte er sich auf den Stuhl, den sein eifriger Geselle herbeizog, damit der Meister das Experiment aus nächster Nähe verfolgen konnte. Morinor war mit seinen Vorbereitungen fast am Ende. Er stellte die Schachtel mit der Assel, es war tatsächlich eine drin, ich konnte sie krabbeln hören, auf den Tisch. Er nahm einen Metallstab, an dessen Spitze ein milchiger Kristall befestigt war, und richtete ihn auf die Assel. Laut begann er die erste Hälfte des Zauberspruchs zu intonieren. Der Kristall leuchtete düsterrot auf. Plötzlich, Morinor hatte die letzte Silbe noch nicht gesprochen, drehte er den Stab, so dass der Kristall auf Sebiond wies. Der Meister kam nicht mehr dazu, einen Abwehrzauber zu sprechen. Morinor rasselte die Schlussworte herunter und das rote Licht schoss aus dem Kristall. Es hüllte Sebiond ein, er schrie, wedelte mit den Armen und sprang auf. Morinor grinste. Er richtete den Stab auf mich und intonierte die zweite Hälfte des Zaubers. Das rote Licht, das den Zauberer umklammert hielt, sprang von ihm auf mich über. Ich konnte nicht pfeifen, nicht quietschen, ja mit keinem Barthaar zucken. Innerhalb eines Lidschlages ergoss sich das Wissen und die Intelligenz des Zauberers in mein kleines Rattenhirn. Ich verstand wer ich war, wo ich war und warum.
Das rote Licht erlosch. Sebiond stand wie Salzsäule. Die Arme hingen schlaff herab, sein Blick war leerer als der einer Stubenfliege, Speichel rann aus seinem offenen Mund. Morinor packte den alten Mann und zerrte ihn zum Fenster. Der Riegel knirschte, in der Bibliothek wird so gut wie nie gelüftet aus Angst der magische Staub könnte davon wehen, gab nach und die beiden Flügel schwangen auf.
Morinor schob Sebiond auf das offene Fenster zu. Von der Bürde der Intelligenz befreit erwachten in Sebiond die verschütteten Instinkte zum Leben. Er roch die bösen Absichten Morinors und krallte sich im Fensterrahmen fest. Morinor fluchte und versuchte, mit Gewalt die dürren Finger vom Holz zu lösen.

Währenddessen schüttelte ich mein Selbstmitleid ab. Der Tod Sebionds war nicht der letzte Schritt von Morinors Plänen. Der Geselle würde mir die Intelligenz und das Wissen seines Meisters entreißen, wogegen ich zwar nicht das geringste gehabt hätte, mich danach aber den Hunden zum Fraß vorwerfen, was ich dann doch für weniger erstrebenswert hielt...
Ich musste fort, raus aus dem Käfig. Ich steckte die Vorderpfoten zwischen die Käfigstangen hindurch und schob den Riegel hoch. Morinor hatte Sebionds Finger gelöst, seine Hände auf den Rücken gepresst und hob den alten Mann auf das Fensterbrett. Ich drückte das Türchen auf, sprang auf den Tisch, vom Tisch auf den Boden und während ich auf die Mauerlücke zu huschte, hörte ich Sebionds gurgelnden Schrei. Ein dumpfes Klatschen - Stille. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Morinor drehte sich um, doch da zwängte ich mich schon in die Spalte.
Soweit so geglückt. Aber ich hatte meine Rechnung ohne die Hunde gemacht. Mit stumpfsinniger Hartnäckigkeit hockten sie immer noch im Gang. Ich saß schon wieder in der Falle. Just in diesem Moment riss Morinor wutschnaubend die Tür auf. Die Hunde wandten sich ihm zu und ich sauste los.
Sobald ich den Korridor hinter mir gelassen hatte, suchte ich mir ein sicheres Versteck und überdachte die Lage. Das Wissen Sebionds füllte mein kleines Gehirn bis an die Schädeldecke, dennoch blieb erstaunlicherweise noch genug Platz für sinnvolle Überlegungen. Mein Instinkt riet mir, mich von allem fernzuhalten, das auch nur im entferntesten nach Schwierigkeiten roch. Doch nun steckte ich mittendrin, schlimmer noch, die Schwierigkeiten steckten in mir. Davor konnte ich nicht fliehen. An allem war Morinor schuld. Er hatte mich gefangen, mir Sebionds Wissen und Intelligenz aufgebürdet und Sebiond ermordet. Jetzt war ich keine normale Ratte mehr. Die Stimme des Instinkts war mir vertraut. Jedoch die Stimme der Intelligenz, trocken und spöttisch, machte sich über dir rattische Seite meines Wesens lustig, verwirrte mich und stachelte mich an, Dinge zu tun, die jedem gesunden Instinkt widersprachen.
Der Hunger trieb mich in den Speisesaal. Der König und seine Frau saßen beim Frühstück. Ich ergatterte ein Stück Apfel und ein paar fette Kuchenkrümel. Gerade wollte ich nach einem Stück Speck schnappen, da ging die Türe auf und Morinor trat herein. Sein Geruch trieb mich in den Schatten eines Tischbeines. Halb im Stroh vergraben, eng an das Holz gedrückt lauschte ich seinen Schritten.
„Kommt, setzt Euch zu uns, Morinor“, sagte der König. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, was ein Mensch sagte. Bisher hatte ich aus dem Tonfall und den Ausdünstungen in etwa die Stimmung eines Menschen erahnen können, doch nun ergab das Lautgeplätscher plötzlich Sinn. Das Gespräch zwischen Morinor und Sebiond konnte ich mit dem Wissen des Meisters und dem Gang der Ereignisse rekonstruieren, doch die Unterhaltung zwischen Morinor und dem König hörte ich Wort für Wort mit.
„Das schreckliche Unglück hat uns alle getroffen. Doch nun ist der Hof ohne Zauberer. Sebiond hat Euch stets lobend erwähnt. Glaubt Ihr, Ihr könnt seinen Platz ausfüllen?“
„Meine Lehrzeit ist beendet, Sire. Sebiond hat mich fast alles gelehrt, was er wusste. Und wenn mir seine Schriften zur Verfügung stehen, werde ich Euch mindestens genau so gut zu Diensten sein, wie er.“
„Große Worte“, sprach der König. „Aber Ihr seid noch so jung.“ Der König spießte mit dem Tafelmesser ein fettes Stück Fleisch auf und stecke es in den Mund. Er kaute eine Weile nachdenklich darauf herum. Ich muß Morinor zugute halten, er beherrschte sich meisterhaft. Nur das Zucken seiner rechten Braue verriet seine Ungeduld und seinen unterdrückten Ärger.
Endlich sprach der König weiter: „Ich werde morgen zu einer Reise nach Kaynar aufbrechen. Der Weg dorthin führt nicht weit am Goldenen Turm vorbei. Großmeister Jacond wird mir sicher raten können, ob ich recht daran tue, Euch zu Sebionds Nachfolger zu machen.“
Ich vermute, Morinor wurde blass um seine Nase. Leider sehen Ratten nicht sehr gut. In Morinors Stimme schwang eine Prise Unwillen. Ich roch die Furcht in seinem Schweiß, als er sagte: „Ich warte demütig auf Eure Entscheidung Sire.“
Dann setzte er sich auf den freien Stuhl neben die Königin. Sie war fünfzehn Jahre jünger als ihr Gemahl. Die trockene Stimme hinter meiner Stirn nannte sie eine dumme Gans.
„Darf ich mit Euch reisen, Sire?“ zwitscherte sie.
„Nein, meine Liebe. Das ist eine rein geschäftliche Reise, öde und nur mit geringem Komfort. Ich weiß, wie Ihr es hasst, in Zelten zu schlafen. Der Kanzler übernimmt die Alltagsgeschäfte. Euch gebe ich meinen Ersatzsiegelring. Damit seid Ihr während meiner Abwesenheit die Regentin, Ihr könnt Urteile und Gesetze siegeln. Wie gefällt Euch das?“
Sie zog ihren Schmollmund zu einem Honiglächeln auseinander. „Das wird mir großen Spaß machen, Sire.“
„Sehr schön. Dann hätten wir alles geregelt. Und nun tragt den nächsten Gang auf.“
Ich machte mich davon. Wäre ich noch eine dumme, vernunftlose Ratte gewesen, hätte ich auf meinen Instinkt gehört und mich irgendwo verkrochen. Doch die trockene Stimme in meinem gequälten Hirn ließ mir keine Ruhe. Würde Morinor wirklich Hofzauberer werden? Der Gedanke verursachte mir Kopfschmerzen. Ein sicherer Ort, um weder Hunden noch dem Chefkoch zu begegnen, war das Schlafgemach der Königin. Allerdings gab es dort auch nichts zu fressen, und so war ich die einzige Ratte, die unter dem mit Kissen beladenen Bett durch den Staub pflügte.
Einige Tage später, ich hatte es mir mit ein paar Haarschleifen, Rüschen und Puderquasten gemütlich gemacht, betrat Morinor das Gemach der Königin. Die anderen Burgbewohner schliefen längst, aber die Königin war noch wach. Alle Kerzen brannten und tauchten den Raum in schummriges Licht. Die Königin trug ein offenherziges Nachtgewand, sie hatte ihre Zöpfe gelöst und ausgekämmt. Ich vergrub meine Nase in einer vergilbten Rüsche, um die Rosenwasser- und Lavendeldünste zu filtern, die sie wie eine Wolke umschwebten. Ich verkroch mich tiefer in mein Behelfsnest und wartete, bis es die beiden sich ausgetobt hatten. Als ich mich wieder herauswagte, schlüpfte Morinor gähnend in seine Kleider und tätschelte der Königin die nackte Schulter. „Ist alles klar?“ fragte er.


„Wie meint Ihr das?“ schnurrte sie träge.
„Das haben wir doch schon hundertmal durchgesprochen“, erwiderte er ungeduldig. „Der König wälzt sich lieber mit Euren Hofdamen als mit Euch in den Kissen. Seine Pflichtübungen in Eurem Gemach haben noch keinen Erben gezeugt. Zwar seid Ihr die Regentin, aber sollte dem König etwas zustoßen, wird niemand auf das hören, was Ihr befehlt. Die Soldaten, die Minister, der ganze Hof würde Euch verlachen. Sie hören nur auf den vertrockneten Mummelgreis von einem Kanzler. Wollt ihr in das Witwenschloss abgeschoben werden, während Euer Neffe Leonik den Thron besteigt?“
„Natürlich nicht. Das Witwenschloss liegt fünf Tagesreisen von der nächsten Stadt entfernt. Es ist alt und zugig, der Ballsaal ist eine Katastrophe, und der Koch einfach furchtbar. Dort werde ich im Nu alt und hässlich.“
„Seht Ihr? Wenn unser Plan klappt, werdet Ihr Königin und ich Euer Prinzgemahl.“
„Halt!“ Die Königin richtete sich auf. „Davon war bisher nie die Rede. Weshalb soll ich Euch heiraten, wenn ich jeden schmucken Prinzen haben kann. Leonik zum Beispiel.“
„Ha! An dem würdet Ihr Euch die Zähne ausbeißen. Er studiert im Goldenen Turm, und was mir so zugetragen wurde, ist er widerlich ehrlich. Niemals wäre er bereit, die Witwe seines Onkels zu heiraten. Ihm käme es wie Verrat vor. Mich werdet Ihr heiraten und keinen anderen.“
„Ihr seid Euch sehr sicher. Ich könnte Euren Plan meinem Gatten mitteilen. Wie würde es Euch im Kerker gefallen?“
„Bestimmt besser als Euch. Habt Ihr tatsächlich geglaubt, ich würde Euch einweihen, ohne mir Eurer Loyalität ganz sicher zu sein? Ihr seid schwanger, meine Königin. Ihr tragt mein Kind.“
„Nein!“ Sie sprang aus dem Bett und presste die Hände auf ihren flachen Bauch. „Ich habe das Mittel genommen, das Ihr mir gegeben habt. Ihr sagtet, sein Zauber wirke drei Wochen.“
„Ich habe Euch getäuscht“, sagte er und grinste. „Es verlor schon nach drei Tagen seine Wirkung. Wann habt Ihr zum letzten Mal geblutet.“
Ihre Augen wurden groß, sie rechnete halblaut nach. „Und ich glaubte, das wären die Nebenwirkungen, von denen Ihr gesprochen habt.“
„Wenn Ihr mir nicht glaubt, könnt Ihr ja warten, bis jeder es sieht. Und ihr kennt den König. Er hat seine Abenteuer, aber Euch würde er einen Ehebruch niemals verzeihen. Vielleicht erspart er Euch den Richtblock, aber ganz sicher nicht den Kerker.“
„Ihr!“ sie ballte die Hände zu Fäusten. „Wie konntet Ihr nur! Ihr habt mich ruiniert!“ Sie barg das Gesicht in den Händen und schluchzte.
„Gemach, königliche Hoheit, gemach“, sagte Morinor. Er strich ihr über das schweißfeuchte Haar. „Es wird alles gut werden. Wir schaffen den Kanzler aus dem Weg, Ihr behauptet, das Kind sei von Eurem Gemahl, und wer wird es wagen, Euch der Lüge zu bezichtigen?“
Sie hob den Kopf und blickte ihn mit ihren rot verschwollenen Augen hoffnungsvoll an.
„Ihr werdet meinen Sohn Jarus nennen, nach Eurem so tragisch dahingeschiedenen Gatten. Nach drei Jahren Trauerzeit werdet Ihr mich heiraten. Ich übernehme die Regentschaft und erziehe unseren Prinzen zu einem würdigen Thronfolger.“
„Das also ist Euer Plan“, sagte die Königin.
„Genau. Die Wegelagerer stehen bereit. Sie wissen, worauf es ankommt. Sobald der König und sein Tross den Flüsternden Wald verlassen, steht ihnen eine dreifache Übermacht gegenüber. Alles wird glatt gehen. Verlasst Euch darauf.“
„Aber wie wollt Ihr den Kanzler loswerden?“
„Ich? Den werdet Ihr uns vom Hals schaffen. Seid Ihr nicht die Regentin und unterstehen die Wachen nicht Euch? Ihr habt den zweiten Siegelring des Königs. Erlaßt einen Haftbefehl wegen Unterschlagung von Staatseigentum. Sitzt der alte Mann erst einmal im Kerker, werde ich dafür sorgen, dass er nicht lange überlebt. Sein Stellvertreter wird uns keinen Stein in den Weg legen. Sir Tobald ist so harmlos wie ein zahnloses Kaninchen.“
Ich hatte genug gehört. Morinor als Prinzregent - furchtbar! Irgendwie hatte die Intelligenz des alten Zauberers mir eine Art Gewissen aufgezwungen. Der Überlebenswille einer Ratte lässt dergleichen Luxus nicht zu, richtig ist, was das Fell trocken hält und den Bauch füllt. Nun auf einmal machte ich mir Sorgen um andere, um den König, um den Kanzler, ja um das ganze Reich. Ich musste Morinor aufhalten, nur wie?

2.

Gleich am nächsten Tag machte ich mich auf die Suche nach dem Kanzler. Er war ein kleinwüchsiger, käsegesichtiger Mann, der jeden Tag über Gesetzen und anderen Papieren brütete. Seine Amtsräume waren fast so verstaubt wie die Zauberbibliothek.
Auch an diesem Morgen saß er an seinem Schreibtisch, den Kopf tief über ein Pergament gebeugt und murmelte halblaute Kommentare vor sich hin. Ab und zu, wenn er auf eine besonders interessante oder zweifelhafte Passage stieß, zuckte seine schmale Nase.
Ohne erst lange zu überlegen, kletterte ich an einem der verstaubten Vorhänge hoch, ein Satz, und ich hing an der Schreibtischkante. Ich strampelte mit den Hinterbeinen und krabbelte auf die Tischfläche. Sir Paulig bemerkte mich erst, als ich auf dem Pergament stand.
„Schhhh!“ er schlug mit der Hand nach mir. „Verschwinde!“
Ich sprang zur Seite und ging hinter einem Tintenfass in Deckung. Vergeblich bemühte ich mich, menschliche Laute zu formen. Meine Stimmbänder waren nicht dafür gemacht. Mehr als ein Fiepen und Pfeifen brachte ich nicht zustande.
Sir Paulig packte eine Pergamentrolle und versuchte, mich wie eine lästige Fliege vom Tisch zu wischen. Dabei streifte er das Tintenfass, es kippte um und der zähe, schwarze Inhalt floss über das Pergament.
„Nicht!“ Der Kanzler ließ die Rolle fallen, schnappte einen Schwamm und ein Tuch und ging daran, die Misere aufzuwischen. Just in diesem Moment wurde die Türe aufgedrückt und drei Wachen trampelten herein. Ich sprang vom Tisch - direkt in die ausgebeulte Manteltasche des Kanzlers. Ich zog die Beine ein, legte die Ohren an und klemmte den Schwanz unter meinen Bauch - kurz, ich tat alles, um so wenig wie möglich aufzufallen.
„Was gibt es?“ fragte der Kanzler ahnungslos. Der älteste der Soldaten räusperte sich, er fühlte sich offensichtlich sehr unwohl in seiner Haut.
„Wir haben einen schriftliche Befehl von der Regentin, Sir Paulig.“
„Na und?“
„Wir.. ähh...wir haben den Auftrag, Euch festzunehmen.“
„Mich? Was wirft man mir vor?“
„Unterschlagung von Staatseigentum, Veruntreuung von Gold aus dem Vermögen der Krone. So leid es uns tut, Kanzler, wir müssen Euch in den Kerker führen.“
„Verleumdungen! Lügen! Ich habe nie auch nur eine Kupfermünze auf die Seite gebracht. Da liegen meine Bücher. Hier sind die Schlüssel. Prüft alles nach, doppelt und dreifach. Ich bin unschuldig.“
„Das glauben wir auch, Sir Paulig. Aber wir haben unsere Befehle.“ Der Soldat hob die Schultern. Der Kanzler nickte.
„Ich verstehe. Nun, es wird sich alles aufklären. Sobald der König zurück ist, werden einige Köpfe rollen.“
Der Kanzler marschierte, flankiert von den Wachen aus seinen Amtsräumen. Ich wurde tüchtig durchgerüttelt. Dennoch wagte ich es nicht, auch nur einen Pieps von mir zu geben. Die Wachen waren mit ihren Schwertern rasch zur Hand, und eine Ratte ohne Kopf kann kein Königreich mehr retten.
Wie kam ich überhaupt auf die Idee, ich könnte das ganze Schlamassel in Ordnung bringen? Meine Nase zeigte mir, dass es außerhalb der Rocktasche immer feuchter wurde. Wir Ratten erzählen einander keine Geschichten, mein altes Ich hätte nicht gewusst, ja nicht einmal geahnt, was der feuchte, schimmlige Geruch zu bedeuten hatte. Mein neues Wissen hingegen hatte keine Probleme damit. Das Wort Kerker war verknüpft mit Hunger, Folter, Finsternis und Einsamkeit. Nun, Folter hatte ich als Ratte kaum zu fürchten, in der Dunkelheit fühlte ich mich wohl, und einsam fühlte ich mich seit das Wissen des alten Magiers mein Gehirn ausfüllte. Hunger, dieser Gedanke machte mir viel mehr zu schaffen. Sollte ich ein Loch in die Rocktasche nagen und hinaus schlüpfen?
Doch da hatten wir den Kerker schon erreicht. Ich hörte, wie ein schwerer Riegel geöffnet wurde, eine Türe schwang knarrend auf.
„Bitte“, sagte der Hauptmann. „Ich würde es bedauern, Gewalt anwenden zu müssen.“
„Ist nicht nötig“, erwiderte der Kanzler. „Wenn der König zurück ist, und ich frei bin, wird man dir für deine Rücksichtnahme danken.“
Er schritt in die Zelle, die Wachen schlossen die Türe und schoben den Riegel vor. Ich hörte noch, wie der Hauptmann halblaut zu einem der Soldaten sagte: „Der arme alte Narr! Wenn es nach den Wünschen der Königin ginge, läge er schon auf der Streckbank. Wenn der König sich auch nur ein paar Tage verspätet, kommt er nicht lebend hier heraus.“
Der Kanzler hatte nicht meine feinen Ohren, sonst hätte er sich wohl kaum seelenruhig hingesetzt, und angefangen Strohhalme zu zählen. Die Aufregung hatte ihn erschöpft, und er schlief kurz darauf ein. Erleichtert kletterte ich aus der Rocktasche und sah mich nach einem Unterschlupf um.
Zum Irrglauben der Menschen bezüglich meiner Art zählt auch die fixe Idee, dass Kerker ein Lieblingsplatz für Ratten seien. Das stimmt nicht. Natürlich sind wir in Kerkern öfter anzutreffen wie in Schlafgemächern oder Waffenkammern. Dort werden wir gejagt, hier jedoch geduldet. Oh, nicht von den Gefangenen. „Triff-die-Ratte“ ist das beliebteste Steinchenwerfspiel aller Zellen. Die Wärter sind es, die uns ab und zu ein Bröckchen zuwerfen. Nicht etwa aus Tierliebe, sondern weil ihnen das Unbehagen gefällt, das Unbehagen der Gefangenen ihre spärlichen Brot und Breirationen gegen halbverhungerte Ratten verteidigen zu müssen, das Unbehagen, wenn des Nachts besonders ausgehungerte Exemplare ihnen an die Zehen und Finger gehen. Was übrigens weit weniger oft vorkommt, als die Wärter es den Gefangenen weismachen wollen, schließlich sind wir Nager und keine Fleischfresser.
Kerkerratten sind dünn, aber zäh.. Die eine, welche in dem Mauerspalt hockte, war wahrscheinlich noch zäher als der Rest. Ihr drohendes Fauchen konnte mich nicht abschrecken, ich brauchte dringend ein Versteck, ehe die Wärter das Essen verteilten und den Kanzler weckten. Ich fauchte zurück, meine Haare stellten sich auf, und ich zeigte ihr mein Gebiss. Sie ließ sich nicht beeindrucken und fuhr auf mich los. Es war lange her, seit ich einen richtigen Kampf ausgetragen hatte. Das übliche Sichaufplustern und Drohen regelte das Leben zur Genüge, zumindest das Leben in den oberen Stockwerken. Hier unten regierte der Biss des Stärkeren. Ihre Zähne verfehlten meine Kehle knapp, im Gegenzug verbiss ich mich in ihr Genick. Sie konnte sich losreißen und schnappte nach meiner Nase. Meine Vorderpfoten fuhren ihr in die Augen, sie fiepte und schon hatte ich sie an der Kehle. Sie nahm die Demutsstellung ein, ich ließ los und sie huschte davon.
Die Sprache der Ratten kennt kein Wort für Fairness, aber ich konnte mir denken, wie sich meine Gegnerin fühlte. Der Schlag mit den Vorderpfoten war kein instinktives Manöver gewesen, sondern ein gemeiner Trick, zu dem mir die trockene Stimme in meinem Kopf geraten hatte.


Wie auch immer, ich hatte mein Versteck kaum in Besitz genommen, da polterte der Wärter auch schon gegen die Türe. Der Kanzler schreckte hoch und sprang auf. Sein Gesicht war voll Hoffnung. Als jedoch die Türe aufschwang und der Hilfswärter die Kanne Wasser, die zwei Scheiben Brot und die Schüssel Getreidebrei herein stellte, sanken seine Mundwinkel herab.
„Ist der König noch nicht zurück?“ fragte der Kanzler.
„Nein, er wird erst morgen Abend erwartet.“
„Muss ich wirklich solange hier ausharren?“
„Froh solltet Ihr sein“, sagte der Hilfswärter und sah sich rasch um. „Ich habe gehört, dass es der Königin lieb wäre, Euch in der Eisernen Jungfrau zappeln zu sehen. Wir halten sie hin, solange wir können. Eigentlich dürfte ich Euch nicht einmal einen Schluck Wasser bringen. Trinkt und esst rasch, ehe die Königin jemanden schickt, um Euren Hunger zu prüfen.“
Das Kerkermenü war dem Kanzler sehr zuwider. Dennoch zwang er sich, einen Holzlöffel voll Brei zu nehmen. Er kaute eine halbe Ewigkeit darauf herum, ohne dass sich der sandig-schleimige Geschmack sonderlich verbesserte. Der Hilfswärter sah ihm dabei gespannt zu.
„Wie mundet er Euch? Selbog, der erste Wärter hat extra für Euch sein Geheimrezept ausprobiert. Hafer und Gerstenschleim zusammen mit Roggen, Käse und Gewürzen gekocht. Ihr müsst auch das Brot kosten. Hat meine Frau gebacken.“
Mit viel Mühe würgte der Kanzler den Brei hinunter, griff nach dem Wasserkrug und trank hastig ein paar Züge. Er setzte den Krug ab, lächelte den Wärter freundlich an und hob eine Brotscheibe an seine Lippen. „Richtet dem Wärter Selbog aus, er habe eine besondere Hand für Kerkermahlzeiten.“
Als er in das Brot biss konnte man die Rinde bestimmt noch drei Zellen weiter krachen hören., sofern man eine Ratte wahr. Mir tat das Geräusch im Magen weh. Sicher würde es die Ratten des halben Kerkers hierher locken. Den Kanzler schmerzte es ganz woanders. Ganz Edelmann schluckte er den Bissen Brot, bedankte sich überschwänglich bei dem Hilfswärter und erst als dieser die Kerkertüre schloss, spuckte er den Backenzahn ins Stroh. Das restliche Brot und die Schüssel Spezialbrei a la Selbog schob er in die hinterste Ecke, einen Rattensprung vor mein Versteck. Ich flitzte aus der Ritze, schnappte mir die angebissene Brotscheibe und zerrte sie in die Ritze. Der Kanzler erschrak nicht, vielmehr warf er mir einen mitleidigen Blick zu, den ich erst verstand, als ich an der Kruste zu nagen begann. Steine sind nicht viel härter. Eine Ratte ohne Zähne taugt nur zum Verhungern, also ließ ich Kruste sein und machte mich über das bröselige Innere her. Genau so gut hätte ich ein Maul voll Staub kauen können. Ich hustete die Krümel zwischen meinen Vorderzähnen hinaus und beschloss, lieber den Brei zu versuchen. Ich wandte mich der Schüssel zu und nahm eine Kostprobe. Ich erkannte das Aroma leicht schimmeligen Hafers und vergammelten Käses wieder, trotzdem, die Kombination aus beidem drehte mir fast den Magen um, und das will bei einer Ratte etwas heißen. Aber vielleicht hatten mich die Brocken von der Königlichen Tafel für einfachere Genüsse verdorben, jedenfalls nahm ich mir vor, mit keiner Kerkerratte um Brei oder Brot zu streiten. Mehr noch, ich würde den Kerker nicht mehr länger mit meiner Gegenwart beehren.
Der Entschluss war leichter gefasst als ausgeführt. Wie sollte ich hinaus kommen? Zwar war es mir ein leichtes, die Zelle zu verlassen, doch ein Gang roch so wie der andere. Da ich nicht auf meinen eigenen Füßen hierher gelangt war, gab es keine Duftspur, die ich zurückverfolgen konnte. Zudem hatte die Königin angeordnet, die Jagdhunde durch die Gänge tollen zu lassen.
So huschte ich eilends wieder in die Zelle zurück und haderte mit meinem Wissen, das ganz allein an meiner üblen Lage schuld trug. Ein Tag verstrich, noch ein zweiter. Ich und der Kanzler lebten mehr von der Hoffnung als von Schimmelbrei und Staubbrot. Das teilten sich die übrigen Ratten, die unsere Zelle pünktlich nach jeder Essensausgabe aufsuchten. Irgendwie taten sie mir leid, so wie sie sich über das Essen hermachten, schienen sie niemals etwas Besseres gefressen zu haben.
Am dritten Tag, der Kanzler hockte auf einem Strohhaufen und ich in meinem Mauerloch, tat sich die Türe auf, und der Kerkermeister stand davor. Er war hager, mit einem bleichen, stoppelbärtigem Gesicht und spärlichem blondem Haar. Er roch nach Moder, Schweiß und schimmligem Käse. Der Kanzler rappelte sich auf und blickte ihn hoffnungsvoll an. „Ist der König zurück? Bin ich wieder frei?“
Der Kerkermeister schüttelte den Kopf. Seine Spinnenfinger spielten mit dem Schlüsseln. „Tut mir leid, Sir Paulig, der König ist tot. Wegelagerer überfielen seinen Tross. Alle Soldaten der Leibgarde, der Kämmerer und fast alle Diener sind ebenfalls umgekommen.“


„Nein!“ Der Kanzler rang die Hände. „Seid Ihr sicher?“
Der Kerkermeister nickte. „Sie haben ihn in der Halle aufgebahrt. Gleich morgen soll sein Begräbnis sein.“
„Hat man schon Boten in den Goldenen Turm gesandt, um Leonik zu benachrichtigen?“
„Fürst Leonik ist nicht der Thronerbe“, sagte der Kerkermeister.
„Aber er ist der nächste Verwandte von König Jarus.“
„Nicht mehr. Die Königin trägt einen Erben.“
„Seit wann?“
„Keine Ahnung. Ich weiß es nur von der Freundin meiner Schwester. Sie ist zweite Kammerfrau, und ihr hat es die Königin höchst persönlich erzählt. Sie wollte König Jarus bei seiner Heimkehr damit überraschen.“
„Es kann genauso ein Mädchen werden.“
„Der neuen Hofzauberer hat einen prophetischen Zauber gewirkt und vorausgesehen, dass es ein Junge wird.“
„Der neue Hofzauberer?“ würgte Sir Paulig. „Welcher neue Hofzauberer?“
„Morinor. Sagt nur, Ihr wüsstet es nicht. Die Königin ernannte ihn zum neuen Königlichen Hofzauberer auf Lebenszeit und Zauberer leben lange.“
„Das kann sie nicht!“ Sir Paulig raufte sich sein spärliches Haar. „Sie ist nur die Witwe eines Königs. Nur der König selbst kann ein so wichtiges Amt vergeben.“
„Oder eine Regentin.“
„Regentin?“
„Als die edlen Herren des Königlichen Rates erfuhren, dass die Königin einen Sohn erwartet, ernannten diese sie zur Regentin. Als besondere Ratgeber werden ihr der Kanzler und der Schlossmagier zur Seite stehen.“
„Warum sitze ich denn noch hier?“
„Ihr... äh... Ihr seid nicht mehr der Kanzler, Sir Paulig. Der Königliche Rat hat Sir Tobald zu Eurem Nachfolger berufen.“
„Sir Tobald? Aber er ist dieser Aufgabe doch nicht gewachsen! Er wurde nur Kanzlerstellvertreter, weil er über fünf Ecken mit der Königin verwandt ist, ein Cousin dritten Grades oder so. Die Königin, Morinor und Sir Tobald - die drei werden das Reich zugrunde richten!“
Dasselbe Gefühl hatte ich auch. Bisher war meine Suche nach einem Ausweg aus dem Kerker mehr halbherzig gewesen. Die ansässige Rattensippe duldete, dass ich meinen Anteil an dem Staubkrümelbrot fraß und ihnen dafür den ganzen nahrhaften Getreidebrei überließ. Natürlich war das keine Regelung für immer, irgendwann brauchte ich etwas Gesundes zu fressen. Meine Hoffnung, der König könnte dem Attentat durch ein Wunder entgangen sein, war vergeblich gewesen. Wenn ich nicht bis zu meinem baldigen Lebensende auf steinharten Krusten herumkauen wollte, musste mir etwas einfallen und zwar rasch.
Ratten sind gute Kletterer. Dennoch waren die Wände der Zelle zu glatt, als dass ich meine Krallen in genügend Ritzen hätte zwängen können. Die Hunde bewachten die einzige Türe, die von den Gängen nach draußen führte, blieb nur der schmale Schlitz hoch in der Wand, durch den für zehn Minuten am Tag Sonnenschein in die Zelle fiel. Wenn ich ihn nur erreichen könnte...
Die Gelegenheit kam schneller, als ich erwartet hatte. Der Kerkermeister ließ den gebrochenen Exkanzler allein und schloss die Türe hinter sich. Sir Paulig schlurfte mit gebeugten Schultern zum Fensterschlitz, streckte eine Hand aus, als könne er die Freiheit draußen fühlen, die Freiheit, die er für immer verloren hatte. Auch ohne Hinrichtung und Folter war er so gut wie tot. Er wusste es, der Kerkermeister wusste es und ich wusste es auch. Ich unterdrückte einen ganz und gar unrattischen Mitleidimpuls, nahm Anlauf und kletterte an Sir Pauligs Beinkleidern hoch, das Wams hinauf, ein Stück den Ärmel entlang, ein Sprung und draußen war ich. Der Lüftungsschlitz lag nur einen halben Meter über dem Boden, und nicht nur Katzen beherrschen das Kunststück stets auf den Füßen zu landen. Ich kam heil unten an und orientierte mich. Der Kerker lag in der Nähe der Abfallgruben. Mein Hunger war stärker als das Wissen um die Hunde. Zu meinem Glück waren gerade keine dort, ich erschnupperte die neueste Grube, kletterte hinein und tat mich an Getreideresten, Käserinden und Kartoffelschalen gütlich. Als ich dann noch ein paar angefaulte Äpfel fand, war mein Glück vollkommen. Ich fraß, bis ich mich kaum noch rühren konnte. Prall und schwer kletterte ich schnaufend aus der Grube.
Allein gegen die Königin und Morinor? Dazu hing ich zu sehr an meinem bisschen Leben. Ich brauchte Hilfe, Hilfe von jemandem, der den ganzen faulen Zauber auffliegen lassen würde, von jemandem dessen Recht und Pflicht es war, sich gegen die dumme Entscheidung des Königlichen Rates zu wehren. Es gab nur einen solchen jemand - Leonik. Der Goldene Turm lag im Norden, jenseits des Flüsternden Waldes. In meinem ganzen Rattenleben war ich noch nie außerhalb der Schlossmauern gewesen, und jetzt galt es das halbe Reich zu durchqueren. Am liebsten hätte ich mich in ein Erdloch verkrochen. Doch der Wunsch, Morinor an Stelle von Sir Paulig in einer Zelle vermodern zu lassen mit nichts als Staubkrümelbrot und Schimmelgetreidebrei als Nahrung, war stärker als meine instinktive Furcht vor dem Unbekannten. Dazu kam gesellte sich ein zweiter, noch brennenderer Wunsch. Seit mir Morinor das Wissen des alten Magiers aufgezwungen hatte, trennte es mich von meiner Sippschaft. Wenn irgendwo die Möglichkeit bestand, mich wieder in eine normale Ratte zu verwandeln, dann im Goldenen Turm. Dessen Bibliothek war nahezu zwanzigmal so umfangreich wie jene des Königsschlosses. Ich sog prüfend die Luft ein, wandte mich nach Norden und trippelte los.


3

Ich gehöre zur Spezies der Hausratten, und die Welt außerhalb der Schlosswände war für mich etwas völlig Neues. Da war die Straße, der ich nach Norden folgte, ein mit grobbehauenen Steinen gepflastertes Band. Da war das Gras, das links und rechts wucherte, mal zart, mal schneidend unter meinen Pfoten. Und da war vor allem der Himmel. Wenn ich den Kopf in den Nacken legte, konnte ich die unglaublich hohe, blaue Decke sehen. Sie war mit weißen und grauen Tupfen gesprenkelt. Es roch nach zerstampftem Klee, Lindenblüte, warmer Erde und eingetrockneten Pferdeäpfeln und hundert weiteren Dingen, für die selbst mein neues Wissen keine Namen hatte. Wohl deshalb, weil der alte Magier niemals etwas anderes gerochen hatte als verstaubtes Pergament.
Als der Abend kam, war ich ein gutes Stück vom Schloss entfernt. Ein überhängender Stein bot mir Unterschlupf, und ich streckte meine wundgelaufenen Pfoten dankbar von mir. Nach einer viel zu kurzen Nacht und einem mageren Frühstück aus Bucheckern und Löwenzahnsamen, den roten und schwarzen Beeren traute ich nicht so recht, wanderte ich weiter.
Am Mittag des vierten Tages endlich erreichte ich den Flüsternden Wald. Er war groß, viel größer als mein Wissen ihn in Erinnerung hatte, aber es hatte ihn ja aus der Perspektive eines Menschen gesehen.
Für mich als Ratte bestand der Wald nicht aus Bäumen und deren Wurzeln, über die man stolperte. Viel mehr bestand er aus bauchhohem, filzigem Moos und Wurzeln, über die es zu klettern galt. Und da waren die Pfade, ein ganzes Netz von Pfaden. Bei einem derartigen Durcheinander von Bäumen und Sträuchern war es kein Wunder, dass jedes Tier seinen Pfad brauchte, um vom Schlafplatz zum Frühstück zu finden. Der Pfad einer Haselmaus führte mich zu einem Gestrüpp mit reifen Brombeeren. Ich wunderte mich, weshalb ich auf keinen einzigen Rattenpfad stieß.
Als ich dann am späten Nachmittag über eine Fuchsfährte stolperte, wunderte ich mich nicht mehr. Es roch nicht nach Hund, nicht so richtig, aber ähnlich genug, dass sich mein Nackenfell sträubte. Dennoch folgte ich der Fährte eine Weile bis ich auf einen eingetrockneten Blutfleck stieß. Der Pfad, der hier jenen des Fuchses kreuzte, hatte zu einer Waldmaus gehört. Die trockene Stimme in meinem Kopf klärte mich über die Verwandtschaft zwischen Mäusen und Ratten auf. Wem eine Maus schmeckt, der dürfte auch Appetit auf eine Ratte haben, erwähnte sie so nebenbei. Ich beeilte mich, so viele Bäume wie möglich zwischen mich und die Fuchsfährte zu bringen.
Als die Dämmerung hereinbrach fand ich in einem bemoosten Baumstumpf ein Loch. Dort verschlief ich den Großteil der Nacht und des folgenden Tages. Erst am Nachmittag trieb mich der Hunger wieder aus dem Loch. Die roten Pilze mit den weißen Flecken, an denen die Wegschnecke so begeistert raspelte, sahen recht verlockend aus, aber der Geruch erinnerte mich an die Fliegenfallen in der Schlossküche.
Ein Bruder von mir, er war gerade alt genug geworden, um von der Sippe das Amt des Vorkosters verliehen zu bekommen, naschte eine Zungenspitze voll dieser grünlichen Milch, in der die toten Fliegen schwammen. Drei ganze Tage spuckte er Gift und Galle, dann erwischte ihn einer der Hunde. Mein Bruder war zu geschwächt gewesen, um davonzulaufen. Allerdings bekam er dem Hund nicht sonderlich. Ich konnte den Mörder meines Bruders einen ganzen Tag lang japsen und würgen hören, ehe er sich von seiner Beute erholte. Von da an mied er uns Ratten und verschwand bald darauf aus dem Schloss.
Ich machte einen Bogen um die gefleckten Pilze, ebenfalls um einige andere. Sie sahen aus verfaulte Kartoffeln mit Runzeln, rochen nach madigem Fleisch und ein Schwarm Fliegen delektierte sich an der schwärzlichen Paste in den Rillen.Die Haselnüsse, die ich ausgrub, waren leer und hatten winzige Löcher in der Schale. Ich begnügte mich mit ein paar halbreifen Brombeeren, für die ich mir eine zerkratzte Nase einhandelte.
Der Hunger hielt mich über die Dämmerung hinaus wach. Auch als das phosphoreszierende Licht der Baumschwämme zu sehen war, pflügte ich durch das Moos nach Norden. Ein fetter, schwarzer Käfer schaffte den Abflug nicht mehr rechtzeitig. Ich schnappte ihn und machte mich daran, seinen Chitinpanzer zu knacken.
Plötzlich stieg mir ein beißender und zugleich staubiger Geruch in die Nase. Ich ließ den Käfer fallen, sah zum Himmel und da stürzten zwei runde, gelbe Lichter auf mich nieder. Ich war wahrscheinlich der fetteste Brocken, den die Schleiereule in letzter Zeit zwischen den Klauen gehabt hatte. Mehr als ein erschrockenes Quieksen brachte ich nicht heraus. Die langen, gebogenen Krallen schlossen sich um meine Mitte, bohrten sich durch mein Fell, meine Haut, in meine Eingeweide.


Dem Zauberer entronnen, den Hunden entronnen, dem Kerker entronnen, nur um als Abendimbiss einer Eule zu enden - ich hätte schreien mögen. Statt dessen drehte ich den Kopf und versuchte ihr ins Bein zu beißen, bekam aber nur ein paar Federn ins Maul. Es wäre sowieso sinnlos, klärte mich die spöttische Stimme in meinem Kopf auf. Wenn mich die zerfetzte Leber nicht umbrächte, würde der Blutverlust den Rest besorgen. Die Eule betrachtete meine Zuckungen mit Interesse und packte sicherheitshalber noch fester zu. Ich wand mich vor Schmerzen und wartete darauf, um aller Götter willen, endlich das Bewusstsein zu verlieren, da erstrahlte direkt hinter der Eule ein helles Licht.
„Schu-uh?“
Die Krallen lösten sich aus mir, ein paar Schläge der lautlosen Flügel und fort war sie. Nicht, dass mich das sonderlich interessiert hätte, ich war viel zu sehr damit beschäftigt zu verbluten. Das Licht näherte sich, senkte sich auf mich herab und mir war, als streifte mich ein kalter Luftzug. Die Wunden schlossen sich, und ich fühlte mich auf einmal besser, als ich mich je zuvor gefühlt hatte.
Ich sprang auf die Pfoten und starrte in das Licht. Es zog sich vor mir zurück und wurde schwächer. Jetzt konnte ich erkennen, daß es von einer sehr großen Ratte ausging, die im Gras vor mir stand. Ihre Schnurrhaare sprühten Funken und auf ihrem Fell lag ein goldener Schimmer, wie ich ihn noch bei keiner Ratte gesehen hatte. Zudem roch sie nach Honig und sonnenwarmen Kleeblüten.
„Soll ich eine andere Gestalt annehmen?“ fragte sie mit heller Stimme. Mit Menschenstimme, wohlgemerkt. Ich konnte nicht antworten, da weder der Warnpfiff „Hund im Anmarsch“, noch ein Fauchen wie, „Zähne weg, das ist mein Happen“, angemessen schienen.
„Du kannst nicht sprechen?“ Die goldene Ratte klang erstaunt. „Verwandle dich doch einfach zurück.“
Jetzt verstand ich. Die Ratte, die in Wirklichkeit einer aus dem Volk der Goldenen war, hielt mich für einen Menschen, für einen Zauberer.
Ich richtete mich auf die Hinterpfoten und verrenkte mir fast die Schulter, um ein menschliches Achselzucken zu imitieren.
„Das verstehe ich nicht. Hast du Angst vor mir?“ Der Goldene lachte. „Ich habe dir doch geholfen. Hast du dummer Mensch den Umkehrspruch vergessen?“
Das Licht um die Ratte strahlte hell auf und ein menschenähnliches Wesen mit übergroßen Augen und langer, spitzer Nase stand vor mir. Die Haut schimmerte golden, wie zuvor das Rattenfell. Der Goldene beugte sich zu mir herab.
„Ich werde dich in das verwandeln, was du wirklich bist. Danach können wir uns unterhalten, darüber, was du abseits der Wege in unserem Teil des Waldes zu suchen hast.“
Der Goldene murmelte einen Zauber und ich spitzte die Ohren. Ein Mensch hätte nur ein undeutliches Raunen gehört, aber ich verstand jedes Wort. Ah... ein wirklich guter Zauber, das fand die Stimme in meinem Kopf auch. Gleichzeitig spürte ich, wie eine unsichtbare Macht versuchte, mir mein Fell abzuziehen. Ich quiekte empört und stemmte mich mit aller Kraft dagegen. Wäre ich wirklich ein verwandelter Mensch gewesen, hätte es mir nichts genützt. Doch da ich eine echte Ratte war, vermochte der Zauber nicht, meinen instinktiven Widerstand zu brechen.
Die Augen des Goldenen weiteten sich. „Du bist eine Ratte!“ hauchte er.
Was für eine Erkenntnis! Ich starrte ihn herausfordernd an. Was nun?
Der Goldene rieb sich die Nasenspitze und lächelte. „Warte.“ Er wob einen neuen Zauber. Irgend etwas geschah mit meiner Kehle, mit meiner Zunge, meinem Gaumen. Ich keuchte und hustete, würgte und wäre fast erstickt. Endlich schwand das Zerren und Reißen. Ich öffnete die Schnauze. „Verdammt, was sollte das?“ Vor Schreck machte ich einen Luftsprung. Das gab es doch nicht! Diese volle Baritonstimme konnte unmöglich die meine sein.


„Gut gesprochen“, der Goldene lächelte selbstgefällig. „Du musst zugeben, dass mein Zauber erstklassig gewirkt hat.“
„Aber wie, wie kann ich so sprechen? Ich habe keine Lunge dafür, bestenfalls müsste ich rasseln oder quietschen.“
„Ach das“, der Goldene winkte ab, „das ist doch total unwichtig. Magie vermag alles. Ich könnte auch einer Raupe deine Stimme verleihen. Aber keine Angst, du kannst immer noch pfeifen wie eine Ratte.“
Ich probierte mein Repertoire an rattischen Lauten durch und war beruhigt. Die Menschenstimme war nur eine Zugabe.
„Jetzt, da du sprechen kannst, erzähl mir, was dein kleines Hirn mit Zauber und Wissen vollgestopft hat.“
„Nicht ein was, sondern ein Wer“, stellte ich richtig und erzählte in groben Zügen, was mir im Königsschloss zugestoßen war. „Wisst Ihr vielleicht einen Weg, wie ich schneller zum Goldenen Turm komme als auf meinen Pfoten?“
„Kann sein. Aber ich wüsste nicht, was mich die Belange der Menschenwelt kümmern.“
„Sie haben Bedeutung, auch für die Goldenen. Warum sonst, hättet ihr den Menschen Eure magischen Bücher hinterlassen?“
„Wir haben was?“ Der Goldene kicherte. „Das siehst du völlig falsch, Ratte. So war es nie gemeint. Wir sind weder verschwunden, noch ausgestorben. Warum also sollten wir jemandem unsere Magie hinterlassen - ausgerechnet den Menschen?“
„Weshalb habt ihr die magischen Bücher dann so schlecht versteckt? Die Menschen hatten keine große Mühe, sie zu finden. Eure Sprache haben sie enträtselt.“
„Gut. So war es auch geplant.“
Ich schüttelte den Kopf. „Das ist zu hoch für mich.“
„Pass auf, Ratte.“ Der Goldene setzte sich neben mich ins Moos. „Angenommen ich würde dich und deine Sippe in einen großen Raum versetzen, wo ein riesiges Käserad an der Decke hängt. Auf dem Boden wären hunderte kleine Käsestücke verstreut, gerade genug für einen Turm, der bis an das große Rad reicht. Würdet ihr die Stücke zusammentragen, um gemeinsam das Rad zu erreichen?“
Da gab es nicht viel zu überlegen. „Nie und nimmer“, erwiderte ich entschieden. „Jede Ratte würde versuchen für sich und ihre Sippe so viele Stücke wie möglich zu sammeln. Was wir nicht sofort fressen, lagern wir als Vorrat.“
„Die Menschen unterscheiden sich da kaum von euch. Jeder Zauberer sammelt für sich und nur für sich so viele unserer Bücher, wie er ergattern kann. Niemals kämen sie auf die Idee, all ihr Wissen zu vereinen. Dabei wäre das der einzige Weg, eine Stufe der Magie zu erreichen, die der unseren gleichkäme. Sie können keine eigenen Zauber ersinnen wie wir. Sie können nur das benutzen, was wir ihnen überlassen und das sind nur winzige Splitter der wahren Macht.“
„Wäre es nicht einfacher gewesen, den Menschen gar keine Magie zur Verfügung zu stellen?“
„Einfacher vielleicht, aber nicht sicherer. Seit die Menschen zum ersten Mal in unser Land kamen, war uns klar, dass sie ein zähes, wissbegieriges Volk sind. Wir versuchten Freundschaft mit ihnen zu schließen, aber ihre Gier nach unseren Fähigkeiten wurde größer und größer. Da beschlossen wir, einen offenen Krieg zu vermeiden und zogen uns hierher zurück. Die hartnäckigsten, gierigsten folgten uns. Um sie abzuschütteln schufen wir die ersten magischen Bücher und versteckten sie so, dass die Menschen darüber stolpern mussten. Es lief wie geplant. Sie fanden die Bücher und über ihrer Mühe, sie zu entziffern, gaben sie die Verfolgung auf. Wir hatten unsere Ruhe.“
„Und damit es so bliebe hat Euer Volk mehr und mehr Bücher versteckt.“
„Richtig. Der beste Streich war der Zauber, mit dem die Bücher das Leben der Menschenmagier verlängern.“


„Ahh.... jetzt verstehe ich. Sie werden dadurch gezwungen in ihren Bibliotheken auszuharren, vergraben sich in Staub und Studien.“
„So ist es. Nur die Zauberer wären in der Lage uns aufzustöbern. Durch den Trick mit dem Staub sind wir auch vor ihnen sicher.“
Ich dachte das ganze nochmals durch. Die Sache hatte irgendeinen Haken. Es hatte mit Morinor zu tun und mit seinen Plänen. Was war es nur.... ah ja!
„Was ist“, fragte ich und konnte den Eifer in meiner Stimme kaum dämpfen, „was ist, wenn ein Zauberer über soviel Macht gebietet, dass er Soldaten ausschicken kann, die jeden anderen Magier gefangen setzen? Wenn er sogar wagt, den Goldenen Turm anzugreifen?“
Mir fiel ein, dass Morinor damit gar nicht bis zu seiner Heirat mit der Königin warten musste. Er konnte sie als Marionette benutzen. Als ihr Ratgeber hatte er genug Macht dazu. Mir kam auch in den Sinn, dass Morinors Sohn den Tag seiner Volljährigkeit kaum erleben würde. Die Königin würde nach ihrer Heirat bestimmt bald einer rätselhaften Krankheit zum Opfer fallen. Vielleicht aber hatte Morinor auch für sie einen ähnlich spektakulären Abschied geplant wie für den alten Sebiond.
„Morinor könnte es gelingen, allen Zauberern ihre Bücher abzujagen und so die letzten Geheimnisse zu ergründen. Damit gibt sich dieser Gierschlund nicht zufrieden. Binnen einiger Jahre wird er wenn nötig den Flüsternden Wald fällen, um Euch und Euresgleichen einzufangen.“
Der Goldene sah mich an, als könnte er das nicht so recht glauben. Daraufhin erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Auch die Sache mit der Königin, dem falschen Erben und die Gefangennahme des Kanzlers. Ich erklärte ihm auch, warum Morinor zu einer Gefahr für das Goldene Volk werden könnte.
„Er braucht seine verstaubten Bücher nicht zu verlassen. Soldaten werden die Schmutzarbeit für ihn erledigen. Wer weiß, ob nicht schon damit begonnen hat, alle Zauberer des Königreiches ins Schloss zu bitten. Was ihm bei Sebiond und mir gelungen ist, kann er mit jedem Zauberer und jeder Kreatur wiederholen. Nur meine rasche Flucht hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
Ich redete weiter auf den Goldenen ein. Er war nicht so menschenfremd wie es schien. Er erzählte, dass immer wieder Goldene den Wald verließen, um weitere Bücher zu verstecken. Da sie nur einen Teil ihres Wissen derart aufgesplittert hatten, sahen sie in der steigenden Bücherzahl keinen Grund zur Besorgnis. Zudem gab es die meisten Sprüche in mehrfacher Ausführung, so dass die Zahl der Bücher allein täuschen konnte. Doch meine Worte durchdrangen langsam die Selbstsicherheit, die ihn wie eine Panzer umgab. Nach einer Weile machte er ein bedenkliches Gesicht.
„Mir gefällt das gar nicht. Kann denn keiner diesen Morinor aufhalten?“
„Leonik, der Neffe des Königs, ist meine einzige Hoffnung. Aber die Zeit eilt. Sobald Morinor seine Stellung am Hof gefestigt hat und einen Zauberer nach dem anderen auslaugt und umbringt, wird er selbst für Leonik unbezwingbar sein.“
„Und wo ist dieser Leonik?“
„Im Goldenen Turm. Deshalb habe ich Euch ja nach einem kürzeren Weg gefragt. Rattenpfoten sind keine Vogelflügel.“
Der Goldene lachte. „Wahrlich nicht. Ich werde dich an den Nordrand des Waldes bringen, wenn du willst.“
„Dafür wäre ich dir dankbar.“
Die Gestalt des Goldenen zerfloss und bildete sich neu. Er wurde zu einem Habicht. „Keine Angst“, krächzte er. „Es ist nur eine äußere Verwandlung. Ich verspüre keinen Hunger nach deinem Fleisch.“ Er flatterte auf mich zu, seine Klauen packten mich, ohne dass die spitzen Krallen meine Haut ritzten. Ein paar kräftige Flügelschläge und ich verlor den Waldboden unter meinen Pfoten. Ich quietsche ängstlich. Der Habicht mit den goldenen Schwingen lachte und begann einen gefährlichen Zickzackkurs zwischen den Baumstämmen. Mehr als einmal fürchtete ich, wir könnten gegen einen Ast knallen, aber der Goldene tauchte darunter hindurch.
Endlich lichteten sich die Stämme, wir hatten den Waldrand erreicht. Der Habicht setzte zur Landung an und ließ mich vorsichtig ins Moos fallen. Ich glättete mein zerzaustes Fell, während der Goldene wieder seine eigene Gestalt annahm.
„Eigentlich wollte ich den Sprachzauber nach unserer Unterhaltung aufheben, aber ich denke, du wirst ihn noch nötig haben. So lebe denn wohl, Ratte. Meine besten Wünsche begleiten dich.“
Ehe ich etwas passendes erwidern konnte, war er im Wald verschwunden. Ich starrte zum Nachthimmel und versuchte, mich zu orientieren. Ich stellte mir eine Landkarte vor, setzte mein instinktives Gespür und das Wissen Sebionds um Himmelsrichtungen und Sternbilder ein und trippelte wieder los.

4
In der Morgendämmerung gelangte ich zu einer Straße. Trotz der für Menschen frühen Stunde begegnete ich einem mit Gemüse beladenen Karren. Er holperte über einen Ast und eine Gurke und ein Bündel Karotten purzelten auf die Straße. Ehe der dicke Mann, der das Ochsengespann führte, den Verlust bemerkte, sprang ich vor, packte die Karottenstiele mit den Zähnen und zerrte es ins Gebüsch. Gleich darauf holte ich mir noch die Gurke, machte es mir gemütlich und schlang soviel Gemüse in mich hinein, bis mein Bauch einem Salzfass glich. Satt und zufrieden döste ich bis zur Mittagsstunde, dann machte ich mich an das letzte Stück meiner Reise.
Sebionds Wissen belehrte mich, dass ich nur der Straße folgen müsse, um den Goldenen Turm zu erreichen. Also lief ich im Sichtschutz des Gebüsches weiter nach Norden. Hügelauf, hügelab, es war später Nachmittag, da endlich teilten sich die Hügel und gaben den Blick auf den Goldenen Turm frei. Der Name täuschte, obgleich der Turm sicher das älteste der Gebäude war. Im Laufe der Jahrhunderte hatte man rings herum langgestreckte Gebäude errichtet, die sternförmig vom Turm weg strebten. Der honiggelbe Anstrich des Turmes glänzte auf die Entfernung wie Gold, daher der Name. Die Nebenbauten waren in schlichtem Weiß gehalten.
Je näher die Straße dem Turm kam, desto besser wurde sie. Das Granitpflaster wich buntem Marmor, die Rillen zwischen den Platten waren frei von Unkraut, und die Büsche links und rechts hatte man mit scharfen Messern säuberlich zurechtgestutzt.
Als ich schließlich so nah herangekommen war, dass ich die Sonnenwärme der gelben Steine auf meinem Pelz fühlen konnte, sank mir das Herz. Der Goldene Turm war so groß. Ich konnte den Kopf noch so weit in den Nacken legen, die Dächer sah ich nicht. Wie sollte eine kleine, kurzbeinige Ratte da drin einen bestimmten Menschen finden? Bestimmt wimmelte es nur so von ihnen. Ich hatte nur Leoniks Namen. Ohne seinen Geruch war ich darauf angewiesen, dass ihn jemand gerade dann beim Namen nannte, wenn ich vorbeikam. Durfte ich, die anderen Studenten und Zauberer nach ihm fragen?
Nein, entschied ich. Die Erinnerung an Morinors Gier war noch zu frisch. Geriete ich einem machtgierigen Lehrling in die Hände, der mir Sebionds Wissen aus dem Gehirn zog und für sich behielt, war das Königreich verloren. Auch meine Überlebenschancen wären nicht allzu groß.
Ich beschloss, das Gebäude erst einmal zu umrunden. Irgendwie würde ich ungesehen hineingelangen. Sobald ich ein Versteck gefunden hatte, konnte ich mir eine Suchstrategie zurechtlegen. Vielleicht gab es sogar einen Suchzauber... Halt! Ich konnte ja zaubern. Der Goldene hatte mir die Sprache der Menschen verliehen und mit ein bisschen Übung musste es einfach gelingen.
Dummkopf schalt mich die Stimme in meinem Kopf. Du bist eine Ratte. Wie willst du da einen Zauberstab in Händen halten? Goldene brauchten keine Zauberstäbe, aber menschliche Zauberer kamen nur ganz selten ohne sie aus. Zauberstäbe waren Konzentrationshilfen und Medium in einem. Mit ihnen ließ sich die Macht des Zaubers an die gewünschte Stelle konzentrieren, anstatt wirkungslos zu verpuffen oder unkontrolliert zu explodieren. Mit einem bedauernden Seufzer blickte ich auf meine Pfoten. Vielleicht, wenn ich mich auf die Hinterbeine setzte und den Stab mit beiden Pfoten umklammerte... Nein. Es war unmöglich. Ich konnte den Stab vielleicht festhalten, aber ihn in die gewünschte Richtung zu balancieren, dafür waren meine Krallen nicht geschaffen. Selbst wenn der Stab dünn und leicht genug wäre.
Enttäuscht lief ich weiter. Wie lange war ich nun schon fort? Eine Woche? Je mehr Zeit verstrich, desto schwerer würde es Leonik haben, den Thronrat von Morinors Schändlichkeit zu überzeugen.
Endlich fand ich ein Loch, das wie für eine Ratte gemacht schien. Ich steckte den Kopf hinein und schnüffelte. Es roch nach Schinken, frischem Brot und Räucherfisch. Offenbar befand sich jenseits der Wand die Speisekammer. Die Stimme in meinem Kopf riet zur Vorsicht, aber da hatte mein Instinkt schon die Oberhand, und ich krabbelte hinein. Es war finster, aber meine Nase führte mich zu einem Stück Schinken, das seltsamerweise auf dem Boden lag. Ich schnappte danach. Im selben Augenblick rasselte es, etwas Schweres fiel auf mich herab, schnürte mich ein und riss mich in die Höhe. Ich konnte ein ängstliches Quieken nicht unterdrücken. Plötzlich wurde es hell.
Ich blinzelte in das grelle Licht einer magischen Kugel.
„Endlich wieder eine“, sagte eine junge Stimme.


Meine Augen gewöhnten sich rasch an das Licht. Ich hing in einem Netz in Kopfhöhe eines jungen Burschen, der mich mit widerwärtiger Zufriedenheit betrachtete. Er konnte nicht viel älter als sechzehn sein. Er roch nach Seifenwasser, Karotten und Kartoffelschalen. Ein Küchenjunge, dachte ich entsetzt. Sein Herr und Meister würde mich erschlagen oder ertränken. Aus meinem Quieken wurde ein schrilles Pfeifen, als er das Netz abnahm und mich wie einen toten Fisch aus der Speisekammer schleppte.
Sein Meister war gerade dabei, eine gefüllte Gans zuzunähen. Der Küchenjunge wartete respektvoll, bis er damit fertig war, ehe er mich präsentierte.
„Es ist wie ich es sagte, Meister Kolpert. Wir müssen sie von draußen herein locken. Das ist die dritte seit letzter Woche.“
„Gut gemacht, Zair“, sagte der hagere Mann und wischte sich die Hände an seiner bunten Schürze sauber, ehe er dem Küchenjungen das Netz abnahm. „Bringe mir eine Kiste.“
„Sofort Meister.“
Seine Holzschuhe klapperten über den blanken Steinboden. Als er wiederkam, trug er einen kleinen Holzkiste, dessen Vorderseite aus einer Gittertür bestand. Er löste den kleinen Haken, klappte die Türe auf und sein Meister schüttelte mich hinein. Ich rutschte über den mit Stroh bedeckten Boden bis zur Rückwand. Zair verschloß die Tür und stellte den Käfig auf den Tisch. Kolpert kramte währenddessen in seiner Schürzentasche. Er zog eine kleine Schriftrolle hervor und studierte sie.
„Wer ist an der Reihe, Meister?“ fragte Zair.
„Großmeister Dulgan. Bring sie ihm hinauf, die Prämie darfst du behalten. Schließlich hast du ja die Falle gebastelt.“
„Aber ohne Meister Leoniks Leuchtwarnzauber müßte ich alle fünf Minuten hinüber rennen und nachsehen.“
„Ich bin sicher, Meister Leonik gönnt dir die Prämie. Jetzt lauf, ehe ich es mir anders überlege und selbst gehe.“
Zair packte mich und rannte aus der Küche. Ich klammerte mich an dem Gitter fest, trotzdem wurde ich hin und her geworfen. Mir wurde übel. Endlich hatte das Gerüttel und Geschaukel ein Ende. Die Kiste wurde auf einen Tisch gesetzt. Mein Magen beruhigte sich, und ich sog gierig die neuen Gerüche ein. Schwefel, altes Leder, Pergament, Tinte und Staub, jede Menge Staub. Ich zwängte meine Schnauze zwischen den Gitterstäben durch, soweit ich konnte und sah mich um. Gleich vor der Kiste standen zwei Bücher und dahinter erhob sich eine seltsame Anordnung von Röhren, Kolben, Trichtern und Phiolen. Das Labor eines Zauberers. Schlurfende Schritte näherten sich dem Tisch.
„Hast du wieder eine für mich, Zair?“ fragte eine brüchige Stimme.
„Jawohl, Großmeister Dulgan.“
„Hat lange genug gebraucht. Hier sind deine Münzen.“ Es klimperte.
„Vielen Dank, Großmeister.“
„Schon gut und jetzt verschwinde.“
Zairs Pantoffeln klapperten eilig in Richtung Ausgang. Großmeister Dulgan schob die Bücher zur Seite und beugte sich, bis ich direkt in seine Augen blicken konnte. Ich roch den alten Schweiß und seinen säuerlichen Atem. Regelmäßiges Baden war der Wirkung des Zauberstaubes abträglich, so dachten zumindest die Zauberer.
„Ahhh... ein gesundes, starkes Exemplar. Ich hoffe, wir können dich öfter einsetzen als deine Vorgänger. Mal überlegen, welchen Zauber wir zuerst an dir ausprobieren.“ Ich zog mich in den hintersten Winkel der Kiste zurück. Mir sträubte sich das Fell, ich legte die Ohren an und zeigte meine Zähne.
„Du mußt keine Angst haben, Kleiner. Wir sorgen gut für unsere Versuchsratten. Es wird nämlich immer schwerer, welche zu finden.“
„Kein Wunder“, dachte ich mir, „die ansässige Sippe habt ihr umgebracht, und die wenigen, die es überlebten, trugen die Warnung ins Land hinaus. Nur ein Fremdling wie ich fällt auf den Duft der Speisekammer herein.“
Ich wollte dem alten Zauberer meine Meinung sagen, da richtete er sich auf und rief: „Leonik!“


Mein Herz machte einen Luftsprung.
„Was gibt es, Großmeister?“ Ein dunkelhaariger, junger Mann kam aus einem Nebenzimmer. Seine Kleider waren sauber, offenbar teilte er die diesbezügliche Meinung seines Großmeisters nicht.
„Ich habe eine neue Ratte für dich. Wollen wir den Vergrößerungszauber testen?“
„Sollten wir die Formel nicht zuerst an leblosen Objekten versuchen, Großmeister?“ fragte Leonik in respektvollem Tonfall. „Steine oder Münzen sind leichter zu beschaffen, als neue Ratten.“
„Da hast du recht. Bringe sie zu den anderen. Ich sehe noch mal die Liste mit den neuen Zaubern durch, bis morgen habe ich sicher einen gefunden, für den keine Ratte zu schade ist.“
Leonik hob meine Kiste hoch und trug mich vorsichtig in den Nebenraum. Dort standen bereits vier andere Kisten auf einem Regal. Er stellte mich neben sie. Ich versuchte, einen Blick auf meine Leidensgenossen zu erhaschen und schauderte. Die erste Ratte hatte ein rosa Fell und übergroße Augen, der zweiten fehlten zwei Beine. Die dritte sah äußerlich gesund aus, aber sie drehte sich ständig im Kreis und zwitscherte wie ein Kanarienvogel, die vierte lag auf dem Rücken, ihre Beine zuckten und sie röchelte.
Leonik steckte ein Stück Brot zwischen den Gitterstäben hindurch. „Viel mehr kann ich leider nicht für dich tun, Ratte. Großmeister Dulgan und zwei andere Großmeister bestehen darauf, neue Formeln zu erfinden und sie an Geschöpfen wie dir auszuprobieren. Sie glauben, so den Goldenen gleich zu werden. Bis jetzt allerdings haben sie nur Fehlschläge erlitten. Wenn sie doch nur ein Einsehen hätten... Kein Mensch kommt an die Macht eines Goldenen heran.“
„Bis jetzt nicht“, sagte ich.
Leonik schreckte zurück. „Was .... Du kannst sprechen?“
„Psst“, zischte ich. „Dulgan darf uns nicht hören.“
„Wer... wer bist du und was willst du von mir?“
„Ich bin eine Ratte, wie du siehst. Daß ich sprechen kann, verdanke ich einem Goldenen.“
„Du hast einen Goldenen getroffen? Wo?“
„Im Flüsternden Wald, aber das ist jetzt nicht wichtig. Ihr müßt nach Hause kommen, Prinz Leonik.“
„Nach Hause?“
„Zurück ins Königsschloß. Euer Onkel ist tot.“
Leonik erblaßte. „Warum erfahre ich, sein Erbe, das jetzt erst? Mein Onkel war doch immer gesund.“
„Alles der Reihe nach“, bremste ich seinen Eifer. „Offiziell Seid Ihr nicht länger der Erbe. Die Königin erwartet ein Kind. Der Hofzauberer beschwört, daß es ein Junge wird.“
Leonik entspannte sich. „Gut, dann kann ich hierbleiben.“
„Langsam, Eure Hoheit. Das Kind wurde nicht von Eurem Onkel gezeugt. Der Hofzauberer ist sein Vater.“
„Sebiond? Unmöglich!“
„Sebiond lebt nicht mehr. Morinor, sein Nachfolger, stieß ihn aus dem Fenster, nachdem er sein Wissen und seine Intelligenz auf eine Ratte übertragen hatte.“
„Warte mal, auf eine Ratte? Soll das heißen, daß du...?“
„Erraten, Hoheit. Ich schleppe diese Bürde seit vielen Tagen mit mir. Eigentlich wollte Morinor noch einen Schritt weitergehen“, begann ich und erzählte ihm Schritt für Schritt die ganze Geschichte.
Sein Mienenspiel wechselte von Unglauben zu Betroffenheit. Als er von der Festnahme des Kanzlers und den Plänen Morinors erfuhr, wurde er abwechselnd blaß und rot. Seine Augen blitzten, und er kniff die Lippen zusammen.
„Morinor will mehr als nur den Thron meines Onkels, nicht wahr?“
Ich nickte. „Ich fürchte sein wahres Ziel ist der Besitz aller Zauberbücher im Reich, jene des Goldenen Turmes mit eingeschlossen.“
„Unsinn!“ entfuhr es Leonik. „Wie will er das erreichen?“
„Durch den Thron. Als Regentin kann Eure Tante das Heer ausschicken, um alle Zauberer des Reiches festzunehmen. Dazu braucht sie nicht einmal die Genehmigung des Thronrates.“
„Vielleicht glückt es ihr bei den Wanderzauberern. Aber was ist mit all jenen, die bei Baronen und Grafen eine feste Anstellung haben?“
„Die werden ausgeliefert. Morinor wird schon ein fadenscheiniger Vorwand einfallen. ‘Komplott gegen das Reich’, Verrat, Rebellion, was weiß ich. Natürlich wird ihm niemand wirklich glauben, aber welcher Baron oder Graf wird wegen eines übellaunigen, verschrobenen Staubfängers einen Krieg mit der Krone riskieren?“


Leonik zuckte zusammen. „Denkt man so über uns?“ fragte er leise.
„War das nicht immer so? Ihr könnt es den einfachen Menschen nicht übel nehmen. Seht Euch den Großmeister an. In seinem Denken ist kein Platz für Freundlichkeit, Bescheidenheit oder Güte. Wann hat er das letzte Mal gebadet und seine Haare gewaschen? Vor zehn Jahren, oder vor fünfzehn? Welchen Zauberer im Goldenen Turm interessiert es auch nur einen Deut, was draußen im Land passiert? Wer würde einen Gedanken an Krieg, Seuchen oder Hungersnot verschwenden, solange der Goldene Turm verschont bleibt?“
Ich fühlte, wie Leonik mit sich kämpfte. Schließlich nickte er. „Du hast nicht ganz unrecht, Ratte.“
„Danke.“
„Und was erwartest du jetzt von mir?“
„Haltet Morinor auf. Entlarvt seine Ränke und besteigt den Thron.“
„So einfach ist das nicht. Ich habe Verpflichtungen hier.“
„Was für Verpflichtungen? Soweit ich rieche und höre bist du nichts weiter als der Fußabtreter des Großmeisters.“
„Er hält große Stücke auf mich. Ich bin selbst Meister.“
„Ratten füttern und Käfige ausputzen sind genau die passeneden Aufgaben für einen wahren Meister.“
„Ich habe eine verantwortungsvolle Stellung inne.“ Leonik bemühte sich um Würde.
„Ach ja, ich vergaß, daß ihr des Großmeisters Zauberstäbe poliert und seine Röhren, Kolben und Phiolen ausspült. Dürft ihr ihm auch die Sandalen putzen und seine Zehennägel feilen?“
Leoniks wurde hochrot im Gesicht. „Hör auf damit! Wer gibt dir das Recht....?“
„Ich nehme es mir“, unterbrach ich ihn. „Fürchtet Ihr das bittere Licht der Wahrheit in Eurem bequemen, dunklen Turm? Ihr seid nicht zum Putzlappen bestimmt, Prinz Leonik. Das Volk Eures Onkels, Euer Volk, braucht Euch.“
„Ich lasse mir von keiner Ratte vorschreiben, was ich zu tun habe!“
„Ist Euer Gewissen so verstaubt, wie Eure Bücher? Bedeuten Euch Menschenleben so wenig, wie sie Morinor bedeuten?“
„Es genügt!“ Leoniks Faust sauste auf die Tischplatte herab, daß es knallte und der Staub meinen Käfig einhüllte. „Ich werde gehen, und du kommst mit mir. Sollte deine Geschichte erlogen sein, wirst du dir noch wünschen, daß Großmeister Dulgan seine Zauber an dir ausprobiert. Verstanden?“
„Verstanden.“
Leonik ging zu Dulgan und erklärte ihm, er habe eine Nachricht vom Tod seines Onkels erhalten. Er müsse zum Schloß, um dort nach dem Rechten zu sehen.“
„Und wer kümmert sich um die Ratten?“ fragte Dulgan verärgert. „Wer baut meine Versuche auf und spült meine Kolben aus?“
„Zair kann das für Euch tun. Er ist darin geschickter als ich, und er bewundert Euch sehr.“
„Wirklich?“ Dulgan lächelte geschmeichelt. „Dann geh meinetwegen. Pack ein, was du brauchst und schick mir Zair herauf.“
„Sogleich, Großmeister.“
Leonik vertauschte sein weites Gewand mit bequemer Reisekleidung und fing an, so viele Bücher als möglich in seinen Reisesack zu stopfen.
„Nehmt nur solche, die Euch beim Kampf gegen Morinor helfen werden. Und vergeßt Eure Zauberstäbe nicht“, riet ich ihm.
Als er Anstalten machte, mich auch in den Sack zu stecken, wehrte ich mich. „Die Bücher werden mich erdrücken. Ich reise lieber in der Tasche Eures Umhangs.“
„Na gut. Aber rühr dich nicht. Wenn Dulgan merkt, daß ich seine neueste Versuchsratte entführe, verwandelt er mich in ein Kaninchen oder eine Karotte.“
„Da seien alle guten Mächte vor“, sagte ich, kletterte in die linke Tasche seines Umhangs und machte mich ganz klein.
Zair war überglücklich, als er von seiner neuen Stellung erfuhr. In seiner Dankbarkeit packte er Leoniks Satteltaschen randvoll mit Köstlichkeiten aus der Speisekammer. Ich schwelgte in ihrem Duft. Als ich Leonik vorschlug, mich doch auch in den Satteltaschen reisen zu lassen, lachte er nur. Beleidigt kroch ich in die Tasche zurück und nahm mir vor, kein Wort mehr mit diesem geizigen Prinzen zu reden bis wir am Ziel wären.

5

Die Reise war alles andere als angenehm. Leoniks Pferd, ein grauer Wallach, hatte eine Vorliebe für Zockeltrab, und ich wurde gründlich durchgerüttelt. Während der Rasten schwieg ich beharrlich, was Leonik nicht im geringsten zu stören schien. Er zog einfach ein verstaubtes Zauberbuch aus seinem Reisesack und las darin. Nach zwei Tagen erreichten wir das Schloss. Wir waren kaum in Sichtweite, da zügelte Leonik das Pferd und fischte mich aus der Tasche.
„Wie stellst du dir das ganze vor, Ratte?“ fragte er mich.
„Habt Ihr keinen Plan?“ fragte ich ironisch.
„Hör mal, schließlich hast du mich aus dem Goldenen Turm geholt, vergessen?“
„Nein“, sagte ich und seufzte. „Ihr habt nicht vor, Euch still und heimlich in die Burg zu schleichen, oder?“
„Ich bin kein Dieb, sondern der rechtmäßige Erbe. Ich werde den Thronrat einberufen und Morinors Schandtaten kundtun.“
„Und Ihr glaubt, dass das reicht? Morinor hatte Zeit, die Thronräte einzuwickeln. Er wird alles abstreiten.“
„Ich werde ihn zwingen die Wahrheit zu gestehen“, verkündete Leonik selbstbewusst. „Er ist nichts weiter als ein Geselle, der sich selbst überschätzt. Ich bin ein Meister. Das Wissen und die Macht des Goldenen Turmes stehen hinter mir.“
„Wie Ihr meint“, lenkte ich ein. „Es wird sich zeigen, wer sich hier überschätzt. Findet einen Weg, mich ungesehen aus Eurer Tasche zu schmuggeln, ehe Ihr den großen Saal betretet. Ich möchte nicht in Morinors Nähe sein, wenn Ihr ihn in die Ecke treibt.“
„Du bist ein Feigling, Ratte.“
„Ich folge nur meinem Überlebensinstinkt, Prinz.“ Ich konnte ihm schlecht sagen, dass ich seinen Plan für blanken Unsinn hielt. In der Tasche war ich nutzlos. Als freie Ratte würde mir vielleicht etwas einfallen, um das Fiasko abzuwenden.
Leonik hielt Wort. Er ritt offen in den großen Hof, verkündete seine Anwesenheit mit lauter Stimme und harrte der Dinge, die da kamen. Es gab einen großen Auflauf. Diener, Wachen und Adlige strömten herbei. Auch die Königin kam hoheitsvoll auf den Hof geschritten. Ich roch ihre Angst und Unsicherheit. Ihre Stimme zitterte für menschliche Ohren kaum wahrnehmbar, als sie ihren Neffen willkommen hieß. Morinor hielt sich im Hintergrund, doch sein Ärger und sein vages Unbehagen stiegen mir in die Nase.
Leonik fühlte sich absolut sicher. Er stieg vom Pferd, verbeugte sich vor seiner Tante und fragte mit kalter Stimme: „Warum habt Ihr mir den Tod des Königs verschwiegen, Hoheit?“
Die Regentin warf einen um Hilfe heischenden Blick nach hinten, wo Morinor im Schatten des Tores stand. Er fing den Blick der Regentin auf und stellte sich neben sie.
„Euer Hoheit“, sagte er mit falscher Demut in der Stimme, „es gab keinen Grund, Euch von Euren Studien abzuhalten. Seid versichert, das Begräbnis unseres verehrten Monarchen verlief auch ohne Euren Beistand ganz so, wie seine Majestät es gewollt hätte. Die Arbeiten an seinem Mausoleum sind fast beendet. Es steht neben jenem Eures Vaters und Eures Großvaters im Park der Könige. Wenn Ihr es besichtigen wollt...“
„Was ist mit den Mördern?“ unterbrach ihn Leonik. „Hat man die Mörder meines Onkels gefasst?“
„Noch nicht. Aber die Soldaten durchstöbern ohne Unterlass das Reich. Früher oder später werden die verruchten Wegelagerer gefasst werden.“
„Wer hat den Oberbefehl?“
„Sir Tobald, der neue Kanzler.“
„Was ist mit Sir Paulig geschehen?“
„Der alte Kanzler entpuppte sich als Betrüger. Er unterschlug große Summen aus der königlichen Schatzkammer. Leider verstarb er im Kerker, ehe man ihn nach deren Verbleib befragen konnte.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Leonik brüsk. „Ich kannte Sir Paulig. Er lebte nur für das Wohl des Königs. Nie und nimmer hätte er meinen Onkel betrogen.“
„Genau dieses Vertrauen hat er ausgenützt. Die Beweise sind eindeutig. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr Einsicht in die Dokumente nehmen.“
„Nicht nötig. Ich bin sicher, die Dokumente werden Eure Worte untermauern.“ Sein ironischer Tonfall entging dem Zauberer nicht. Morinor zog die Augenbrauen zusammen und eine Spur Stahl lag in seiner Stimme, als er fragte: „Was wollt Ihr damit sagen, Hoheit.“
Leonik hatte absolut kein Talent zur Täuschung. Er blickte Morinor fest in die Augen und sagte: „Das werdet Ihr noch früher herausfinden, als Euch lieb ist, Königlicher Hofzauberer.“ Er wandte sich wieder seiner Tante zu. „Man hat mir berichtet, dass Ihr den Sohn meines Onkels unter dem Herzen tragt. Ist das wahr?“


„Ja.“ Sie wischte sich eine nicht vorhandene Träne aus dem Augenwinkel. Ihre Stimme bebte leicht, als sie fortfuhr: „Mein geliebter Gatte hat mich verlassen, aber in seinem Sohn wird er weiterleben, und das gibt meinem Leben einen neuen Sinn.“
„Somit bin ich nur noch der zweite Erbe, nicht wahr?“
Sie nickte.
„Gut. Aber auch als zweiter in der Thronfolge kann ich eine Sitzung des Königlichen Rates einberufen.“ Er drehte sich zu den Dienstboten um. „Holt sie alle aus ihren Häusern. Die Sache ist äußerst dringend. Die Sitzung beginnt, sobald der Rat vollständig versammelt ist. Die Regentin und ihre beiden Berater werden ebenfalls teilnehmen. Damit darf ich doch rechnen, oder?“ fragte er Morinor.
„Selbstverständlich, Euer Hoheit.“ Ich konnte förmlich hören, wie die Räder in seinem Kopf sich drehten. Der erste Hauch von Furcht schlich sich in seine Ausdünstungen.
Leonik verlor keine Zeit. Er lehnte es ab, sich erst frisch zu machen, oder eine Kleinigkeit zu essen. Ohne eine Minute zu vergeuden, übergab er sein Pferd dem Stallmeister, und schritt den langen Korridor hinab zur Ratskammer. Dabei nestelte er am Verschluß seines Umhanges. Wenige Schritte vor der Tür ließ er ihn wie nebenbei auf den Boden gleiten. Es gelang mir, mich durch die Falten zu wühlen, ohne unter die Sohlen der Ratsmitglieder zu geraten. Ich schlüpfte ungesehen zwischen ihren Füßen hindurch in die Ratskammer.
Die gepolsterten Stühle hinter den drei langen, in U-form aufgestellten Tischen waren schneller besetzt, als ich erwartet hatte. Während die Regentin gegenüber der Türe Platz nahm, setzten Morinor und der Kanzler sich an die seitlichen Tische, so daß sie Leonik von drei Seiten in die Zange nehmen konnten. Der Prinz kümmerte sich nicht darum. Er ignorierte die Einladung der Regentin, sich neben sie zu setzen. Breitbeinig stand er am offenen Ende des Us und wartete, bis sich das aufgeregte Gemurmel gelegt hatte.
Als es endlich ruhig war, begann er zu sprechen: „Ich habe diese Sitzung einberufen, um zwei Dinge zu klären. Erstens, die wahre Thronfolge und zweitens den Mord an meinem Onkel, dem König.“
„Was gibt es da zu klären?“ fragte der Sir Tobald. Er war ein kleiner, fetter Mann mit rosiger Haut und sorgfältig manikürten Fingern. Gar manche Hofdame beneidete ihn um seine dunklen Löckchen und die großen, hellblauen Augen. An seinem Gürtel hing stets ein kleiner, goldener Spiegel. Wenn er bei schönem Wetter aus dem Schloß ging, was äußerst selten vorkam, mußten drei Diener ihn mit Fächer, Lavendelwasser und Sonnenschirm auf Schritt und Tritt begleiten. „Ihr seid nur noch die Nummer zwei, Prinz. Und die Mörder Eures Onkels waren irgendwelche Banditen. Von denen gibt es Dutzende.“
„Wenn es Banditen waren, warum haben sie die Leichen nicht geplündert? Ich hörte, man fand alle Juwelen und Geldbeutel unberührt. Ist das nicht seltsam?“
„Was wollt Ihr damit sagen, Prinz Leonik?“ fragte Graf Telgan, ein graubärtiger Hüne. Ich entnahm aus Sebionds Wissen, daß seine Familie für ihre Königstreue berühmt war. Er galt als einer der mächtigsten Männer des Reiches. Sein Wort wog schwer.
„Mein Onkel wurde von gedungenen Mördern überfallen. Jemand hat sie für den Mord an unserem geliebten König bezahlt, gut bezahlt, damit sie irgendwo untertauchen können, bis wir die Suche nach ihnen aufgeben.“
„Wenn das stimmt, kann sie nur der verfluchte Sir Paulig gedungen haben!“ rief Sir Tobald. „Wozu hätte er sonst das Geld aus der Schatzkammer gebraucht?“
„Falsch“, konterte Leonik. „Sir Paulig kann es nicht gewesen sein. Was hatte er durch den Tod des Königs zu gewinnen? Er war Kanzler, gibt es einen höheren Rang für einen einfachen Baron? Der König schätzte und vertraute ihm. Nur ein Verrückter schlägt die Hand ab, die ihn füttert. Sind die mysteriösen Dokumente nicht erst aufgetaucht, als der König sich auf die Reise begeben hatte, auf seine letzte Reise? Wer hätte mehr Interesse an seiner sicheren Wiederkehr gehabt, als Sir Paulig, der im Kerker um sein Leben bangte? Mein Onkel hätte ihn befreit, egal was in diesen Dokumenten stand.“
Einige Ratsmitglieder blickten skeptisch, doch die meisten nickten. Tobald und Morinor wechselten einen langen Blick. Der feiste Kanzler begann zu schwitzen.
„Lassen wir das beiseite - vorerst. Ich möchte meinen Platz in der Erbfolge geklärt haben. Ist es gewiß, daß die Regentin einem Jungen das Leben schenken wird?“
„Dafür verbürge ich mich“, sagte Morinor.
„Wie könnt Ihr das?“
„Es gibt einen Spruch, mit dem man das Geschlecht eines Ungeborenen feststellen kann.“
„Ah.. ja... ich erinnere mich. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich das nachprüfe?“ Leonik griff in den Beutel, der an seinem Gürtel hing und zog einen kristallenen Zauberstab heraus. „Wißt Ihr, Hofzauberer“, sagte er leichthin, „es gibt noch einen zweiten Spruch für Ungeborene. Er wird eingesetzt, um die Vaterschaft zu klären.“
Morinor sprang auf. „Wollt Ihr die Regentin der Untreue beschuldigen. Das ist Hochverrat!“
„Das Blag meiner edlen Tante ist ein Bastard! Das müßt Ihr doch am besten wissen, schließlich seid Ihr der Vater.“


Ein Tumult brach los. Morinor und Tobald schrieen nach den Wachen. Die Regentin kreischte, Leonik sei ein Lügner und Verräter. Die Herren des Königlichen Rates riefen durcheinander. Die Wachen stürmten herein und packten den Prinzen.
„In den Kerker mit dem Verräter!“ übertönte Morinor das Durcheinander. „Er will den Thron für sich! Das ganze ist eine Intrige des Goldenen Turmes. Der Prinz hat die Mörder gedungen, Sir Paulig war nur sein Werkzeug.“
Oje, das lief gar nicht so, wie der Prinz es geplant hatte. Die Wachen zögerten. „Tut, was mein Ratgeber befiehlt“, herrschte die Regentin sie an. „Ich spreche ihn schuldig, und mein Wort ist Gesetz.“
„Nicht so rasch“, mischte sich Sir Telgan ein. „Noch hat der Königliche Rat eine Silbe bei diesem Wort mitzureden, Euer Majestät. Was habt Ihr zu den Anschuldigungen zu sagen, Prinz?“
Leonik schüttelte die Hände der Wachen ab und trat einen Schritt vor. „Sie sind aus der Luft gegriffen. Sir Paulig und ich hatten seit Jahren keinen Kontakt zueinander. Befragt jeden im Schloss, befragt den Goldenen Turm. Ich bleibe dabei, der angebliche Erbe ist ein Bastard. Ihr braucht nur den Tag seiner Geburt abzuwarten, ihr Ratsherren. Rechnet die neun Monate zurück, und ihr werden genug Zeugen finden, die in den fraglichen Nächten eine junge Hofdame in die Gemächer des Königs haben schleichen sehen.“
Ich hörte die Regentin nach Luft schnappen. Es wurde Zeit, daß ich die Sache in die Pfoten nahm. Ich huschte zu ihrem Platz und kletterte die Schleppe hinauf bis zu ihrer Schulter. Sie merkte es erst, als ich mich durch ihr langes Haar wühlte, das sie glücklicherweise offen trug.
„Hört mir zu“, zischte ich in ihr Ohr. „Ich bin eine Ratte, und ich habe meine Zähne direkt an Eurer süßen Kehle. Wagt es nicht, zu schreien. Wäre doch schade um die schöne Tischplatte. Blutflecken sind verdammt schwer aus weißem Marmor wegzubekommen, wisst Ihr? Ich will, dass Ihr die Wahrheit sagt. Gesteht Eure Rolle an dem Komplott ein. Mag sein, dass mein Biss Euch nicht sofort tötet. Mein letztes Opfer hat es nicht überlebt. Ich habe jetzt noch einen komischen Geschmack im Mund. Der arme Kerl hatte die Feuerpest.“
Aberglaube und Vorurteile können mitunter nützlich sein. Die Königin stand vor Schreck ganz steif. Als Morinor den Königsmord erneut Leonik anlasten wollte, rief sie: „Haltet ein!“ Alle drehten sich zu ihr um. Das lange Haar gewährte mir Sichtschutz. „Ihr tut Prinz Leonik Unrecht. Ich bin es, die dem König untreu war. Es stimmt, ich trage den Bastard des Hofzauberers und nicht den Sohn meines Gemahls unter dem Herzen. Ich wußte nichts von Morinors mörderischen Plänen. Er hat alles ganz allein ausgeheckt.“
„Verräterin!“ rief der Zauberer. „Ihr steckst genauso tief drin wie ich. Ihr und Euer Nichtsnutz von Cousin, ihr habt mich angestiftet!“ Ehe jemand es verhindern konnte, zog er einen schwarzen Zauberstab aus dem Ärmel. Ich ahnte, was er vorhatte und rutschte so rasch ich konnte die Schleppe hinunter. Morinor rief ein Zauberformel und ein schwarzer Schatten sprang aus dem Nichts hervor. Er hüllte die Königin ein. Sie wimmerte und schrie, dass sich mir die Rückenhaare sträubten. Niemand achtete auf mich, als ich zu Leonik trippelte und an seinen Beinkleidern und seiner Weste hochkletterte. Der Prinz hatte seinen Zauberstab ebenfalls erhoben, aber ihm fiel kein wirksamer Gegenspruch ein. Die meisten Ratsherren waren unter den Tischen in Deckung gegangen. So sahen sie nicht, wie der Schatten von der Königin abließ. Entseelt sackte sie zu Boden. Sie trug keine sichtbaren Wunden, doch ihre erstarrten Augen spiegelten namenlosen Schrecken wieder.
„Hört mir zu, Prinz“, flüsterte ich, kaum dass ich Leoniks Schulter erklommen hatte. „Ich weiß, wie Ihr den Todesspruch abwehren könnt.“ Ich sagte ihm die Zauberformel vor, und er wiederholte sie leise. Keine Sekunde zu früh.


„Wachen! Packt den verrückten Zauberer!“ kreischte der Kanzler. Sofort änderte der Schatten seine Richtung und glitt auf Leonik und die Wachen zu.
Der Prinz rief den Zauberspruch und ein Lichtblitz zuckte aus seinem Kristallstab. Er zerriss den Schatten in kleine Fetzen.
„Verdammt!“ fluchte Morinor, stieß seinen Stuhl um und rannte aus dem Ratszimmer.
„Kümmert euch um den verräterischen Kanzler“, wies der Prinz die Wachen an und hetzte Morinor hinterher. Ich klammerte mich an seiner Schulter fest. „Weißt du, was er vorhat?“ fragte mich Leonik. Wir hatten Morinor aus den Augen verloren. „Wo ist er hin?“
„Dahin wo ein Zauberer rennt, der in Schwierigkeiten steckt“, sagte ich.
„Die Bibliothek.“
„Exakt.“
Leonik war schon lange nicht mehr im Schloss gewesen, daher musste ich ihn treppauf, treppab dirigieren. Wir waren noch ein gutes Stück von der Bibliothek entfernt, da stieg mir ein unheilvoller Geruch in die Nase.
„Wir sind zu spät! Dieser Hund hat die Bibliothek angezündet!“
Rechts, links, wieder rechts, den letzten Korridor hinunter. „Da, die linke Türe.“
Leonik blieb keuchend stehen. Hinter der Tür knisterte es. Rauchschwaden quollen durch die Ritzen. „Er muss noch drin sein“, sagte der Prinz und trat mit aller Wucht gegen das Holz. Die Türe sprang auf, Funken und brennende Papierfetzen stoben uns entgegen. Die alten Bücher brannten lichterloh. „Morinor!“ schrie der Prinz.
Irres Gelächter antwortete uns. Leonik machte einige Schritte in das Inferno hinein. Dann sahen wir ihn. Morinor stand am offenen Fenster, den Zauberstab immer noch in der Hand.
„Ihr werdet nichts bekommen, Leonik, nichts! Weder das Schloss noch meine Bücher und schon gar nicht mich. Irgendwann sehen wir uns wieder, und dann rechne ich mit Euch ab. Doch vorher werde ich den Goldenen Turm zerstören. Die Bücher dort brennen bestimmt genau so gut wie jene hier.“ Er richtete den Zauberstab auf sich selbst, seine Lippen formten leise Worte. Seine Gestalt zerfloss, schrumpfte und festigte sich erneut. Der Rabe packte den Zauberstab mit beiden Krallen, schenkte uns ein verächtliches Krächzen, schlug mit den Flügeln und stieß sich vom Fensterbrett ab. Leonik sprang über die Flammen zum Fenster.
Der Rabe stieg hoch in den Himmel. Bevor ein Bogenschütze zur Stelle sein konnte, wäre er längst außer Reichweite.
„Wie sollen wir den Goldenen Turm warnen?“ fragte mich Leonik. „Kennst du den Vogelspruch, Ratte?“
„Nein, er muss ihn aus einem der Bücher haben, die er den gefangenen Zauberern abgenommen hat. Wie ich Morinor kenne, lebt von denen keiner mehr.“
„So ist der Goldene Turm verloren.“
Während der Rabe eine spöttische Runde hoch über dem Schloss zog dachte ich an die tatterigen Zauberer im Goldenen Turm. Wie viele würden wohl in den Flammen umkommen?
Plötzlich erschien ein goldener Adler wie aus dem Nichts. Der Rabe krächzte entsetzt und versuchte, dem mächtigen Vogel zu entkommen. Doch da war der Adler schon über ihm. Die großen Klauen packten ihn und die Krallen gruben sich in sein Fleisch. Der Zauberstab entglitt ihm und fiel auf den Schlosshof, wo er zerbrach. Ein letztes Krächzen und es war vorbei. Der goldene Adler ließ den toten Raben in die Abfallgruben fallen, zog einen letzten Kreis über dem Schloss und verschwand so lautlos wie er gekommen war.
„War das...?“ fragte Leonik und schluckte schwer.
„Ja, das war der Goldene, der mir die Gabe der menschlichen Sprache schenkte“, antwortete ich. „Wie lange wollt Ihr noch warten, ehe Ihr etwas gegen das Feuer unternehmt? Soll das Schloss völlig niederbrennen?“
„Das Schloss?“ fragte Leonik abwesend und starrte zum Himmel, als könnte er den Goldenen dadurch herbei beschwören.
„Euer Majestät!“ Graf Telgan stand in der Türe. „Seid Ihr in Ordnung?“
„Sicher. Ich komme.“ Leonik riss sich zusammen und rannte aus der Bibliothek. Die ersten Regale stürzten zusammen und die Holzbohlen glosten. „Wir müssen das Schloss retten. Holt alle herbei und bildet eine Reihe bis zum Brunnen im Hof.“
„Es geht auch einfacher“, sagte ich. „Sebiond kannte einen Spruch, der Feuer löscht.“
„Eine sprechende Ratte?“ Graf Telgan wich zurück.
„Das ist eine längere Geschichte“, sagte Leonik. „Wie lautet der Spruch?“
Ich sprach ihn dreimal vor. Leonik nahm seinen Stab und intonierte den Zauber. Die Flammen flackerten noch einmal auf und fielen dann in sich zusammen. Die Funken erloschen. Das Schloss war gerettet, doch von den allermeisten Büchern blieben nur die verkohlten Ledereinbände.
Noch am selben Tag wurde Leonik offiziell gekrönt. In den Kerkern fanden sich zum Glück noch eine Menge Bücher, die Hinterlassenschaften der besten Zauberer des Reiches, die außerhalb des Goldenen Turmes lebten. Sie hatten in der Bibliothek keinen Platz mehr gehabt. Leider fand sich in keinem ein Spruch, mit dem man meinen leidigen Zustand hätte beenden können. Leonik schickte zum Goldenen Turm um Hilfe, aber auch dort kannte niemand Morinors Spruch oder einen Gegenzauber.
„Ich muss den Goldenen finden“, sagte ich zu Leonik. „Er wird mir helfen können.“
„Nein“, erwiderte der König. „Das kann ich dir nicht gestatten. Die Bücher aus dem Keller sind nicht einmal ein Viertel dessen, was die alte Bibliothek besaß. Einen Teil muss ich auch an die Nachfolger der ermordeten Zauberer übergeben, damit sie ihren Dienst in den Schlössern und Burgen antreten können. Sebiond kannte fast die ganze Bibliothek auswendig. Sein Wissen in deinem Kopf ist viel zu wertvoll, als dass ich es einem Wiesel oder Fuchs als Nachtmahl gönnen würde. Ich habe vor, mein eigener Hofzauberer zu werden. Da ich nicht mehr in den Goldenen Turm zurück kann, werde ich meine Ausbildung eben hier fortsetzen. Und du, Ratte, wirst mein Lehrer sein.“
So kam es, dass ich fortan bei den verstaubten Büchern schlief. Ein Rattenleben ist kurz, aber meines wird dank des Staubes lange genug dauern, bis Leonik alle Sprüche Sebionds gelernt hat. Nicht, dass es mir dabei schlecht geht. Ich habe das beste Leben, das man als Ratte haben kann. Ich besitze eine Speisekammer voller Korn, Speck und Käse, einen weich gepolsterten Schlafkorb und Leonik hat die Hunde aus dem Schloss verbannt. Greinolf tobte, aber ich half ihm mit einem Spruch, der alle Ratten von seiner Küche fernhält. Meine Sippe hat sich inzwischen bei den Abfallgruben eingenistet, die anderen Sippen sind nach Norden gezogen. Ich hoffe, sie machen einen großen Bogen um den Goldenen Turm. Die Barden haben darum gebeten, dass ich meine Erinnerungen dem Hofschreiber diktiere, damit sie ein paar Balladen daraus dichten können. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein.

Ende

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Tag der Veröffentlichung: 05.09.2011

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