Cover

Vorwort




Dieses Buch habe ich zu schreiben begonnen, als mir klar wurde, dass aus den Phantasien meiner Mutter Wahnvorstellungen geworden waren, dass ihre Erregungszustände nicht mehr auf großer Nervosität beruhten, sondern krankhafter Natur zu zuordnen waren.
Ihr Hausarzt erklärte mir, dass meine Mutter an einer altersbedingten Arteriosklerose leidet, die weiter fortschreitet und langsam aber sicher ihr Erinnerungsvermögen auslöschen wird. Ich konnte diese Tatsache für mich selbst nur verarbeiten, indem ich nach jedem Besuch, bei ihr im Altenheim, in das sie im Alter von vierundachtzig Jahren auf eigenen Wunsch gezogen war, meinen Frust durch Niederschreiben des Erlebten, abzubauen versuchte.
Es hat eine lange Zeit gedauert, bis ich es wirklich geglaubt und verkraftet habe, dass es nicht nur Launen waren, die ich ja kannte, sondern Verwirrtheit. Dann kam ich zu der Überzeugung, ich müsste in der Vergangenheit forschen ob die Wahnvorstellungen dort ihren Ursprung haben. Ich habe alles aufgeschrieben, aus meiner Kindheit und Jugend, von meiner Mutter und mir, was mir noch erinnerlich ist.
Durch wiederholtes Erzählen meiner Mutter und der Brüder meines Vaters, bin ich auch in die Kindheit und Jugend meiner Eltern eingetaucht die so ganz anders verlaufen war als meine, durch den zweiten Weltkrieg geprägte Entwicklung. Fasziniert habe ich früher zugehört, wenn meine Mutter mir erzählte.
Heute ist ihre Erinnerung ausgelöscht. Es gibt keinen Dialog mehr zwischen uns.
Man kommt sich so hilflos vor, möchte gern helfen aber es geht einfach nicht. Sie zieht eine unsichtbare Mauer um sich, gegen die nicht anzukommen ist.

2001




Im Park des Altenheimes, saß die neunzigjährige, verwirrte Hedwig in einem bequemen Gartenstuhl in der sommerlichen Wärme. Ach, wie schön wärmte die Sonne die alten Glieder. Um sie herum hüpften die Drosseln und suchten emsig Atzung für ihre junge Brut. Tauben mit aufgeblähter Brust stolzierten gurrend die Wege entlang. Hedwig lehnte sich vor und sagte zu den Drosseln: „Na, ihr Süßen, ihr seid ja wirklich drollig. Wie heißt ihr denn? Oh, die sind ja noch größer,“ und sie sah den stolzierenden Tauben nach, „ was arbeitet ihr denn so fleißig?“
Der Wind rauschte in den Bäumen, die Vögel sangen und es war so friedlich, dass Hedwig die Augenlider immer schwerer wurden, zuletzt sank ihr der Kopf auf die Brust und sie nickte ein.
Sie träumte, dass die Bäume in einer fernen Vergangenheit rauschten, die Vögel sangen, die Sonne schien, und sie ging Hand in Hand mit Ernst im Stadtpark spazieren. Sie waren jung und verliebt. Sie sahen sich in die Augen, er hatte ganz dunkelbraune Augen, die sie zärtlich anblickten. Ihr Herz schlug schneller, und sie wusste, der oder keiner. Sie träumte weiter, wie sie gemütlich in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung am Rödingsmarkt saßen, und er ihr in seiner lustigen Art aus seiner Kinderzeit erzählte.
Sie versank immer tiefer in die Vergangenheit und sah plötzlich ihren Ernst, als kleinen Jungen, über den Rödingsmarkt gehen.



Ernst




Die Sonne schien so herrlich warm vom Himmel. Die Vögel sangen, und die frechen Spatzen tschilpten um die Pferdeäpfel herum. Man schrieb das Jahr 1912. Der Zweitklässler Ernst dachte auf dem Schulweg über den Sinn der Schule nach und kam zu dem Ergebnis, dass sie keinen Sinn machte!
Warum sollte sich der Lehrer über ihn ärgern, wie es gestern der Fall war, als er Ernst gefragt hatte, wie viel sechs Äpfel und drei Äpfel wären. Ernst hatte die Frage doch gar nicht gehört. Er war mit seinen Gedanken gerade spazieren gegangen. Die schallende Ohrfeige, die ihn in die dumpfe Schulstube zurückbeförderte, hatte die Liebe zur Pflicht auch nicht gefördert. Nein, die würden in der Schule gut ohne ihn auskommen. Gesagt, getan! Er drehte bei, steckte seinen Ranzen hinter die Mülltonne im elterlichen Treppenhaus – nicht ohne sein Frühstücksbrot herauszunehmen – und schritt unendlich erleichtert und mit einem Freiheitsgefühl, dass seine kleine Brust fast sprengte, durch die frühlingsfrischen Straßen um den Rödingsmarkt.
Mensch, wat gäv dat dor allens to kieken. Die Bierkutscher, die die Fässer über eine Planke vom Wagen, gleich in die Kneipenkeller rollten. Die dicken Brauereipferde, die vor die Wagen gespannt waren, unwillig mit dem Schweif nach den Fliegen schlugen und sich dann freudig über ihre Haferkrippen her machten, genau wie ihre Kutscher über ihr Frühstück im Bierkeller.
Dann schlug er den Weg zum Hopfenmarkt ein. Hier standen die Finkenwerder Gemüseweiber und boten Obst und Gemüse an. Gut beleibte Köchinnen feilschten mit ihnen, und auch manche Madam prüfte die Auswahl auf dem Markt. Die Nikolaikirche blickte stolz und unnahbar auf das geschäftige Treiben. „Na, min Jung, ist de School all to End?“ rief eine rundliche, rotbackige Gemüsefrau. Bevor Ernst noch antworten konnte, reichte sie ihm eine knackige Karotte: „ Denn lass dir das man schmecken min Jung.“ Da kanns op ab, dachte Ernst und laut sagte er: „Veelen Dank ok.“ Als er gerade in die Karotte reinbeißen wollte, sah er einen Uddel (Polizist) über den Markt, auf ihn zu schlendern. Nu aber nix wie weg, und schon schlug Ernst einen Bogen und landete in der Deichstraße. Das hatte ihm noch gefehlt, dass der Uddel ihn am Kragen gepackt und in die Schule zurück befördert hätte. Die Senge, die er dann bezogen hätte, au Backe!

Er blieb noch kurz vor der Kaffeerösterei in der Deichstraße stehen. Im Schaufenster lief die große Kaffeemühle. Aber dann hatte er keine Ruhe mehr; vielleicht war ihm der Uddel schon auf den Fersen? Er schwenkte in die Kajen ein, lief am Fleet entlang und landete atemlos im Herrengraben. Hier fühlte er sich sicher. Das war seine Heimat! Er schlenderte wieder geruhsam dahin, den Uddel hatte er schon vergessen. Ganz in Gedanken versunken, ging er auf dem Trottoir dahin. Auf einmal rief eine vertraute Stimme: „Ernie, was machst du denn hier, ist die Schule schon aus?“ Die Stimme kam von oben. Er blickte am Haus empor und sah seine Mutter, Fenster putzend, auf dem Sims stehen. (Früher konnten die Fenster der meisten Häuser, nur nach außen geöffnet werden und so schwangen sich die Hausfrauen zu außerordentlichen Trapezkünsten auf, um ihre Fenster stets blitzblank zu halten.) Während Ernie seinen Kopf fieberhaft nach einer Ausrede durchforschte, fing Mutter Henny elegant, den ihrem Fuß entgleitenden Pantoffel, in der Luft wieder ein. Man, Modders hatte ja Schneid, wie leicht konnte sie von da oben runterfallen. Er konnte es nicht über sich bringen, sie zu belügen, und so rief er ihr zu: „Ach Modders, dat Wetter is so scheun und da hatt ich solche Lust zum spazieren gehen.“ „So, und da hast du einfach die Schule geschwänzt. Da kommt mich denn wohl bald die Polizei besuchen, um dich zu holen.“ „Denn lass sie man Modders, du weißt ja von nix, hast mich gar nicht gesehen. Sollst doch keine Schuld haben, das krieg ich auch noch hingebogen. Tschüss, bis heute Abend.“
Sprach´s und verschwand um die Ecke. Mutter Henny lachte in sich hinein. Da hatte sie nun fünf Söhne, aber Ernst war ihr der liebste von allen. Vielleicht, weil er ihr ähnlich war. Sie ließ sich auch nicht vom Alltagstrott ersticken, auch wenn ihr eigentlich nichts anderes übrig blieb. Neun Kinder großzuziehen war keine Kleinigkeit. Ihr Mann arbeitete im Hamburger Hafen als Kupferschmied und verdiente nicht schlecht. Abends wollte er zu Hause seine Ruhe haben. Das hieß: Wenn Vater nach Hause kam, mussten alle Kinder verschwunden sein. Also wurden sie von Mutter Henny ins Bett gescheucht, und das Abendbrot wurde, jedem und jeder, in Form von belegten Butterbroten ans Bett gebracht. Dabei hatte sie zufällig im hinausgehen mitbekommen, wie die Geschwister Ernie bettelten, eine Geschichte zu erzählen: „Man zu Ernie, sonst ist es zu langweilig.“ „Aber nur, wenn mir jeder ein Butterbrot dafür gibt.“ Nach anfänglichem Murren erklärten sie sich einverstanden. Anerkennend wiegte sie den Kopf. Ein guter Tausch, eine Geschichte gegen acht Butterbrote, seinen Magen müsste man haben. Doch gleich danach hatte sie es vergessen.

An diesem Abend ging sie mit ihrem Mann zum Stammtisch. Zu jener Zeit war es ungewöhnlich - eine Frau am Stammtisch. Aber ohne seine Frau ging Wilhelm nicht aus, und alle Stammtischbrüder bewunderten und respektierten Frau Henny. Sie war hübsch und nicht auf den Kopf gefallen. Während die Männer ihre Biere tranken, nippte sie an einer Limonade. Oft kam auch ein gefeierter Opernstar an ihren Tisch und reihte sich in die Schlange der Bewunderer ein.

Als sie wieder zu Hause angekommen waren, ging sie noch einmal nach den Kindern sehen. Meistens schliefen sie bombenfest. Ernst oft, wie auch heute, mit einer letzten angebissenen Scheibe Brot in der Faust. Diesmal aber hörte sie Gustav, halb im Schlaf, vor sich hin murmeln: „Dat stimmt doch nich, ick will min Botterbrot wedderhebben.“ Sie beugte sich zu ihm hinunter und fragte: „Weshalb?“ Er setzte sich auf und jammerte: „Modders, Ernie hett ne scheune Geschichte vertellt; aber denn hett he seggt: „Und as de Blinde dat nu sehen de,dor...“ „ Und een Blinder kann doch nix sehen. Dat ist doch Betrug.“ Sie guckte zu Ernie rüber, der im Schlaf lächelte. Dann nahm sie ihm das Brot aus der Hand, gab es Gustav und sagte: „Hier hast du dein Brot, und in Zukunft freu dich, wenn dein Bruder euch Geschichten erzählt, ich finde das ist ´ne Scheibe Brot wert; auch wenn er das mit der Wahrheit in der Geschichte nicht so genau nimmt. Gute Nacht min Jung.“

Die Kindheit der Kinder war kurz. Sowie sie aus der Volksschule entlassen wurden, begann der Ernst des Lebens. Lehrgeld konnten die Eltern nicht zahlen, dazu waren es zu viele Sprösslinge. Also fingen die Jungen als ungelernte Arbeiter an ihr Geld zu verdienen. Ernst z.B. landete zuerst auf dem Bau.
Zuvor aber wurde er konfirmiert. Im schwarzen Anzug und mit den ersten langen Hosen kam sich Ernst sehr erwachsen vor. Seine Mutter hatte einen gewaltigen Napfkuchen gebacken, und der Butterblechkuchen wurde aus der Bäckerei gleich um die Ecke geliefert. Die Großeltern kamen zur Kaffeetafel, ebenso einige Tanten und Onkel. Manchen Taler erhielt Ernst, mit Ermahnungen, sich im weiteren Leben anständig und fleißig zu benehmen. Oh ja, da war er nicht bange. Er würde das Leben schon meistern. Nach dem Kaffee, verschwand er geheimnisvoll. Als er nach einiger Zeit wieder auftauchte und gefragt wurde, wo er denn gewesen sei, da sagte er zur allgemeinen Verblüffung: „Beim Photographen!“
Nach einigen Tagen konnte er das fertige Konterfei abholen. Stolz zeigte er es seiner Mutter. Amüsiert und doch auch sehr gerührt, besah sie sich das Bild. Vor einer künstlichen Palmenwand stand der Konfirmand Ernst, noch schmächtig wirkend, in seinem Festtagsanzug. Lässig stützte er seinen rechten Arm - ganz nach der Pose der damaligen Zeit – auf die Lehne des vor ihm stehenden Stuhles. Auf dem Kopf trug er eine schwarze Melone. Nur die abstehenden Ohren konnten es verhindern, dass der Hut ihm nicht bis zum Kinn herabrutschte. Unter diesem Hut, schaute ein... ach so junges Gesicht mit einem würdevollen, ernsthaften Ausdruck in die Welt, ganz der Wichtigkeit des Tages angemessen.
Keines ihrer älteren Kinder war auf die Idee verfallen, zum Photographen zu gehen. Das war wieder ganz ihr Ernie.

Auf dem Bau verhielt er sich anstellig und fleißig, und die Handwerker und Arbeiter mochten ihn gern.
Sein Eintritt in die Welt der Erwachsenen fiel auf den Zeitpunkt der Beendigung des ersten Weltkrieges, aber es musste noch ein Jahrzehnt vergehen, bis alle Geschwister herangewachsen waren. Da fing für seine Mutter eine bessere Zeit an. Die Söhne verdienten und gaben wöchentlich Kostgeld ab. Die Töchter sahen sich nach geeigneten Ehemännern um. Den Segen ihrer Mutter hatten sie dazu. Aber bei den Söhnen wachte sie eifersüchtig über ihr Tun und Treiben. Das Schlimmste, dass ihr widerfahren konnte, waren Schwiegertöchter!
Noch aber dachten die Söhne nicht daran, sich zu verehelichen. Das Leben, zu Hause mit den Geschwistern, war Abwechslung genug. Die Eltern hatten eine viel größere Wohnung am Rödingsmarkt gemietet. Man konnte es sich jetzt leisten. Ernie bewohnte ein eigenes Zimmer, und gab auch dementsprechend mehr Kostgeld ab. Den anderen Brüdern war ein eigenes Zimmer nicht so wichtig. Ernie aber war ein Bastler und Tüftler, und darum brauchte er Ruhe.
Eines Sonntagsmorgens waren seine Brüder in der Küche damit beschäftigt, sich für den Sonntag fein zu machen. Die Eltern waren auf Visite bei Verwandten. Jonny putzte seine Schuhe auf Hochglanz, Karl rasierte sich vor dem Spiegel über dem Handstein (Wasserhahn mit Ausguss), Amandus bügelte messerscharfe Falten in seine Anzughose, und Gustav räumte die Küche auf, damit Modders, wenn sie nach Hause kam, nicht zu schimpfen brauchte.
Auf einmal hörten sie Geräusche! Schwere Schritte die den Flur entlang zu kommen schienen, dann Gepolter und Schreie aus dem Vorderzimmer – Ernies Zimmer! Die Brüder erstarrten. Karls Rasiermesser rutschte gefährlich auf seine Kehle zu, Amandus vergaß das Bügeleisen abzustellen, Jonny hielt einen Schuh hoch in die Luft, und Gustav hielt sich schreckensbleich den Feudel (Wischtuch) vor den Mund... Was war das? Entsetzt sahen sich die Brüder an. Jetzt knallte es wie Schüsse und eine Stimme rief: „ Nein, nein!“ Dann wieder Gepolter.
Einbrecher? , Mörder?
Plötzlich machte Karl einen Satz zur Tür: „Nix wie weg hier!“ Er riss die Wohnungstür auf und stürzte die Treppen runter, die anderen drei ihm nach. Unten auf der Straße riefen sie Unisono: „Einbrecher, Mörder, Polizei!“
Der Schutzmann, der gerade um die Ecke bog, traute seinen Augen nicht, als er sah, was da auf ihn zu stürmte. Vier junge Männer auf der Flucht. „Halt!“ Sagte der Beamte und fasste nach seiner Dienstpistole. Dann besah er sich die Vier näher. Karl mit dem Rasierschaum im Gesicht und dem Messer noch in der Hand. Mandus hielt selbstvergessen das Bügeleisen umklammert, und Jonny hielt den blankgeputzten Schuh wie eine Trophäe in die Höhe. Der letzte, Gustav, wedelte mit dem Feudel in der Luft herum und jappte: „Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister, unser Bruder wird ermordet, kommen sie schnell.“ Das war kein Spaß, das sah der Beamte. Er riss die Pistole aus dem Halfter und rief: „ Zeigt mir den Weg!“
Nun rasten sie alle zum Haus zurück. „Dritter Stock, die Tür ist offen,“ flüsterte Jonny. Der Schutzmann voran, die Jungs hinterher, so schlichen sie die Treppen hoch. Oben war immer noch ein unheimliches Gelächter und Poltern zu hören, dass sich selbst dem Staatsbediensteten die Haare sträubten. Der Kampf im Vorderzimmer tobte immer noch. Beherzt zückte er die Pistole, riss die Zimmertür auf und schrie: „Im Namen des Gesetzes ergeben sie sich, sonst...“ weiter kam er nicht.
Drinnen stand ein junger Mann erstaunt vom Sofa auf, während aus einem Kasten auf dem Tisch der Kampf weiter tobte. „Ernie, levst du noch,“ riefen die Brüder, in Deckung der breiten Schultern der Staatsgewalt. „Junger Mann, was ist hier los, und was ist das für ein Kasten?“ „Das hier,“ sagte Ernie, „ist ein Rundfunkempfänger, man nennt es auch Radio, und sie senden gerade ein Kriminal-Hörspiel.“ „Ein Radio?“ Echoten die Brüder.„Was ist denn das, und woher hast du es?“ „Das hab ich mir selbstgebaut. Schon länger, aber heute hat es zum erstenmal funktioniert.“ Der Beamte sank in einen Sessel und trocknete sich die Stirn. „Na, Jungs, da sind wir ja schön reingefallen. Aber nun müssen sie uns erzählen, wie das alles funktioniert.“
„Ja Ernie, das musst du, wir haben uns ja so erschrocken.“
Ernie sah sich die Brüder genauer an. Kalli, mit dem inzwischen getrockneten Rasierschaum im Gesicht und dem Messer immer noch in der Hand. Amandus mit dem Bügeleisen, Jonny mit dem Schuh über die Hand gestülpt, und Gustav, der sich unentwegt mit dem Feudel übers schweißnasse Gesicht fuhr.
Plötzlich überwältigte Ernie die Komik der Situation und er fing schallend an zu lachen. Die anderen sahen ihn an, dann sahen sie einander an, und platzten auch los. Sogar der Beamte lachte in sich hinein. In dem Moment kamen die Eltern zurück, erstaunt traten sie näher. Polizei in der Wohnung? Hatte einer was ausgefressen? „Was ist denn passiert?“ Der Beamte richtete sich auf und sagte: „Sind Sie die Eltern dieses talentierten jungen Mannes? Herzlichen Glückwunsch. Da werden sie noch manche Überraschung erleben!“

Nach einigen Jahren am Bau, bekam Ernst eine Anstellung in der Setzerei einer großen Hamburger Tageszeitung. Hier lernte er seine zukünftige Frau kennen. Sie hieß Hedwig Schulz und kam jeden Morgen mit der Straßenbahn aus Winterhude angefahren. Ein hübsches, zierliches Persönchen, dem die Arbeit flott von der Hand ging. Wenn sie sich morgens an ihrem Arbeitsplatz einrichtete, war sie ständig umlagert von jungen Kollegen, die ihr Avancen machten. Sie war zu allen gleich freundlich, lachte über die neuesten Witze vom langen Otto, bedankte sich für ein paar Blümchen vom sie anschmachtenden Werner, lehnte freundlich aber energisch Einladungen ins Kino oder ins Café ab.
Ernst betrachtete sich einige Zeit das Treiben und stellte fest, dass er eifersüchtig war. Eifersüchtig auf die Kollegen, die sich nicht genug tun konnten, bei Hedwig Eindruck zu schinden. Er überlegte, wie er ihnen den Wind aus den Segeln nehmen konnte, um selbst Eindruck zu machen.
Also war er eines Morgens der Erste, der an Hedwigs Tisch stand und ihr von seinen Radios, inzwischen waren es mehrere, und eines immer noch besser als das andere, erzählte. Sie hörte sehr interessiert zu, als er von seiner Familie erzählte und von all den Streichen, die seine jüngeren Brüder verzapften. Auch von seinen Schwestern erzählte er ihr, besonders von Martha, der ältesten, die so eine gute Schülerin gewesen war, dass sie in einem Kontor Anstellung gefunden hatte. Von den jüngeren Schwestern, die sich immer zankten und sich gegenseitig die Verehrer abspenstig machten. Hedwig lachte gerade laut über seine Schilderungen, als die Kollegen eintrafen und lange Gesichter zogen, da sie Ernst an Hedwigs Tisch stehen sahen. Der hatte ja Chancen bei Hedwig, das sah ja ein Blinder mit dem Krückstock. Übellaunig nahmen sie ihre Plätze ein und schielten verstohlen auf die Beiden, die ihre Umwelt ganz vergessen hatten.
Von dem Tage an, hatte Hedwig nur noch Augen und Ohren für Ernst.
Nach einiger Zeit, in der sie sich näher mit einander bekannt gemacht hatten, im Kino gewesen, spazieren gegangen waren, meinte Hedwig, dass sie ihren Ernst nun ihren Eltern vorstellen müsste. Also kamen sie an einem Sonntagnachmittag, in der Schinkelstraße, vor dem Haus in dem sie mit Eltern und Geschwistern wohnte an. Auf dem Balkon saß Mutter Johanna und ruhte sich von der Hausarbeit aus. „Hallo Mama,“ rief Hedwig, „ können wir raufkommen?“ Johanna beugte sich vor und sah ihre Jüngste mit einem jungen Mann zu ihr heraufgucken. Nun war es also soweit, auch das jüngste Kind hatte offenbar seinen Lebenspartner gefunden. „Natürlich,“ sagte sie gütig, „ ich wollte sowieso gerade Kaffee kochen.“ „Siehst du,“ sagte Hedwig zu Ernst, „so ist sie immer, lieb und gut. Warte nur, bis du meinen Vater und meine Brüder kennen lernst, meine Schwestern sind ja schon verheiratet und sicher heute nicht da.“
Sie hatten eine nette Kaffeestunde mit Mutter Johanna, bis die Brüder, einer nach dem anderen, von ihren Sonntagsvergnügungen heimkamen. Nur mit Vater würde es später werden, er war in zwei Gesangsvereinen Mitglied, und ein begeisterter Chorsänger.
Als Ernst sich auf den Heimweg machen wollte, schloss sich ihm Adolf, der zweitälteste Bruder, an. „Du weißt hier in der Gegend sicher keinen Bescheid, ich bringe dich zur Linie 18 am Mühlenkamp.“
Als Adolf zurückkam, ging er gleich zur Mutter in die Küche. „Das will ich dir sagen Mama, Hedis Freund ist, soweit ich das beurteilen kann, eine Seele von Mensch. Er hat nur einen Fehler, er wird Hedi weiterhin so verwöhnen, wie wir sie alle verwöhnt haben. Es braucht dir also um sie nicht bange zu sein!“

So einen netten Empfang, hatte Hedwig natürlich nicht bei Mutter Henny am Rödingsmarkt. Aber Ernst wusste, wie er seine Mutter dazu bringen konnte, wenigstens höflich zu ihr zu sein. Er gab seiner Mutter so reichlich Geld für Kaffee, und Kuchen aus der Konditorei, das ihr gar nichts andres übrig blieb, als seinen Wunsch, zu seiner Braut nett zu sein, zu respektieren.
Zwei Jahre vergingen, in denen sie Pläne schmiedeten und sich die Zukunft rosenrot ausmalten, als Mutter Johanna einen Schlaganfall bekam und nach kurzem Krankenlager verstarb. Hedwig fühlte sich nicht mehr wohl in der Elterlichen Wohnung. Ihr jüngster Bruder hatte geheiratet und war mit seiner Frau eingezogen. Die Brüder Adolf und Fred waren nun ebenfalls verehelicht und wohnten nicht mehr dort. Die Schwägerin führte nun den Haushalt und versorgte Vater Schulz, der nach dem Tod seiner Frau ein gebrochener Mann war. Hedwig fühlte sich überflüssig.
Mutter Henny, erzählte eines Abends Ernst, dass sie ein schönes Haus in einer Gartenstraße in Eimsbüttel mieten könnte, wenn sie einen Mieter für das obere Stockwerk hätte. Ihren Mann brauchte sie nicht um Erlaubnis zu fragen, er war vom Gelenkrheuma schwer gezeichnet und ließ seine Frau in allem gewähren. Henny hatte ihm vorgeschwärmt, wie er doch herrlich, in dem zum Haus gehörenden Garten, in der Sonne sitzen könnte.

Für Ernst war das ein Wink des Himmels. Er sah sich das Haus an und sagte seiner Mutter, dass er und Hedwig, ihre Mieter für das obere Stockwerk werden würden, wenn Hedwig einverstanden wäre. Hedwig war nicht nur einverstanden, sie war selig!
Beide hatten etwas auf die hohe Kante gelegt, für ihren zukünftigen, gemeinsamen Hausstand. Sie richteten voller Begeisterung ihre kleine Wohnung ein, und als alles fertig war kam Mutter Henny um sie zu begutachten. Es sah alles so proper aus, dass Henny mächtig stolz auf ihren Ernie war, dass Hedi den gleichen Anteil – finanziell und geschmacklich daran hatte, ignorierte sie natürlich.
Nachdem die Beiden auf dem Standesamt ihr „Ja“ gesagt hatten, begann nun ihr gemeinsames Leben.
Nach zwei glücklichen Ehejahren, brachte Hedwig an einem heißen Sommernachmittag im Jahre 1935 eine kleine Tochter zur Welt.
Das Glück war vollkommen.

Doch es blieben nur noch wenige Jahre, bis der zweite Weltkrieg, mit all seinem Unheil, über die Menschheit hereinbrach, und in Folge, auch dieses Glück zerstörte.



1997






Die Leiterin des Altenheimes raufte sich die Haare. Sie bot mir einen Stuhl an und sprach dabei weiter mit einer imaginären Person am Telefon. „So geht es nicht weiter. Wir müssen einen Psychiater zu Rate ziehen, ich weiß mir keinen Rat mehr. Diese Frau, kommt fast jeden Tag mit immer neuen Klagen zu mir. Selbstmordabsichten hat sie auch schon geäußert. Das ist doch nicht mehr tragbar. Also rufe ich Dr. Bauer an und verlange, dass er uns einen Psychiater schickt. Seine ewigen Sprüche: „Alte Leute seien eben tüddelig,“ kann ich nicht mehr hören. Bis dann.“
Sie legte auf und sah mich an, mich, die Tochter dieser Person, die fast jeden Tag mit Klagen kam. Wie immer, wenn es eine neue Affäre gab, die meine Mutter angezettelt hatte gegen Gott und die Welt, bekam ich das schlechte Gewissen. Den Spruch, den ich mir so oft einsuggeriert hatte, ich bin ich, und meine Mutter ist meine Mutter, ignorierte mein lästiges Gewissen. Es stimmt ja, ich bin die Tochter einer im Alter verwirrt gewordenen Frau. Vielleicht werde ich auch einmal so. Wer weiß. Das liegt an den Genen, heißt es doch so schön. Ich kann nur hoffen, dass das Erbgut meines Vaters durchschlägt. Ich war neun Jahre alt, als ich ihn zum letzten Mal sah. Er wurde nur 41 Jahre alt. Sein Leben hat er im zweiten Weltkrieg verloren, irgendwo an der Ostfront. Alles was von ihm übrig ist, ist ein nicht gut getroffenes Portrait auf der Kommode meiner Mutter und einige abgegriffene Feldpostbriefe, in denen seine ganze Sehnsucht nach Frau und Kind zum Ausdruck kommt.
Die Stimme der Leiterin riss mich aus meinen Betrachtungen in die Wirklichkeit zurück.
„Wir brauchen unbedingt ein Medikament, dass die Aggressionen ihrer Mutter dämpft.“ Ich sagte: „Einverstanden. Nur Medikamente in welcher Form? Tabletten kann sie nicht schlucken, bleiben ihr im Hals stecken, sagt sie.“ „ Dann wird es wohl noch etwas in flüssiger Form geben, das den gleichen Dienst tut,“ sagte die Dame gereizt. Sie stand auf, ihre Dienstzeit war beendet, und ich war fürs erste entlassen. Mit hängenden Schultern ging ich zum Lift.
In der kleinen Heimwohnung im vierten Stock, saß unterdessen meigine Freundin Rosmarie mit einem gespannten, ratlosen Blick meiner 86-jährigen Mutter gegenüber, während ich zur Heimleitung gerufen worden war.
Es war so ein schöner Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und einem Gläschen Sekt gewesen. Wir hatten uns gut unterhalten, viel gelacht, und die immer noch adrett gekleidete alte Frau hatte aus ihrer Kindheit erzählt.
Von der Gaslaterne in der Schinkelstraße, die an frühen Winterabenden in das Wohnzimmer ihrer elterlichen Wohnung im ersten Stock hinein schien. Vom Laternenanzünder, der mit einer kleinen Leiter versehen, von einer Laterne zur anderen schritt, die Leiter an den Laternenpfahl stellte, hinaufstieg und die Gasflamme entzündete. Die kleine Hedwig, war das Jüngste von Sechsen. Ihre Mutter eine gebürtige Schwedin, war, als sie mit Hedwig schwanger ging, fast schwermütig geworden. Die älteste Tochter Ella war schon zwölf Jahre alt und der jüngste Sohn vier. Mit neununddreißig Jahren, stellte sie sich die bange Frage: Was, wenn sie die Geburt nicht überlebte, was sollte dann aus ihrer Familie werden. Sie sorgte sich die ganzen neun Monate. Das muss auf das werdende Leben abgefärbt haben, denn Angst wurde ein beherrschendes Element in Hedwigs Leben. Als die Wehen einsetzten, wurde Ella zur Hebamme geschickt. Die Hebamme händigte Ella ihre Tasche mit den Worten aus: „Die kannst du schon mal nach Hause tragen, ich komm bald nach.“ Ella nahm die verhasste Tasche, schließlich trug sie die nicht zum erstenmal, und schlenderte langsam heimwärts. Auf der Fernsichtbrücke blieb sie stehen, sah über das Geländer in die Alster und kämpfte mit sich. Wieder ein Baby, sie waren doch schon genug. Dass das neue Baby in der Tasche lag und nur die Hebamme die Tasche öffnen konnte, war für sie eine Tatsache. Wenn sie nun die Tasche einfach in die Alster fallen ließ, dann wären sie das Problem doch los. Nur das Auftauchen der Hebamme in der Ferne, rettete die Tasche vor dem Ende in der Alster.
Das neue und letzte Baby in der Familie Schulz, war am ganzen Körper mit einem Hautausschlag bedeckt. Die erschrockene Hebamme zog einen Arzt zu Hilfe. Der Doktor bettete das Neugeborene auf einem Kissen aus Watte, und gab ihm im übrigen keine großen Überlebenschancen.
Aber Hedwig kam durch, und saß jetzt, neun Jahre später, auf der Fensterbank und beobachtete den Laternenmann bei seiner Arbeit. War er dann bei ihrer Laterne angelangt, zog sie ein Buch hinter dem Vorhang hervor und begann im Schein der Laterne eifrig zu lesen. Das Zimmer lag noch im Dunkeln. Die Petroleumlampe wurde erst nach dem Abendessen, wenn die ganze Familie anwesend war, angezündet.
Auf der anderen Straßenseite stellte der Milchmann Paap die Milchkannen für die Meierei vor die Tür. Seine behäbige Frau war im erleuchteten Ladeninneren mit der Bedienung der abendlichen Kundschaft beschäftigt. Ein Pferdefuhrwerk fuhr durch die winterliche Straße. Müde klapperten die Hufe der Pferde über das Kopfsteinpflaster.

Während Hedwig versunken las und las, kamen die großen Geschwister einer nach dem anderen von der Arbeit heim. Nach dem Abendessen in der Küche, versammelte sich die Familie in dem nun von trautem Petroleumlicht erleuchteten Wohnzimmer.
Der Vater, Malermeister Schulz, Zeitung lesend auf dem Sofa. Die Söhne, um den Tisch herumsitzend, unterhielten sich eifrig über die Ereignisse des Tages. Mutter und Schwestern kamen nach dem Abwasch dazu, und regten ihre fleißigen Hände, Socken strickend oder stopfend. Meist schellte es dann an der Wohnungstür, und Elli, die künftige Schwiegertochter, kam vom Dienst im Krankenhaus um ihren Adolf zu besuchen, und die heimelige Atmosphäre zu genießen, die in ihrem lieblosen Elternhaus nicht vorherrschte.
Auch zwei Vettern kamen oft und gern vorbei. Heiner mit der Klampfe und Ludwig mit der Gitarre; dann gab es Hausmusik. „Am Brunnen vor dem Tore,“ „Ännchen von Tharau,“ „Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde,“ und vieles mehr. Sie sangen alle Strophen. Aus vollem glückseligen Kinderherzen sang Klein Hedwig mit heller Stimme mit. Draußen, vor dem Fenster, sah man im Schein der Gaslaterne dichte Schneeflocken fallen. Ein kalter Nordostwind wirbelte sie lustig durcheinander. Im großen weißen Kachelofen, der vom Boden bis zur Decke reichte, prasselte ein kräftiges Feuer und erfüllte den Raum mit molliger Wärme.

Gebannt hatten Rosmarie und ich zugehört und alles deutlich vor uns gesehen. Das Gesicht der alten Frau hatte einen entrückten Ausdruck angenommen. Sie war ganz in der Vergangenheit.
Draußen, auf dem langen Heimflur, waren plötzlich Geräusche zu hören, von zuschlagenden Türen, und Stimmen. Der entrückte Ausdruck verschwand und machte einem gespannt horchenden Platz. „Da, hört ihr das? Nun kommen sie (die Poltergeister) wieder um mich zu ärgern. Wenn ihr wüsstet, was für einen Spektakel sie nachts über mir veranstalten. Die wollen mich hier vertreiben. Nächtelang kriege ich kein Auge zu, so poltern sie!“
Alle gutgemeinten Worte, um sie davon abzubringen, wurden sofort ins Gegenteil verkehrt, und neue Feindbilder entstanden.
Hastig verabschiedeten wir uns, mit der Versicherung bald wieder zu kommen, wobei ich mir innerlich schwor, ohne meine Freundin. Dieses konnte ich nur allein ausbaden.
Auf dem Weg zum Lift wechselten wir spontan einen Blick und liefen gemeinsam die Treppe zum fünften Stock hoch. Konnte sich hier nachts jemand aufhalten? Nein, es gab nur eine fest verschlossene Stahltür mit der Aufschrift „Elektrischer Betriebsraum!“

„Das nennt man Verfolgungswahn,“ sagte Dr. Bauer, „Ausgelöst durch fortschreitende Sklerose im Kopf, wir versuchen, mit Medikamenten gegen zu steuern, sie gewissermaßen ruhig zu stellen. Eine grundlegende Änderung zum Besseren ist leider nicht mehr zu erwarten, dazu ist die Sklerose zu weit fortgeschritten.“
Mit diesem Bescheid musste ich mich fürs erste zufrieden geben und sehen, wie es weitergehen wird.

Wie es eigentlich anfing, mit meiner Mutter, und wann, kann ich so direkt nicht mehr sagen. Fest steht, dass ihr Zustand zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur mit Arteriosklerose zu erklären ist. Man sagt allgemein, dass sich alle Eigenschaften im Alter verstärken. Doch dieser Einbildungswahn bestand schon viel früher. Wenn ich mich angestrengt zurück erinnere, fallen mir einige Episoden ein. Verbissen hielt sie schon in meiner Kindheit an ihren Einbildungen fest. Keiner konnte sie davon abbringen, im Gegenteil, sie war zutiefst beleidigt, wenn man ihr nicht glauben wollte.
Als Kind sah ich natürlich unkritisch durch ihre Brille. Ein Beispiel: Als wir nach dem Krieg, in Altona, zur Untermiete wohnten, war fast jeden Abend über uns ein Schurren – als ob ein Stuhl über den Fußboden geschoben würde, zu hören. Prompt erklärte mir meine Mutter, dass die Frau über uns, das nur täte, um uns zu ärgern, weil wir ja nur Untermieter wären und damit Menschen zweiter Klasse. Ich fand das, mit meinen zwölf Jahren, gemein von der Frau. Im Treppenhaus wich ich ihr möglichst aus. Meine Mutter konzentrierte sich ganz auf diese abendlichen Geräusche. „Da,“ sagte sie, „jetzt ärgert sie uns wieder. Dieses Weib, der könnte ich den Hals umdrehen.“ Eines Abends nahm sie den Besen und klopfte mit dem Stiel energisch an die Decke.
Kurz darauf klingelte es an der Wohnungstür. Draußen stand die Mieterin von oben und fragte, warum denn geklopft wurde. Meine Mutter rief: „Das ist doch die Höhe! Sie ärgern uns jeden Abend und fragen noch warum.“ Fassungslos sagte die Frau: „ Nichts liegt mir ferner als sie zu ärgern. Sehen sie, ich muss abends immer einen schweren Sessel beiseite schieben, wenn ich ins Bett gehen will, wir wohnen ja auch beengt mit mehreren Mietern Es tut mir leid dass es sie stört, aber was soll ich machen, ich kann den Sessel nicht heben, er ist zu schwer.“ „Ach was,“ entgegnete meine Mutter aggressiv, „das glaube ich ihnen nicht,“ und schmiss der Frau alle Anklagen über Untermieter und Menschen zweiter Klasse an den Kopf. Die Mieterin sah die zorngerötete junge Frau an und sagte klar und deutlich: „ Das bilden sie sich doch nur ein!“ Sprach es, drehte sich um und ging in ihre Wohnung hinauf.
Ich glaubte schon, das der Streit nun zu Ende wäre, weil der Frau es ja leid tat, dass sie den Sessel so schieben musste, aber Mutti schimpfte weiter, bis ich unsicher wurde. Als dann am nächsten Abend wieder dieses Schurren zu hören war, und meine Mutter mit tragischem Augenaufschlag zur Decke blickte und sagte: „Das muss man sich alles bieten lassen, nur weil man Untermieter ist,“ glaubte ich natürlich ihren Worten.
Ich erinnere mich auch noch, dass manchmal ihre Brüder zu ihr sagten: „Hedi, nicht so aufgeregt.“ Ja, aufgeregt war sie immer schnell. Es brauchte sie nur einer schief anzugucken und sie erging sich in den wildesten Vermutungen, warum der so guckte.
Als wir Jahre später bei dem netten Herrn Krause zur Untermiete wohnten, hatte sie sofort eine Aversion gegen die übrigen Hausbewohner. Sie glaubte, dass diese sie für die Geliebte von Herrn Krause hielten – und das taten sie vielleicht auch, schließlich kannten sie die Umstände ja nicht, (ich komme noch auf die Krause Geschichte zurück) also ging sie mit hocherhobenem Haupt durchs Treppenhaus und grüßte nicht. Nun hatte sie zumindest die Frauen gegen sich. Und was tat ich... hielt meiner Mutter die Stange und grüßte in meiner jugendlichen Naivität auch nicht. So kam es, dass eine Nachbarin zur andern sagte, als ich grußlos vorbeiging: „ Das ist wohl in dem Wortschatz des jungen Dings nicht drin.“ Oh, wie kam ich mir gedemütigt vor.
So könnte ich mich weiter erinnern, aber das würde zu weit führen und den Eindruck erwecken, dass sie damals schon nicht ganz richtig im Kopf gewesen wäre. So war es aber auch nicht. Sie war tüchtig im Beruf, hatte nette Kolleginnen mit denen sie sich auch außerhalb der Arbeitszeit traf, sie war belesen und las auch mit Interesse die Tageszeitungen. Sie konnte sich angeregt unterhalten, beharrte allerdings meist auf ihrem Standpunkt. Was ich mit diesen Erinnerungen auszudrücken versuche ist, das diese phantasiereichen Einbildungen von damals, sich Heute ins krankhafte gesteigert haben und nun wie ein Krebsgeschwür wuchern und ausufern.

Mir als Tochter bleibt nur die Hoffnung, dass ich sie mit meinen Besuchen ein wenig ablenken kann, aber es ist nicht so einfach, wenn ich daran denke, was die nächste Zeit wohl bringen wird.

Die nächste Zeit brachte eine neue Variante ins teuflische Spiel. Nun war sie fest davon überzeugt, dass sie hemmungslos bestohlen würde. Alles was sie verkramt hatte, war ihr gestohlen worden. Ging sie zum Essen in den Speisesaal hinunter, hatte man ihr währenddessen weitere Dinge entwendet. Fand ich Sachen wieder, die sie als gestohlen bei der Heimleitung gemeldet hatte, so hatten die „Bösen“ es eben wieder gebracht, um sie als Lügnerin hinzustellen.

Eines Tages wunderte ich mich, das die Bilder an der Wand zur Nebenwohnung, auf dem Fußboden standen. Auf meine Frage antwortete sie, dass würde sie jetzt jeden Abend tun, damit der „Böse“ nebenan, sich auch mal ärgern würde. Sein Klopfen gegen die Wand, würde die Bilder nun nicht mehr herunterfallen lassen. Er konnte durch die Wand sehen und er konnte auch jedes Wort verstehen, das gesprochen wurde. Darum leise, leise.
Beim Duschen sahen ihr die „Bösen“ von oben durch die Decke zu, also duschte sie nicht mehr.

Eines späten Abends, während die meisten Bewohner schon schliefen, waren die Poltergeister wieder in Aktion. Eine heiße Welle lief durch ihren Körper und eine nie gekannte Wut auf diese ihre vermeintlichen Quälgeister, ließ sie zur Tür stürzen, sie aufreißen und auf den Flur hinaus schreien: „Ich will meine Ruhe haben! Jetzt ist aber Schluss mit dem Krach! Meine Ruhe, meine Ruhe will ich haben!“
Überall öffneten sich Türen und verstörte, verschlafene Bewohner starrten sie an. Dann öffnete sich auch die Tür des "Bösen," der mit Stentorstimme erklärte, dass er die Polizei über diesen Krakeel unterrichten würde. Sprach es und schlug die Tür zu. Sie stand plötzlich wieder allein auf dem Flur und wimmerte: „Niemand hilft mir! Niemand!“
Am nächsten Tag war der „Böse“ plötzlich ganz freundlich zu ihr. Die Heimleitung hatte ihn, der keine Ahnung seiner Schurkerei hatte, über den Wahn seiner Nachbarin instruiert.

Ein junger Handwerker hatte einige Tage auf der Etage zu tun, und übernahm ahnungslos die Rolle des „Bösen.“
Ja, er verließ in ihrem Wahn nie mehr das Haus, und zog sogar zu den „Bösen“ über ihr.
Eine Flurnachbarin flüsterte ihr zu: „Ich würde den Krückstock nehmen und oben an die Tür hauen, wenn die wieder Krach bei dir machen.“ War es Häme oder ebenfalls Senilität, die sie das sagen ließ? Jedenfalls raste meine Mutter eines Nachts mit dem Krückstock bewaffnet die Treppe rauf und schlug mit voller Kraft, die ihr der Wahnsinn gab, auf die Stahltür ein.
Eine Pflegerin, durch den Lärm herbeigelockt, fand sie hemmungslos schluchzend auf der Treppe liegend. Danach wurden die Medikamente verstärkt.
Ein Psychiater, zu dem man sie brachte, erklärte ihr nach langem Befragen brutal, dass sie im Krankenhaus Ochsenzoll (bekannt für seine Abteilung für Geistesgestörte) am besten aufgehoben wäre. Das drang durch ihr verwirrtes Hirn und weckte lang zurückliegende, schreckliche Erinnerungen. Von nun an hatte sie grauenvolle Angst, dass man sie einfach holen könnte, in einer Nacht und Nebelaktion, wie damals im Krieg die Juden aus ihren Wohnungen geholt und abtransportiert wurden. Seit dem Zeitpunkt, verbarrikadiert sie ihre Wohnungstür mit Stühlen.



Rückblende ins Jahr 1939




In der Gartenstraße in Eimsbüttel, verbrachte Edith, wie meine Eltern mich genannt hatten, ihre vier ersten Lebensjahre. Die beiden unverheirateten Onkel, Brüder meines Vaters, die noch bei Oma Henny im Parterre logierten, rissen sich um Ediths Gunst. Wenn Edith, noch auf allen vieren, hinter Mutti Hedi die Treppe zur elterlichen Wohnung im ersten Stock hoch krabbelte, hörte sie oft Jonny hinter sich her rufen: „Pst, Edith, guck mal was ich kann!“ Und Edith hielt im Krabbeln inne und schaute mit offenem Mund, was Onkel Jonny konnte: Handstand an der Wand! Kerze! Und einen doppelten Saiglto! Sie seufzte vor Wonne. Mandus schmeichelte sich mit Süßigkeiten bei ihr ein. Oma Henny holte sich Klein-Edith herunter, wenn sie Besuch von ihren Schwestern bekam, um vor ihnen mit ihrer Enkelin zu renommieren. Dabei fiel auch immer etwas Süßes für „de Lütt“ ab. Dabei wurde die Lütte, wie man in Hamburg sagt, immer „krüscher.“ Vom Butterbrot aß sie grundsätzlich nur das weiche Innere, die Rinde aber versteckte sie listig in ihrem kleinen Korbpuppenwagen unter der Matratze, damit Mutti Hedi nicht schimpfen konnte. Eines Abends, die Lütte schlief schon, und die Eltern saßen gemütlich in der Wohnküche, raschelte es plötzlich im Puppenwagen. Hedi, die gerade die Maschen auf ihrer Nadel zählte hörte nichts, aber Ernst war auf das Geräusch aufmerksam geworden und sah in die Richtung. Seine Augen wurden starr. Da marschierte doch Mama Maus mit ihren Jungen aus diesem Brotrindenparadies, um den ersten Familienausflug zu unternehmen. Ernst sprang auf. Hedi blickte hoch. Mit einem Schrei des Entsetzens stürzte Hedi zur Tür und rannte die Treppe runter zu Oma Henny. „Mäuse, Mäuse,“ schrie sie Oma entgegen und sank aufs Sofa. Über ihnen hörten sie Ernst rumoren, auf der Jagd nach den unerwünschten Mitbewohnern. Endlich kam er nach unten und sagte: „Du kannst wieder raufkommen. Sie sind weg!“ „Wohin?“ „Mit der Kohlenschaufel und dem Handfeger aufgenommen und aus dem Fenster in den Garten gekippt!“ „Danke,“ sagte Oma trocken, „dann kommen sie wohl bald zu mir.“
Das bezweifelte Ernst. Er meinte, die müssten sich mindestens das Rückgrat gebrochen haben, bei dem Sturz aus dem Fenster. Das Versteck der Brotrinden war also entdeckt und der Puppenwagen wurde von Oma persönlich, mit kochendem Sodawasser ausgescheuert, und musste tagelang in der Sonne zum Trocknen stehen.
Am schönsten war es, wenn die Lütte mit Oma oder Mutti an ´s Ende der Straße gehen konnte, zu Krämer Batzlaff. Mutter Batzlaff empfing jeden Kunden mit den Worten: „Was kann ich für Ihnen tun?“ Aus den großen Bonbonhäfen auf der Ladentheke, angelte sie dann ein paar bunte Bonbons die sie Edith mit den Worten: „Hier, min Deern, hast du was Feines zum Lutschen,“ gab. Dort trafen sie auch oft eine junge Frau mit ihrem kleinen Jungen. Die beiden Kinder spielten dann vor dem Laden, bis ihre Mütter ihre Einkäufe und den Schwatz mit Mutter Batzlaff beendet hatten.
Noch in diesem Jahr zogen Ernst und Hedi mit Töchterchen in die Sillemstraße. Oma Henny und Hedi konnten nicht gut miteinander und stritten sich oft. Beide, waren kämpferische Naturen und keine wollte der anderen nachgeben. Ernst war des vielen Schlichtens zwischen Mutter und Frau müde. Während Oma mit Tränen in den Augen dem Umzugswagen nachsah, thronte die Lütte, mit ihren knapp vier Jahren, hoch oben zwischen zwei Möbelpackern und jubelte über dieses große Ereignis.
Zwei Jahre später,1941, trafen Hedwig und Edith wieder einmal vor Batzlaffs Laden, Mutter und Sohn. Edith ging inzwischen in den Schulkindergarten, der Omas Haus direkt gegenüberlag, und Hedwig holte sie dort oft ab. Die Frau erzählte Hedi weinend, dass man wie viele Andere, auch ihren Mann „abgeholt“ hätte. Mutter und Kind, trugen einen gelben Stern am Mantel. Den müssten sie jetzt tragen, um als Juden für jedermann kenntlich zu sein. Eigentlich dürfte Frau Riemann gar nicht mehr mit ihr reden, weil sie sich sonst verdächtig mache. Hedi war empört. Das konnte doch nicht wahr sein, diese Leute hatten doch Niemandem etwas getan. Aufgewühlt ging sie in den Laden, wo Mutter Batzlaff wütete: „Die wollen mich verbieten, dass ich die Juden was verkaufe. Was ist denn bloß los? Das sind doch genau so´ ne Menschen wie Ihnen und mir!“
Bedrückt ging Hedi nach Hause. Sie verstand die Welt nicht mehr. Da fragte plötzlich Edith: „Mutti, kann ich auch so einen schönen Stern haben wie Daniel und seine Mama?“...

In dem neuen Haus in der Sillemstraße, machte Klein-Edith gleich eine neue Eroberung. Ein älteres, kinderloses Ehepaar namens Rottgard, interessierte sich sehr für die junge Familie die im zweiten Stock eingezogen war. Eines Tages klagte Frau Rottgard, Hedi ihr Leid. Ihr Rundfunkempfänger schnarrte nur noch, und ihr Mann hätte vergeblich versucht ihn zu reparieren, er verstünde leider nicht viel von Röhren, Widerständen und Kondensatoren. Da kam sie bei Hedi an die richtige Adresse. „Mein Mann,“ sagte Hedi nicht ohne Stolz, „repariert jedes Radio, er baut auch neue.“ Ernst, hatte schon als ganz junger Mann versucht, sich selbst einen Rundfunkempfänger zu bauen und es war ihm geglückt. Seitdem waren Radios seine Leidenschaft.
So kam es, das Ernst nicht nur das Radio der Rottgards, sondern auch die Radios anderer Nachbarn reparierte. Es sprach sich herum, dass er Experte auf diesem Gebiet war. Im Wohnzimmer standen nun außer den eigenen, oft noch drei bis vier Empfänger herum, die darauf warteten von Ernst am Feierabend repariert zu werden.
Es hatte sich ein freundschaftlicher Verkehr zwischen den Rottgards und Familie Riemann entwickelt und oftmals holte Frau Rottgard Edith zu sich in die vierte Etage. Edith trippelte, mit ihren Bilderbüchern schwerbeladen, bereitwillig die Treppen empor. Oben angelangt wollte Edith immer als erstes die wunderhübsche Babypuppe, die in einer Cellophanhülle steckte und auf Frau Rottgards rosaseidener Bettdecke saß, bewundern. Dann ging es in die Küche und es gab Kakao und Kekse. Danach schlug Edith ihre Bilderbücher auf und rasselte den staunenden Rottgards den Inhalt aller Bücher herunter. Hedi, von Rottgards befragt wieso Edith schon lesen könne, antwortete: „Selbstverständlich kann sie noch nicht lesen, aber sie kennt alle Bilderbücher auswendig!“
Zu Weihnachten bekam Edith die Babypuppe, ohne Cellophanhülle, von Rottgards feierlich beschert. Zum fünften Geburtstag einen Puppenwagen, den Herr Rottgard rot lackiert hatte. Er war wunderschön, nur das Verdeck durfte man nicht herunterklappen, weil dann die Farbe gesprungen wäre.
In dieser Zeit war Hedi mit Mann und Kind glücklich und zufrieden und wäre es wohl auch weiter gewesen, wenn das Schicksal, in Gestalt des Krieges, es nicht anders bestimmt hätte.

Ich habe mit Hedi telefoniert. Sie sprach in vernünftigen Sätzen, ohne nach Worten zu suchen wie sonst. Gegen besseres Wissen, glaube ich gleich wieder an Besserung ihres Befindens. Aber der Verfolgungswahn bleibt.
Deshalb hat die Heimleitung eine Wohnung im zweiten Stock angeboten, als letzten Versuch, sie aus ihrem Wahn zu reißen. Den Umzug vom vierten in den zweiten Stock, machte ich mit zwei Zivis zur Hilfe und meiner Mutter als Störung des Ganzen. Sie meinte natürlich, sie müsste aufpassen, damit ihr auch ja nichts gestohlen würde.
Eine Zeitlang scheint es, als würde der Wohnungswechsel sich positiv bemerkbar machen. Es gibt keine Bösen mehr.
Dafür hat sie einen neuen Tick entwickelt. Alles was nicht hält wird mit Heftpflaster befestigt. Ihre Perücke zum Beispiel befestigt sie statt mit Haarnadeln, mit Heftpflaster. Fotorahmen die auseinander fallen, werden ebenfalls mit dem unvermeidlichen Heftpflaster mehr beklebt, als geklebt.
Als Geburtstagsgeschenk für den dreijährigen Urenkel, schleppt sie einen überdimensionalen Teddybären an, den ihr ein geschäftstüchtiger Mensch angedreht hat, und dessen eigentliche Bestimmung eine Schaufensterdekoration ist.
Ihre Enttäuschung ist groß, als der Kleine, den fast mannsgroßen Bären vollkommen übersieht und auf ihre Frage: „Na, magst du den Teddy nicht leiden?“ erwidert: „ Damit kann man doch nicht spielen, der ist ja viel zu groß!“
In der Familie sorgte dieses Geschenk für kaum unterdrückte Heiterkeit und der Frage, wohin mit dem Monster. Die Nachbarin Grete aus dem Altenheim, löste das Problem und verkaufte den Bären an einen ihr bekannten Tabakwarenhändler. Dort steht er nun im Schaufenster, umgeben von Zigarren, und wackelt weise mit dem Kopf.

Im Jahre 1939 ging Hedi öfter ihren Vater in Winterhude besuchen. Er alterte jetzt schnell und Hedi glaubte, dass sie ihm eine Freude mit ihrem Besuch mache. Einmal, als auch Ernst mit von der Partie war, trafen sie auch Paul den Schwager, Fritz den Vetter und seine Frau Manda.
Paul in der neuen SA Uniform, ließ sich von Manda bewundern. „Oh, Papi,“ sagte sie zu Fritz „probier doch auch mal die Jacke an.“ Widerstrebend tat Fritz es. War aber dann von seinem Spiegelbild selbst beeindruckt. Manda war ganz aus dem Häuschen. „Nein, wie schneidig so eine Uniform doch gleich einen Mann aussehen lässt,“ schwelgte sie in den höchsten Tönen. Opa August sagte gar nichts. Ernst saß still neben ihm und beobachtete mit undurchdringlicher Miene diesen Mummenschanz. Sie bekamen noch einige begeisterte Tiraden über den Führer und seine Gefolgsleute zu hören, bis es Zeit wurde, sich zu verabschieden.
Auf dem Heimweg, sie gingen grundsätzlich zu Fuß um das Fahrgeld für die Straßenbahn zu sparen, sagte Ernst zu Hedi: „Hör zu Hedi. Du kannst deinen Vater so oft besuchen wie du willst, ich habe den alten Mann gern. Aber auf mich musst du dabei verzichten, dieses Theater, was da heute ablief, ist mir zuwider.“ Hedi war zuerst betroffen, aber dann fiel ihr ein, dass auch sie ein unbehagliches Gefühl bei Mandas Schwärmerei und Pauls Stolz gehabt hatte. Nicht lange nach diesem Besuch, verstarb Vater August, und danach wurden Hedis Besuche zu Hause seltener.

Oma Henny, inzwischen verwitwet, kochte jeden Freitag, wenn die Söhne mit ihren Wochenlöhnen nach Hause kamen, ein Festessen. Jeder bekam sein Leibgericht. Da gab es Sauerkraut mit Eisbein, Rotkohl mit Schweinebraten, Kartoffelsalat mit Würstchen, Buchweizengrütze mit Sahne übergossen für ihren Ernst, der freitags seinen Besuchstag bei Muttern hatte, und Vanillepudding mit Himbeersirup für die Lütte, die neben ihrem Vater eifrig die Verandatreppe zu Oma hinaufkletterte.
Wenn Hedi, auf Ernsts Bitten mitkam, ignorierte Oma ihre Schwiegertochter einfach.
Sie stand am Herd, mit der Kelle in der Hand, schaute in die Runde und fragte: „Jonny, wat wullt du eeten? Mandus und du? Ernst, ick heff scheune Grütze for di kokt. Na min Lütten, du willst bestimmt Omas Kirschsaft trinken nicht? Ist ja auch so heiß heute.“ Alle wurden gefragt, nur Hedi nicht. Die tat, als ob sie es nicht merkte, innerlich aber ärgerte sie sich wieder einmal, dass sie mitgekommen war.
Doch eines musste sie Familie Riemann lassen, es wurde nicht politisiert, zumindest nicht im Familienkreis. Die Jungs, wie Oma ihre erwachsenen Söhne immer noch nannte, waren unkompliziert und lebenslustig.
Am Wochenende veranstalteten sie öfter kleine Tanzabende, zu denen dann Geschwister und Freunde eingeladen wurden. Dann hallte das Haus von Musik und Gelächter wider. „Amüsier dich,“ sagte Ernst zu Hedi die aus Omas Schlafzimmer kam, wo sie die Lütte zum Einschlafen gebracht hatte. „Noch kannst du es, es kommen bald schwere Zeiten für uns alle!“

Bei einem meiner Besuche im Heim, liest Hedi eifrig in einer Illustrierten, doch als ich richtig hinschaue, hält sie die Zeitschrift verkehrt herum. Sie erzählt mir, dass sie spazieren gegangen wäre, und es wäre keine Straße (Leute) auf der Straße gewesen.
Die Fähigkeit lesen und schreiben zu können kommt ihr allmählich abhanden.
Da sie schon seit langem eine Perücke trägt, - sie hat fast kein Haar mehr auf dem Kopf - wird es Zeit, eine neue zu kaufen. Die alte ist nur noch ein Fragment. Leider ist sie nicht mehr in der Lage, sie richtig aufzusetzen. Vorn und hinten alles egal. Sie stülpt sie sich auf den Schädel, wie es gerade kommt. Alle im Heim lachen, sagt sie, über die Perücke. (Kein Wunder, wenn sie sie falsch herum aufsetzt.) Sie wollte auch gar keine neue Perücke haben, aber die Friseurin und ich, hätten sie ihr ja aufgeschwatzt. Dann bekniet sie mich, mit ihr zu gehen und Miederwaren zu kaufen. Die Verkäuferin ist sehr verständnisvoll, und trotzdem ist die Anprobe der reinste Horror. Nun liegen die Miederwaren unbenutzt in der Schublade, weil Frau S., der sie die Sachen gezeigt hatte, gesagt hat: „Die passen Ihnen doch gar nicht.“ Ich möchte die Mieder doch zurückbringen und ihr das Geld wiedergeben. Da das nicht möglich ist, wie ich ihr sage, ist sie sauer auf mich.



1943




In der Nacht zu meinem achten Geburtstag – vom 25. auf den 26.Juli 1943 – wurden wir in Hamburg-Eimsbüttel ausgebombt. Mein Vater wurde 1942 eingezogen. Er hatte noch meine Einschulung mitbekommen und Fotos gemacht. Dann musste er zur Ausbildung nach Lüneburg. Das er erst 1942 eingezogen wurde, hatte seinen Grund. Die Firma bei der er beschäftigt war, baute Luftschutzbunker. Dazu brauchte man Maurer und Bauarbeiter. Zu Edith´s großer Freude, wurde der letzte Bunker an dem er mitbaute, direkt vor unserem Haus errichtet.
Edith, die sich sehr wichtig vorkam – wer hatte schon einen Papa, der vor dem Haus an einem Bunker baute - verkündete also lautstark jeden Nachmittag ihrem Papa, was es heute bei ihnen zu essen gäbe. Ernst winkte und seine Kollegen riefen lachend: „Dürfen wir auch zum Essen kommen?“ Darauf stürzte Edith die Treppen hoch zu Hedi in die Küche. „Mutti, Mutti, die anderen Männer wollen auch zum Essen kommen, soviel haben wir doch gar nicht.“ Hedi, die mit dem Kochlöffel gerade durch die Küche walzte und dazu sang: „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe,“ lachte und meinte: „Die haben doch nur Spaß gemacht du Dummerchen.“
Hedi war glücklich, so glücklich wie man in dieser Zeit nur sein konnte. Ernst, der schon wiederholt einen Einberufungsbescheid bekommen hatte, war wieder einmal von seiner Firma reklamiert worden, weil man ihn unbedingt brauchte. Das hieß: Wieder ein Aufschub der Trennung, an die sie nur mit Grauen denken konnte.
Doch auch dieser Bunker wurde eines Tages fertig und diesmal halfen die Bemühungen der Firma, diesen fleißigen zuverlässigen Mann weiterhin zu beschäftigen, nicht mehr.

Die Wohnung war plötzlich verwaist. Meine Mutter schlief, seit der Abreise meines Vaters, auf der Wohnzimmercouch und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Ich vermisste meinen, immer zu Scherzen aufgelegten, Papa auch sehr. Aber dann nahmen die Schule und die neuen Schulfreundinnen meine ganze Aufmerksamkeit gefangen.
Bis zu unserer Ausbombung, hatten wir genügend Gelegenheit uns an den Fliegeralarm und den Weg in den Luftschutzbunker vor unserem Haus zu gewöhnen. In besagter Nacht, kamen wir erst spät in den Bunker. Meine Mutter suchte ihre goldene Armbanduhr, ein Geschenk meines Vaters, vergebens. Ich stand vor meinen vier Puppen, die auf der Puppenbank saßen, und konnte mich nicht entscheiden, welche ich mit nehmen wollte. Sie sahen mich so erwartungsvoll an, wie mir schien. Um keine zu bevorzugen, und die anderen damit zu kränken, sagte ich zu ihnen: „Ihr könnt euch die Zeit mit Spielen vertreiben, bis ich wieder komme.“ Als wir endlich durch das Treppenhaus nach unten liefen, war der Angriff so massiv geworden, dass wir den Gang zum Bunker nicht wagen konnten.
Leuchtkugeln erhellten die Nacht, die Bomber dröhnten über uns und die Flak hämmerte. Eine Nachbarin aus dem Parterre, stellte ihre Stühle in den Treppenflur, damit wir, und noch einige Bewohner, dort sitzen konnten. Draußen tobte das Inferno. Nach einiger Zeit qualvollen Abwartens, sagte meine Mutter: „Jetzt oder nie!“ Fasste mich bei der Hand und wir stürzten aus dem Haus. Es war ein Krachen und Heulen in der Luft, dass uns der Atem stockte. Wir fielen mehr, als dass wir liefen, die Bunkertreppe hinunter, direkt in die Arme der beiden Luftschutzwarte. Drinnen saßen schreckensbleich die Anwohner. So schlimm war es noch nie gewesen.
Da wurde wieder die Luftschutztür geöffnet und herein kamen Großmutter, Mutter und Kind in hellem Jammer. Das zweite Kind war ihnen auf der Straße verlorengegangen, weil es sich voller Panik von der Hand der Großmutter losgerissen und schreiend davon gelaufen war. Die Einschläge krachten über uns, das Licht flackerte, und die Luftschutzwarte meldeten, dass viele Häuser brennen würden. Als das Grauen seinen Höhepunkt erreichte, kam ein altes Ehepaar, dass noch nie bei Alarm seine Wohnung verlassen hatte, und führte das vermisste Kind, das sie unterwegs aufgegriffen hatten, mit sich. Die Freude und Erleichterung der Familie waren unbeschreiblich.
Unser Haus wurde von einer Brandbombe getroffen. Einigen beherzten älteren Männern und Frauen, unter ihnen auch Rottgards, gelang es, an dem Brandherd im ersten Stock vorbei, in ihre Wohnungen zu gelangen und einige Wertsachen zu retten. Plötzlich wollte meine Mutter auch in unsere Wohnung, um zu retten, was noch zu retten war. Doch ich ließ sie nicht von mir; klammerte mich an ihr fest und schrie, sie würde nie wiederkommen und verbrennen wie das Haus. Resigniert gab sie auf.
Der Angriff war vorüber, und draußen loderte die Feuersbrunst in der heißen Julinacht. Gegen vier Uhr morgens, kletterten wir durch den Notausgang – der Eingang war verschüttet – ins Freie. Benommen standen wir da. Unser Haus brannte lichterloh, und um uns herum fast die ganze Straßenfront. Wir wollten zu meiner Oma, die in der Nähe der Apostelkirche wohnte, aber es war kein Durchkommen. Die Brandwache hatte alles abgesperrt, weil die brennenden Dachstühle jeden Augenblick einstürzen konnten. Wären wir bloß im Keller geblieben. Nun mussten wir sehen, wie wir weiter kamen. Die Kneipe an der Ecke, war geöffnet um den Feuerwehrleuten die ausgedörrten Kehlen zu löschen. Der Wirt, schenkte an jeden der hereintaumelte, Freibier und Brause aus mit den Worten: „Morgen steht meine Wirtschaft hier auch nicht mehr, ist sowieso alles hin.“ Wir stürzten beide ein Glas Brause hinunter, denn auch unsere Kehlen waren von dem Rauch und der Hitze völlig trocken.
Bei meiner Tante, am Langenfelderdamm, angekommen, die mich mit den Worten begrüßte: „Ach, du armes Kind hast ja heute Geburtstag, hier hast du einen Bonbon,“ trafen wir später meine Oma wieder. Oma war auch total ausgebombt. Hier konnten wir nicht lange bleiben, die Wohnung war schon überfüllt mit in dieser Nacht ausgebombten Verwandten. Ein Boco- Wäschewagen nahm uns mit nach Winterhude, wo die Geschwister meiner Mutter wohnten. In Winterhude war es wie im Frieden. Die Leute sahen uns verwundert an, mit unseren russgeschwärzten Gesichtern und den versengten Haaren. Sie wussten noch nicht, was uns passiert war, und ihnen vielleicht bald selbst passieren würde. Tante Elli nahm uns liebreich auf. Wusch uns die Flugasche aus den Haaren und hörte sich entsetzt unsere Erlebnisse der vergangenen Nacht an. Wir hätten bei ihr bleiben können, denn drei ihrer Töchter waren in der Kinderlandverschickung, und ihr Mann, Onkel Adolf, Soldat. Einen Tag blieben wir bei ihr, aber meine Mutter wollte aus Hamburg raus. „Nur weg hier!“ Auf der großen Stadtparkwiese sammelten sich die obdachlosen Hamburger. Dort trafen wir Tante Hanni, Muttis Schwester, mit meiner sechsjährigen Cousine Klara. Tante Hanni wollte ebenfalls fort, obwohl ihre Wohnung noch stand. Zwei Tage später war auch sie ein Raub der Flammen. Tante Hannis Mann war in Frankreich stationiert, der älteste Sohn bereits gefallen, eine Tochter im Pflichtjahr, der jüngere Sohn in der Kinderlandverschickung, so hatte sie nur ihre Jüngste bei sich. Ein verzogenes Balg, das mir das Leben in der kommenden Zeit noch schwer machen sollte.
Nun fing eine Odyssee für uns an. Als erstes wurden wir alle auf Lastwagen geladen. Unser LKW, fuhr uns irgendwo nach Schleswig-Holstein. In einem Bauernhaus, kamen Tante Hanni, Klara, Mutti und ich unter. Gleich in der ersten Nacht, weckte uns der Bauer: „ Bomberverbände sind im Anflug. Wir gehen auf den Kartoffelacker, da ist es am sichersten.“ Natürlich wollten die feindlichen Bomber ihre „Fracht“ nicht hier abladen, sondern in Hamburg, aber es konnte sein, dass ein von der Flak getroffener Flieger auf dem Rückweg abstürzte, oder sie sich der überzähligen Bomben doch noch entledigen wollten.
Nacht für Nacht lagen wir also bäuchlings auf dem Feld, und über uns dröhnten die Bomber hinweg. Es waren klare Sommernächte, und so sahen wir ein Feuerwerk, dass nicht grandioser hätte sein können, wenn es nicht so grausig und todbringend gewesen wäre. Es sah aus, als ob Tausende von bunt beleuchteten Tannenbäumen auf die Stadt hernieder schwebten. In jener Nacht wurde der Stadtteil Hamm zerstört. Vorwiegend mit Phosphorbomben. Dort ist in der Nacht auch Tante Ella, dieselbe Ella, die vor zweiunddreißig Jahren die Hebammentasche in die Alster versenken wollte, umgekommen. Ihr Mann Paul, der bei der SA war, suchte fieberhaft, bei den Aufräumungsarbeiten mit seiner Truppe, nach seiner Frau. Später erzählte er den Geschwistern, dass er geglaubt habe, sie gefunden zu haben. Ein verkohlter Leichnam den er im Keller seines Wohnhauses fand, wollte er als seine Ella erkannt haben.

Nachdem wir ungefähr 14 Tage dort verbracht hatten, die Nächte meist auf dem Feld, fanden Tante Hanni und Mutti, dass sie dringend einen Ortswechsel vornehmen mussten. Tante Hanni wollte in die Niederlausitz, zu Horst, meinem Cousin, der dorthin Kinderlandverschickt war. An diese Reise kann ich mich nur in so weit erinnern, dass die Göre Klara ständig versuchte die Abteiltür zu öffnen, während wir beide davor standen und aus dem Fenster sahen. Dass sie ständig quengelte, sie müsste aufs Klo, nur weil sie die Gleise unten durchsausen sehen wollte. Als Tante Hanni genug hatte, musste ich mit ihr gehen. Sie zerriss das Toilettenpapier in tausend Schnipsel, warf es auf die Gleise hinunter und gab nicht eher Ruhe, bis es an der Tür bummerte, weil andere Reisende hinein wollten.

In die Niederlausitz war noch kein Krieg vorgedrungen. Tiefer ländlicher Friede. Schlafen auf dem Heuboden, zusammen mit den Kindern der Bäuerin. Morgens Ziegenmilch zum Frühstück, und den ganzen Tag Spielen in Wiese und Wald. Für uns Kinder war das herrlich. Doch lange konnten wir auch dort nicht bleiben. Horst wollte nicht mit uns zurück, er fühlte sich dort so wohl, und Tante Hanni sagte sich, dass es so am Besten wäre. Horst und Klara, waren wie Hund und Katze. Das auf der Wanderschaft quer durch Deutschland, musste sie nicht haben. Klara vermisste ihren Bruder nicht, sie hatte ja mich, zum Triezen.

Als nächstes landeten wir in Niederbayern, in einem Ort der Eggenfelden hieß. Meine Mutter und ich, kamen in einem Haus unter, dessen Eigentümerin ein Textilgeschäft unten im Hause hatte. Tante Hannis und Klaras Wirtsleute, besaßen ein Schuhgeschäft. In den uns zugewiesenen Zimmern, durften wir aber nur schlafen. Zum Frühstück, Mittag und Abendbrot, mussten wir ins Hotel gehen. In der übrigen Zeit gingen wir mit unseren Müttern spazieren. Was hätten wir sonst tun können. Manche Einheimische guckten scheel auf uns „Müßiggängern,“ und einige riefen unseren Müttern „Bombenweiber“ hinterher.
Doch dann, kam als erster Onkel Wilhelm auf Urlaub dorthin. Meine Mutter grämte sich, dass mein Vater noch keinen Urlaub bekommen hatte. Doch eines Tages, wir saßen beim Frühstück im Gasthaus >Zur Post



1998






Anruf von Hedi, plus Heimdame zum wählen der Nummer. Ob ich das Schreckliche noch nicht gehört hätte. Alle Geschäfte, alle Arztpraxen, ja jeder Betrieb hätte geschlossen. Die Menschen auf der Straße würden alle zu ihrer Mutter nach Hause rennen... Bürgerkrieg? Ich bin schon so verblödet, dass ich mir die nächsten Nachrichten anhöre. Nichts natürlich. Der zweite Anruf: „Alle im Heim kommen mit leeren Taschen vom Einkauf zurück. Alle schimpfen. Die „Pro“ (Produktion) hat auch geschlossen.“
Und was war es nun wirklich? Inventur bei der Pro!
„Was macht deine Freundin Grete“, frage ich. „Die ist mit ihrem Vater ausgegangen.“
Ich habe für diesen Tag genug gehört und glaube, nun ist der Wahnsinn total ausgebrochen. Als ich abends noch einmal das Terrain per Telefon vorsichtig erkunde, spielt Hedi putzmunter mit Grete und Hermann Würfeln!

Mein Vater kam ein letztes Mal 1944 auf Urlaub. Er trug mich huckepack durch den Stadtpark, obwohl Hedi meinte, dass ich dafür doch schon viel zu groß wäre. Auch im Ernst-Drucker-Theater (heute St. Pauli Theater) waren wir und haben die „Zitronenjette“ gesehen. Das waren schöne Tage als vollständige Familie. Doch dann war sein Urlaub vorbei und er musste wieder zurück. Als Hedi ihn zum Hauptbahnhof begleitete und abschiednehmend auf dem Bahnsteig stand; lehnte mein Vater sich aus dem Fenster des Abteils und sagte zu ihr: „Wenn ich nicht wiederkommen sollte, dann bleib nicht allein, das ist zu schwer für dich.“ Verweint sah sie zu ihm auf, und so sagte er beruhigend: „Aber ich komme wieder, das fühle ich.“ Sie aber hatte plötzlich die Vision eines Totenkopfes vor Augen, und es wurde ihr zur Gewissheit, dass er nicht wiederkommen würde.


Der Mensch gibt die Hoffnung jedoch nie auf und so sind auch wir nach dem Krieg zum Hauptbahnhof gegangen, um die Ankunft der ersten Heimkehrertransporte mitzuerleben. Vielleicht, vielleicht, könnte er doch dabei sein.
Es war schrecklich, die abgezehrten, zerlumpten Gestalten, mit Fußlappen, statt Stiefeln an den Füßen, auf die wartende Menge zuwanken zu sehen. Noch schrecklicher war es, zu sehen, wie sich überglückliche Menschen in die Arme fielen und wir nur Zaungäste
waren. Wir sind nie wieder hingegangen!

Als es 1944 Herbst wurde, sollte auch meine Mutter in einem Rüstungsbetrieb arbeiten. Sie ging hin, stellte sich vor und fragte sogleich, was inzwischen mit ihrem Kind geschehen sollte. Man sagte ihr, dass ihr Kind in der Zeit, in einem Kindergarten sehr gut aufgehoben wäre, und dass die Kindergärtnerinnen sofort bei Fliegeralarm mit den Kindern in den Luftschutzkeller gehen würden. Der Gedanke, dass wir bei einem Angriff getrennt wären, war ihr unerträglich. Noch am selben Tag, ging sie mit mir zum Sitz der NSDAP (National Sozialistische Deutsche Arbeiter Partei) in die Preisstraße, und ließ uns für eine Evakuierung eintragen. Innerhalb einer Woche waren wir
unterwegs nach Niedersachsen, wo wir dann das Kriegsende erlebten.

Hier ein Feldpostbrief meines Vaters, den er mir zu meinem neunten Geburtstag schickte.

Hohenstein d. 18.07.44

Meine kleine süße Edith.
Zu deinem Geburtstag muss ich dir doch schnell mal schreiben. Erst mal gratuliere ich dir herzlich zu deinem neunten Geburtstag. Es ist so schade, dass ich nicht bei der Feier dabei sein kann, aber nächstes Jahr bin ich bestimmt wieder dabei. Neun Jahre bist du nun schon, so bist du schon meine große Tochter. Schenken kann ich dir leider nichts, aber so wie ich mal was Schönes finde, werde ich dir sofort was schicken. Ich hoffe, dass du mit deinen kleinen Freundinnen eine kleine Feier bei Kaffee und Kuchen machst. Wie geht es dir sonst, an die Schule denkst du wohl gar nicht mehr, wird aber Zeit, dass du mal wieder was lernst.* Über deine Rollschuhe hast du mir noch gar nichts geschrieben. Warst du schon mal wieder bei Oma? Spielst du noch viel unten, oder ist das Wetter schlecht? Nun wollen wir bald hoffen, dass der Krieg zu Ende geht, dass ich wieder bei euch sein kann. Es grüßt und küsst dich dein Papi. Einen schönen Gruß an Mutti.



*Der Schulunterricht war wegen der vielen Bombenangriffe
zeitweilig ausgefallen.



Weihnachten 1945




Aus der Evakuierung zurück, aus Niedersachsen nach Hamburg, bekamen wir vom Wohnungsamt ein Zimmer zugeteilt, in einer Dreizimmerwohnung in Altona.
Das zweite wurde von einem Ehepaar und das dritte von einem Eisenbahner bewohnt. Die Küche, die gemeinschaftlich genutzt werden musste, hatte sich das Ehepaar als ständigen Tagesraum ausgesucht, da sie der Meinung waren, dass ihnen eigentlich die ganze Wohnung zustände. So gab es ständig Konflikte, wenn wir Wasser brauchten oder sogar Kochen mussten. Nach ihrer Meinung, störten wir ganz unberechtigt ihre Privatsphäre. Der Eisenbahner, der aus beruflichen Gründen wenig zu Hause war, und der uns und dem Ehepaar öfter einen Eimer Kohlen vor die Tür stellte, - Kohlen waren damals mehr Wert als Gold - störte natürlich nicht. Sie scharwenzelten um ihn herum, so dass er sich gar nicht vorstellen konnte, wie sie uns drangsalierten. Wenn meine Mutter mit Diplomatie die Situation zu entschärfen versucht hätte, vielleicht wäre es etwas besser geworden. Aber sie blies ihrerseits zum großen Gefecht, wie auch noch in anderen Lebenslagen in späteren Jahren. Sie war eigentlich immer sehr angriffslustig.

In diese Atmosphäre, fiel nun das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg. Onkel Mandus hatte für mich eine Puppenstube gebastelt und brachte sie am frühen Nachmittag vorbei. Er konnte nicht auf die Bescherung am Abend warten, wollte aber, verständlicherweise, meine Freude über sein Geschenk erleben. So zog meine Mutter die Vorhänge zu, zündete die Kerzen an dem kleinen Bäumchen an und ich freute mich dann auch. Das heißt, ich freute mich wirklich. Ich hatte ja kaum Spielsachen. Als Onkel Mandus gegangen war, meinte meine Mutter, nun könnten wir auch mit der Bescherung fortfahren. Die Kerzen würden nun einmal brennen, und Ersatz hatten wir kaum. Ich drehte mich also zur Puppenstube um, und meine Mutter baute ihre wenigen Gaben für mich, hinter meinem Rücken auf.
Während in mir nun wirkliche Weihnachtsstimmung aufkam, trotz der ungewöhnlichen Tageszeit, ich meine Puppe mit den neuen Kleidern bewunderte und mich über ein neues Buch freute, schlug meine Mutter plötzlich die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Erschrocken wollte ich sie umarmen und trösten, aber sie sagte nur: „Spiel ruhig weiter, es ist nur, weil Papa nicht wiederkommt.“
So ist es unzähligen Frauen ergangen: Plötzlich allein gelassen, in einer zerstörten Welt. Wer weiß, wie viele betagte Frauen heute verwirrt in den Altenheimen sitzen, sich und anderen zur Last. Daran ist dieser schreckliche Krieg mit schuld, der, obwohl schon so lange her, immer noch seine verheerenden Auswirkungen zeigt.

Als ich meinen Kindern, die Briefe meines Vaters an mich, einmal vorlesen wollte, damit sie einen kleinen Eindruck ihres leider nie gekannten Großvaters bekämen, sagten sie mit Tränen in den Augen, dass es sie so traurig machen würde und sie umarmten mich, voller Mitleid mit dem Kind, das ich einmal gewesen war.

Ja, das Kind, das ich einmal gewesen war... Nach dem Krieg wurde ich zwangsläufig ein Schlüsselkind. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, erwartete mich keine Mutter mit dem Mittagessen. Sie musste ja arbeiten. Ich schlich dann an der Küche dieses dominanten Ehepaares vorbei in unser Zimmer und schloss hinter mir die Tür zu. Meistens aß ich mittags Zwieback in Milch getunkt, oder rohe Haferflocken mit Zucker gemischt. Wir hatten sehr viele Schulaufgaben zu machen, die eigentlich den ganzen Nachmittag beanspruchten; da ich aber kein ehrgeiziges Kind war, machte ich nur die Aufgaben, die uns von strengen Lehrkräften gestellt worden
waren. Die anderen nuschelte ich so dahin, und Englisch machte ich überhaupt nicht. Die Lehrerin war so ein gutmütiges Schaf – wie ich annahm - dass es mich dann doch in den Urfesten erschütterte, als sie mich bei der Versetzung mit einer Fünf bedachte. Nach den Aufgaben, spielte ich mit meiner Puppe Mutter und Kind, wobei ich als Puppenmutter sehr viel strengere Maßstäbe anlegte, als an mich selbst. Schien dann die Sonne, ging ich meine Mutter vom Betrieb abholen. Mein Weg führte mich durch die Gr. Bergstr. über St. Pauli Reeperbahn zum Michel. Unterwegs bin ich nur auf nette Leute gestoßen. So ein Sündenbabel wie heute, war es damals noch nicht. Kinder wurden nicht entführt. Wir, meine Mutter und ich, gingen manchmal in einem Kellerlokal Würstchen und Kartoffelsalat essen, weil es dort besonders gut schmeckte. Das war durchaus nicht anrüchig. In der Firma angekommen, machte ich einen Knicks vor der Sekretärin und wurde dann freundlich eingelassen. Ab und zu traf ich den Firmenchef, der mir freundlich auf die Wange klopfte mit einem: „Na, du willst wohl zu Mutti.“ Die Kolleginnen meiner Mutter, waren ebenfalls sehr nett zu mir. Auf dem Heimweg, kaufte meine Mutter mir meist noch an einem Karren Obst oder spendierte ein Eis. Einige Male gingen wir sogar in ein Café, das verlockend schöne Torten in der Auslage hatte. Leider konnte es nicht immer so sein. Sie musste oft plötzlich Überstunden machen, konnte mich aber nicht benachrichtigen. Telefon hatte noch kein normal Sterblicher. Dann stand ich, je später es abends wurde, Todesängste aus. Sicher war ihr etwas passiert, solange konnten doch die Überstunden nicht dauern. Einmal, es war schon Mitternacht vorbei, schluchzte ich in mein Kissen, da hörte ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Das musste sie sein! Ich atmete auf und mein Blick hing an der Zimmertür, die sich gleich öffnen würde. Zu meinem fassungslosen Entsetzen, wurde die Tür des Eisenbahners, der vom Spätdienst kam, geöffnet und wieder geschlossen. Nun kannte mein Jammer keine Grenzen mehr. Die Enttäuschung war zu viel für mich. Als sie kurze Zeit später wirklich kam, traf sie nur noch ein jammervolles Bündel an und hatte viel zu tun, mich zu trösten.
Ich war nicht immer allein, ich hatte auch Freundinnen, zu denen ich ab und an gehen konnte. Besonders eine, deren Eltern sehr freundlich waren, und deren Vater uns oft bei den Schularbeiten Hilfestellung gab. Ja, und dann war da ja noch meine Oma, die ich besuchen konnte.

Obwohl Hedi doch schon sehr wirr im Kopf ist, findet sie den Weg zu uns und Susann immer noch. Es ist in Winterhude, und dort ist sie aufgewachsen.
Sie kommt im Schneeregen zu uns. Unser Mittagessen schmeckt ihr nicht. Kennt sie nicht. Hat sie noch nie gegessen! Dabei gibt es Rotkohl mit Braten. Lieber isst sie die Linsensuppe vom Vortag. Danach zieht sie das Set unter dem Teller hervor und benutzt es als Serviette.
Nachmittags sind wir bei Susann eingeladen. Es gibt Kaffee und Kuchen. Danach Dias von den Enkeln zu sehen. Susann versucht alles, um ihre Omi Hedi zu unterhalten. Aber Hedi guckt nur abwesend. Mit dem Taxi bringe ich sie zum Heim zurück. Ich bin genervt. Es ist traurig, diesen psychischen Verfall zu sehen, aber für das Umfeld auch nicht leicht zu ertragen.
Als ich mich verabschiede, sagt sie zu mir: „Du bist heute gar nicht wie meine Mutter.“ „Bin ich ja auch nicht,“ sage ich. Nach einigem Nachdenken werde ich doch noch als Tochter erkannt.

Eines Tages, als sie besonders griesgrämig aussah, kam der Spruch: „Ihr lasst euch das schönste Essen schmecken, und ich muss hier verhungern!“



Anno 1920




Essen mochte meine Mutter schon immer gern. Schon als kleines Kind, wie sie mir erzählte, versuchte sie mit den großen Brüdern mitzuhalten. Die Folgen waren meist Bauchweh. Ihre arme Mutter, die vollauf mit der achtköpfigen Familie zu tun hatte, musste sie ins Bett stecken und ihr eine Wärmflasche auf den Bauch legen. Danach erholte sich Hedwig schnell und versuchte unter der Bettdecke, mit einer Taschenlampe, ein Buch zu lesen. Da das Buch so spannend war, hatte sie dann am nächsten Morgen eben immer noch Bauchweh. Sie brauchte nicht in die Schule zu gehen, und las den ganzen Vormittag, bis das Buch zu Ende gelesen war. Dann allerdings wurde es langweilig und sie quälte ihre Mutter aufstehen zu können, zumal die Stimmen der spielenden Schulfreundinnen von der Straße heraufdrangen. Da aber biss sie bei meiner Großmutter auf Granit. „Wenn du heute morgen wegen Unwohlseins nicht in die Schule gehen konntest, kannst du jetzt nicht auf der Straße spielen.“
Wohl oder übel musste Hedwig in der Wohnung bleiben und langweilte sich grässlich. Am Abend
brachten die guten Brüder – für die vermeintlich kranke Schwester - kleine Geschenke mit, mit denen sich Hedwig dann auf die Fensterbank hinter den Vorhang, zurückzog, um im Schein der Gaslaterne ihre Beute zu betrachten. Bogen mit Anziehpuppen, eine Garnitur, Bürste, Kamm und Milchfläschchen für die Babypuppe usw. das Bauchweh hatte sich also doch gelohnt.

1920 war Hedwig zehn Jahre alt. Für ihr Alter ziemlich klein und schmächtig, das fand auch der Schularzt, der eine Reihe von Kindern für einen Erholungsaufenthalt nach Holland zusammenstellte. Hedwig kam also in das Land der Windmühlen, in eine gutsituierte Künstlerfamilie. Die Frau des Kunstmalers, legte ihren ganzen Ehrgeiz darein, das deutsche Kind, man muss schon sagen, förmlich zu mästen. Große Becher mit Kakao, Zwiebäcke, so groß wie ein Essteller, dick mit der unvergleichlichen Holländer Butter bestrichen, Rosinenkuchen u. v. m. das war selbst für Hedwig eine Nummer zu groß; so saß sie am Frühstückstisch, bis es Zeit zum Mittagessen wurde. Die gute Frau war eisern, es musste alles aufgegessen werden. Danach muss Hedwig Magenerweiterung bekommen haben, denn seit dieser Zeit konnte sie zu jeder Tageszeit essen. Nach einem halben Jahr Erholung, trudelte also Hedwig auf dem Hamburger Hauptbahnhof aus dem Zug, direkt vor ihre Mutter, die sie nicht wiedererkannte. „Mama, Mama,“ rief das pummelige, pausbäckige Geschöpf, in dessen Gesicht die Augen, wie Rosinen im Kuchenteig, verschwanden: „Kennst du mich nicht mehr?“ Die Mutter konnte es kaum glauben. Das sollte ihre Hedwig sein, dieses kugelrunde Etwas? Von da an sollte ihre Mutter stets, seufzen: „Hedwig kann mehr essen als ihre Geschwister zusammen.“
Auch eine schlecht verheilte Narbe am Kinn erinnerte Hedi stets an Holland. Sie hatte dort einmal wahnsinnige Zahnschmerzen im Unterkiefer bekommen, aber noch größere Angst vor dem Zahnarzt gehabt. Sie ließ sich nichts anmerken, obwohl ihr das Essen zur Qual wurde. Nachts weinte sie in ihr Kissen und fand vor Schmerzen keinen Schlaf.
Nach Tagen voller Leiden wachte sie eines morgens auf. Der Schmerz hatte fast nachgelassen, aber unter ihrem Kinn hing ein blutiger, eitriger Hautbeutel. Die entsetzte Hausfrau stürzte mit Hedi zum Arzt, der sie wiederum zum Zahnarzt weiter schickte.
Dort stellte der Dentist fest, das sich an einer Zahnwurzel eine Fistel gebildet hatte. Die Natur hatte sich selbst geholfen indem die Fistel durch das Zahnfleisch und durch die Haut nach außen gewuchert war. Wäre der Eiter in die Blutbahn gelangt, wäre es tödlich ausgegangen.
Die Angst war und ist immer ein beherrschendes Element meiner Mutter.


Die folgenden Postkarten schrieb ich meiner Mutter ausdem Hotel Jacob.
Was die wenigsten Hamburger heute noch wissen: Das Hotel wurde nach dem Krieg von den Engländern requiriert und zum Erholungsheim für unterernährte Hamburger Kinder umgewandelt. Vier Wochen Kakao, Butterbrote, Suppen, Fleisch und Gemüse satt.
Zu unserem Leidwesen auch jeden Tag einen Esslöffel tranigen Fischlebertran. Danach einen Teller Haferschleim, der uns auch nicht sehr mundete. Vor dem Mittagessen einen Spaziergang am Elbstrand, der dick mit Eisschollen bedeckt war. Damals herrschten strenge Winter. Mit unseren, meist aus Wolldecken gefertigten Mänteln, langen Wollstrümpfen, Mützen und Handschuhen, die unsere Mütter aus aufgeröppelter Wolle von alten Pullovern gestrickt hatten, waren wir, im Vergleich zu heute, recht unzulänglich gekleidet.
Nach der ersten Begeisterung über die sich türmenden Eisschollen und die Luftbrückenflieger, die - zurück aus Berlin - auf dem Wasser landeten, kroch uns die Kälte bald unbarmherzig durch die Kleidung. Der eisige Wind peitschte unsere Gesichter und wir quälten unsere Kinderschwestern, doch wieder ins Heim zu gehen. Doch das durften sie nicht. Wir hatten so und so lange (wie lange weiß ich heute nicht mehr) an der frischen Luft zu sein, das war gesund.
Ansonsten hat uns aber – meiner Cousine und mir – der Aufenthalt sehr gut gefallen. Nach anfänglichem Heimweh liebten wir unsere Schwester Erna sehr und vergossen beim Abschied von ihr, genau so viele Tränen, wie beim Abschied von unseren Müttern.


Nienstedten 11.1.47
Liebe Mutti.
Mir gefällt es hier sehr schön, wir gehen jeden Morgen spazieren. Gestern gingen wir am Hirschpark vorbei, da sind wir beide doch einmal im Sommer vorbei gegangen, und dann waren wir auf einem Teich und da haben wir uns eine Glitsche angelegt, schreib mir doch einmal wieder ob du meine vorige Karte bekommen hast.
Die Adresse von hier ist:
Hamburg-Nienstedten Elbchaussee 152 Hotel Jakob. German
Wenn ich wieder komme freuen wir uns alle beide das ich wieder da bin. Wir schlafen mit 6 Kinder zusammen Renate, Gertrud, Monika, Hannelore, Helga und ich. Heimweh habe ich fast gar nicht


1.) Karte Liebe Mutti Nienstedten: 25. 1.47
Ich habe deine beiden Karten erhalten, und auch deinen Brief. Und habe mich sehr dazu gefreut, von Wohlendorf bekam ich gestern auch eine Karte. In 6 Tagen bin ich schon wieder bei dir, hier ist es ja ganz schön aber bei dir ist es doch am schönsten am schönsten auf der ganzen Welt. Ich kann leider nicht mehr soviel schreiben deswegen schreibe ich dir auch Heute zum letzten mal aber dafür auch gleich drei Karten hoffentlich kommen sie alle zugleich an

2.)Karte Liebe Mutti. Nienstedten 25.1.47

Das mit diesem Brief wo du noch über geschimpft hast den wollte ich nämlich gar nicht wegschicken das kam so den Brief hatte ich nämlich aufn Dienstag geschrieben und Mittwoch kam von dir Post und da wollten wir den Brief nicht mehr wegschicken und da hat Schwester Lisa uns einen Streich gespielt und hat ihn doch abgeschickt und das haben wir gar nicht gewust bis ich deinen Brief bekam und da waren wir natürlich erstaunt
deine Tochter Edith

3.) Karte Liebe Mutti Nienstedten 25.1.47
Wir hatten heute einen kleinen Ausflug gemacht wieder nach dem Hirschpark und da ist ein kleiner See und da haben wir geglitscht das war ja schick und dann haben wir Verstecken gespielt hinter den Bäumen und denjenigen der suchen muste haben wir dann immer einen Schneeball ins Gesicht geworfen. Jede Woche kommt bei uns ein alter Pastor der erzählt uns auch Märchen, und vom Jesus wie er noch ein Kind war. Nun viele herzliche Grüsse bis ich wiederkomme sendet dir
Deine Tochter Edith!




Diesen Brief schrieb mir meine Mutter ins Hotel Jacob.

Hamburg d.18.01.47

Meine liebe Edith.
Heute ist Sonnabend und ich bekomme gerade den dritten Brief von dir, aber da habe ich mich ja nicht gefreut. Ich habe dir doch extra gesagt, du darfst dir doch keine Gedanken machen und außerdem habe ich doch geschrieben, und Tante Elly auch an Helga. Ich will ja nun hoffen, dass dieser Brief ankommt, denn warum soll ausgerechnet unsere Post nicht ankommen? Ich wüsste nicht warum. Von dem Jungen, der bei euch weggelaufen ist, ist es ja sehr ungezogen, da wird die Mutter sich bestimmt nicht freuen, wenn er nach Hause kommt. Denn was sind das für Laufereien zum Wirtschaftsamt.
Heute in 14 Tagen bist du schon wieder hier. Und ihr bekommt da solch feines Essen, wie Helga schreibt.
„Kartoffelsalat mit Ei.“
Gestern war ich in der Schule und habe dich entschuldigt. Ich habe mit Fräulein Lange gesprochen während der Schulspeisung, denn Eure Schule in der Herderstraße ist noch nicht im Gange. Hier in Winterhude, gehen die Kinder schon wieder hin. Von Edith Gomme soll ich dich grüßen. Von Frau Kopmann bekam ich auch Post, denn ich war gestern in Altona, aber nur für ein paar Stunden, einmal die Woche, sonst bin ich immer in Winterhude, bei Tante Elly. Frau Kopmann schreibt mir, dass sie deine Karte erhalten haben. Christa hätte sich Weihnachten zu dem Bilderbuch sehr gefreut, sie beguckt es jeden Tag. Onkel Mandus wollte auch an dich schreiben, wie Oma mir sagte.
Gretchen sagt, sie wäre auch gerne mit dir gefahren, das wäre ja auch schön gewesen, nicht Edith? Und nun will ich den Brief einstecken gehen und zu Helga sagst Du, Tante Elly schreibt morgen, am Sonntag, und ich werde dafür sorgen, dass sie alle schreiben. Ilse, Inge und Gerda. Ich hatte mir vorgenommen, jede Woche einmal zu schreiben und habe es auch getan. Also, zweimal schreibe ich noch. Und nun, hörst du, keine Gedanken machen, du weißt doch, dass es mir gut geht. Ich schlafe in Helgas Bett und wenn du wieder hier bist und wir bleiben über Nacht in Winterhude, dann schlafen wir beide in Helgas Bett. Tante Elly sagt, Inge soll dann bei Gerda schlafen und Helga bei Ilse.
Und nun meine liebe Edith, grüßt dich von Herzen Deine Mutti, grüße Helga, und ich soll dich von allen anderen auch noch grüßen. Ich freue mich, dass du solch schönes Essen hast. Nun, wenn du den Brief bekommst, wirst du wieder gerne da sein mögen, sonst erholst du dich ja gar nicht.
Von Gerda liegt schon eine Karte bei für Helga.



(Tante Elly ist 90 Jahre alt, geistig vollkommen klar und mit ihren vier Töchtern, meinen Cousinen, habe ich weiterhin guten Kontakt.)


Auch meine Cousinen schrieben Karten. Hier eine kleine Kostprobe:

Liebe Ediht u. Tante Hedi

Ich habe mich sehr zu Eurer Post gefreut. Wir haben Sonntag ein Ei bekommen. Und wir duschen jeden Abend. Liegekur machen wir auch. Ich schlafe mit 15 Kindern in Zimmer. Und es ist viel Wald um dem Heim. Sonntag haben wir 2 Bonbons bekommen. Viele Grüße und Küße Eure Inge.

Kinderheim Hansenbarg/ Hanstedt




Sitze mit Hedi im Café um mal eine andere Umgebung zu haben. „Erzähl mir doch was, du erzählst aber auch gar nichts,“ nörgelt Hedi. Ich zermartere mir das Hirn, was soll ich erzählen? Sie versteht nichts mehr, oder missversteht, natürlich negativ. Mir wird heiß unter ihrem beharrlichen Blick auf mich. Ich kann heute nicht damit zurecht kommen. Da wird plötzlich ans Fenster geklopft, Sylvia! Mir rollen einige Zentnersteine von der Brust. Unterstützung naht. Als Sylvia am Tisch Platz genommen hat, rückt die Aufmerksamkeit vorübergehend auf sie, und ich kann mich wieder einkriegen.
Auf dem Rückweg zum Altenheim schlage ich vor, einiges für Hedi einzukaufen. Großes Gejammer. „Nein, dann läuft die Zeit weg und dann bin ich wieder allein. Ich bin ja immer allein!“
Kopfschüttelnd gehen wir ohne Einkäufe weiter. Man kann nichts für sie tun. In ihrer Wohnung sage ich: „Gib mir mal den Schlüssel zum Schrank, damit ich uns Gläser herausholen kann.“ Den Schlüssel hat sie in ihrer Handtasche, weil imaginäre Personen ihr sonst den Inhalt des Schrankes stehlen würden. Es ist nichts von Wert darin. Sie wühlt panikartig in ihrer Tasche und reicht mir einen Kugelschreiber zum Aufschließen.
Als ich ihr sage, dass ihre Perücke heute gut sitzt, will sie sich im Spiegel besehen. Sie nimmt den Speiseplan des Heimes vom Tisch und hält ihn vor ihr Gesicht. „Ich kann nichts sehen darin,“ sagt sie, und sucht weiter in ihrer Tasche. Meine Hoffnung, dass sie doch noch einen wirklichen Spiegel sucht verrinnt, als sie ihre Krankenkassenkarte hoch hält und zu Sylvia sagt, dies wäre der wichtigste Teil in ihrer Tasche. Gut, dass sie darauf noch aufpasst. Danach wird die Tasche noch einige Male aus- und eingepackt. Panikartig vermisst sie jedes Mal einen anderen Gegenstand. Sylvia und ich sehen uns verzweifelt an. Immer wieder versuchen wir ein Gespräch mit ihr zu führen. Es prallt an ihr ab. Zuletzt sagen wir gar nichts mehr und haben nur den einen Wunsch, zu gehen. Dann kommt wieder der Spruch an mich: „Du bist so anders, letztes Mal warst du ganz anders.“ Endlich ist es soweit, ich sage: „ Du gehst ja jetzt zum Abendbrot in den Speisesaal, und wir gehen nach Hause.“ „Abendbrot,“ echot sie, „den Fraß! Nun bin ich wieder allein. Ich bin ja immer allein.“
Nun frage ich Euch, die ihr dieses vielleicht einmal lesen werdet, was kann man noch tun? Ich weiß es nicht und bin fix und fertig. Sie tut uns leid, natürlich, aber helfen ist unmöglich. Daher ist es eine Wohltat, den 92-jährigen Hermann, auf seine Gehhilfe gestützt, zu treffen. Er kann schlecht sehen und hören, aber er ist erfrischend klar im Kopf. Ich umarme ihn spontan. Er freut sich uns zu sehen und sagt: „Bin auf dem Weg zum Abendessen, (also doch kein Fraß?) Geht’s gut? Na ja, wie es eurer Hedi geht... brauchen wir nicht drüber zu reden.“
P.S. Im Café, hatte sie mir wieder die Gruselgeschichte aufgetischt, dass jeden Abend der freche Kerl (?) auftaucht, an ihre Tür klopft und ihr Geld will. Sie würde das niemandem im Heim mehr erzählen, weil die anderen es ihr nicht glaubten. Sie verbarrikadiert ihre Wohnungstür wie gehabt. Fazit: Der Umzug in den zweiten Stock war ein Schuss in den Ofen!

Beim nächsten Besuch ist wieder keine Verständigung möglich. Um die Geschirrvitrine zu öffnen, brauche ich den Schlüssel, den sie in ihrer Handtasche aufbewahrt. Sie gibt mir eine Nagelschere zum Aufschließen!



Oma




Die Schauenburger Straße in Altona war in der Vorwährungszeit eine einzige Trümmerlandschaft. Teils standen noch die Fassaden der einstigen Wohnhäuser, doch durch ihre leeren Fensterhöhlen strich der Wind. Von der Schauenburgerstraße ging die Müllerstraße ab, in der einige Häuser von den Bomben verschont geblieben waren. In einem dieser Häuser wohnte meine Großmutter, in einem ehemaligen Kohlenkeller. Zweimalige Ausbombung hatten Sie, die in jungen Jahren ein Faible fürs Umziehen hatte, hier her verschlagen.
In der Erinnerung gehe ich, damals 12 Jahre alt, wieder die ausgetretenen Steinstufen hinunter. An der Tür das Namensschild „Henny Riemann“. Ich komme in einen Vorraum in dem ein gusseiserner Herd steht, dessen Platte Oma fast weißglühend zu heizen versteht. In der rechten Ecke ein Kabuff in dem das WC. ist. Dieses Kabuff riecht immer modrig und feucht trotz Omas Reinlichkeit. Links geht eine Tür in den eigentlichen Wohnraum. Drinnen steht ein Rosshaarsofa, ihm gegenüber ein Ungetüm von einem Sessel, dazwischen ein Tisch. Über dieser Sitzgruppe ist das Fenster. Man sitzt also unten und guckt zum Fenster hoch. Wenn Leute vorbei gehen, sieht man nur bis zur Höhe ihrer Waden. Es gibt noch eine Kommode mit vielen Schubladen und einen Küchenschrank, den Oma alle Vierteljahr neu anstreicht. Da sie leidenschaftlich gerne umräumt, steht er einmal an der Längswand und das nächste mal wieder an der Querwand. „Kiek, ick hebb dat Schapp mol quittengelb molt, dor achtern an de Wand süht dat nu glieks veel heller ut.“ Achtern geht es in ein Zimmer mit Fenster zum Hinterhof, durch das kaum Licht einfällt. Hier steht Omas bei der Ausbombung gerettetes Schlafzimmer und hier schlafe ich bei ihr, wenn meine Mutter zum „Hamstern“ nach Niedersachsen fährt. Über den Betten hängt eine altmodische Wanduhr, die ich innig hasse, weil sie alle Viertelstunde zum Gong ausholt. Das hört sich so an: Erste Viertelstunde ging gong, zweite Viertelstunde ging gong, ging gong, dritte Viertelstunde dreimal ging gong, dann die volle Stunde viermal ging gong plus Stundenanzahl. Viel schlafe ich nicht in diesen Nächten und deshalb bettele ich Oma auf dem Rosshaarsofa schlafen zu dürfen. Verwundert erlaubt sie es mir. Was sie nicht weiß, ich kann auch dort nicht schlafen. Das Sofa ist viel zu schmal. Die Decke rutscht ständig auf den Boden und ich hinterher. Doch den Störenfried über mir bin ich los. Im Winter fällt die Schule wegen Kohlenmangels aus und ich kann mit Oma frühstücken. In das Frühstück platzt Tante Frieda mit ihrer großen Tasche, aus der sie jede Menge Streichkäse und Margarine holt. Ihr Mann, Onkel Paul, arbeitet bei Butter Mohr in Bahrenfeld. Er schiebt ausschließlich Nachtschichten in der Fabrik. Nachts postiert sich Tante Frieda an der Fabrikmauer und Onkel Paul muss ihr reichlich Produkte der Firma hinüberwerfen. Wehe, es klappt einmal nicht, weil es Kontrollen gibt, dann fällt sie zu Hause mit dem Kochlöffel über ihn her. „Du Dösbüttel du, wat hest du di dorbi dacht will ick weeten he?“
Paulsche hat eine Heidenangst vor ihr und lässt sich alles gefallen. Er hatte in seiner Jugend-Maienblüte Frieda ein Kind gemacht und wollte dann den Wechsel – sprich Heiraten, nicht einlösen. Da kannte er aber Oma schlecht! Frieda war heulend zu Oma gerannt. “Modders, he will mi nich heiroten, ober sin Sposs denn hett he hat. Wat nu?“
Oma war, im Gegensatz zu anderen Müttern, nicht der Auffassung ihre Tochter hätte sich etwas vergeben, sondern im Gegenteil versucht sich einen Ehemann zu angeln, der sie versorgen würde und Oma die Sorge für diese Tochter abnahm. Oma sah auf die damals schon anwesende Wanduhr und griff sich zur Zeit den „Leuwagen“(Schrubber). Sie pflanzte sich im Hofeingang, durch den Paulsche von der Arbeit kommen musste auf, und fiel dann mit der Vehemenz des: „Noch nicht, aber bald Schwiegermutterdrachens“ über ihn her. Sie prügelte ihn durch die Hinterhofterrasse, wo alle Fenster aufflogen, sämtliche Rotznasen von Gören zusammenliefen und Hochstimmung sich ausbreitete.
„Wat wullt du? Min Mäken nich heiroten? Dat hest du di woll dacht!“
Die Terrasse stand Kopf. Endlich gäv dat wat to kieken. Unter dem Gejohle der Menge, gab Paulsche klein bei und hatte nie wieder etwas zu melden! Frieda wurde seine Frau und sie bekamen noch zwei Kinder.
Doch für Frieda, gab es nur einen Mittelpunkt im Leben: Der war bei Oma!
Sie kommt fast jeden Tag, hält sich stundenlang auf und dabei wird über die abwesende Familie hergezogen. Oma hat, außer Frieda, noch mehr Kinder. Fünf Söhne und vier Töchter. Mein Vater, Omas Bester, „Min Ernie,“ gilt als vermisst. In Russland verschollen.
Tante Frieda ist das, was man „ganz einfach gestrickt“ nennt, aber mit einem gehörigen Schuss Bosheit durchzogen. Manche Begriffe frisiert sie auf ihre eigene Art um. Oma kocht noch einmal Kaffee, denn dank Friedas Tauschobjekte von Butter Mohr, geht der Kaffee bei Oma nicht aus, und Frieda erzählt von der feuchten Wand in ihrer Behelfsbehausung. „Ick heff... heff, den swatten Peter an de Wand,“ (Salpeter) stottert sie. Ich stell mir das natürlich bildlich vor. Auf Omas Frage: „Wat wüllt wi denn to´ n Middag eeten?“ Packt Frieda noch´ n Paket aus. „Ick heff mi n... n Pund Karbonod holt, äh n halbes.“ In welcher Tauschwährung sie die erstanden hatte, wird nicht klar.
Während ich mit zunehmendem Herzklopfen zu tun habe, selbstverständlich kriegt das Kind auch Bohnenkaffee, schwärmt Tante Frieda vom vergangenen Sommer, wo sie „nen... nen, Schüttelfrost voll Brombeeren“ gesammelt hätte. „Du meenst woll ne Schüssel voll,“ hör ich Oma noch kopfschüttelnd sagen, dann packt mich die Lachlust und ich stürze nach draußen.
Wenn die Bauernrosen blühen, fällt mir auch heute noch, unweigerlich Omas Geburtstag ein.
Dann traf sich alles was Beine hatte „Bi Modders“ in Keller. Oma unentwegt am Herd Kaffee aufbüddelnd. Der Duft des feuchten frischgebackenen Napfkuchens, mischte sich mit dem des frisch aufgegossenen Kaffees und dem Duft der besagten Bauernrosen. Es ging höchst vergnügt im Keller zu.
Da war Martha, Omas älteste Tochter, eine große überschlanke Frau. „Gev mi man n Buddel Beer,“ und ihr bildhübscher Mann Willi, dessen schwarzen Lockenkopf ich immer so bewunderte. Als Schwiegersohn war er bei Oma gut angeschrieben, während die Schwiegertöchter in ihren Augen allesamt nichts taugten. Schließlich hatten sie ihr die Söhne weggenommen, die Oma als gute Einnahmequelle gerne behalten hätte. Greta, die zweite Tochter, Witwe von Gasmann Walter, war auch kein Kind von Traurigkeit. Auf dem Höhepunkt ihrer Stimmung, folgte das Flohlied, mit dem sie Friedas Gestotter unterbrach. „Oh, Oh, Oh, du armer Floh, du hast sechs Beine und du hüpfst noch so,“ schmetterte sie in die Runde. „Bravo,“ klatschte Mandus, eigentlich Amandus, in die Hände und stimmte seine Lieblingsmelodie „Das Schwalbenlied“ an. Er war von seinem Tenor sehr beeindruckt und brachte sein Talent auf jeder Festivität an. Mandus umgab ein Hauch der großen weiten Welt. Er war zur See gefahren. Jetzt ging er an Land auf Freiersfüßen. Er mochte meine Mutter sehr und sprach davon, wenn Ernie nicht wiederkäme, würde er gerne die Frau seines Bruders heiraten und mir ein zweiter Vater werden. Die Tränen der Rührung traten ihm dabei in die Augen. Trotz allem Pathos, er meinte es ehrlich. Oma aber war entsetzt. „Dat geiht nich, min Ernie kummt wedder, dat weet ick und wat denn?“
Auch meine Mutter glaubte, was so unendlich viele Frauen damals hofften, „Mein Mann kommt wieder!“ Er kam nicht wieder, und Mandus heiratete eine Frau namens Lola, bekannt in allen Bars, und wurde Pantoffelheld.
Wenn ich an diesem Festtag, „Omas Geburtstag,“ die Treppe hinunter stolperte, zur Feier des Tages frisch gekämmt und mit dem unvermeidlichen Strauß Bauernrosen versehen, verstummte für einen Augenblick das fröhliche Treiben. „Ich gratulier auch zum Geburtstag Oma,“ sagte ich schüchtern. Sie strich mir übers Haar und rief gebieterisch: „Nu weest mol still, hier is uns Ernie sin Dochter!“
Augenblicklich senkte sich Grabesstille über die Sippe. „Ach jo uns Ernie, ne, ne, dat he ok nich wedder kummt.“ „Kiek mol ehre Oogen, ganz Ernie, von Hedi hett se rein gor nix.“ So redeten sie alle durcheinander. Für sie war ich im Moment die Verkörperung Ernis, dessen Augen durch mich auf sie blickten. Ich trat von einem Bein auf das andere, weil mich die Aufmerksamkeit aller verlegen machte. „So, nu et man n scheunet Stück Kooken, bist jo veel to dünn,“ sagte Tante Greta, und Oma goss mir dazu den Herzklopfenkaffee ein.
Nach einer Weile hatten sie meine Anwesenheit vergessen und lärmten, lachten und prosteten sich weiter zu. Später kam Gustav. Ein schmächtiger, rothaariger, mit Sommersprossen besäter Mann in den Vierzigern. Vater von sechs Kindern, „die, Gott sei Dank,“ so Oma, mit ihrer Mutter im Wandsbeker Behelfsheim geblieben waren. „Denn wenn alle Gören hier ok noch antanzen, dat holl ick nich ut!“ Gustav machte sich heißhungrig über den Napfkuchen her – wo sechs Mäuler zu stopfen sind, bleibt für den Erzeuger nicht viel übrig – und nickte dabei eifrig mit dem Kopf in die Runde. „Hest Recht Mandus.“ „Jo Modders, schmeckt fein din Kooken.“
Dann kam noch Kalli, der Älteste, und beglückwünschte Oma in wohlgesetzten Worten: „Zu deinem Geburtstag und zu deinem blendenden Aussehen,“ was sie mit den Worten abtat: „Ach wat, ick bin ne olle Fruu und kieken kann ick ok nich mehr richtig.“ Kalli hatte Hertha, eine der ungeliebten Schwiegertöchter, mitgebracht. Von ihr ging das Gerücht, dass sie heimlich rauchte, das war doch empörend, zumal Martha wie ein Schlot qualmte, aber das war ja schließlich ganz was anderes, nich wahr.
Endlich ging für Oma die Sonne auf. Jonny, ihr Jüngster, ihr Herzblatt, „Min Goldjung,“ stürmte in die Versammlung, und war sofort der Mittelpunkt um den sich alles drehte. Ein junger, flotter Mann, Anfang der Dreißig, mit blonden Locken und unternehmungslustigen blauen Augen. Frauenheld, obwohl Frau und Kinder, Hans Dampf in allen Gassen. Ein Clown der das Leben leicht nahm, aber auch ein kleiner Ganove, der vor der Währung andern Leuten die Kaninchen aus den Ställen klaute, und den Teppich von der Stange. Alle Skrupel mit einem Höllengelächter beiseitefegend. Man konnte ihn verurteilen oder nicht, doch man erlag seinem unbezwinglichen Charme.
Jonny wohnte in der Nähe, auch in einem Keller eines Hauses, das umgeben von Ruinen war. „Ick mut Je wat vertellen,“ fing er an. „Gestern speelt min Lütt im Klo, dor is jo noch am meesten
Platz in uns „Beletage,“ Op eenmol hör ick, wie se seggt: „Ei Muschi, ei liebe Muschi.“ Ick mook de Dör op und denk noch, wi hebbt doch gor ken Kat, dor sit doch im Klobecken ne Riesenratt, und de Lütt davor und will dat Beest striecheln!“
Tante Martha fiel dekorativ in Ohnmacht. Greta und Frieda kreischten und Oma war leichenblass geworden.
Gustav fing sich als erster: „Ick har ne Kohlenschüffel nom und dat Vieh dothaut.“ „ Genau dat wull ick,“ seggt Jonny, „aber vorher mutt ick de Lütt dor rutrieten. Dat Beest keck mi glubsch an, und de Lütt krisch: „Böser Papa, böser Papa!“
As ick de Dör vosichtig wedder obmach, mit de Schüffel in de Hand, wer de Ratt verswunnen. Aber,“ fiel er ins Hochdeutsche, „die nächste Ratte krieg ich und dann leg ich sie Max Brauer (damaliger Hamburger Bürgermeister) vor die Tür!“
„Jo,“ bekräftigt Mandus, „dat kriegt Jonny fardig!“
„Wieso Max Brauer?“ fragt Tante Greta begriffsstutzig.
„Darum, weil wir immer noch in so n Rattenloch hausen müssen. Was hab ich mir schon die Schuhsohlen abgelaufen zum Wohnungsamt, alles umsonst. Es gibt keine Wohnungen für uns Hamburger. Erst kommen die Flüchtlinge dran,“ rief Jonny empört. Darauf trällerte Tante Greta: „Am dreißigsten Mai ziehen die Flüchtlinge weg,“ und alles fiel ein: „Wir tragen ihr Gepäck, wir tragen ihr Gepäck...“
Ja die Wohnungssorgen damals... Meine Mutter und ich bewohnten, wie ich schon berichtete, ein Zimmer in einer Wohnung ganz in der Nähe von Oma.
Die dicke Frau Bolte, eine vulgäre Frau in den Fünfzigern, und ihr Mann, ließen nichts unversucht uns aus der Wohnung zu graulen. Nur wo sollten wir hin, wir waren mit der Polizei (wie es damals üblich war) eingewiesen worden. Frau Bolte lauerte uns auf dem Flur auf und fuchtelte mit dem Besen herum, was mich natürlich zu Tode erschreckte. Als meine Mutter eines Abends in die Küche ging um zu kochen, fand sie beide Gasflammen von Frau Boltes Töpfen besetzt, die doch den ganzen Tag Zeit hatte zu kochen, während meine Mutter ja erst abends dazu kam. Es gab wieder einen lautstarken Streit, der damit endete, dass Frau Bolte uns eine Schüssel voll Wasser über die Köpfe goss und ihr Mann dazu grinste. Daraufhin war meine Mutter zur Polizei gelaufen und hatte um Hilfe gebeten. Der Polizeibeamte hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: „Beste Frau, wenn wir bei allen Mietstreitigkeiten heutzutage einschreiten wollten, dann könnten wir uns um nichts anderes mehr kümmern.“
Am besten wäre Eigenhilfe!
Das hatte Hedi weinend Oma erzählt, und Oma wieder ihrer Familie.
Heute nun, reifte plötzlich der Plan in den angeheiterten Köpfen: „Wir könnten doch der Olsch und ihrem Kerl, der de Lütt (damit war ich gemeint) ümmer so angrummelt, wenn se blot Woter ut de Gemeinschaftskök holen deit, mol ne Abreibung verpassen.“ „Wo is de Lütt?“ Ich spielte inzwischen vor der Tür Hinkebock mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft.
„Deern, kumm mol rin,“ rief Oma, und nun wurde ich Ahnungslose nach den Gewohnheiten der Boltes ausgefragt. Wann „Er“ von der Arbeit nach Hause kommt, wann „Sie“ einkaufen oder zu ihrer Herrschaft zum Putzen geht. „Dunnerslag, de Klock is veer und um fief, seggt de Lütt, kummt se beid no Hus. He von Hoben, und Se vun Reinemachen bi Herrschaften. Is god min Deern, denn go man wedder speelen.” „Kinner möt nich allens weeten.“
„Also Eigenhilfe,“ seggt Jonny, „dat könnt se hebben. Min Fründ is Preisboxer, momentan nich aktiv, de freit sick wi dull, sine Fäuste wedder to gebruken. Je weet jo, ick har dat geern sülben don, aber mine Rente, de ick for mine Verwundung kreeg, kann ick nich op´s Speel setten.“ Seine Kriegsverletzung bestand in einem Granatsplitter, der sich in seinen Rücken eingegraben hatte. Reihenweise, wären die Ärzte beim Anblick der Röntgenbilder in Ohnmacht gefallen! So Jonny. „Der arme Mann, wenn der Splitter wandert, kann es zur totalen Lähmung führen.“ Er hatte Glück, der Splitter ist Zeit seines Lebens nicht gewandert. Er hat später wieder im Hafen gearbeitet, gegen den Rat der Ärzte, und auf die Rente gepfiffen.
„De Olsch will ick woll kriegen,“ sagt Martha, und krempelt die Ärmel schon mal hoch. Gesagt, getan. Man bricht auf. Neugierig, wo die wohl alle hin wollen, schleich ich hinterher. Zu meiner grenzenlosen Verwunderung, geht es in unsere Straße, gleich am Lessingtunnel. Am Gitter des ehemaligen Luftschutzbunkers, stellt sich die rachedurstige Meute auf und wartet auf die Boltes. Oma und Greta kennen die Beiden. Es dauert auch nicht lange, da ruft Oma: „Dor kummt He.“ Der Preisboxer, den Jonny schnell instruiert und mitgebracht hat, geht auf Bolte los und schon arbeiten seine Fäuste. Puff, eins auf die Nase, dass sie blutet. „Wenn du de junge Fru Riemann und de Lütt noch eenmol belästigst,“ Puff, eins in die Magengegend, das Bolte sich zusammenkrümmt, „denn kannst du di noch mol ne Abreibung holen!“ Puff, einen Schwinger in die Nierengegend und zum Abschluss einen gezielten Haken unter das Kinn. Puff, Puff! „Hest du nu genog, oder wullt du noch mehr?“ „Ne, ne,“ heult Bolte, und weicht zurück. „Denn hau af, ick kann dine Visage nich mehr sehen!“
Schwer angeschlagen und heulend, schleicht Bolte, Blut schniefend davon.
Martha, Greta, Frieda, und Oma in der Mitte, spähen nach der Olsch aus. Nach einiger Zeit, segelt sie um die Ecke mit ihrer schweren Einkaufstasche. „Dat is Se,“ flüstert Greta. Martha marschiert entschlossen auf die Olsch los, und vertritt ihr den Weg. „Na, du büst also de Hex, de min Broder sin Fru, dat Leben schwer mokt, wat? Denkst woll, weil ehr Mann nich ut Russland no Hus komen deit, kannst du mit ehr moken wat du willst, und denn noch mit de lütt Deern.“
Dann fährt Martha ihre Krallen aus, wie ne Katze, und ratscht der Olsch durchs Gesicht, dass die Falten winseln.
Die Bolte, nicht feige wie ihr schafsköpfiger Mann, wirft die Einkaufstasche zu Boden und geht zum Gegenangriff über. Reißt Martha die aufgesteckten Haare runter, trampelt ihr auf die Füße und spuckt wie ein Lama. Damit erreicht sie aber nur, dass Martha zur Hochform aufläuft. Zack, landet sie einen Schwinger mit der Rechten – auf der ein Siegelring sitzt, unter das gegnerische Kinn. Die Alte reißt ihr dafür die Knöpfe von der Bluse. Sie kratzen, treten, und schlagen aufeinander ein. Die Zuschauer, die zusammengelaufen sind, haben ihre helle Freude daran. Es gibt Szenenapplaus und Anfeuerungsrufe!
Zuletzt siegt Martha, die zähere, über die allzu beleibte, der die Luft knapp geworden ist. Sie kriecht beinahe auf allen vieren davon, und Greta wirft ihr die Einkaufstasche hinterher, nicht ohne vorher ordentlich drauf rum zu trampeln.
Martha krempelt die Ärmel wieder runter. „So Modders, dat wär mol ne feine Abwechslung. Sahst mol sehen, De hett genog!“
Die Sippe verlässt das Terrain in geschlossener Formation außer Jonny, der mit dem Preisboxer, in der nächsten Kneipe verschwindet, um ihm einige Lagen auszugeben.
Spät am Abend, sehe ich das Pärchen Bolte in der Küche sitzen und seine Wunden lecken. Sie, hat noch einige dazubekommen. Ihr holder Mann, hat sie auch noch mal vermöbelt, weil die Dresche, die er erhalten hat, nach seiner Meinung, auf ihr Konto kam.
Seit dem hatten wir Ruhe vor ihnen.
Eigenhilfe?
Nun ja, in unserem Fall, war sie eben so, und nicht anders ausgefallen!



Rosenmontag




Heute ist Rosenmontagsfeier im Heim. Gestern ist Hedi in der Nacht aus dem Bett gefallen. Das erzählt sie gerade ihrem Hausarzt, der sie jeden Montag besucht. Ich höre es draußen auf dem Flur und warte auf Dr. Bauer im Treppenhaus. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Heute bringt sie wieder alles durcheinander. Sie müsste mehr Gesellschaft haben, allein in ihrer Wohnung, dreht sie ganz ab. Sprechen sie doch mal mit der Heimleiterin, ob ihre Mutter in den ersten Stock, in ein Zweibettzimmer kommen kann.“ Als er mein entsetztes Gesicht sieht, zuckt er mit den Schultern und sagt: „Ja, tut mir leid, das ist nun einmal so.“ Was tun? Ich frage auf keinen Fall. Ich sehe sie schon todunglücklich – wenn diese Steigerung überhaupt noch möglich ist, auf der Bettkante sitzen und sich mit der Zimmergenossin streiten.
Nun putze ich sie zum Fasching ein bisschen heraus. Mit Hütchen, Tüchern und Kettchen. Sie jammert wie ein kleines Kind. Sie will nicht zum Fest, aber sie müsste wohl usw.
Die Heimleitung hat sich wirklich Mühe gegeben und alles hübsch hergerichtet. Meine Mutter wird von allen Schwestern und Pflegern mit einem „Hallo“ und „toll sehen sie aus,“ begrüßt. Auf dem Büffet gibt es leckere Berliner Pfannkuchen, Kaffee und Sekt. Später Kartoffelsalat, Würstchen und belegte Platten. Es gibt Musik zum Schunkeln, und die Heimleiterin kommt als Clown und Büttenrednerin.


Rosenmontag!
Das erinnert mich an andere Rosenmontage nach der Währungsreform.

Der rheinische Karneval schwappte über auf die Norddeutsche Tiefebene. Jeder, der ein Radio besaß, hörte den fröhlichen Klängen zu und schunkelte sozusagen mit.
Meine Mutter kaufte uns ein Radio (natürlich auf Raten.) Als Berufstätige meinte sie, wir könnten uns auch wieder etwas Kultur leisten. Da die Karnevalssendung bis Mitternacht dauern sollte, gingen wir kurzerhand in unser gemeinsames Bett und blickten fasziniert auf die erleuchtete Skala des Radios.
Zum ersten Mal hörte ich die Helau- und Alaaf Rufe, das Humba, Humba Täterä, und das „Wolle mär ihn reinlosse?“ Die Büttenredner fand ich großartig. Besonders einer war zum Schreien komisch. Er erzählte die Geschichte von seinem Hötche (Hut) das ihm nicht mehr gefiel, und das er darum unbedingt loswerden wollte. Doch was er auch anstellte, es kam immer wieder zu ihm zurück. Er warf es weit in die Ruinen hinein, doch ein Freund, auf der Suche nach Baumaterial, fand es und brachte es ihm zurück. Er stopfte es in die Mülltonne, der Hund des Nachbarn, auf der Suche nach Fressbarem, brachte es ihm schwanzwedelnd wieder. Er konnte anstellen was er wollte, sogar der Wind wehte es ihm aus allen Ecken wieder vor die Füße. Zuletzt kapitulierte der Mann vor soviel Anhänglichkeit, stülpte sich das Hötche wieder auf den Schädel und schwor, sich nie mehr von ihm zu trennen.
Wir lachten, wie schon lange nicht mehr, und kuschelten uns aneinander. Es war so gemütlich mit der Skalabeleuchtung im dunklen Zimmer.
Damals waren wir: Ein Herz und eine Seele. - Und heute?
„Ja, ja, das Fest war schön,“ sagt sie ungeduldig am Telefon. „Wann kommst du zu mir? Du warst sooo lange nicht mehr hier.“ Ach ja? Warum ist sie so fixiert auf mich? „ Ich komme morgen, und dann kaufen wir für dich Schuhe.“ „Dann gehe ich jetzt ins Bett (zehn Uhr morgens), wenn du heute nicht kommst.“ Jetzt zucke ich mit den Schultern.
Am nächsten Tag gehen wir ohne Probleme Schuhe kaufen. Wir können uns sogar, wenn auch eingeschränkt, unterhalten. Ich bin erleichtert. Am Schluss kriege ich aber doch den Spruch mit: „Du bist so anders. Früher warst du ganz anders. Ich kenne dich gar nicht mehr wieder.“ Ich bin nicht anders geworden, aber sie sieht mich mit anderen Augen.

Hedi ruft bei uns an. Das heißt, sie muss keine Nummer wählen. Wir haben unsere Telefonnummer in ihren Apparat einprogrammiert. Die Kurzwahl und die Eins. Es hat etwas gedauert, aber jetzt kann sie es. Folgendes bekomme ich nun zu hören. Sie wird verfolgt von zwei Männern. Sie wollen sie umbringen und ihr Geld haben. So geht es zwei Tage, drei-, viermal am Tag. Am dritten Tag meldet sie sich mit normaler Stimme. Wer soll das aushalten, dieses Schwanken zwischen Normalität und Wahnsinn? Um die Heimleiterin mache ich einen Bogen, immer gefasst auf ein: „So geht es nicht weiter!“
Aber sind nicht andere Frauen in den Heimen auch abgedreht? Mache ich mir nur diese Gedanken, oder andere Töchter auch?

Heute geht sie stumm an meiner Seite durch den Sonnenschein. Wir kaufen Hausschuhe für sie. An weiteren Einkäufen wie Strickjacke und Handschuhe ist sie nicht mehr interessiert, also muss ich das im Alleingang machen.
Es ist grausam, den Verfall eines geliebten Menschen auf diese Art und Weise mitzuerleben.


Ein Brief nach Gran Canaria.

Liebe Sylvie!

Am Donnerstag den 12.03. war ich mit Hedi im Café Beier. Zwanzig Minuten später kam Susann, auf dem Fahrrad, zur Unterstützung. Na, mir rollten wieder einmal die Felsen vom Busen. Was sagt Hedi zu Susann? „Dich kenne ich ja gar nicht mehr. Du siehst ganz anders aus. Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“ Also,“ sagt Susann, „so lange ist es nun auch nicht her. Ich war vier Wochen krank, und konnte dich doch nicht anstecken.“ „Ja, ja, ich bin eine alte Frau, nach mir fragt keiner mehr.“ (Weißt Du, manchmal habe ich den Eindruck dass es ihr Wunschdenken ist, wenn auch krankhaft, dass sich niemand von uns mehr um sie kümmern würde.)Jedenfalls typisch. Da sitzen wir mit ihr im Café, und sie kann nur jammern und nörgeln. Gott sei Dank, fegte nun unsere glutäugige Bedienung Carmen herein. Voller Empörung sprudelte sie hervor: „Können sie sich das vorstellen? Da esse ich vier Wochen lang nur Kartoffeln ohne Fleisch! Verzichte auf mein geliebtes Glas Rotwein am Abend, und der Erfolg – der Cholesterinspiegel ist noch genauso hoch wie vorher. Da habe ich zu mir gesagt: „ Nicht mit mir!“ Sofort habe ich meinen Mann beauftragt, Fleisch zu kaufen, und dann habe ich gegessen und gegessen und meinen Rotwein getrunken. Soll doch der Teufel den Cholesterinspiegel holen!“ Noch ein glutäugiger Augenaufschlag, und sie saust in den angrenzenden Laden. Susann ist begeistert und wir haben ausgemacht, dass wir uns öfter dort treffen werden. Mit dem Rad ist sie in fünf Minuten hier, und eine Stunde am Nachmittag kann sie sich dank Claudia schon freimachen. Danach zog ich mit Hedi wieder „Heimwärts.“ Eine Kerzenbirne an ihrer Deckenlampe war defekt und musste ausgewechselt werden. Ich klettere also auf den Sessel und schraube die alte raus und die neue rein. Ich klettere wieder runter und zünde mir zur Belohnung eine Zigarette an; da fängt Hedi zu jammern an: „Nein, das mit der Lampe habe ich schon dem Hausmeister gesagt, und wenn der morgen kommt, dann wird er böse.“ „Ach Quatsch,“ sage ich, „nun ist sie drin. Dann sagst du, das deine Tochter das schon gemacht hat.“ Sie jammerte weiter und weiter. Ob Du es glaubst oder nicht, ich bin wieder hoch und habe die Birne wieder raus und die defekte wieder reingedreht. So hat sie mich verblödet.
Am 16.03. sage ich zu ihr am Telefon: „ Ja, ich komme heute nachmittag.“ Um 13.15 Uhr ruft sie an: „ Hast du geschlafen, oder wieso bist du noch nicht hier?“ (Schluchz, seufz.) Darauf habe ich sie bis 15 Uhr schmoren lassen. Immer noch zu früh für meine Begriffe.
Sie macht mir die Tür auf und reißt am Topflappen, in der kleinen Teeküche, um Licht einzuschalten. Ich habe ihr Weinbrandkirschen mitgebracht, aber sie weiß nicht was das sein soll, hat sie noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. Dabei waren sie doch einmal ihre Lieblingspralinen. „Dieses Kleid habe ich schon so lange an,“ sagt sie. „Dann zieh ein anderes an, und dieses kommt in den Wäschesack.“ „Das geht nicht, ich habe da unter nichts an.“ Sie geht ins Bad und zieht das Kleid aus und ich denke mich tritt ein Pferd. Sie hat tatsächlich nichts drunter! Ich halte ihr ein Unterhemd hin. „Was ist das?“ „Ein Hemd.“ „Kenn ich nicht.“ Da ich Gehirnwäsche reichlich habe, streife ich mir das Hemd über die Bluse, um ihr zu demonstrieren, wozu ein Hemd gut ist. „Ach, das zieht man über das Kleid?“ (Kreisch) Sie nimmt das Hemd in die Hand und sagt: „Das kann man nicht anziehen, das ist ja unten nicht zu!“
Endlich hat sie das Kleid an. Der Gürtel geht nicht zu. Grund, der Busen hängt in der Gürtellinie. Logisch, ohne BH. Mir strömt der Stress-Schweiß über das Gesicht. Die Heizung kocht, dreißig Grad Celsius. Schlimmer kann das Fegefeuer auch nicht sein. Dieses ertrage ich nicht mehr. Ich muss eine andere Lösung suchen. Ich werde ja selbst dabei wahnsinnig. Ich schleiche mit letzter Kraft nach Hause. Die Treppe rauf. Nur noch Ruhe, mehr verlange ich nicht. – Das Telefon klingelt...Omi! „Stell dir mal vor, Grete will nicht mit auf die Ausfahrt am Mittwoch. Nun ist ein Platz frei. Komm doch mit.“
In meinem Gehirn ist Kurzschluss. Hat es nicht eben geknallt? Warum ziehe ich nicht auch in das Altenheim? Das Alter habe ich doch. Dann kann ich den Schwestern zur Hand gehen und morgens mit frisch gebügelten Kleidern an Hedis Bett stehen. Ich murmele etwas von einer Verabredung mit meiner Freundin Renate. Leider keine Zeit. Enttäuscht legt sie auf, und wetten, dass sie denkt, aber für Renate hat sie Zeit!

Am 17.03. sitzen Papa und ich beim Frühstück. Telefon! Omi! „Kann ich mein Geld zu euch bringen? Das klauen sie mir doch sonst auf der Ausfahrt!“
So, das war ein Bericht von der Front!
Ich hoffe es geht dir gut und Du liest diese Epistel am Strand von Maspalomas. Findest Du nicht auch, dass man, bei allem Respekt vor ihrer Krankheit, das Lachen über ihre Episoden nicht ganz unterdrücken kann?

Bis bald. Alles Liebe und viele Grüße, Deine Mum.



Tagebuch




27.03.

Telefon! Hedi: „Stell dir mal vor, was ich heute Nacht gemacht habe. Ich habe geträumt, ich wäre aufgestanden, auf den Flur gegangen, und hätte die Tür hinter mir zugemacht!“ „ Na ja, das kann man schon mal träumen,“ sage ich.
„Nein das war nicht geträumt, als ich auf dem Flur stand, war ich wach. Dann kamen zwei Schwestern und haben mir mit ihrem Schlüssel die Tür wieder aufgemacht.“

29.03. Tel. Hedi es ist 22 Uhr!

„Meine Handarbeit ist weg. Alle Männer haben gesucht, was soll ich bloß machen. Die Wände haben die Männer aufgeklopft, das sieht hier aus. Wann kommst du? Ich muss doch meine Handarbeit haben. Vergiss mich nicht.“ Lautes Weinen und sie legt auf.
Nach zwei Stunden geht mir der Kronleuchter auf. Sie meinte sicherlich ihre Handtasche.

30.03. Ich rufe an und sage: „Morgen komm ich dich besuchen.“
Darauf Hedi: „Ach, ich dachte du würdest nie wiederkommen.“ Aggressiv: „Muss das eigentlich sein, dass du so zu mir bist?“ So, wie bin ich denn?


Treffpunkt Café Beier

Hedi kommt mir mit Winterstiefeln entgegen, über die rechte Hand hat sie ihr Schlüsseletui gestülpt. Den Krückstock hat sie vergessen, aber sie ist immer noch gut zu Fuß, auch ohne Stock. Auf meine Frage, warum sie das Schlüsseletui so trägt, kommt die Antwort, das hätte sie schon immer so getragen, jahrelang.
Also ist das Schlüsselbund jetzt für sie ein Handschuh!
Im Café überhäuft sie mich mit Vorwürfen. Was ich für ein Gesicht mache, dass ich nichts erzähle, und dass ich sie wohl nicht mehr mag.
Ich bin hilflos, wie früher als Kind, ihren Argumenten ausgesetzt. Als Susann nicht gleich erscheint, richtet sich ihre Bitternis auf sie. Erst versprechen zu kommen und dann doch nicht, wäre gemein usw. usw. Susann kommt pünktlich um 15 Uhr. Erzählt ihrer Omi von den Kindern und an Hedis Miene sieht man, dass sie nichts versteht.
Danach geht’s wieder zurück ins Heim.
Nun geht der Horror richtig los. Sie schließt ihre Tür abwechselnd auf und zu und schimpft, dass die Tür nicht aufgeht. Drinnen: Der Wäschesack steht noch von voriger Woche da. Vergessen! „Aber das macht nichts,“ sagt sie, „am besten wirft man es weg, es ist sowieso zuviel“.
Beim Kleiderwechsel sehe ich, dass sie wieder kein Hemd trägt, dafür aber den Busen in den Schlüpfer gesteckt hat. Ein letzter Versuch von mir ihr einen BH anzuziehen, wird abgelehnt. „Das drückt so.“ Tatsächlich ist sie ganz schön auseinandergegangen, und es drückt wirklich.
Noch eine Stunde, bis ich gehen kann. Sie redet vor sich hin, von Edith, die wollte ja auch keine Kinder, dann die Frage an mich. „Du hast keine Kinder. Hast du doch nicht?“ „Nein“, sage ich resigniert, „habe ich nicht.“ Ob ich mich mit meinem Freund, (ist immer noch mein Ehemann) wieder vertragen hätte. Hätte ich wohl, denn seitdem wäre ich auch nicht mehr so nett zu ihr. Vorher wäre ich viel netter gewesen. Plötzlich klopft sie auf den Sofasitz neben sich: „Hast du das gehört? Der hat eben gelacht. Hä, Hä, Hä.“ So geht es weiter. Lauter Horror in meinen Ohren. Später geht sie gesittet durchs Treppenhaus zum Abendessen.
Ich gehe zur Heimleiterin. Die findet alles nicht so schlimm und beruhigt mich etwas. Spricht von den Gestalten, die Hedi leider aus dem vierten- in den zweiten Stock gefolgt sind, doch Hauptsache wäre, sie nähme die Medikamente und sonst wäre sie doch noch ganz gut drauf. (?) An Hilfe für Hedi würde es nicht mangeln, aber sie ließe ja niemanden an sich heran. Man müsse sehen, was die Zukunft bringt.



Konfirmation




Am Palmsonntag des Jahres 1951 wurde ich konfirmiert. Tante Elli und Onkel Adolf (der von allen nur Otsche genannt wurde) boten großzügig ihre Wohnung zur Feier an. Wir waren noch immer Untermieter in Altona. Meine Mutter, die ja ganztägig berufstätig war, verhandelte mit Tante Elli und Tante Hanny, die wiederum mit ihrer Familie Untermieter bei Elli und Otsche war, wie man die Vorbereitungen für das Fest in den Griff bekäme. Sie einigten sich darauf, dass Elli und Hanny die Einkäufe, das Kuchenbacken und alle Vorbereitungen übernehmen würden, und meine Mutter nur die Kosten zu tragen hätte.
In der vorletzten Konfirmandenstunde fragte uns die Gemeindehelferin, wessen Vater bis jetzt nicht aus dem Krieg heimgekehrt wäre, der solle sich jetzt melden. Das waren einige. „Ihr bringt bitte zum nächsten Mal jeder eine Schüssel mit.“
Wieso denn das. Was hatte denn das mit unseren Vätern zu tun?
„Mutti, kannst du dir denken, warum wir eine Schüssel mitbringen sollen?“ Fragte ich zu Hause meine Mutter.
„Keine Ahnung, das kann sich ja nur um etwas essbares handeln. Das können die sich schenken, da hätten sie gleich nach dem Krieg dran denken sollen, als wir alle Hunger hatten.“
Ich bin enttäuscht. Ich hätte mir eher vorgestellt, dass mein Vater aus der Schale wieder auferstehen würde, wie Jesus zu Ostern aus dem Grabe.
Neugierig kommen wir zur nächsten Stunde mit unseren Schüsseln an. Wir sollen sie auf den Tisch in der Ecke abstellen. Dann beginnt der Unterricht. Am Ende der Stunde müssen wir nach vorn kommen und unsere Schüsseln der Gemeindehelferin geben. Sie bückt sich zu einem Fass hinunter, nimmt eine Zange in die Hand und legt jedem von uns... „sechs Salzheringe“ in die Schüssel!
Grenzenlos enttäuscht, ziehe zumindest ich damit ab.
Als meine Mutter zu Hause die Salzheringe sieht, kriegt sie einen Wutanfall. „Mehr hat die Kirche für euch nicht übrig? Dann tut es mir schon leid, das ich dich konfirmieren lasse.“ Sprachs, ging zum Ofen, öffnete die Klappe und warf die Heringe mit einer Geste der Verachtung ins Feuer. „Und deiner Gemeindetante kannst du sagen, das dass für uns eine grobe Beleidigung ist, und sie sich gefälligst entschuldigen soll.“
Als ich am nächsten Tag Christel frage, was denn ihre Mutter dazu gesagt hat, sagt sie: „Mami, hat die Heringe gewässert, damit das Salz abgeht, und heute will sie Heringssalat daraus machen.“
Wir vergaßen dann schnell die Heringe, denn Palmsonntag rückte heran, und damit unsere Konfirmation.
Von meiner Cousine Gretchen, die ein Jahr zuvor konfirmiert worden war, bekam ich das Konfirmandenkleid. Sie hatte es kaum getragen und es war wirklich sehr hübsch.
Herr und Frau Kopmann, bei denen wir 1944 evakuiert waren, kamen aus Niedersachsen angereist, und gingen mit meiner Mutter zusammen in den Gottesdienst. Anschließend fuhren wir alle mit der Straßenbahn nach Winterhude.
Bei Tante Minchen und Onkel Hans gab es für Kopmanns, uns und einer Schulfreundin von mir, ein festliches Mittagessen.
Zur Kaffeetafel gingen wir dann ins Hochparterre zu Tante Elli und Onkel Otsche.
Die Göre Clara, noch ekelhafter geworden, ärgerte wie stets ihren Bruder Horst. Der liebe Junge wäre gern in der Niederlausitz geblieben, aber nach dem Krieg wurden die Kinder zurück in die Heimat geschickt.
Nach der Wende 1989, hat er versucht den Kontakt nach fünfundvierzig Jahren wieder aufzunehmen und es ist ihm gelungen. Er konnte mit seiner Frau in die Niederlausitz reisen. Am Bahnhof hatten sich alle seine früheren Kindheitsfreunde eingefunden und begrüßten ihn so vertraut, dass es ihm ganz warm ums Herz wurde.
„Weißt du,“ sagte er, auf dem Neunzigsten Geburtstag von Tante Elli zu mir, „es war ein Gefühl, als ob ich nie fortgewesen wäre. Von jetzt an werde ich jeden Urlaub dort verbringen, mit Ellen, die wurde als meine Frau, sofort in den Freundeskreis aufgenommen.“

Als die Wohnung von Gästen nur so wimmelte, kam Familie Riemann! Wie immer in geschlossener Formation. Voran Oma Henny, flankiert von ihren Töchtern Greta und Frieda, dann Jonny, der in tiefer Trauer um seine kleine Tochter Hannelore war. Sie war beim Spielen – in der Stresemannstraße - hinter einen parkenden Lastwagen gelaufen, der unglücklicher Weise in dem Moment anfuhr, zurücksetzte, und das Kind dabei überrollte.
Zuletzt noch Karl mit Frau Hertha.
Es fand sich für alle Platz. Zusätzliche Stühle waren von den Nachbarn entliehen worden. So war das damals üblich.
Oma, ganz Dame, wurde von den anwesenden Herren hofiert.
Ich war die einzige unter meinen Cousinen, die noch eine Oma hatte und darauf war ich stolz
Es wurden von Onkel Hans und Onkel Otsche kleine Ansprachen an die Gäste und an die Konfirmandin im besonderen gehalten. Nach dem Abendessen, das aus belegten Platten bestand, auch das war damals so üblich, wurde sogar getanzt. Ilse spielte auf dem Klavier und ihr Vater auf der Gitarre.
Alles war wunderschön, bis Oma sich nach ihren Töchtern umsah, weil sie langsam an den Aufbruch dachte. Die waren nicht da. Ihr schwante nichts Gutes. Onkel Wilhelm erbot sich sie zu suchen. Der Schlawiner hatte sie selbst in der Kneipe im Nebenhaus abgesetzt, weil sie sich bei ihm darüber beschwert hatten, dass der Alkohol hier nicht in Strömen floss.
Unten in der Kneipe war es fidel geworden, Greta sang das „Flohlied“ und Frieda steppte nach Johannes Hesters Art.
Darauf bekamen sie natürlich von allen Gästen und dem Wirt persönlich, jede Menge ausgegeben.
Wilhelm hatte es schwer, die beiden dort wegzulotsen. Erst als er ihnen sagte, dass ihre Mutter ärgerlich sei über ihr Ausbleiben, folgten sie ihm schuldbewusst, denn vor Oma hatten sie immer noch großen Respekt. Als sie oben angekommen waren, rauschte Oma auf sie zu und verpasste jeder eine schallende Ohrfeige. Darauf trat man in geschlossener Formation den Heimweg an.
Wir Kinder fanden das unheimlich interessant, das erwachsene Frauen von ihrer Mutter Ohrfeigen erhielten. Wir kicherten noch eine ganze Zeit darüber, wie komisch das ausgesehen hatte.
Hedi war das Ganze sehr peinlich vor ihren Geschwistern, aber die trösteten sie, indem sie lachten und sagten, das wären halt zwei lebenslustige Frauen, und Oma hätte ihnen allen sehr imponiert.
Das Fest ging weiter und um Mitternacht wurden noch einmal Torten und Kaffee serviert.
Am anderen Morgen sichtete ich meine Geschenke. Da gab es seidene Strümpfe, Garnituren, Bücher, eine Damasttischdecke von Kopmanns für die Aussteuer, und Geldgeschenke.
Ich habe alle Glückwunschkarten aufbewahrt und lese heute noch Omas Zeilen: Meiner lieben Edith, zur Konfirmation alles Gute und kauf Dir etwas Schönes. Deine Oma.


Telefon, Hedi: „Wieso, wo bist du denn? Ich warte und warte, du hast doch gesagt du kommst. Nun sag doch was, lass mich doch nicht so lange reden. Ich hab schon den Mantel an, und dann treffen wir uns im Café Beier!“
Ich bin sprachlos. Gezwungenermaßen gehe ich hin. Hedi ist schon da. Mein Blick fällt auf die unvermeidlichen Winterstiefel. Mir erstarrt das Blut in den Adern. Der rechte Strumpf hängt über dem Stiefel nach unten. „Dein Strumpf,“ flüstere ich. „Waas?“ Kein Erfolg. Dann weiten sich meine Augen. Auf ihrem Teller liegen ein großes Stück Sachertorte und ein Stück Erdbeertorte mit Sahne. Beides verputzt sie ohne Schwierigkeiten.
Die Aushilfsbedienung stellt das Kännchen Kaffee an Hedis rechte Seite. Bevor ich eingreifen kann, gießt Hedi den Kaffee statt in die Tasse, über den Tortenteller. Das schlimmste kann ich noch verhindern, indem ich ihr die Kanne aus der Hand reiße. „Was ist denn?“ Fragt sie gereizt.
Hier können wir bald nicht mehr hingehen, es fällt schon sehr auf.
„Hier gehe ich jetzt jeden Tag hin, weil das Essen im Heim ein Fraß ist.
Haben wir nicht den Ersten? Ich will mein Geld!“

Im Heim folgt eine Umkleideszene, die so makaber ist, dass ich sie kaum beschreiben kann. Sie versteht nicht, was ich will. Ich will den Hüfthalter haben, um die Strumpfhalter wieder anzunähen. Als ich ihn endlich habe, kann ich ihn nur heimlich in den Müll werfen. Unbeschreiblich! In einer Schublade, finde ich ein graues, undefinierbares Mieder. Auch nur für den Müll. Die neuen Hüfthalter kriegt sie nicht über ihre Körperfülle, es geht wirklich nicht. Sie ist auseinander gegangen wie Hefeteig. Was nun? Woran kann man denn sonst die Strümpfe festmachen. Da kommt mir der rettende Einfall. Ich laufe in die „Pro“, und kaufe vier Paar Kniestrümpfe
„So,“ sage ich, „nun brauchst du das alles nicht mehr. Du ziehst einfach die Strümpfe bis zum Knie hoch und fertig.“ Sie ist begeistert.
Hoffentlich weiß sie morgen noch, wie man die Strümpfe anzieht.

Hedi winkt mir aus dem Esssaal zu, als ich sie besuchen komme. Mutterseelenallein sitzt sie am Tisch, trinkt ihren Kaffee und isst einen Kopenhagener aus der Tüte dazu. Anscheinend ist die Kaffeezeit schon vorbei, obwohl es erst 14.30 Uhr ist.
Sie hat vergessen, dass ich komme. Nun mache ich in ihrer Wohnung noch mal Kaffee und packe meinen mitgebrachten Kuchen aus.
Danach gucke ich in ihren Kühlschrank. Voll mit gekauftem Kuchen! „Heute gab es kein Mittagessen. Jedenfalls konnte man es nicht essen,“ sagt sie. „ Deshalb esse ich jetzt jeden Tag Kuchen.
Als ich ihr die Perücke waschen will, sagt sie: Das macht meine Edith jeden Mittwoch, aber du kannst es auch machen.“ Schock! Wer bin ich? Ich frage sie einfach. Sie wird verlegen und sagt, das weiß sie nicht, aber ich würde sicher auch in diesem Heim arbeiten und das wäre ja nett von mir, dass ich zu ihr käme, um ihr zu helfen.

Die neuen Hüfthalter habe ich zu Hause einfach 10 cm. weitergemacht, sie ist entzückt und zieht einen, nach unendlicher Mühe für uns beide, an. Die Kniestrümpfe waren ihr doch zu komisch, nun ist sie froh, dass alles wieder wie gewohnt ist.
Ich habe sie im Verdacht, dass sie angezogen ins Bett geht, denn das Nachthemd liegt wieder in der Kommodenschublade.
Als ich gehe, sagt sie: „Vielen Dank für deine Hilfe, aber eigentlich müsste ich ja Sie zu dir sagen.“
Wie soll es nun weitergehen?


04.04.

Sie ruft bei Klaus an (ich bin bei Susann) und sie glaubt nicht, dass ich nicht zu Hause bin, ich will wohl nicht ans Telefon kommen. Klaus informiert mich. Also rufe ich von Susann aus bei ihr an. Sie weint und erzählt mir, gestern wäre eine Frau mit Kuchen zu ihr gekommen und hätte gesagt, sie wolle sie waschen. „Da hab ich gesagt, das macht alles meine Tochter, jede Woche.“ Es dauert einige Zeit, bis mir klar wird, dass ich diese Frau war.


06.04.

Telefonterror von Hedi ab 9.30.Uhr. Wann ich nun endlich komme. Um 13.30.Uhr reißt sie Klaus aus dem Mittagsschlaf. Wieso ich noch nicht da wäre. Sie geht nun ins Café Beier und erwartet mich dort!
Meine Nerven liegen blank, und plötzlich entdecke ich ein Hautekzem am Hals. Wo die Seele sich nicht wehren kann, antwortet für sie der Körper? Wer kann mir raten, wie ich mich verhalten soll? Es geht an meine Substanz. Sie quält mich. Ostern liegt wie ein unbezwinglicher Berg vor mir. Die Schwestern versichern mir, dass sie sich gerne um Hedi kümmern wollen, aber sie bekommen immer eine Abfuhr. Morgens, wenn sie ihr beim Waschen und Ankleiden helfen wollen, sitzt sie schon fertig angezogen – oder noch immer angezogen – auf dem Sofa. Da ist einfach nichts zu machen und zwingen dürfen sie Hedi nicht.
Hedi fragt, warum sie nicht mehr eingeladen wird, es will sie wohl keiner haben. Wir sind bestimmt nicht herzlos, aber was sollen wir mit ihr anfangen.


12.04.

Bin mit Sylvie zum Oster-Kaffee zu Hedi gegangen. Haben nette Kaffeestunde gehalten. Sylvie hat von ihrem Leben erzählt, und Hedi war einigermaßen drauf. Als wir gingen, lagen in der Eingangshalle des Heimes Exkremente.
Draußen im Hof, sagt Sylvia: „Warum musste das so mit Hedi kommen. Wir haben sie doch immer lieb gehabt und uns um sie gekümmert. Bei euch ist sie doch mindestens dreimal die Woche gewesen, mehr kann man doch nicht tun.“
Abends bei uns zu Haus. Hedi ruft an. Ich müsste unbedingt den nächsten Tag wiederkommen, sie hätte ja nichts von mir gehabt, weil noch jemand da war. Sylvie fällt der Unterkiefer runter. So schnell geht sie nicht wieder zu Hedi. Kann ich ihr nicht verdenken.
Natürlich gehe ich den nächsten Tag auch nicht wieder hin.


14.04.

7 Uhr morgens. Das Telefon klingelt. Klaus geht hin, bevor ich mich berappelt habe. Hedi: „Alle Türen sind zugeschlossen, und es gibt kein Frühstück.“ Sie muss nun verhungern. Ich kombiniere, sie ist zwischen 6 und 7 Uhr schon vor dem Speisesaal gewesen. Natürlich ist dann das Haus noch zugeschlossen, Frühstück gibt es ab 7.30 Uhr. Sie hat kein Zeitgefühl mehr.
Klaus schüttelt den Kopf. Im Laufe des Vormittags ruft sie noch zweimal an, jammernd und weinend über alles mögliche. So geht es nicht weiter.
War heute Nachmittag bei Hedi, und habe heimlich die Programmierung unserer Telefonnummer wieder gelöscht. Das musste ich für unsere Nerven tun. Susann war auch der Meinung.
Habe die Tabletten von gestern gefunden, also hat sie sie nicht genommen. Habe sie in den Müll geworfen. Mal sehen, wie es weitergeht und auf die Meinung der Heimleiterin und Dr. Bauers Ansicht warten.
Plötzlich sagt Hedi: „Sigrid guckt nur auf den Vorsteher, den ganzen Tag.“ Später fiel bei mir der Groschen. Sie meinte, dass ihre Bettlägerige Freundin nur auf den Fernseher guckt.
Meine Ärztin ist entsetzt, dass ich quasi drei mal die Woche, je drei Stunden zu meiner Mutter gehe. Sie sagt: „Ihre Mutter saugt ihnen ihre Energie aus, wenn sie so weitermachen bleibt von ihnen nur eine hohle Schale übrig. Sie lebt doch im Heim und wird dort versorgt. Damit tun sie ihrem Mann und ihren Kindern auch keinen Gefallen. Einmal die Woche eine Stunde, das ist vertretbar.“
Anschließend gehe ich, erleichtert von meiner eingebildeten Verantwortung, frohgemut zum Friseur. Danach rüber zum Café Beier. Ich trinke zwei Tassen Kaffe und klöne mit Frau Beier und Carmen. Sie haben nun meine Telefonnummer, falls Hedi, ohne Geld, allein dort Kuchen essen will. Geld hat sie schon, von mir eingeteilt zur Vorsicht, aber sie vergisst es mitzunehmen. Irgendwie erleichtert, als wäre ich das Problem Hedi schon los, gehe ich nach Hause.
Doch so einfach wird es einem nun doch nicht gemacht. Susann ruft übers Handy an, lässt die Spülung im Bad laufen und flüstert: „Omi ist hier!“ Sie nimmt das Handy mit in die Küche, wo Hedi sitzt und ich höre Hedi ihre Katastrophenstorys erzählen: „Die Frau die gestern bei mir war, hat einfach alle Bilder der Kinder mitgenommen.“ Die Frau bin ich, und die Bilder habe ich nicht mitgenommen.


27.04.

Vom Bootshaus kommend, sehe ich aus dem Auto, plötzlich Hedi die Straße entlang gehen. Ich steige aus, Klaus fährt weiter. Ich laufe hinter ihr her. Sie sieht jammervoll aus. Mit hängendem Kopf, auf ihren Stock gestützt und die Füße in den schweren Winterstiefeln nachschleifend. „Hallo,“ sage ich, von einem plötzlichen Zärtlichkeitsgefühl überwältigt. Ich komme mir vor, wie eine Rabenmutter, die ihr Kind stark vernachlässigt hat. Hedi bricht sofort in Tränen aus und schluchzt, sie hätte nie geglaubt, dass sie mich noch einmal wiedersieht. Bei ihr in der Wohnung sähe es grauenvoll aus, nun hätten „Sie“ ihr auch noch das letzte geklaut was sie besessen hätte.
Eine Heiminsassin auf dem Flur vor Hedis Wohnung beobachtet uns, als Hedi ihre vergeblichen Versuche die Tür aufzuschließen startet. Endlich hat sie es geschafft und ist drin. Ich gehe spontan auf die Frau zu und frage sie: „Sie wissen doch, dass ich die Tochter von Frau Riemann bin?“ „Ja,“ sagt sie, „und ich habe ihrer Mutter schon öfter geholfen, die Tür aufzuschließen.“ „Das war nett,“ sage ich. „Es ist nun einmal so, dass meine Mutter mich nicht immer erkennt, und ich möchte nicht in einem falschen Licht dastehen.“ Nun, das wäre geklärt.
In der Wohnung hat sich nichts verändert. Die saubere Wäsche aus der Heimwäscherei liegt gestapelt auf dem Bett. Unnötig zu sagen, dass alle Bilder da sind. Sie zeigt mir das Bild von sich und meinem Vater als junge Leute, und sagt: „Das sind meine Eltern.“ Ich zeige auf das Bild ihrer Eltern als Silberpaar und frage, wer die beiden sind. Ganz logisch sagt sie: „Das sind auch meine Eltern, nur da sind sie schon älter.“
Dann sagt sie mit Tränen in den Augen, sie hätte gedacht, ich wäre nach Amerika gefahren und käme niemals wieder. Das Telefon ginge auch nicht mehr und sie führt mir vor, wie nach der Kurzwahl keine Edith mehr antwortet. Es tut mir so leid, dass ich die Programmierung löschen musste, denn es war die letzte Verbindung zur Außenwelt für sie. „Ja das ist wohl kaputt,“ sage ich. „Nein,“ sagt sie, „das hat einer gemacht, der nicht will, dass ich das kann.“
Eine Stunde halte ich es aus. Räume die Wäsche ein, entdecke den Speiseplan mit dem angekreuzten Menü für nächste Woche, aber sie hat ihn statt in der Küche abzugeben, in die Kommodenschublade getan. Die Rechnungen der Hausrat- und Haftpflichtversicherungen liegen in einer anderen Schublade. Was habe ich danach gesucht. Wo kommen sie nun plötzlich wieder her?
Dann sagt sie, wie sehr sie es bereut, in dieses Heim gegangen zu sein und wenn ich nicht wiederkäme, ginge sie eines Tages im Dunklen auf die Straße und ins Wasser. Dann wäre sie weg! Nach einer Stunde ist auch bei ihr die Luft raus, und ich kann mich verabschieden. Im Hof treffe ich die 92-jährige Grete. Sie erzählt mir, dass Hedi nur noch weint, weil ihre Tochter nicht käme. War ich nicht erst vorgestern da? Grete hat ihr ins Gewissen geredet und gesagt: „Deine Tochter muss doch auch ihr eigenes Leben leben.“ Nett von ihr, aber fruchtlos. Dringt nicht durch.
„Heute ist Freitag, Montag komme ich wieder,“ habe ich zu Hedi gesagt, mal sehen was dann anliegt.


02.05.

Susann hatte Hedi am Mittwoch zum Frühstück und Mittagessen eingeladen. Für den kommenden Urlaub der Familie gibt Hedi Susann sieben Mark (im letzten Jahr waren es dreihundert) Geldwert kann Hedi nicht mehr einschätzen. Nach dem Mittagessen mit den Kindern, geht sie ins Badezimmer. Als sie wieder rauskommt, hat sie ihre Zahnprothese in der Hand und fragt Susann, wie man sie wieder einsetzen muss! „Wie soll ich das machen? Da haben wohl die Kinder dran gedreht, dass es nicht geht.“ ( No Comment.)

Da ich stark erkältet bin, kann ich sie nicht besuchen. Herrliches Maiwetter.
Fühle mich schon viel besser und stelle mir den Liegestuhl auf den Balkon. Gerade habe ich mich häuslich darin eingerichtet, klingelt es an der Tür. Hedi! Sie wollte mal wissen wie es mir geht, denn anrufen kann sie ja nicht.
Ich sähe meiner Mutter so ähnlich, sagt sie, und ich wäre ja auch noch so jung. „So nun wohnst du also hier,“ sagt sie. (Wer bin ich?)
Ich bringe sie wieder zurück ins Heim und merke, dass es mit meiner Besserung noch nicht so weit her ist. Die Beine machen schlapp.


Am nächsten Tag:
Es klingelt. Hedi! Ja sie muss gleich wieder weg, aber sie wollte mir was erzählen, und sie kann ja nicht anrufen. Warum geht das nicht mehr? Wieder bin ich geschlagen. Soll ich wieder einprogrammieren? Sie will wieder zurück, aber es regnet. Also starten wir wieder einen Versuch, sie ins Auto zu bekommen. Siehe da, es geht. Vor dem Heim angekommen, gießt es fürchterlich. „Geh schnell rein,“ sage ich, „ sonst wirst du so nass. Ich komme nächstens und mache dein Telefon wieder heil.“ Als wir wegfahren, steht sie vor der Tür des Heimes, wie ein ausgesetztes Kind. Wir, die Rabeneltern, machen uns davon.


26.05.

Habe längere Zeit nichts mehr aufgeschrieben. Keine Lust, und es geht mir noch immer nicht sehr gut. Habe tatsächlich unsere Telefonnummer wieder einprogrammiert, mit dem Erfolg wie gehabt. „Du hast gestern gesagt, du kommst heute zu mir und nun habe ich mich schon so gefreut und nun willst du nicht kommen. Das ist aber nicht nett von dir,“ tönt es mir aus dem Hörer entgegen. „Das habe ich doch gar nicht gesagt,“ seufze ich, aber das wird kindisch, hartnäckig von ihr abgestritten. Plötzlich explodiert etwas in meinem Kopf.
Eiskalt sage ich zu ihr: „Ich bin nicht dein Eigentum, über das du jederzeit verfügen kannst. Ich habe auch noch ein eigenes Leben und das ist auch nicht mehr allzu lang. Ich bin 62 Jahre alt und keine zwanzig, nicht einmal vierzig mehr. Ich kann dir nicht ständig deine Langeweile vertreiben und es gibt auch noch Menschen außer dir, die ein Anrecht auf mich haben. Mein Mann, meine Töchter, meine Enkel, Freundinnen und Bekannte.“ Bevor sie noch etwas sagen konnte, knallte ich den Hörer auf und zitterte vor Erregung am ganzen Körper.
Ich weiß, so sollte man nicht mit verwirrten Leuten sprechen, aber ich konnte es nicht unterdrücken. Ob sie das alles begriffen hat, ist zu bezweifeln, aber vier Tage hatte ich Ruhe vor ihr. Dann rief sie fast schüchtern wieder an. Ich sollte bitte nicht mit ihr schimpfen, aber nun hätten die „Bösen“ ihr Zimmer durchwühlt, und sie wüsste nicht, wie sie sich wehren sollte. Ich wieder hin. Natürlich war nichts davon wahr. Alles ordentlich wie immer. Heimlich entfernte ich die Programmierung, ohne dass sie es bemerkte. Seitdem ist fernmündlich Ruhe im Karton.


Wir haben sie zu Urenkel Svens Geburtstag abgeholt, und so im Kindertrubel, saß sie an der Kaffeetafel und futterte still vor sich hin. In den Geburtstagssekt schaufelte sie zwei Teelöffel Zucker. „Denn der ist ja so sauer.“



1951




Als ich 16 Jahre alt wurde, überraschte mich meine Mutter eines Tages mit der Botschaft, sie hätte auf eine Heiratsannonce geschrieben und nun Antwort bekommen. Sie träfe sich mit diesem Mann in einem Lokal, um sich kennen zu lernen. Ich fand das sehr interessant und wartete an diesem Abend ungeduldig auf ihre Rückkehr. Als sie dann endlich kam, erzählte sie mir, dass besagter Mann, groß und stattlich wäre, allerdings eine Hakennase hätte und für ihr Gefühl dem Alkohol zu sehr frönte. Doch schob sie das auf seine Nervosität in dieser ungewohnten Angelegenheit. Er hatte ihr erzählt, dass er Witwer sei, zwei Töchter hätte von vierzehn und knapp drei Jahren, dass sie sich nach einer neuen Mutter sehnten und er sich nach einer Frau, die ihm sein Heim wieder liebenswert machte. So weit so gut.
Sie hatten verabredet, dass wir uns am kommenden Wochenende in seinem Haus - einem Behelfsheim mit Garten - zwecks Kennen lernen treffen würden.
Als wir dort ankamen, erwartete uns ein gedeckter Kaffeetisch, vor dem seine große Tochter etwas verlegen stand. Die Kleine lag in ihrem Kinderbett, streckte meiner Mutter die Ärmchen entgegen und sagte sofort „Mama,“ zu ihr. Nach dem die Kleine angezogen und gekämmt war, setzten wir uns an den Kaffeetisch und probten Familienleben. Der Vater fragte uns beiden Großen nach einer Weile, ob wir damit einverstanden wären, wenn wir eine Familie werden würden. Wir nickten schüchtern und sahen uns zum ersten mal richtig an. Doch, wir beide würden uns schon verstehen, wie die Erwachsenen sich arrangieren würden, war nicht unsere Sache.
So kam es, dass wir bald unser Zimmer in Altona räumten, was die ewigen Küchenbenutzer sehr glücklich machte, Wir zogen also zu Onkel Fred, Karin und der Kleinen und versuchten eine Familie zu sein. Eine Zeitlang ging auch alles gut. Ich teilte jetzt das Bett mit der großen Karin und meine Mutter das Bett mit Onkel Fred.
Im Garten stand ein Schuppen, in dem das Plumpsklo eingebaut war. Vor dem Schuppen die Hundehütte mit Struppi. Eine Katze gab es auch, die sich noch hauptsächlich von Mäusen ernährte. Beide waren bald meine erklärten Lieblinge.
Aber ein nächtlicher Gang zum Plumpsklo war für mich unheimlich. Im Schuppen hing ein eiserner Haken von der Decke, und ich fragte Karin, wofür er gebraucht würde. Da sagte sie zu meinem Entsetzen: Ihre Mutter hätte sich daran erhängt! Von nun an sah ich immer diese leblose Frau daran hängen, mit der Schlinge um den Hals, und jeder Gang wurde zur Folter.
Wie gesagt, eine Zeitlang ging alles gut.
Ich erlebte in dieser Zeit meine erste Jugendliebe und war restlos mit meinen neuen unbekannten Gefühlen beschäftigt. Ich schwebte auf den bewussten rosa Wolken und bekam zu erst nicht mit, dass sich eine Änderung im Haus anbahnte.
Eines Abends brachte mich mein Freund bis zum hinteren Garten, der an einem Bahndamm lag. Als wir uns zum Abschied küssten, hörten wir plötzlich wüstes Gepolter und Schreie meiner Mutter. Dann wieder lautstarker Streit zwischen Onkel Fred und ihr. „Da halt dich nur raus,“ sagte Gerd und zog mich zum Bahndamm. Wir hockten uns auf den Damm und warteten ab, bis es ruhig wurde. Die Gartentür krachte zu und Onkel Fred war offensichtlich gegangen. „Ich muss jetzt zu meiner Mutter,“ sagte ich, „sehen was los ist.“ Vorsichtig schlich ich ans Fenster und sah ein verwüstetes Zimmer. Alle Gardinen hatte er abgerissen, die Blumentöpfe lagen zerschmettert auf dem Boden. Auf dem Sofa saß meine Mutter und weinte herzzerreißend.
Unter Schluchzen erzählte sie mir, dass Onkel Fred sehr betrunken gewesen wäre und das nicht zum ersten mal, dass sie nun auch wüsste, warum seine Frau sich aufgehängt hätte. Weil er Alkoholiker war! Wenn er getrunken hatte, war er unberechenbar. Die Kleine hätte er aus dem Bett geholt, in eine Wolldecke gehüllt und gesagt, sie bekäme eine „Neue Mama.“ Dann sei er auf und davon mit ihr. Zuletzt hätte er gerufen, er wolle uns hier nicht mehr sehen, es wäre sein Haus und wir hätten hier nichts mehr zu suchen. Nun saßen wir in der Klemme. Gutgläubig hatte meine Mutter unser Zimmer in Altona aufgegeben. Hier waren wir nun polizeilich gemeldet. Bei der Wohnungsnot damals, war an ein neues Zuhause gar nicht zu denken. Ich blickte mich nach Karin um. Die war, nach den ersten Zeichen des Sturmes, zu ihrer Tante in der Nähe gelaufen. Das auch nicht zum ersten Mal, wie sie mir später sagte. Von nun an hatten wir Angst vor seinem Kommen. Und er kam! Er machte uns das Leben zur Hölle, wohl wissend, dass wir uns nicht wehren konnten. Eines Abends, als er auch mich wüst beschimpfte, fasste ich den Entschluss, die Polizei zu holen. Telefon hatten wir damals nicht, also lief ich zur Wache und schilderte - wahrscheinlich in sehr kindlichen Worten - unsere Misere. Die Polizisten verwandelten sich sofort in väterliche Beschützer und zwei begleiteten mich zum Haus, aus dem man schon von weitem Gepolter und Streit hörte. Als ich mit den Polizisten eintrat, fühlte ich mich ein bisschen als Heldin. Doch Onkel Fred tobte, dafür werde er sich noch rächen, aber die Polizisten erklärten ihm, er hätte bis auf weiteres Hausverbot, ungeachtet dessen, dass es sein Haus sei. Wutschnaubend zog er mit den Polizisten von Dannen.
Nun nahm meine Mutter wieder die Zeitung zur Hand und blätterte in den Annoncen. Diesmal fand sie einen Witwer, der ein Zimmer vermieten wollte gegen Hilfe im Haushalt. „Also eine seriöse Anzeige,“ sagte meine Mutter. Wir zogen sozusagen bei Nacht und Nebel aus, mit unseren wenigen Habseligkeiten. Karin hatte sich ganz bei ihrer Tante einquartiert und bekam davon nichts mit. Es sei besser so, sagte meine Mutter. Später sagte Karin, dass sie uns das krumm genommen hätte und auch mir tat es leid. Aber wir befürchteten, dass ihr Vater Wind davon bekommen würde und uns noch ein letztes mal auflauern würde.
Ein Jahrzehnt später etwa, der Kontakt war inzwischen abgerissen, traf ich Karin zufällig auf der Straße wieder. Wir waren beide verheiratet und hatten Kinder. Sie erzählte mir, dass sie ihre Schwester, mit Hilfe des Jugendamtes, aus der Wohnung ihres Vaters (das Behelfsheim war inzwischen abgerissen) mit der „Nächsten Mama,“ heraus geholt hätte, wegen vollständiger Verwahrlosung. Einige Zeit später, sei ihr Vater bei ihr vor der Tür gewesen und hätte verlangt, sie solle ihn bei sich aufnehmen. Er sah abgerissen und verlottert aus. Ihr Mann habe ihm dann die Tür gewiesen und Jahre später sei ihr Vater dann in einem Männerwohnheim gestorben.



1998




Die Dame in eleganter rosa Seidenbluse und dezentem grauen Rock, sagte entrüstet: „Aber, lobet den Herrn, ist doch kein Blödsinn.“
Es war Sommerfest im Altenheim. Hedi, grantig, weil ihr eigentlich nichts von dem gefiel, was geboten wurde, wartete ungeduldig auf das Abendessen mit Würstchen und Kartoffelsalat. „Warten kann ich nicht, habe ich noch nie gekonnt,“ rief sie wütend und stürzte in die Küche, um sich zu beschweren. „Ich habe Hunger, wann gibt es denn endlich etwas zu essen?“ Es würde noch eine Weile dauern, wurde sie vertröstet. Aus der Küche kommend stieß sie auf besagte Dame in Rosa und Grau. „Ich geh jetzt in meine Wohnung, hab keine Lust mehr,“ sagte sie zu der Dame. „Aber Hedi, das kannst du doch nicht machen. Es gibt bald Abendbrot, und dann wollen wir doch noch „Lobet den Herrn“ singen.“ „So ein Blödsinn, das interessiert mich doch alles nicht,“ erwiderte wutschnaubend Hedi. Ich hielt es für geraten einzugreifen. „Meine Mutter weiß nicht was sie sagt, sie ist krank.“ „Ja, aber sie denkt immer nur negativ. Denk doch mal positiv,“ richtete sie sich wieder an Hedi. Hedi hörte schon nicht mehr zu, ihre Aufmerksamkeit galt den Schüsseln mit Salat, die auf die Tische gestellt wurden. Sie musterte sie kurz, um dann zu verkünden: „Das esse ich sowieso nicht!“
Ich hielt es für angebracht, mich meinerseits zu verkrümeln. Auf dem Heimweg, überdachte ich noch einmal alles was ich nach vier Wochen Urlaub über sie erfahren hatte.
Oh nein, ich habe sie nicht vier Wochen allein gelassen. Susann hat mich getreulich bei Hedi vertreten. Die niedliche 93-jährige Grete hatte mir erzählt, dass Hedi beim Mittagessen vom Messer äße, die Suppe grundsätzlich mit dem Teelöffel schlürfe, und wenn das Messer scharf wäre, was es Gott sei Dank nicht sei, hätte sie sich schon kreuzweise Kerben in den Mund geschnitten. „Sie füllt sich Blumenkohl auf den Teller, langt nach der Glasschüssel mit den Pfirsichen und schüttet sie über den Blumenkohl. Und dann,“ fuhr Grete fort, „isst sie alles zusammen auf. Das ist kein appetitlicher Anblick. Jedem erzählt sie, sie hat kein Geld, das wird alles geklaut, dabei weiß sie nicht einmal wie ein Zehnmarkschein aussieht,“ schloss Grete ihre Rede. Ich wiederum berichtete Grete, dass ich das Klopapier gut gekühlt in Hedis Kühlschrank gefunden hätte, dass Hedi mich gefragt hätte, ob mein Mann Franz hieße. „Ja, so heißt er doch. Nicht wahr?“ Ach ja, und die Strumpfhalter mit denen sie nicht mehr klar kommt. Ich würde ihr jetzt halterlose Strümpfe besorgen als letzten Versuch. Darauf Grete: „Die trage ich schon lange, sind todschick, mit breiter Spitzenborte!“


Juli 1998

„Kommen sie unverzüglich zum Altenheim,“ rief mich Grete an, „ihre Mutter muss in ´s Krankenhaus.“ Ich also hingejagt. Hedi liegt auf dem Bett und ist nicht ansprechbar. „Der Arzt kommt gleich,“ sagt die Schwester. Er kommt und schreibt eine Einweisung für das Krankenhaus aus. Ich packe alles Nötige zusammen und fahre mit. Inzwischen kommt Hedi wieder zu sich. Auf der Station die üblichen Untersuchungen, wie Blutdruckmessen, Blut abnehmen, Bauch abtasten. Für Hedi der reinste Horror, da sie noch nie, in ihrem langen Leben, im Krankenhaus gewesen ist. „Mama, Mama, Mama,“ schrie sie beim Blut abnehmen und klammerte sich an meine Hand. „Aua, Aua, Aua,“ beim Blutdruckmessen.
Dann kamen Seitengitter an das Bett, da zu befürchten war, dass sie aus dem Bett fallen würde. Am nächsten Tag, Blasenkatheder und Tropfinfusion. Sie schlief ständig und war nicht ansprechbar. Würde es nun zu Ende gehen?

Nach drei Tagen saß sie im Bett, sagte, sie habe Hunger, aber den Fraß hier könnte sie ja nicht essen. Außerdem könnte sie nicht auf ´s Klo gehen, da sie eingesperrt wäre. Die Schwester nimmt das Seitengitter fort und sagt: „So, nun können sie aufstehen und ich bringe sie dann zur Toilette.“ Nein, nein, das will sie nicht, sie ist ja krank und muss im Bett bleiben. Darauf holt die Schwester die Bettpfanne. Nein, nein, da geht sie nicht drauf. Achselzuckend sagt die Schwester: „Sie hat eine Windelhose an, da sie drei Tage geschlafen hat.“ Wir reden Hedi noch eine Zeitlang gut zu, aber sie will nicht, wie ein Kind. Also, Schicksal nimm deinen Lauf.
Ich frage den Stationsarzt nach dem Untersuchungsergebnis. „Blaseninfektion durch mangelnde Flüssigkeitsaufnahme, und leichte Herzschwäche. Nichts, was man nicht mit Medikamenten beheben könnte. Sie ist eben alt, aber sie rappelt sich wieder auf. In einer Woche kann sie zurück ins Heim.“

Grete ruft mich an: „Ihre Mutter ist wieder hier. Sie hat mir erzählt, sie wäre zur Erholung gewesen und nun wollte sie in ihre neu dekorierte Wohnung.“ (?)
Ich also hin. Hedi starrt mich an und sagt: „Ich bin so enttäuscht, du wolltest mich doch in deine Wohnung holen. Du hast doch noch ein Zimmer, wo manchmal ein Junge schläft (unser Enkel.) Der kann bei seiner Mutter schlafen, da will ich hin!“ Grete und ich sehen uns an.
Beleidigtes Schweigen Hedis und unendliches Anstarren, bis Grete und ich flüchten. Auf dem Flur nehme ich die zierliche alte Dame in die Arme und sage: „Wenn meine Mutter so gut drauf wäre wie sie, mit Freuden hätte ich sie genommen. Aber in ihrem Zustand ist sie hier doch am besten aufgehoben.“
Zwei Tage später rufe ich Grete an: „Wie geht’s Mutti?“ „Ach,“ ruft Grete. „Vorhin war ich bei ihr, da saß sie auf dem Sofa und hatte sich von oben bis unten vollgemacht, ich habe ihr noch die Schiete von den Händen gewischt und dann die Schwestern gerufen. Die haben ihre liebe Not mit ihr, weil sie sich nicht anfassen lässt.“ „Das war im Krankenhaus auch so,“ sage ich, „ich habe immer erst die Stationsschwester gefragt, ob ein Besuch ratsam wäre
(Die Zeit im Krankenhaus, ist in Hedis Kopf total gelöscht.)


Heute: wirre Perücke, vollgekleckertes Kleid, so kommt sie mir entgegen. Die Flurnachbarinnen wenden sich angewidert ab, es ist kein schöner Anblick. Nun geht alles wie gehabt los. Ich wechsle ihr die Strümpfe, dann das Kleid, kämme die Perücke, schaffe die beschmutzte Wäsche in die Hauswäscherei und höre mir zum tausendsten Male an, dass sie ja nichts von mir hätte, wenn ich bei ihr nur arbeiten würde. Die Tage in der Heimwohnung gehen sicherlich ihrem Ende entgegen und das nächste ist die Pflegestation. „Oh,“ sagt Dr. B. „Körperlich ist ihre Mutter in guter Verfassung, sie kann gut und gerne noch zehn bis 12 Jahre leben.“



Umzüge




1952

Nun waren wir also glücklich umgezogen, zu einem netten kleinen Witwer, der sich freute, dass meine Mutter für ihn den Haushalt führte. Der Tisch wurde geteilt, aber das Bett nicht mehr.
Ich war inzwischen in eine Schneiderlehre gekommen, ein Beruf, zu dem ich so gar nicht geeignet war. Aber die Zeiten waren so, dass wir froh sein konnten, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Abends saß ich mit meiner Mutter in unserem Zimmer und wir freuten uns, dass der Terror mit Onkel Fred ein Ende hatte. Wir hatten seit Kriegsende, endlich einmal Frieden in den vier Wänden die wir nun bewohnten. Herr Krause war ein netter alter Herr und belästigte uns in keiner Weise.
Eine lustige liebenswerte Kollegin meiner Mutter, kam uns manchmal besuchen. Ihr Hobby war das Kartenlegen. Sie prophezeite meiner Mutter, dass Herz-König bald bei ihr anklopfen würde, und für mich hatte sie auch einen Märchenprinzen parat. Beim gemeinsamen Mittagessen mit Herrn Krause und Else, vertraute er uns eines Tages plötzlich an, er habe eine Dame aus dem Bekanntenkreis näher kennen gelernt, und sie würde ihn heute Nachmittag besuchen kommen. Wir bräuchten keine Angst zu haben, dass sie zu ihm ziehen würde, denn sie hätte ein eigenes Haus, und wenn aus der Beziehung etwas dauerhaftes werden würde, würde er zu ihr ziehen, und wir könnten dann seine Wohnung ganz für uns haben. Das war zu schön um wahr zu sein.
Er deckte den Kaffeetisch für zwei und rief uns zur Begutachtung.
„Sehr schön haben sie das gemacht,“ sagte Else. Daraufhin bat er Else, ob sie ihm nicht auch die Karten legen könnte, um gewissermaßen einen Blick in seine spezielle Zukunft zu werfen. Nichts tat Else lieber. Oh ja, Herz-Dame stünde fast vor der Tür, da könne er ganz sicher sein. Er strahlte. Doch die Dame ließ auf sich warten. Am späten Nachmittag bat er Else noch einmal in die Karten zu gucken. „Sie ist schon auf dem Weg,“ verkündete Else ihm, „nur der Bus hat Verspätung.“
Als sie ihm ein drittes Mal die Karten legte - es war inzwischen Abend geworden, und Herr Krause zweifelte nun an ihren hellseherischen Fähigkeiten, erklärte ihm Else, dass die Dame es sich anders überlegt hätte. Vorhin habe sie noch die Absicht gehabt. Man könnte in den Karten immer nur das sehen, was sich zu der Zeit wirklich ereignete. Das war natürlich ein Widerspruch, aber Herr Krause gab sich damit zufrieden. „Kurz und gut,“ wie Herr Krause immer zu sagen pflegte, stellte sich am Ende heraus, dass bewusste Dame an jenem Tag unentschlossen war und auf den Besuch verzichtet hatte.
Nach einer Zeit quälender Unruhe für ihn, stellte die Dame ihrem Anbeter folgende Bedingungen für ein gemeinsames Leben:
Er müsste erst ihr Haus renovieren, ehe er einziehen dürfte. Denn, säße er erst im warmen Nest, so würde er sich sicher davor drücken. Sie hätte da so ihre Erfahrungen. Nun zu seiner Wohnung. Er müsste seine Wohnung ihrem Neffen – der die Absicht hatte zu heiraten – überlassen, sonst könnte aus ihrer gemeinsamen Zukunft nichts werden. Man konnte Herrn Krause nicht zumuten, eine sonnige Zukunft auszuschlagen, nur damit wir ein Dach über dem Kopf hatten. Er akzeptierte also ihre Bedingungen, wenn auch mit Skrupeln uns gegenüber.
Es wurde Pfingsten, und das junge Paar zog ein, ärgerlich darüber, dass wir noch nicht das Weite gesucht hatten. Es gab nur einen Wasseranschluss in der Kochnische des Zimmers, das sie nun bewohnten. Undenkbar, dass wir durch ihr Zimmer trampeln würden, um das lebenswichtige Elixier zu holen. Sie beschlossen, in aller Herrgottsfrühe einen Ausflug zu machen. Sie füllten zwei Eimer mit Wasser, stellten sie vor unsere Zimmertür, schlossen ihre Zimmertür ab, und überließen uns unserem Schicksal. Wieder einmal saßen wir in der Tinte.

So griff meine Mutter abermals zu den Annoncen, denn das Wohnungsamt hatte immer noch nichts für uns. Sie fand einen Witwer aus Pommern, mit Behelfsheim, und packte unsere Sachen.
Rührt daher ihre heutige Wahnvorstellung, dass man sie vertreiben will?
Auf dem Ortsamt fragte leicht tadelnd der Beamte, warum sie denn so oft ihren Wohnsitz ändern müsste.
Ohnmächtig ließ sie diese geringschätzige Äußerung über sich ergehen.


Herbst 1998

Es klingelt bei uns, aber von unten, drei Etagen tiefer an der Haustür. Hedi! Ich drücke auf den Summer. „Die Tür geht nicht auf,“ ruft sie. Ich muss runter rasen. Sie klopft und ruft: „Mach doch auf.“ Oben, an der Wohnungstür, bleibt sie stehen und flüstert: „Schimpft ER?“ (Gemeint ist mein Mann, er hat noch nie mit ihr geschimpft.)
Susann kommt mit Nachbarshund Kora vorbei. Wir glauben, Hedi ist dadurch etwas abgelenkt. Beim Kaffee, legt Hedi den mit Marmelade gefüllten Kopenhagener, der neben ihr sitzenden Susann auf die weißen Jeans und sagt: „Für das Pferd.“ Die Jeans ist reif für die Wäsche!
Nächster Tag. Es klopft an der Wohnungstür. (Die Haustür war offen), Hedi, mit runtergelassenen Strümpfen. Ich müsste mit ihr zurückgehen, sie hätte schöne Sachen für mich. Ganz Neue! Kann mir schon denken was für Sachen. Ich ziehe ihr die Strümpfe hoch, - natürlich verkehrt herum angezogen, darum auch keine Haftung. Dann gehen wir zum Heim zurück. Unterwegs sehe ich mit Entsetzen, dass beide Strümpfe wieder runtergerutscht sind und sie teilweise drauftritt. Ich kann auf der Straße nichts dagegen tun. Mit zusammengebissenen Zähnen schleppe ich sie, im einsetzenden strömenden Regen, zum Altenheim.
Die neuen Sachen?
Natürlich die gewaschene Wäsche! Die Kleider im Schrank, soll alle ich haben, denn das sind doch schöne „Bücher,“ nicht wahr? Ich will sie nicht? Schade. Sie würden mir so gut passen. Na dann verschenkt sie die eben. Was soll sie noch damit. Das was sie anhat, genügt.
Treffe Grete, die maßlos erstaunt ist, das Hedi zu uns gelaufen ist. „Sie kann sich nicht waschen, nicht kämmen, aber das kann sie.“



1953 - 1964




Nun saßen wir wieder in einem Behelfsheim mit Garten, und meine Mutter führte den Haushalt für Vater und Sohn.
Ich hatte mich ziemlich abgesetzt, weil es mir von Anfang an dort nicht gefiel. Der 16jährige Sohn des Witwers stellte mir nach, ich, inzwischen achtzehn geworden, hatte gerade meinen zukünftigen Mann kennen gelernt und kein Interesse an den pubertären Avancen des 16-Jährigen. Am Wochenende war ich nie mehr zu Hause, denn es war kein Zuhause mehr für mich. Mit meinem Freund ging ich tanzen oder ins Kino. Wir sahen jeden Western mit John Wayne, der im Kino lief. Heimlich übernachtete ich bei meinem Freund, der ein Zimmer, mit separatem Eingang vom Treppenhaus aus hatte. Das Zimmer gehörte zu der Wohnung seiner Eltern, die dem Zimmer gegenüber lag. Meiner Mutter erzählte ich, dass ich bei einer Freundin übernachtet hätte. Es war für sie nicht nachprüfbar, da damals kaum jemand Telefon hatte. Wenn ich zu ihr kam, so nur, um mir andere Kleidung anzuziehen und mich bald wieder aus dem Staub zu machen.
Eines schönen Tages erzählte sie mir, dass sie durch eine Bekannte, wieder einen Witwer mit Behelfsheim kennen gelernt hätte, denn mit Vater und Sohn käme sie nicht zurecht. „Es trenne sie Welten!“

So zog sie eines Tages zu diesem vorläufig letzten Witwer und überließ...
Vater und Sohn ihrem Schicksal. Sie werden sich bald getröstet haben, denn es gab genügend Kriegerwitwen auf der Suche nach einer Onkelehe. (Onkelehe nannte man damals das Zusammenleben ohne Trauschein.) Onkel Heinz wie wir ihn bald nannten, war ein friedlicher Typ. Seine Hobbys waren seine Hühner und Enten die er in seinem Schrebergarten hielt, und das Gemüse und Obst das er erfolgreich säte und erntete. Hedi war vollauf beschäftigt, diese Produkte einzukochen und die Speisekammer damit zu füllen.
In dieser Zeit beschlossen mein Verlobter und ich zu heiraten.
Das war ein Schock für meine Mutter, denn sie hatte sich all die Jahre an mich geklammert, als das einzige Wesen, dass sie wirklich liebte. Ich aber war, wie Verliebte eben sind, egoistisch und nur auf meinen Bräutigam fixiert. Es wurde eine hübsche Hochzeit, „Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß.“
Wie sagt man so schön: „Raum ist in der kleinsten Hütte, für ein glücklich liebend Paar.“ Endlich durften wir ganz legal in diesem Handtuch großen Zimmer wohnen. Mit meiner Schwiegermutter verstand ich mich auf Anhieb. Sie brachte mir auch die ersten Grundkenntnisse des Kochens bei und fand in mir eine willige Schülerin. Für mich brachen nun friedliche Zeiten an.
Nach zwei Jahren Ehe waren wir zu dritt, hatten aber noch keine eigene Wohnung bekommen. Damals wohnten unendlich viele junge Paare, mit Nachwuchs, bei den Eltern, ohne Aussicht bald eine Wohnung zu bekommen.
Hedi erkundigte sich auf dem Wohnungsamt nach der Möglichkeit eine Wohnung zu bekommen. Man erklärte ihr, dass die Chancen nicht groß wären, für uns nicht und für sie allein erst recht nicht. Täten wir uns aber zusammen, so hätten wir die erforderlichen Punkte beisammen, und damit die Hoffnung eine Wohnung zu bekommen. Meine Mutter willigte sofort ein, und nach einem halben Jahr bekamen wir einen Wohnungsnachweis. Hedi meldete sich pro Forma bei uns an, blieb aber bei Onkel Heinz wohnen. Endlich waren wir für uns allein und konnten die Tür hinter uns zu machen.
Zu der Zeit fing Hedi an, jeden Tag bei uns vorbei zu schauen und sich nützlich zu machen. Am Anfang fand ich das auch gut und war dankbar für die Hilfe, aber leider blieb es nicht dabei. Sie fing an mich zu bevormunden und gegen meinen Mann zu intrigieren. Einige Ehekräche gingen auf ihr Konto. Ich war noch so jung und durchschaute das nicht gleich. Heute weiß ich, dass sie in meinem Herzen die Hauptperson bleiben wollte. Ihr ganzes Denken und Trachten handelte sich nur um Tochter und Enkelkind. Darüber vernachlässigte sie den guten Onkel Heinz, der oft in den leeren Kochtopf gucken musste, bis sie abends von uns, bei ihm, wieder auftauchte. Er beklagte sich nie und wurde zum Opa Heinz für unser Kind. Nach achtjähriger Ehe, wurde unser zweites Kind geboren. Bald darauf verstarb Onkel Heinz. Auf seiner Beerdigung, hörte ich zum ersten mal den Satz, den ich auch heute noch von ihr zu hören bekomme: „Nun bin ich wieder allein!“ Heute mit dem Zusatz: „Ich bin ja immer allein!“ Sie tat uns leid und wir bemühten uns sie nicht allein zu lassen, aber, hatte sie Onkel Heinz nicht auch oft allein gelassen? Ich will nicht über meine Mutter richten. Es waren wohl die Zeiten und die Umstände, die ihr Leben so verlaufen ließen.
Die Behelfsheime - und mit ihnen Onkel Heinz Behelfsheim - wurden abgerissen, weil dort eine Wohnsiedlung entstehen sollte. Hedi war nicht mit Heinz verheiratet und nicht dort gemeldet.
In den sechziger Jahren hätte man uns keinen Untermieter mehr in die Wohnung hineingesetzt, wenn sie sich bei uns ab- und bei Heinz angemeldet hätte. Aber vielleicht wollte sie bei uns gemeldet bleiben, aus welchen Gründen auch immer. Also hatte sie keinen Anspruch auf eine Ersatzwohnung, wie die übrigen Behelfsheimbewohner. Das wäre ihre erste Chance nach dem Krieg gewesen, eine Wohnung für sich allein zu bekommen. Sie zog also zu uns, schließlich hatte sie ja einen Anteil an der Wohnung. Wir rückten etwas zusammen und es ging auch einigermaßen gut. Hedi nahm eine Halbtagsstellung in einem Lebensmittelgeschäft an und blühte im Kreis neuer Kolleginnen wieder auf.
Aber Abends war sie dann doch allein. Ich bemühte mich nach besten Kräften mich zwischen meinem Mann und meiner Mutter zu teilen. Wenn die Kinder im Bett waren, ging ich also einen Abend ins Zimmer meiner Mutter, um mich mit ihr zu unterhalten, den nächsten Abend verbrachte ich mit meinem Mann. Wir hätten ja auch zu dritt zusammen sitzen können.
Doch das wollte sie nicht. Sie wollte, wenn schon, dann mit mir alleine sein. (Wie heute noch.)



1999




Habe immer gehofft, das sich das Problem Hedi, irgendwann, in wie immer gearteter Weise, lösen würde. Fehlanzeige.
Sie ist immer noch in ihrer Heim-Wohnung, jammert nach wie vor über ihre Einsamkeit, und hat noch immer den Einbildungswahn von Verfolgung und Bestehlen. Einiges ist allerdings anders geworden. Sie setzt keinen Schritt mehr vor die Tür, sieht nicht mehr fern, hört keine Musik mehr, blättert ab und zu in den Illustrierten die wir ihr mitbringen, ohne etwas zu erfassen, bekommt ihr Essen in die Wohnung gebracht und wird neuerdings gebadet. (Inzwischen ist sie in Pflegestufe zwei eingestuft.) Der nette Pfleger Bert, hat ihr Vertrauen gewonnen und sie lässt sich, je öfter desto lieber, von ihm in dem Heim-Baderaum mit dem Kran in die Wanne hieven. Ihre ganze Freude gilt den Süßigkeiten und Gewürzgurken, die ich ihr zwei mal die Woche mitbringe. So weit so gut, oder so schlecht, wie man es sehen will. Doch ohne Wahnsinnsaktivitäten ihrerseits, geht es nicht ab, und ein Termin beim Psychiater ist vorgemerkt, wie mir eine Schwester sagt.

Gestern stand ich vor ihrer weit geöffneten Wohnungstür und bin wieder einmal starr vor Entsetzen. Sie verbarrikadiert diesmal das Bad. Vor die Tür hat sie eine Kommode geschoben, darauf einen Klappstuhl, darüber einen Bügel mit Jacke, und zur Krönung des Ganzen, einen nassen, verdreckten Waschlappen. Auf dem Flur, gehen die Nachbarinnen auf ihre Gehhilfen gestützt vorbei, und werfen scheue oder ängstliche Blicke auf dieses Schauspiel. „Da drin ist Einer, der will hier raus und mir alles wegnehmen.“ Die Tür ist übersät mit schwarzen Flecken. Die rühren von dem Gummipfropfen an ihrem Krückstock her, mit dem sie die Tür bearbeitet hat. Ich murmele etwas von „komme gleich wieder,“ und frage zwei Pflegeschwestern, ob sie sich das nicht mal ansehen wollten. Was bekomme ich zur Antwort: „Das macht sie doch schon länger, das kriegen wir mit Medikamenten schon wieder hin. Außerdem ist, wie gesagt, der Psychiater schon bestellt.“

Als Nächste ging Susann sie besuchen, und fand die gleiche Szene vor. Sie hatte den glorreichen Einfall, eine Shampooflasche zu nehmen und so zu tun, als ob sie Gift gegen das Ungeziefer im Bad versprühe.
Bei meinem nächsten Besuch, erzählte mir Hedi begeistert, dass Susann „den Kerl, das Viech,“ umgebracht hätte. Den hätte man, (wer auch immer) weggetragen. „Wie schön,“ sagte ich, „dann bist du den ja los.“ „Ja schon,“ sagte Hedi, „aber nun kommt sein Bruder!“
Der letzte Stand der Dinge: Susann hat noch einmal die Shampooflasche bemüht und so getan, als ob sie das Viech in eine Plastiktüte geschaufelt hätte, und die dann mitnehmen wollte. „So Omi, nun ist hier keiner mehr, die sind beide weg.“ Darauf Hedi: „Meinst du nicht, dass noch ein Dritter kommt?“ „ Nein Omi, ganz bestimmt nicht!“ Nun wir werden sehen.

Die Schwestern bitten mich, mit Hedi zum Psychiater zu gehen. Ich hätte doch Einfluss auf sie, - wirklich?
In der Praxis, messen sie zuerst ihre Gehirnströme. Das ist schmerzlos, aber sie weint wie ein Kind beim Zahnarzt. Der Doktor, hört sich dann alle verworrenen Reden von Hedi an. Manchmal fragt er mich etwas, um den Zusammenhang zu erfassen. Seine Diagnose: Die Gehirnströme wiesen keine Auffälligkeiten auf, sie wäre halt alt, und die Geister bekäme man mit Medikamenten sicher in den Griff. Man müsste Hedi allerdings alle vierzehn Tage Blut abnehmen, um zu sehen, ob die Medikamente verträglich wären. Mir ahnt Schlimmes!

Es kommt, wie ich es mir gedacht habe. Sie macht ein Heidentheater, wenn die Schwestern ihr Blut abzapfen wollen, und es kommt noch besser. Nach Wochen sehe ich, die verordneten Tabletten im WC schwimmen. Als ich sie frage wieso, antwortet sie, die hätte sie nie genommen, wozu, sie wäre auch ohne Tabletten alt geworden.
Warum das Pflegepersonal die Einnahme nicht beaufsichtigt, kann ich mir auch denken. Sie macht Theater. Die Blutuntersuchung ist also negativ, und die Geister bleiben im Badezimmer. Mich schleifen sie jedenfalls nicht noch mal mit ihr zum Psychiater.
Ach, das vergaß ich zu erwähnen. Die Geister waren nach Susanns Shampoo-Attacke bald wieder da, und zwar war es nun der Bruder des mit Shampoo liquidierten Meuchlings. Der Bruder brachte wiederum einen Freund mit, und somit ist das Bad wieder bevölkert.



1965 - 1994




Als wir in den Urlaub fuhren, bekam meiner Mutter das Alleinsein in der Wohnung gar nicht. Ja es führte so weit, dass sie sich bei meiner Schwägerin bitter beklagte, dass wir sie vier Wochen alleine ließen, um „einfach“ in den Urlaub zu fahren.
Da fügte es das Schicksal – oder wie immer man es nennen sollte - dass besagte Bekannte, die ihr schon den Onkel Heinz vermittelt hatte, wieder einen frischgebackenen Witwer auf Lager hatte.
Ja, liebe Leser, nun werdet ihr ungläubig sagen, dass so viele Witwer, wohl nicht auf eine Frau kommen können. Damit habt Ihr insofern Recht, da dieser Witwer nun wirklich der letzte Mann im Leben meiner Mutter sein sollte. Ein Mann wie ein Baum, und ein Fels in der Brandung. Sie zog bald zu ihm in seine Wohnung und bekochte und umsorgte ihn. Sie verreisten des öfteren, oder machten Autotouren in die Umgebung Hamburgs. Zuerst war sie wunschlos glücklich und verriet mir, dass sie nie mehr den Alltag in ihr Leben lassen wollte. Von nun an, sollte immer Sonntag sein in ihrem beiderseitigen Leben. Sie waren nun beide Rentner und konnten es sich einrichten. Ich hoffte, das ihre konzentrierte Aufmerksamkeit auf uns, nun ablassen würde, und eine Zeitlang war es auch so. Wir hielten einmal in der Woche Familientag bei ihnen ab. Onkel Gerhard fabrizierte eigenhändig die Fleischklößchen, die in die von meiner Mutter gekochte Tomatensuppe kamen. Wir kamen gerne und ließen uns die Suppe schmecken. Für mich war es eine Erleichterung, da ich an diesem Tage nicht zu kochen brauchte. Inzwischen arbeitete ich halbtags im Büro, was sich in unserem Haushaltsetat positiv bemerkbar machte. Wir segelten in den Sommerferien auf der Ostsee, und sie fuhren in die Berge. Wir ließen meine Mutter also nicht mehr „einfach allein.“
Gut zwanzig Jahre hielt diese Beziehung, dann stürzte Onkel Gerhard, im Alter von neunzig Jahren, als er aus dem Zug steigen wollte, auf den Bahnsteig. Er lebte noch ein halbes Jahr im Pflegeheim ans Bett gefesselt, dann starb er.
Nun war sie tatsächlich allein in der Dreizimmerwohnung, damit kam sie nicht zurecht. Wenn auch die Beziehung in den letzten Jahren lange nicht mehr so gut wie am Anfang war. Seine Altersbeschwerden nervten sie, sie hatte es sich angewöhnt lauter und lauter zu sprechen, da seine zunehmende Schwerhörigkeit sie aufregte, am meisten sein Phlegma, das durch nichts zu erschüttern war. Sie rannte buchstäblich gegen eine Wand aus Beton. Es machte ihm auch offensichtlich Spaß, sie ein bisschen zu ärgern, indem er wiederholt fragte: „ Was hast du gesagt?“ Manchmal explodierte sie dann und machte ihm eine Szene, die er sich stillvergnügt aus seiner Sofaecke heraus anhörte. Wie gesagt: Ein Fels in der Brandung! Bei einem meiner Besuche, flüsterte er mir zu: „Deine Mutter regt sich immer so auf, aber glaub mir man, das braucht sie. Mich kann das alles nicht erschüttern.“

Nun hatte sie zwar eine schöne Wohnung, aus der sie niemand mehr vertreiben konnte und nach der sie ein Leben lang getrachtet hatte, aber sie hatte niemanden mehr, an dem sie sich abreagieren konnte, und der es ihr nicht einmal krumm nahm. Auf Drängen ihrer Enkelin Sylvia, besuchte sie einen Seniorentreff und lernte einige nette Damen ihres Alters kennen. Sie machten sich eine vergnügte Zeit. Gingen gemeinsam ins Theater, machten Ausflüge und trafen sich zum Kaffeeklatsch in den jeweiligen Wohnungen. Silvester wurde bei Hedi gefeiert, da sie für ihren guten Kartoffelsalat bekannt war. Sie war dann immer sehr lustig und aufgekratzt und riss die anderen mit ihrer guten Laune mit.
Zwei Damen, zogen nach einigen Jahren, aus gesundheitlichen Gründen, in ein nahe gelegenes Altenheim. Sie schwärmten Hedi von ihren kleinen Heimwohnungen vor und sagten: „Was willst du noch mit dieser großen Wohnung. Geh doch mal zur Heimleiterin und frage, ob du auch eine Wohnung bekommen kannst.“ Das tat Hedi. Jede Woche erschien sie nach dem Motto: „Steter Tropfen höhlt den Stein,“ bei der Heimleiterin. Irgendwann klappte es dann. Sie nahm eine Unmenge Sachen mit, die man dort eigentlich nicht unterbringen konnte, und überließ es mir, ihre Wohnung aufzulösen.
Da sie freudig und aus eigenem Willen ins Heim zog, kann mir keiner den Vorwurf machen, ich hätte meine Mutter ins Heim abgeschoben. Sechs Jahre lebt sie nun schon dort und ihre Freundinnen sind inzwischen verstorben.



Herbst 1999




Vier Unterhemden übereinander gezogen, darüber die Weste, dann das Kleid, so empfängt sie mich eines Tages. Der Pfleger, dem ich das erzähle, meint nur, das dürfte man nicht so eng sehen. Wenn die alten Leute sich so wohl fühlen würden, sollte man sie doch gewähren lassen.
Noch einige Neuigkeiten. Der nette Pfleger Bert, hat gekündigt, und die Heimleiterin ist in Pension gegangen.
Die süße kleine Grete ist ganz plötzlich gestorben.
Nun kümmert sich eine neue Flurnachbarin: „Aus Christenpflicht,“ um Hedi. Leider auch um uns, Susann und mich. Was wir noch alles tun müssten, und dass wir noch öfter kommen müssten, um nach Hedi zu sehen. Nun ja, sie hat noch keinen Überblick. Momentan ist Frau Kaiser im Krankenhaus, und hat sich damit Hedis Sympathien verscherzt.

Hedi wollte Einkaufen gehen, aber man hat sie auf der Treppe abgefangen und gesagt, Sie dürfte ohne Begleitung nicht aus dem Haus gehen.
„Unerhört, ich muss verhungern!“

Die Fußpflege ist der reine Horror. Hedi schreit, als würden ihr die Zehen einzeln abgeschnitten. Die Fußpflegerin ist eine nette und vorsichtig arbeitende Frau. Sie sagt, sie würde sich weigern, ohne meine Gegenwart zu arbeiten. Einmal hat sie es gemacht, aber nie wieder. Sie käme ja in den Ruf rabiat zu sein. Wir versuchen Hedi abzulenken, aber sie hört nicht auf uns und ist beleidigt, weil wir uns unterhalten. Ihr Gesichtsausdruck ist griesgrämig und verbittert. „Nie im Leben, hätte sie sich die Fußnägel schneiden lassen, aber jetzt im Alter, könnte man es ja mit ihr machen.“
Um 17 Uhr kommt die Schwester mit den Tabletten. Sie sieht mich und sagt, ich solle aufpassen, dass Hedi sie schluckt. Hedi macht die Wohnungstür zu, stürzt ins Bad und wirft die Kapseln ins Klo, bevor ich auch nur aus dem Sessel hochkommen kann. Das Spülen vergisst sie und so schwimmen die Dinger munter im Becken. Daraufhin verdrücke ich mich schnell, um Hedi nicht in die Pfanne hauen zu müssen, falls die Schwester nachfragt.

Habe ihr CDs mit Paul Abraham Melodien auf ihrem HIFI Turm vorgespielt, sie war begeistert und hat mitgesummt.
Die Briefe, die ihr Sylvia als Kind geschrieben hat, hat sie in irgendeiner Schublade wiedergefunden. „Liebe Omi,“ liest sie mir vor. „Die hat mir alle meine Mutter geschrieben!“

Frau Kaiser ist wieder da und muss die Telefonvermittlung spielen.
Hedi: „Wo seid ihr denn immer? Zu mir kommt keiner, auch „Er“ nicht.“ „Er“ nennt sie neuestens Susann. Überflüssig zu sagen, dass wir vor zwei Tagen erst bei ihr waren.


09.12. Telefon, Hedi:
„Wie soll ich mich eigentlich waschen?“
„ Wieso?“
„Ja wie macht man das?“
Was soll ich dazu sagen.
„Wir mussten die ganze Nacht im Bett liegen, ist das nicht eine Frechheit?“


Am 17.12. wurde sie 89 Jahre alt. Ich habe einen Napfkuchen gebacken und eine Weihnachtliche Decke auf den Tisch gelegt. Das Zimmer war voller Blumen, aber wer sie ihr gebracht hatte, wusste sie nicht mehr. Ein entfernter Verwandter aus Rostock, der geschäftlich in Hamburg zu tun hatte, brachte ihr einen Blumenstrauß und fragte nach einer Vase. Sie reichte ihm ein Sofakissen. Später rief seine Mutter an und sagte zu mir, wie leid es ihr täte, dass mein Mann nicht mehr lebte. Das hätte Hedi ihrem Sohn erzählt. Ich beeilte mich, ihr zu versichern, das Klaus bei guter Gesundheit wäre. Sie atmete auf und sagte dann, sie wären alle zutiefst schockiert über Hedis Zustand, sie müsste doch ganz anders betreut werden.
Nun wem sagte sie das. Ich habe mich nun schon des öfteren darum bemüht, dass Hedi auf die Dementen-Station kommt, wo sie dann hoffentlich, intensiver betreut wird. Aber ich höre nur auf meine Fragen, es wäre im Moment alles besetzt, und meine Mutter sei sehr schwierig.

In der Eingangshalle des Heimes, treffe ich eine Flurnachbarin von Hedi. Als sie mich sieht, schießt sie auf mich zu und erzählt mir, dass Frau Kaiser sich förmlich aufopfert, um Hedi zu unterhalten, und dass Frau Kaiser daran noch mal zugrunde gehen wird.
„Am späten Abend, wenn alle es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht haben, läuft Frau Kaiser unermüdlich mit ihrer Mutter auf dem Flur auf und ab. Als ich sie gefragt habe, was das denn nun soll, sagt Frau Kaiser, ihre Mutter wäre ja so traurig, und sie will ihr noch etwas Gesellschaft leisten. Das muss ich ihnen mal sagen, ihre Mutter kann vielleicht schauspielern, damit hat sie Frau Kaiser schon ganz unter gekriegt. Die macht doch schon, was ihre Mutter will. Dann schimpft ihre Mutter ja auch immer über das Essen hier, zugegeben, es ist nicht immer so toll, aber „Sie“ muss ja dabei verhungern. Dabei hat sie noch den meisten Speck auf den Rippen. Frau Kaiser rennt dann gleich los und bringt der lieben Frau Riemann Kuchen und Marmelade mit. Ich hab zu ihr gesagt, es genügt doch wohl, dass ihr die Tochter zweimal die Woche Kuchen, Kekse und Schokolade bringt. Aber nein, sie tut ihr ja so leid, und das ist die Masche von ihrer Mutter, dass sie immer auf Mitleid mimt. Damit nutzt sie Frau Kaiser so richtig aus, bis die mal zusammenbricht. Gestern hab ich gehört, wie sie zu ihrer Mutter sagte: „Wollen wir denn mal die Edith anrufen? Vielleicht werden sie dann etwas fröhlicher." Nein, alles was recht ist, das ist für sie doch auch nervig, wenn Frau Kaiser dauernd bei ihnen anruft, und eigentlich gar nichts los ist. Also, einige übertreiben es gewaltig mit der christlichen Nächstenliebe, aber sie lässt sich ja nicht raten. Sie ist eben so. Nichts für ungut, aber vielleicht sehen sie ihre Mutter nun nicht nur als bemitleidenswertes Wesen, die weiß sich trotz ihrer Tüddeligkeit noch ganz gut zu behaupten.“
Es war, als ob die kleine Frau mir die Augen geöffnet hätte, denn ich sah auf einmal durch eine schärfere Brille. Oben angelangt, kam Frau Kaiser auf mich zu. „Na da wird sich ihre Mutter aber freuen, sie war schon wieder so traurig, und dann hatte sie ja auch solches Bauchweh.“ „Wissen sie was,“ sagte ich zu Frau Kaiser, „meine Mutter hat sich auf gut deutsch gesagt, einfach überfressen! Sie glaubt doch immer, dass ihr alles geklaut wird, und darum isst sie alles ratz-fatz auf. Gurken, Schokolade, alles durcheinander. Da muss sie ja Bauchweh kriegen. Wenn ich ihr aber nun nichts mehr mitbringen würde, wäre das ja auch nicht im Sinne meiner Mutter, ihre Enttäuschung, wäre schlimmer als Bauchweh. Also, damit müssen wir uns abfinden, und das Bauchweh muss sie allein mit sich abmachen.“ (Mama Schulz aus der Schinkelstraße kann ihr auch keine Wärmflasche mehr auf das Aua, Aua legen.)
„Vielleicht haben sie recht,“ sagte Frau Kaiser kleinlaut: „Aber sie tut mir immer so leid, und dann bringe ich ihr auch noch Kuchen mit zum Überfressen.“ Da kam gerade Schwester Hilde mit dem Kaffeewagen um die Ecke. Wir fragten sie, ob das falsch von uns wäre, wenn wir Hedi mit Kuchen usw. reichlich versorgen würden. „Aber nein. Essen ist doch ihre größte Freude, und das Bauchweh ist immer schnell vorüber,“ sagte Schwester Hilde.
Gerade jetzt öffnete Hedi ihre Wohnungstür, und was hörten wir als erstes: „Wann gibt es denn endlich Kaffee? Ich muss verhungern!“



2000




09.03.00

Das Telefon klingelt. Frau Kaiser: „Die Mutti ist heute so unruhig, sie weint immerzu und sagt, dass die Männer aus dem Bad sie bedrohen und sie hat solche Angst vor denen. Sprechen sie doch mal mit ihr, vielleicht können Sie, sie etwas beruhigen. Soll ich sonst den Schwestern Bescheid sagen?“ Bevor ich „Ja bitte,“ sagen kann, hat sie Hedi den Hörer gegeben. Konvulsivisch schluchzend erzählt sie, dass die Männer sie anschreien, sie soll aus der Wohnung verschwinden. „Ich hab doch nie niemandem etwas getan, warum machen die das mit mir. Warum? Kommst du? Kommst du gleich? Was soll ich denn machen?“ Lautes Schluchzen.
„Du gehst jetzt zu den Schwestern und erzählst ihnen alles,“ sage ich eindringlich zu ihr. „Die können dir gleich helfen, bis ich da bin, dauert es auch eine Weile. Hörst du?“
Nun haben wir es. Die Tabletten nicht genommen, nun rächt es sich. „Ja, ich geh jetzt zu den Schwestern, ich bin so fertig, ich bin so weit runter, ich kann nicht mehr.“ Nach einigen vergeblichen Bemühungen legt sie den Hörer auf. Ich muss mich erst einmal setzen und überlegen. Geht das jetzt alles wieder von vorn los? Hab ich das nicht schon 1997 mit ihr erlebt. Es liegt nicht in meiner Macht das zu ändern. Warum sträubt sie sich so die Tabletten zu nehmen? Das einzige Mittel ihr etwas zu helfen.
Soll ich nun hingehen oder nicht? Da ruft Frau Kaiser wieder an. „Wir waren bei Schwester Christel, und die hat der Mutti gesagt, dass sie die Tabletten nehmen muss, sie wird genau aufpassen dass sie die nimmt, dann wird es ihr besser gehen und die Männer werden nicht mehr da sein. Ob sie das alles verstanden hat, weiß ich nicht, aber sie wird jetzt etwas ruhiger. Sie brauchen auch nicht mehr zu kommen, sagt die Mutti,“ und im Hintergrund höre ich Hedi sagen: „Nein, nein, sie soll nicht mehr kommen, es wird gleich dunkel und dann hab ich wieder Angst dass ihr auf der Straße was passiert.“ „Hören sie Frau Edith? Sie sagt, sie brauchen heute nicht mehr zu kommen, aber als Tochter müssen sie doch wissen was los ist. Da müssen sie durch! Übrigens ist ihre Mutter nicht alleine so unruhig, hier sind heute noch Mehrere ausgerastet, das macht wohl das schlechte Wetter. Immer trübe und grau und so viel Regen. Also, auf Wiedersehen.“

Ich glaube, dieses Geschreibsel, wird die unendliche Geschichte. Es war mir ein Bedürfnis alles aufzuschreiben, was mit Hedi in den letzten Jahren vor sich gegangen ist. Nur so konnte ich mich etwas abregen. Doch mittlerweile, ist mir wohl eine dickere Haut gewachsen und es perlt an mir ab. Ich habe mich daran gewöhnt, dass es so mit Hedi steht, es ist halt nicht zu ändern. Ich muss auch mein Leben, leben. Egoistisch? Nein, Selbstschutz!


10.03.00

Bringe etwas sparsamer Kekse und Gurken mit, damit sie sich nicht überfrisst. Nach dem Kaffeetrinken, muss sie aufs Klo. Sie räumt mit kräftigen Bewegungen die Kommode, den Klappstuhl und die Kleiderbügel beiseite. Sie schließt die Tür nicht ganz und ich höre, wie sie mit den eingebildeten Männern spricht: „Aber schneller kann ich doch nicht, wo soll ich denn sonst hingehen, das ist doch mein Bad.“ Sie kommt raus und sagt: „Die sind so frech, die gehen nicht mehr nach oben, (durch die Decke,) wenn ich auf s Klo muss.“ Da fällt mir auf einmal Popey der Seemann ein, der immer, wenn er Spinat aß, unheimlich stark wurde und seine Gegner mit Leichtigkeit besiegte. „Wenn du die Tabletten schluckst, dann glauben die Männer, dass du stärker bist als sie, und dann laufen sie weg und kommen nie wieder,“ sage ich zu ihr. Bin richtig stolz auf meinen psychologischen Schachzug. Was erwidert sie mir... „Welche Männer denn? Ich hab hier noch nie nich Männer in der Wohnung gehabt!“
...Ich sitze da, als hätte mir jemand eins über den Schädel gegeben. Nach einer Weile sage ich: „Na prima, dann ist ja alles gut.“ Sie guckt mich so von unten herauf an, als wenn sie sagen wollte, du vergackeierst mich nicht, wenn hier jemand Geschichten erzählt, bin ich es. Darauf erhebe ich mich und sage dass es für mich Zeit wird zu gehen. „Ach, jetzt schon? Was soll ich denn nun anfangen so allein?“ Doch ich bin eisern und ziehe meinen Mantel an. Plötzlich wird irgendwo eine Tür zugeschlagen. „Hörst du? Jetzt machen sie wieder Krach da drinnen. Die gehen nicht weg! Und die Tabletten kann ich nicht schlucken, dann bin ich ja gleich tot. Man wollte sie mir einfach in den Mund schieben, aber ich hab mich vielleicht gewehrt, das kann ich dir sagen. Nicht mit mir!“ Sie holt die Seltersflasche aus der Teeküche, die dem Bad gegenüber liegt, bringt sie ins Wohnzimmer, stellt sie auf die Kommode und sagt: „So, hier kann ich darauf aufpassen, da hinten klauen sie mir die sonst.“ Den Inhalt trinkt sie nie. „Denn das schmeckt ja überhaupt nicht.“ Aber klauen lassen, ist etwas anderes. Mir reicht es und ich gehe endgültig. Auf der Straße höre ich lautes Rufen, alle Passanten gucken ruckartig nach oben. Auf dem Balkon steht Hedi und ruft aus vollem Hals: „Tschüss, Tschüüüs!“
Also, wenn man mich fragt, das geht ewig so weiter, bis in alle Ewigkeit Amen!


13.03.00

Dr. Bauer hält Hedi eindringlich vor, dass sie die Tabletten nehmen muss, dann würden auch die bösen Männer im Badezimmer verschwinden. Nun, das habe ich ja auch schon erfolglos versucht ihr klar zu machen. Aber wenn der Arzt das sagt, sollte man meinen... aber ist nicht. Hedi ist hartnäckig und man merkt, das es gar nicht erst in ihren Kopf geht. Sie klagt immer, dass die Männer sie hier vertreiben wollen, aber im Grunde vertreibt sie sich selbst. „So lange sie friedlich dabei bleibt,“ sagt der Doktor, „und niemanden schockt, ist ja alles in Ordnung, aber wenn sie wieder laut und aggressiv wird, sind ihre Tage hier gezählt.“ Noch einmal versuchen wir beide, es in ihren Kopf zu bekommen, nur mit dem Erfolg, dass sie plötzlich ausflippt. Sie ballt die Fäuste, läuft puterrot an und ruft: „Dann will ich lieber tot sein, als die zu schlucken. Das kann ich nicht und hab ich noch nie machen müssen. Nun bin ich so alt geworden, ohne Tabletten, warum soll ich das tun, aber das kostet Geld, ja, das ist es, alle wollen mein Geld!“ Der Doktor und ich sitzen starr da. Na, denke ich, nun ist es soweit. Dr. Bauer hat nun einen Eindruck von Hedi bekommen, wie er sie bislang noch nicht kannte. Sie saß sonst immer so lieb auf dem Sofa, als wenn sie kein Wässerchen trüben könnte. Dr. Bauer verabschiedet sich und will den Schwestern noch einmal sagen, alles zu versuchen, damit Hedi die Medikamente nimmt.
Kaum ist er weg, fängt Hedi wie ein Rohrspatz an zu schimpfen. „Der braucht gar nicht wieder zu kommen, so hat er noch nie mit mir geschimpft.“ Als sie mein versteinertes Gesicht sieht, sagt sie: „Du kommst wohl auch nicht wieder. Nun hab ich mich so gefreut, dass du kommst und nun bist du so. Dann muss ich mir wohl eine andere Wohnung suchen, wäre ich bloß in der alten Wohnung geblieben, dann hätte keiner gesagt, ich soll Tabletten nehmen.“ Mir reicht es jetzt, ich will nur noch gehen. Beleidigt geht sie mit mir auf den Flur, wo wir Frau Kaiser treffen. Die fängt nun ihrerseits an, über die nicht genommenen Tabletten zu reden, ich kann das Wort schon nicht mehr hören. „Frau Kaiser,“ sage ich, „es hat alles keinen Zweck, es dringt nicht durch bei ihr.“ Hedi geleitet mich zum Treppenhaus. Und winkt mir solange hinterher, bis sie mich nicht mehr sehen kann.
Nun warte ich auf das was da kommen wird.


15.03.00

Und es kommt. Nicht mit Hedi. Nein bei uns! Klaus wird mit Verdacht auf Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Zur selben Zeit, als er sich so schlecht fühlt, ruft natürlich Frau Kaiser, für Hedi bei uns an. Ob ich nicht ein wenig mit Hedi plaudern möchte. Ich sehe nur die angstvollen Augen meines Mannes, der sich ans Herz greift, und Hedi ist mir so egal wie noch nie. Ich kläre Frau Kaiser kurz auf, und lege den Hörer auf. Am nächsten Tag, als Klaus auf der Intensivstation liegt, rufe ich im Heim an. Niemand zu erreichen. Da rufe ich Frau Kaiser an, und sage ihr, dass ich fürs nächste keine Antenne für Hedis Auswüchse habe. Man möchte mich in Frieden lassen, bis ich mich wieder melde.
Ich sitze vor dem neuen P.C. Immer noch ungewohnt, und versuche dieses hier niederzuschreiben. Der Verdacht auf Herzinfarkt hat sich nicht bestätigt, ist aber auch noch nicht ganz ausgeräumt. Die Ärzte rätseln noch und checken weiterhin durch.
In vierzehn Tagen wollten wir mit dreißig Gästen Klaus runden Geburtstag feiern. Nun darf ich alle wieder ausladen. Gewiss, es ist Nebensache, Gesundheit geht vor, aber dürfen „wir“ denn gar nichts mehr? Uns wird immer in die Suppe gespuckt. Nur um Hedi dreht sich anscheinend das ganze Universum. Ich bin sauer, traurig, hoffnungslos! Ist dass das Ende meiner Tage? Ins Altenheim rennen und die übrige Familie vernachlässigen? Ich mag nicht mehr! Und kommt mir nicht mehr mit Kindespflicht und sonstigem Opferverhalten. Edith, die liebe, die aufopferungsvolle Tochter. Was hat es mir eingebracht? Verlorene Jahre! Warum kann sie uns nicht endlich vergessen? Sie vergisst doch sonst alles. Die Natur ist grausam.
Doch, was werde ich immer und immer wieder zu hören bekommen, nach dieser meiner Anklage an Gott und die Welt? „Es ist doch ihre Mutter, vergessen sie das nicht.“ Nein, das kann ich gar nicht vergessen. Dazu habe ich viel zu viel mit ihr durchgemacht. Und ich glaube auch, dass ich genug Zeugnis abgelegt habe, sie geliebt und mich um sie gekümmert zu haben. Aber das alles zählt wohl nicht.
So dieses war ein Ausraster meinerseits, und der war mal fällig!


27.03.00

Musste wohl oder übel wieder hin zum Altenheim. Heute war Fußpflege angesagt. Diesmal hat sich Hedi selbst übertroffen. Sie mimte die Herzkranke mit soviel Geschick, dass die Fußpflegerin Angst hatte, sie könnte ihr unter den Händen wegsacken. Völlig ungerührt sagte ich: „Keine Angst, Sie stirbt noch lange nicht.“ Dieser Satz löste in mir Kindheitserinnerungen aus.



1944




In unserem Zimmer, unter dem Dach des Bauernhofes in Niedersachsen, lag meine Mutter apathisch auf dem Bett. Als ich sie fragte: „Mutti, was hast du denn?“ Sagte sie, sie hätte
Kopfschmerzen und Essen könnte sie auch nicht. Ich sollte sie nur in Ruhe lassen. Gerade wollte ich hinunter auf den Hof gehen um mit Christa, der Tochter des Bauern zu spielen, als die Bäuerin Frau Kopmann, in unser Zimmer trat, um sich nach dem Befinden meiner Mutter zu erkundigen. Als sie hörte, dass meine Mutter auch unter Magenschmerzen litt, sagte sie zu mir: „Ja, Edith, da musst du wohl mit dem Fahrrad nach Rethem (die nächste Kleinstadt) fahren und deiner Mutti ein Weißbrot kaufen.“ Als sie meine kindliche Unlust sah, sagte sie im Scherz zu mir: „Am Ende stirbt sie sonst noch.“ Doch statt zu erschrecken, wie sie es wohl beabsichtigt hatte, sagte ich völlig ungerührt: „Die, stirbt noch lange nicht!“ Das konnte die gute Frau nie wieder vergessen und hielt es mir jedes Mal, wenn ich dort auf Besuch war, wieder vor. War und bin ich so ein gefühlskaltes Wesen? Eins steht fest, ich hatte eine prophetische Aussage gemacht. Hatte ich doch damals schon unbewusst erkannt, dass viele ihrer angeblichen Leiden eine Pose waren, um Aufmerksamkeit zu erregen und Mitleid zu erhaschen? Fest steht, das meine Mutter eine eiserne Gesundheit hatte und noch hat. Sie wird hundert, das ist mal klar. Ich nicht, wenn ich dieses hier noch jahrelang mit machen soll.

1945 erlebten wir dann in Niedersachsen das Kriegsende.
Ich ging dort von 1944-45 auf die Dorfschule, und musste an´s andere Ende des Dorfes, um die Schule zu erreichen. Das war die Zeit der Tieffliegerangriffe. So manches Mal brach Lehrer Lenz seinen Satz ab und hieß uns in aller Eile in den Keller der Schule laufen. Dort hockten wir Mädchen auf dem Fußboden und hielten uns die Ohren zu, während die Jungen sich brüsteten, wenn sie erst verteidigungsfähig wären, dann würden sie den Feind peng, peng, peng erledigen. Nach einiger Zeit war alles wieder ruhig und wir konnten nach Hause gehen.
Doch manchmal kam ein verirrter Tiefflieger zurück und es blieb uns nicht anderes übrig, als in den nächsten Graben zu hechten und dort zwischen Entenflott und Kaulquabbeln abzuwarten, bis das sirrende Geräusch in der Ferne erstarb. Unser Hofhund Pollo, eine stattliche Promenadenmischung die einem Bernhardiner ähnelte, erfasste mit dem feinen Gehör des Tieres, schon zehn Minuten vorher die Gefahr und brachte sich mit eingekniffenem Schwanz in Sicherheit. Zuerst lachten wir Kinder über seinen Rückzug, aber bald war es auch für uns das Gefahrensignal und wir rannten hinter ihm her. Eines Tages spielte ich allein im Garten, Pollo lag in der Sonne vor einem Johannisbeerstrauch und schnarchte. Plötzlich hob er den mächtigen Kopf, winselte und schlich ins Haus, ich hinterher. Er kroch unter den Küchentisch und zitterte wie Espenlaub. Dann hörte ich den Flieger kommen. Ich kroch zu Pollo unter den Tisch, schmiegte mich an dieses gutmütige, vor Angst schlotterndes Tier und rief: „Pollo, Pollo, ich hab auch solche Angst.“ Im Hause war um diese Zeit niemand, alles war bei der Feldarbeit. Ich glaubte, dass der Flieger mitten durch den Garten flog, und dass er uns unter dem Küchentisch entdecken würde. Als es nach einer Ewigkeit wieder still wurde, und wir uns endlich trauten unter dem Tisch wieder aufzutauchen, war mein erster Gedanke, wie ist es Mutti und den anderen auf dem Feld ergangen. Doch sie hatten Glück gehabt. Das Feld war weit abgelegen vom Haus und dort war nichts passiert.

Im Frühjahr 1945 bekam der Hof Einquartierung von deutschen Offizieren mit ihren Burschen. Obwohl wir den Kanonendonner der nahenden Front hören konnten, sprachen die Offiziere vom baldigen Endsieg mit der neuen Geheimwaffe, die irgendwo in den Wäldern versteckt sein sollte.
Eines Nachts gab es ein unruhiges Hin und Her Gerenne, und Meldungen an die Offiziere, dann ein schneller Aufbruch und das Haus war ohne Soldaten. Der Hof lag an den Gleisen der Kleinbahn, die des öfteren schon von Tieffliegern beschossen worden war. Hinter den Gleisen kam die Chaussee mit den Apfelbäumen. Auf der anderen Seite des Hauses war ein Feldweg und dahinter ein kleiner Wald. Auf diesem Stück Land, mit dem Hof zwischenden Fronten, spielte sich für uns das Ende des Krieges ab. Das heißt, der Hof wurde im Laufe der Nacht von englischen Panzern besetzt und zum Stützpunkt des Feindes. Stefan, ein ukrainischer Zwangsarbeiter, der aber von der Familie wie ein Angehöriger behandelt wurde und der Familie treu ergeben war, war in der Nacht, der einzige Mann auf dem Hof. Der Bauer war zum Volkssturm eingezogen worden, und die beiden Söhne noch Kinder. Stefan hieß uns also in den Kartoffelkeller hinunter zu gehen, denn oben wären wir unseres Lebens nicht mehr sicher. Er selbst blieb oben, um nach den unruhigen Kühen im Stall zu sehen. Pollo, war natürlich der erste im Keller. Er lag wie ein Teppich zu unseren Füßen und rührte sich nicht.
Dann rollte der erste englische Panzer auf den Hof. Kurze Zeit später wurde die Kellertür aufgerissen und ein Tommy mit angeschlagenem Maschinengewehr blickte uns finster an. Stefan rief: „Nix deutsche Soldaten, nur Frauen und Kinder.“ Wir mussten alle aufstehen und der Tommy vergewisserte sich, dass kein deutscher Soldat sich hinter den Kartoffelsäcken versteckt hatte. Bis der Morgen graute, spielte sich der Kampf um und über dem Hof ab.
Vormittags wurden wir auf den Hof geführt und mussten uns vor dem Panzer aufstellen. Frau Kopmann mit ihren Söhnen, der Tochter Christa, meine Mutter und ich. Die Tommys sprangen von dem Panzer und fingen an, in aller Ruhe ihre Gewehre zu laden, während wir Todesangst ausstanden. Sicher würden sie uns gleich mit ihren frischgeladenen Gewehren erschießen. Doch dann trat ein Offizier auf die beiden Frauen zu und verlangte „Bacon and Eggs!“ Helmut, der Gymnasiumsschüler, übersetzte: „Sie wollen Speck und Eier essen.“ Die Frauen wandten sich um, gingen mechanisch ins Haus und in die Küche. Die Jungs gingen mit Stefan in den Stall, und Christa und ich, liefen unseren Müttern hinterher. Die Bäuerin stocherte im Herd und legte Holz nach, während meine Mutter die Bratpfanne vom Haken nahm und dann Speck in Scheiben schnitt. Um den Küchentisch, unter dem ich mit Pollo gelegen hatte, saßen nun unsere Feinde und sprachen und lachten in einer für uns unverständlichen Sprache. Christa und ich mussten Teller und Bestecke aus dem Schrank holen und auf dem Tisch verteilen, während Frau Kopmann, mit vor Erregung hochroten Wangen, den Speck in der Pfanne wendete, und meine Mutter die Eier aufschlug. Als dann das allgemeine Essen begann, bekamen wir Kinder auch Hunger und Christa jammerte: „Mama, ich will auch was essen.“ Doch die Mutter hörte nicht auf sie und bediente die Tommys weiter. Da bedeutete ihr der Offizier, dass wir Kinder auch zu Essen haben sollten. Wir durften uns mit an den Tisch setzen, und die „Feinde“ waren sehr nett zu uns. Wir bekamen noch obendrein Schokolade und tauten sichtlich auf, während unsere Mütter einem Zusammenbruch nahe waren. Sie befürchteten, dass sie als Dessert verspeist werden sollten.
Alle Gräuel die wir von den Feinden gehört hatten, bestätigten sich aber nicht. Die Briten waren sehr nett und höflich und bedankten sich für das Frühstück, bevor sie wieder nach draußen gingen. Wir mussten wieder in den Kartoffelkeller, weil unsere Wehrmacht den Kampf aus dem Wald wieder aufgenommen hatte und das Haus unter ständigem Beschuss lag. Dann kam Helmut, den die Tommys als ihren Dolmetscher beanspruchten und sagte uns, die Briten wollten uns auf den Nachbarhof bringen, wo wir nicht unmittelbar in Gefahr wären. Wir müssten ganz schnell laufen, weil die Deutschen immer noch in Gefechtsstellung wären. Von je einem Tommy gestützt, rannten Frau Kopmann und meine Mutter los, wir Kinder nebenher. Da fing das tack, tack, tack, der deutschen Maschinengewehre wieder an, und meine Mutter fiel vor Schreck lang hin. Hätte der Tommy sie nicht sofort hochgerissen und weitergeschleppt, wäre sie vielleicht von den eigenen Landsleuten getroffen worden. Ich muss heute noch meine Hochachtung und Bewunderung, über diese, unsere damaligen Feinde, aussprechen. Sie riskierten ihr eigenes Leben, um uns in Sicherheit zu bringen.
Auf dem Nachbarhof wurden wir von der weinenden Bäuerin Behrmann empfangen, die uns schon für tot gehalten hatte.
Am anderen Tag, als die Schlacht geschlagen war, standen die Tommys mit Gewehren im Anschlag, um einen Erdbunker herum, der sich zwischen den beiden Höfen befand. Heraus kamen schluchzend, mit erhobenen Händen, einige höchstens 15 – 16 jährige Jungen in Wehrmachtsuniform. Sie hatten sich dort mit einigen Eimern Marmelade und etlichen Kommisbroten verschanzt, um den Krieg zu überleben. Jetzt, im Anblick der Eroberer mit den auf sie gerichteten Gewehren, fiel ihnen verständlicherweise, das Herz in die Hose. Die Briten waren erst total verblüfft, als sie dieser Kindergestalten in Uniform ansichtig wurden, dann aber, erhob sich ein brüllendes Gelächter. Sie schlugen sich auf die Schenkel vor Vergnügen und konnten sich gar nicht wieder beruhigen. Nachdem die Jungen nach Waffen abgesucht worden waren und der Erdbunker von Waffen geräumt war, rief der erste Offizier immer noch lachend: „Go home to Mummy!“ So nahm der Krieg für uns alle, damals ein gnädiges Ende.
Christa und ich schlichen uns bei der ersten Gelegenheit vom Hof, um bei Wegners die kleinen Katzen zu besuchen. Als wir über das Grundstück zum Haus hinüber stapften, sahen wir auf einem kleinen Hügel einen Soldaten liegen. Er lag dort mit ausgebreiteten Armen und rührte sich nicht. Neugierig gingen wir näher. „Das ist doch Leutnant Lehmann,“ rief ich, „der bei uns gewohnt hat, wieso schläft der hier?“ Christa sah ihn sich noch näher an und sagte dann, ganz nüchternes Landkind: „He is dode!“ Wir hatten noch nie einen toten Menschen gesehen, aber Christa, im Gegensatz zu mir, schon viele tote Tiere.

Dann rückten die Panzer ab. Auch unser Panzer, der auf dem Hof gestanden hatte, fuhr davon. Fröhlich winkten sie uns von oben her ein „Good Bye,“ zu. Einer klimperte auf einer Mandoline. Wo hatte er die denn her? „Das ist ja meine Mandoline,“ rief meine Mutter erstaunt. Einer reckte stolz seinen Arm hoch, an dem wohl mindesten sechs Armbanduhren funkelten, die stammten aber nicht von unserem Hof, so viele besaßen wir alle zusammen nicht. Die Anderen winkten noch lange mit Frau Kopmanns besten Leinenhandtüchern.


Endlich konnten wir Kinder wieder in Wald und Feld herumlaufen.
Die deutsche Armee, hatte bei ihrem Rückzug ganze Wagenladungen von Proviant und Uniformen
zurückgelassen. Jetzt machten sich die Einwohner des Dorfes und die evakuierten Städterinnen (wie meine Mutter und noch einige andere Frauen) mit Handwagen auf den Weg, um sich diese Kostbarkeiten anzueignen. Frau Kopmann sammelte Uniformen, stopfte sie in ein riesiges Waschfass auf dem Hof, und färbte alles blau ein. Die anderen Bäuerinnen machten es ebenso, und noch Jahre später, trugen die Bauern diese ehemaligen Uniformen als Arbeitszeug.
Die Städterinnen hatten ihr Augenmerk auf die Wehrmachtskonserven gerichtet. Leider waren keine Etiketten mehr drauf, oder noch nie drauf gewesen, sodass wir nie wussten, was beim Öffnen herauskommen würde. Es gab immer nur Blutwurst oder Leberwurst, wie wir bald feststellten. Da uns die Leberwurst viel besser mundete als die Blutwurst, gab es jedes Mal ein enttäuschtes „Ach,“ wenn wieder einmal Blutwurst zum Vorschein kam.
Dann hieß es mit einemmal, dass die Briten der Bevölkerung verboten hätten, die Wehrmachtsbestände zu plündern, und es würden Hausdurchsuchungen gemacht. Tatsächlich machten sie Stichproben, aber nicht bei uns. Eine junge Bremerin, die mit ihrem Kleinkind auf einem anderen Hof lebte, hatte unermüdlich mit der Kinderkarre Konserven transportiert und einen schönen Vorrat angelegt. Eines Tages kam sie mit hochroten Wangen zu uns. „Stellen sie sich mal vor,“ sagte sie zu unseren Müttern, „die Tommys haben bei uns Hausdurchsuchung gemacht. Aber bei mir haben sie nichts gefunden.“ Verblüfft guckten die Frauen sie an: „Wieso denn das nicht?“ Sie lachte: „Ich habe alle Konservendosen in dem Bettkasten meiner Couch versteckt, und das haben die nicht entdeckt. Offensichtlich kennen die Tommys so eine Schwenkcouch nicht.“ Wie schön für sie. Nun konnte sie doch ihren Mann, wenn er heimkehrte, gut ernähren.

Der Bauer war vom Volkssturm heimgekehrt und kümmerte sich wieder um seinen Hof.
Da Stefan, mit Tränen in den Augen, abreisen musste, hatte Frau Kopmann ihm noch schnell ein großes P auf seinen Pullover gestickt - weil es hieß, als Pole hätte er es leichter bei seiner Rückführung in die Heimat denn als Ukrainer. Nun gab es für den Bauern sehr viel zu tun.
Er sah sich also nach seinen Söhnen um, die ihm zur Hand gehen sollten. Er traf sie nach langem Suchen im Gehölz, in dessen Mitte ein Froschteich lag. Die Jung ´s hatten nach Wehrmachtsmunition im Teich gefischt und gegraben und waren auch fündig geworden. Gerade hatten sie ein ansehnliches Arsenal vor sich ausgebreitet. Vom Granatwerfer bis zur Panzerfaust war alles vorhanden Sie knieten begeistert davor und wollten nun daran herum montieren, während Christa und ich neugierig zuguckten. Der Bauer erfasste die Situation blitzschnell. Zwei schallende Ohrfeigen für die Jung´s und ein „ab mit euch auf den Hof,“ für uns alle, beendete dieses gefährliche Abenteuer, dem so manche Kinder damals zum Opfer gefallen sind.

Dann fing auch die Schule wieder für uns an.
Als wir am ersten Morgen in das Klassenzimmer traten, kam es uns irgendwie verändert vor. Was war es denn gleich... Richtig! An der Wand, wo vorher das Bild des „Führers“ gehangen hatte, hing nun ein schlichtes Heidebild.
Unser Lehrer begrüßte uns mit einem „Guten Morgen Kinder!“ Auch diese Begrüßung erschien uns ungewohnt.
Aber Wilfried würde froh darüber sein. Er hatte doch immer „Guten Morgen,“ gesagt und sich jeden Morgen eine Ohrfeige vom Lehrer eingefangen: „Wie heißt es? „Heil Hitler!“ heißt es. Nun würde es ihm besser ergehen. Da kam er auch schon in die Tür.
Und was sagte das Unglückswurm... „Heil Hitler!“ Schon hatte er die gewohnte Ohrfeige weg. „Wie heißt es: „Guten Morgen,“ heißt es. Wilfried ging verdattert an seinen Platz. Da sollte noch einer draus schlau werden, nun hatte er doch endlich richtig gegrüßt, aber jetzt war das auch wieder nicht richtig. Doch es sollte noch besser kommen. Der Lehrer holte seine Geige und stimmte damit das Lied: „In der Lüneburger Heide,“ an. Ratlos sahen wir Kleineren uns an. Die Großen grinsten nur. Sonst hatten wir doch immer morgens das „Deutschlandlied,“ oder „Die Fahne hoch,“ gesungen. Nee, das war ja nun alles verkehrt herum, aber den Lehrer fragen, wieso, warum, das traute sich keiner, dann hätte es doch nur Ohrfeigen geregnet!

Meine Mutter aber hatte hier keine Ruhe mehr. Es hieß, wer bis zu einem gewissen Stichtage nicht wieder in Hamburg gemeldet wäre, der hätte keine Chancen in absehbarer Zeit dort wieder ansässig zu werden. Also, schrieb meine Mutter an meine Oma mit der Bitte, sie möchte sich doch einmal nach einer Wohngelegenheit für uns umsehen. Nun traf es sich trauriger Weise, dass Omas Tochter Greta, ihren Mann vor kurzem durch eine schwere Krankheit verloren hatte. Sie fühlte sich in dem Zimmer, wo er so gelitten, nicht mehr wohl und hatte ihrerseits Ausschau nach einer anderen Wohnungsmöglichkeit gehalten. Das hatte tatsächlich irgendwann geklappt Oma hatte sofort geschrieben, dass wir uns beeilen sollten nach Hamburg zu kommen, Greta, würde uns das Zimmer solange frei halten, wie es machbar wäre. So kamen wir im Herbst mit unseren wenigen Habseligkeiten wieder an.



April 2000




Habe Dr. Bauer bei meiner Mutter getroffen. Er machte mir wieder den Vorschlag, dass es doch besser wäre, wenn meine Mutter in einem Zweibettzimmer wohnen würde. Sie hätte dann Gesellschaft und wäre nicht mehr allein, was sie doch immer beklagen würde. Ich stimmte ihm diesmal voll zu, sagte ihm aber, das man vielleicht erst mal eine Probe machen sollte, denn wie gesagt, Hedi ist schwierig. Nachher gefällt ihr diese Stubengenossin nicht, und sie will plötzlich wieder in ihre Wohnung, was dann ja nicht mehr möglich ist. Ich sagte ihm auch, dass die Bösewichte wieder am Wirken seien, weil die Medikamente, die sie vertreiben sollen im Klo schwimmen und eigentlich nur den Ratten in der Kloake helfen, ihre Depressionen zu überwinden. Ein Zivi hat es eine halbe Stunde versucht, durch gutes Zureden, Hedi zur Einnahme der Tabletten zu überreden. Sie weinte herzerweichend. Er ging resigniert auf den Flur, und sagte den dort Anwesenden, er könne der alten Frau die Medikamente doch nicht mit Gewalt einflössen. So ergeht es auch den Schwestern, von mir ganz zu schweigen. Wieder stellt sich die Frage, wie soll es nun weitergehen?
„Lassen wir erst einmal alles wie es ist,“ sagte Dr. Bauer, „es kann sein, das sie wieder aggressiv wird, weil der Druck ihrer Wahnvorstellungen zu groß wird; kann aber auch sein, sie lebt damit bis ans Ende ihrer Tage. Besser, sie sitzt hier allein auf dem Sofa, als dass sie in der Dementen-Abteilung für Unruhe sorgt.“
Sie hat sich ihr Schicksal ja nicht ausgesucht, und ich versuche bei meinen Besuchen sie etwas von ihrem Wahn abzulenken. Z.B. mit Musik, und was ihr das Wichtigste scheint, obwohl sie nicht immer weiß wer ich bin, mit meiner Anwesenheit. Ich tröste mich damit, das es vielen Töchtern und wohl auch Söhnen, so ergeht wie mir, und wer weiß wie wir einmal in dem Alter sein werden.


26.04.00

Ostersonntag: Das Telefon klingelt am Vormittag. Frau Kaiser: „Die Mutti möchte ihnen „Frohe Ostern“ wünschen und fragen ob sie heute kommen ja? Ich selbst bekomme Besuch, und dann ist sie ja wieder so allein. Ostermontag ist hier nachmittags ein Kaffeetrinken mit der Heimleitung, da brauchen sie dann ja nicht zu kommen.“ Toll, Frau Kaiser verplant unser Osterfest. Mit meinem Heuschnupfen wollen wir gerade auf unser Segelboot. „Tut mir leid,“ sage ich, „aber heute kann ich nicht kommen.“ „ Ach das ist aber schade, dann ist die Mutti ja wieder so allein. Nun kommen sie mal, Frau Riemann und wünschen ihrer Tochter ein frohes Osterfest. Hedi kommt und sagt: „Ich soll „Frohe Ostern“ sagen, sagt sie. (Fr. Kaiser) Ich weiß gar nicht was das ist.“ Langsam reicht mir diese Bevormundung von Frau Kaiser. Was macht sie denn aus Hedi. Eine Marionette. Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, sagt Klaus sarkastisch: „Warum ziehst du nicht gleich ins Heim, für mich hast du doch gar keine Zeit mehr.“ Irgendwie ist mir durch dieses Gespräch das Osterfest verdorben.

Kann nachts nicht schlafen, da durch die Frühjahrsallergie die Bronchien in der Nacht pfeifen und uns beide wach halten. Am Dienstag gehe ich Vormittags zu Hedi. Im Hof sitzen Frau Kaiser und eine andere alte Dame auf einer Bank, und Frau Kaiser überfällt mich gleich mit einem Gesundheitsbulletin meiner Mutter. Die andere Dame guckt mich kühl an, als wollte sie sagen, das ist ja eine feine Tochter, besucht nicht einmal zu Ostern ihre Mutter. Oben steht Hedi am Treppenhausfenster und schaut ins Leere... Übrigens, das ist das erste Osterfest an dem ich sie nicht besucht habe. Ich komme schließlich jede Woche, und Hedi weiß doch, nach ihren eigenen Aussagen am Telefon, gar nicht mehr was Ostern bedeutet. Hedi ist stockheiser, hat sich also eine Erkältung zugezogen. Ich spreche mit Schwester Anna, die mir sagt, dass sie Hedis Arzt angerufen hat, er wird im Laufe des Tages kommen. Wir unterhalten uns eine Weile und Schwester Anna sagt, dass es Frau Kaiser manchmal zu viel wird mit Hedi. Da kann ich mich nicht mehr halten und sage: „Wenn man meiner Mutter den kleinen Finger hinhält nimmt sie die ganze Hand. Sie kann einen Menschen restlos vereinnahmen. Davor habe ich Frau Kaiser gewarnt.“
Aber Frau Kaiser hat es mit ihrer „christlichen Nächstenliebe“ übertrieben, (siehe Frau Maiers Bericht) und jetzt möchte sie gerne einen Rückzieher machen, wie will sie das aber Hedi klarmachen. Ich sage: „Ich komme zweimal die Woche meine Mutter besuchen und dann werde ich noch laufend von Frau Kaiser angerufen, ich solle meine Mutter am Telefon aufmuntern, das wird mir nun zu viel. Ich erkenne alles an, was Frau Kaiser für meine Mutter getan hat und habe ihr auch öfter Blümchen mitgebracht um meine Dankbarkeit zu beweisen, aber es geht nicht an, dass ich meinen Mann vernachlässigen soll, um ständig für meine Mutter da zu sein. Außerdem habe ich auch nur Nerven.“ Schwester Anna sagt: „ Einmal die Woche ist doch genug, wenn sie ihre Mutter besuchen. Sie müssen doch auch ihr eigenes Leben leben. Sie lebt doch hier im Heim und wird versorgt.“ Der langen Rede kurzer Sinn, Schwester Anna, hat Frau Kaiser wohl gesagt, dass mir ihre Anrufe auf die Nerven gehen und nun ist sie eingeschnappt. Ja, soviel zu Ostern 2000!



Briefe




Beim Durchblättern alter Briefe und Fotos, sind mir einige Briefe in die Hände gefallen die ich 1949, während einer Klassenfahrt nach Undeloh, an meine Mutter geschrieben habe.

Liebe Mutti 5. 9. 1949
Ich bin hier gut angekommen wir waren um 11 Uhr hier. Ich schlafe mit 23 Mann im Zimmer. Die Zimmer sind schön groß und geräumig, es ist ein hübscher Ausblick vom Fenster ein großer Garten und dahinter ist die Kirche. Regina hat eine Zeugmaus mitgebracht und wir haben gekreischt. Zum Mittag haben wir Pellkartoffel mit Specksoße aber Herr Wittenberg sagt es gibt sonst besseres.
Jetzt liegen wir im Bett schreiben Briefe und essen Schokolade jeder hat eine Tafel gekriegt die Fahrt war auch ganz gut bist du noch gut zur Arbeit gekommen?
Es grüßt dich Deine Edith

Liebe süße Mutti 8. 9. 49
Wir sind nun vier Tage hier aber mir ist als ob schon eine Ewigkeit her ist seit Montag gewesen ist, ich zähle schon die Tage bis ich wieder bei Dir bin, Du brauchst nun nicht zu denken dass ich Heimweh hab aber ich bin doch froh wenn ich wieder da bin. Sonst ist es hier sehr schön, das Essen ist gut und reichlich jeden Abend können wir soviel Milch kriegen wie wir haben wollen die Heide ist nur ein paar Schritte vom Haus entfernt so was Hübsches hab ich noch nie gesehen. Karin und ich gehen in unserer Freizeit immer zur Heide. Ich kann mich gar nicht satt daran sehen. Herr Wittenberg sagt schon: „Ihr nutzt die Freizeit ja aus.“ Denn die anderen pflanzen sich immer in ihre Betten. Ich sage mir immer in den Betten kann ich auch zu Hause liegen ich will die Natur genießen. Wir haben auch schon Dienstag eine nächtliche Wanderung gemacht. Heute waren wir zum Totengrund also das ist wirklich schick, die anderen finden das ja eintönig aber das ist mir ja egal. Einen alten Bauernhof haben wir heute auch besichtigt.
Gestern Abend war große Aufregung eine aus der Klasse Gisela hat aufgebracht Herr Wittenberg wäre betrunken und da ständen 16 Bierflaschen auf seinem Tisch, und das hat Herr Wittenberg gehört und da hat er gesagt: „Wer hat das gesagt er wackelt mit dem Kopf er ist betrunken?“ und nun guckt er Gisela nicht mehr an. An Oma hab ich auch schon geschrieben, hast Du den Brief und die Karte gekriegt? Nächste Woche schreibe ich Dir noch eine Karte um welche Zeit wir Montag wiederkommen. Karin hat zu mir gesagt Du hättest Tränen in den Augen gehabt stimmt das? Hoffentlich gehen die 10 Tage schnell herum, so hübsch es hier ist ich mag tausend mal lieber bei dir sein. Schreibe mir man bitte wenigstens einmal viele haben schon Post gekriegt es grüßt und umarmt Dich Deine Edith. Meine süße liebe allerbeste Mutti auf der ganzen Welt. Das Wetter ist hier ganz gut.



Meine Mutter schrieb mir in einem Brief, den ich nicht mehr habe, sie hätte in der Zeitung von einer Klassenfahrt an die Nordsee gelesen. Dort hätten die Kinder sich an den Händen gefasst, also eine Kette gebildet, und wären ins Wasser gelaufen. Plötzlich wäre eine Riesenwelle gekommen und hätte die Kinder mit sich gerissen. Ein schreckliches Unglück. Nun hätte sie Angst um mich, falls wir baden gehen sollten. Nun ist die Heide ja nicht die Nordsee, aber das hatte sie wohl in ihrer Angst, und sie hatte eigentlich immer Angst um mich, nicht bedacht.

Liebe Mutti 11. 9. 49
Wegen des Badens kannst Du ganz beruhigt sein wir kommen gar nicht dazu, heute ist Sonntag und Herr Hottenrott ist gekommen. Du weißt doch das ist der Märchenerzähler und heute Nachmittag waren viele Eltern da. Aber das ist ja nicht nötig um so größer ist dann nachher die Freude. Du fragst mich ob ich mit dem Geld auskomme ich hab noch 20 Pfennig dafür kaufe ich noch für diesen Brief eine Marke und dann ist es alle. Andere haben einen Heidekorb gekauft für eine Mark, aber ich mache einen hübschen Heidestrauß mit Tannenzapfen und Vogelbeeren dazwischen das ist ebenso hübsch. Wir haben schon allerhand Kaltverpflegung gekriegt. Jetzt haben wir noch 3 Tafeln Schokolade zu kriegen die bring ich mit das tu ich ganz bestimmt. Ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut zum Sonnabend habe ich ihn gekriegt. Ich zähle schon die Tage bis ich wieder bei dir bin morgen ist wenigstens schon die Hälfte rum die meisten freuen sich darauf. Du denkst wohl ich bin verschwenderisch mit meinem Geld gewesen aber Ursel B. hat in 2 Tagen 10 Mark verbraucht und noch 12 Pf. Schulden.
Morgen gehen wir zum Wilseder Berg, Herr Hottenrott sagt da kann man bei klarem Wetter sogar den Brocken und Hamburg sehen. Na Vielleicht seh ich Dich dann am Fenster deiner Firma stehen, ist natürlich nur Spaß.
Wir müssen jeden Tag Tagebuch führen und dabei schreibe ich mir immer auf was es zum Essen gab heute Nachmittag gab es sogar Butterkuchen und Kakao ich habe drei große Becher getrunken also annähernd dreiviertel Liter jetzt müssen wir zu Bett Deinen Brief lese ich jeden Tag Herr Wittenberg kommt schon also Gute Nacht.


12. 9.49
Den Leinrock konnte ich nicht anziehen denn an der Seite ist ja gar kein Verschluss. Wir fahren um ¾ 1 Uhr hier ab und kommen um 3 ½ 4Uhr bei der Schule wieder holst Du mich dann ab?
Eben ist die eine Abteilung abgefahren die ganze Klasse hat gesagt die haben es gut, ich hab mich ordentlich gewundert. Karin läuft andauernd in der Hoffnung hinaus das ihre Eltern kommen aber das glaub ich ja nicht.
Dieses ist der letzte Brief den ich schreibe denn ich habe kein Geld mehr dazu. Also um halb 4 kommen wir alle anderen werden auch abgeholt
Es grüßt Dich Deine Edith.



2000




20.06.00

Nach einem mehrwöchigen Urlaub, in dem mich Susann bei Hedi vertreten hat, gehe ich den gewohnten Gang zum Heim. Die Tasche voller Fressalien. Die Straßen flimmern in der Hitze die über Deutschland hereingebrochen ist. Habe meinen Groll gegen Frau Kaiser begraben, denn sie hat, wie mir Susann berichtet hat, treulich für Hedi gesorgt. Die Wäsche für die Wäscherei zusammengesucht – und das ist nicht einfach, denn Hedi packt die Sachen irgendwohin, wie es ihr gerade in den Sinn kommt. Hat ihr Berliner Pfannkuchen aus der Bäckerei besorgt, Hedis Lieblingskuchen, und ein Auge auf ihre Kleidung gehabt. Ist mit ihr im Heim-Park spazieren gegangen und hat versucht sie aufzumuntern, wenn Hedi wie so oft depressiv war. Nun bei unserem Versöhnungsgespräch, erzählt Frau Kaiser mir, dass sie in den Heimbeirat gewählt wurde und hoffe dadurch etwas bewirken zu können, zur allgemeinen Besserung der Verhältnisse im Heim. Hedi beobachtet natürlich eifersüchtig unser Gespräch, ohne etwas davon zu erfassen.
Sie hat gejubelt, als ich kam. Nie hätte sie gedacht, dass ich noch einmal wiederkäme. Die Andere, „wie heißt sie noch?“ (Susann) wäre gar nicht gekommen und fast wäre sie inzwischen verhungert. Hoffentlich würde ich nicht noch eine Andere mitbringen, (Fußpflegerin) denn die hätte sie gequält. So kriegt jede in ihrer Abwesenheit ihr Fett mit.
Auf dem Flur treffen wir einen alten Herrn, der uns kummervoll erzählt, dass seine Frau, nach 56jähriger glücklicher Ehe nun im Krankenhaus im Koma liegt. Er ist sehr traurig, aber er möchte uns unbedingt seine Wohnung zeigen, die er bislang mit seiner Frau hier auf der Etage bewohnt hat. Hedi grummelt vor sich hin, denn das geht ja alles von der kostbaren Zeit - allein mit Edith - ab. Der alte Herr öffnet jetzt die Kleiderschränke und zeigt uns die Kleidung seiner Frau. Unter anderem einen Pelzmantel. Bekümmert sagt er: „Was soll ich bloß damit machen, wenn meine Frau nicht wieder kommt. Ich kann die Sachen doch nicht einfach verschenken. Sehen sie hier den Wohnzimmerschrank, eigens für diese Wohnung gekauft. Meine Frau hat sich abends immer so an der Beleuchtung in der Glasvitrine gefreut. Wenn sie nicht wieder kommt, ziehe ich hier wieder aus.“ Hedi macht hinter seinem Rücken ungeduldige Zeichen. Sie will zurück in ihre Wohnung. Schritt für Schritt ziehen wir uns aus der Wohnung zurück, während der alte Herr in seinem Kummer und seinem Mitteilungsdrang uns folgt. Möglichst taktvoll beende ich das Gespräch, und er wünscht uns noch einen schönen Tag.
In ihrer Wohnung erzählt mir Hedi ganz lebhaft von Leuten, die ich nicht einordnen kann. Existieren sie nur in ihrer Phantasie oder sind sie tatsächlich existent, ich komme nicht dahinter. Ich nicke jedenfalls mit dem Kopf und sie glaubt sich verstanden. Als ich gehen will, begleitet sie mich bis in den Park, wo einige Bewohner im Schatten sitzen, unter anderem auch Frau Kaiser. „Seht nur, wie sie strahlt,“ ruft sie, „die Tochter ist da, nun hat sie wieder aufgetankt!“

Es wird immer so weitergehen, das ist gewiss. Und sicher ist auch, dass sie am nächsten Tag abstreitet, dass ich da gewesen bin.


26.06.00

Habe meine Besuche jetzt auf einmal die Woche reduziert. Heute überfällt Hedi mich mit einem Wortschwall der bis zum Ende meines Besuches anhält. Doch davon gleich. Als erstes sehe ich, dass sie nun auch die Balkontür verbarrikadiert hat. Der Vorhang ist zugezogen und ein Sessel steht davor. „Ach,“ sage ich, „das ist doch der Sessel, auf dem ich immer sitze.“ „Ja, dann kannst du ihn da wegnehmen, wenn du da bist, macht das nichts.“.... Eine neue Blüte des Verfolgungswahns. Dann erzählt Hedi weiter. Dr. Bauer wäre kurz vor mir da gewesen und hätte ihr gesagt, dass sie kerngesund wäre. „Ich sehe ja auch viel jünger aus als ich bin. Wie alt bin ich eigentlich? Heute Nacht, stell dir das mal vor, waren „Sie“ hier und haben gesagt, ich soll hier raus und zu dir gehen. Mitten in der Nacht. Da hab ich so getan, als ob ich schlafe. Ob die wieder kommen?“ „Dann tust du wieder so als ob du schläfst, dann können die gar nichts machen.“ „Aber mit Frau Haase (der ehemaligen Heimleiterin) haben sie das auch gemacht, die hat jetzt eine ganz kleine Wohnung und muss immerzu im Wasser schwimmen. Das kann ich doch nicht, da falle ich doch gleich um. Dann will ich lieber sterben, als da hin zu müssen, die arme Frau Haase tut mir ja so leid.“ So geht es munter weiter, sie vergisst dabei ihren Kaffee zu trinken und den mitgebrachten Kuchen zu essen. Wenn sie bei Frau Haase angelangt ist, geht es wieder von vorn los. „Aber das erzähl ich nur dir, hier hab ich das Niemandem gesagt, die sind dann immer gleich so komisch.“ Als ich gehen will, fragt Hedi mich: „Wer bist du eigentlich? Bist du meine, meine...“ „Ja, ich bin deine Tochter.“ „Wirklich? Hier war mal eine, die hat auch gesagt, dass sie meine Tochter wäre.“
Ich werfe noch schnell einen Blick in den Kleiderschrank, komisch die Bügel haben sich schon wieder vermehrt. Komme mit den Aufräumungsarbeiten einfach nicht weiter. Dann begleitet sie mich bis in den Innenhof und winkt, solange sie mich sehen kann. Es ist immer wieder ein niederschmetterndes Erlebnis.


03.07.00

Als ich im Bad etwas auswaschen will, bedeutet mir Hedi ängstlich, ich möchte da doch wieder rauskommen, denn dieser Raum gehört doch „Ihm“ und er wird sonst ganz böse und ärgert sie wieder in der Nacht. Es ist nicht mehr aus ihrem Kopf herauszubringen, da helfen auch keine Medikamente.
Eine Schwester hat mich am Anfang einmal gefragt, ob ich wüsste, warum Hedi so eine Männerhasserin ist. Ich bin kein Psychologe, aber ich könnte mir denken, dass die Männer, zu denen sie in der Vergangenheit gezogen ist, sie zutiefst enttäuscht haben. Denn eigentlich wollte sie ihr Leben nach ihrem Gusto führen. Musste sich aber immer wieder anpassen, aus Angst das Dach über dem Kopf zu verlieren. Später mit Onkel Heinz, der ein herzensguter Mann war, aber in seinem Leben kein Buch in die Hand genommen hatte, hat sie sich gelangweilt. Denn Lesen, das war ja von Kind auf ihre Lieblingsbeschäftigung und die Musik. Darüber möchte man sich ja gern mit seinem Partner unterhalten, aber das war nicht möglich.
Onkel Gerhard, teilte wenigstens die Liebe zur Musik mit ihr, und sie besaßen eine beachtliche Sammlung von Schallplatten. Jedenfalls, war es kein erfülltes Leben, das sie geführt hat. Meinen Vater als Ideal, in der verklärten Erinnerung immer vor Augen, da konnte kein anderer Mann bestehen.
Allein konnte sie aber auch nicht sein, das stellte sich nach dem Tode Onkel Gerhards heraus. Darum zog sie ja ins Heim, zu ihren Freundinnen. Männer vermisst sie nicht mehr. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, im Unterbewusstsein arbeitet sie immer noch. Nur so kann ich es mir erklären, dass „Männer,“ nun seit Jahren ihr Bad bevölkern und sie damit weiter quälen.


19.09.00

Heute haben wir von mir in der dritten Person gesprochen. Hedi erzählte mir, dass Edith nicht mehr kommen würde. Sie hätte sie einmal vom Balkon aus gesehen, da wäre sie mit vielen Leuten unten auf der Straße vorbei gegangen. Sie wollte rufen, aber es ging alles so schnell. „Nein, Edith kommt nicht mehr.“ Ich habe es aufgegeben ihr zu sagen, dass ich, die hier neben ihr sitzt, Edith, ihre Tochter bin. Es bringt nichts mehr. Wie Dr. Bauer unlängst sagte, vom Hals abwärts, wird sie eine Konserve, aber im Kopf wird es immer weniger. Damit muss ich mich abfinden, und neunzig Jahre sind ja auch ein stattliches Alter.
Ich besuche sie nach wie vor, aber wie gesagt, nur noch einmal die Woche. Nach zwei Stunden, die ich mit Zuhören ihrer Phantasien, mit Aufräumen ihrer Kommodenschubladen und ihres Kleiderschrankes zubringe, ihre Perücke kämme, eine CD auflege, raffiniert versteckten, verschimmelten Kuchen finde, mir den Kopf zergrüble, wie ich sie meinerseits unterhalten könnte, aber mir nichts einfällt, bereite ich sie langsam darauf vor, dass ich nun gehen müsste. Das Resultat ist jedes Mal anders. Mal nickt sie verständnisvoll: „Natürlich, das musst du, aber du kommst doch wieder, oder?“ Dann bin ich gerührt. Ein anderes Mal schreit sie: „Nein, du kannst mich doch nicht allein lassen, ich bin doch immer so allein.“ Dann bin ich verzweifelt: Wie oft habe ich in meinen Aufzeichnungen nun schon geseufzt: „Wie soll es nun weitergehen, so kann es doch nicht immer weitergehen.“ Aber es geht... einfach immer so weiter. Gehe mit schlechtem Gewissen, komme mit schlechtem Gewissen, und werde dabei selbst immer älter.


25.09.00

Heute hat sie nur geschimpft. So könnte sie doch nicht weiterleben, schon gar nicht in diesem Heim, wo man ihr nichts vernünftiges zum Essen gäbe. Als ich die Süßigkeiten und den Kuchen auspacke, beachtet sie es kaum. Dann bringt der Pfleger den Kaffee, sie stellt die Kanne auf die Illustrierte, die ich ihr mitgebracht habe – obwohl ich weiß, dass sie sie nicht lesen kann - aber vielleicht besieht sie sich ja die Bilder. Nun sind auf der Zeitschrift einige Kaffeeflecke zu sehen, die sie beim Einschenken in die Tasse vergossen hat. Plötzlich sieht sie entsetzt die Flecke an und ruft „Was ist das, was ist das?“ und fürchtet sich offenbar davor. Dann zeigt sie in die Zimmerecke, wo der Fernseher steht und flüstert: „Da sind „Sie“ jetzt auch und ärgern mich. Nur das Bett gehört mir noch.“ Ich lege ihr schnell ein Stück Kuchen auf den Teller um sie abzulenken. Sie beißt ein Stück davon ab und verzieht das Gesicht vor Widerwillen. „Nein, das kann ich nicht essen.“ Ich habe vier verschiedene Stücke gekauft, aber keines mag sie. „Nein, das ist ja kochendheiß, das kann man nicht essen. Beim dritten Stück sind einige Mandelblätter drauf.
Sie nimmt seelenruhig das Gebiss heraus und pult die Mandeln davon ab. Dann wendet sie sich zu mir um und sagt begütigend: „Aber dafür kannst du ja nichts.“ Vom vierten Stück isst sie ein wenig, offenbar um mich zu versöhnen. Am Ende werfe ich den Kuchen heimlich in den Müllbeutel, den ich nachher entsorge. Dann lächelt sie mich an und fragt: „Was machen denn deine Leute, gehen die noch zur Schule? Er (Susann) kommt ja nicht mehr. Der hat sich hier geärgert und nun kommt er nicht mehr. Aber auf der Straße gehen sie alle vorbei, das hab ich gesehen. Aber hier kommen sie nicht mehr her.“ Was soll ich darauf noch antworten. Ich gehe zum HIFI-Turm und lege eine CD mit immer den gleichen Lehar Melodien auf. Das einzige was noch geht. Der Tonarm vom Schallplattendeck ist kaputt, der Saphir herausgebrochen. Vom Kassettendeck lassen sich die Klappen nicht mehr schließen, geht also auch nicht mehr. Wer weiß, was sie damit anstellt, wenn sie alleine ist. Als „Blume von Hawai“ ertönt, summt sie mit und ihr Gesicht entspannt sich. Musik ist das einzige Instrument, das noch Zugang zu ihr findet.

„Die Schuhe drücken, was mach ich denn nun?“ „Du hast noch andere Schuhe,“ sage ich und suche sie. Im Kleiderschrank finde ich einen, ich suche weiter und finde den anderen unter den Handtüchern vergraben. Jedes mal räume ich die Schränke und Schubladen auf, und jedes mal ist alles wieder durcheinander. Nein, die Schuhe kann sie auch nicht tragen, die sind zu weit. Also zieht sie die vorigen wieder an, und siehe da, die passen doch wunderbar. Für mich wird es Zeit zu gehen, es kribbelt schon in allen Gliedern. Auf dem Flur treffe ich Frau Kaiser, die mir erzählt, dass es Hedi immer so schwindelig wird, ob ich nicht mal mit Hedi zum Arzt gehen könnte, damit man vielleicht eine Tomographie von ihrem Kopf macht...
Ich sage: „Frau Kaiser einer Neunzigjährigen darf doch wohl schon mal schwindlig werden.“ Ja, das findet Frau Kaiser eigentlich auch, aber könnte es sein, dass Hedi vielleicht damit auf sich aufmerksam machen will, weil sie doch immer so allein ist. (Seufz.)
Kurzerhand gehe ich auf dem Rückweg zu Dr. Bauer in die Praxis. Frage ihn um Rat, was ich noch tun kann für meine Mutter, und ob ich etwas unternehmen müsste, damit sie auf die Dementen-Abteilung kommt, von der ich noch immer nicht überzeugt bin, dass sie das Richtige für Hedi ist. Auch dass ich ständig ein schlechtes Gewissen hätte wegen Hedi und doch nicht wüsste was ich dagegen tun sollte.
Dr. Bauer ist sehr nett und sagt mir, dass ich kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, sie wäre doch gut untergebracht und so wie er ein Heim beurteilen würde, wäre es immer so gut wie sein Personal, und das Personal wäre in diesem Heim gut. Auch über Dementen-Abteilung ja oder nein, würden er und der Neurologe entscheiden, und dann würde die Heimleitung mich informieren. „Seien sie froh, dass sie nicht in einem Land leben, wo es keine Altersheime gibt, dann hätten sie ihre Mutter bei sich, und wenn sie wegläuft, müssen sie hinterher laufen und sie wieder einfangen.“ Erleichtert verlasse ich seine Praxis und nehme mir vor Frau Kaiser nun immer zu entgegnen: „Darüber entscheiden der Arzt und der Neurologe.“


03.10.00

Heute: „Tag der Einheit“. Muss alles für Hedi, in der Tankstelle gegenüber dem Heim einkaufen. Es gibt wenig Auswahl und natürlich teuer, aber die Schokolade und Kekse kann ich zumindest ergattern. Hatte keine Gelegenheit es am Tage zuvor zu besorgen. Auch zwei Illustrierte nehme ich noch mit.
Auf dem Flur kommt Hedi mir schon entgegen: „Oh, wie schön, wie schön dass du kommst. Das hätte ich ja nie gedacht, dass du noch mal kommst.“ Na ja, den Spruch kenne ich ja schon, aber wenigstens ist sie einigermaßen drauf. Sie wartet schon die ganze Zeit auf das Essen: „Und die kommen einfach nicht, ist das nicht unerhört.“ „Na, ich habe dir doch etwas zu essen mitgebracht, und siehst du, da kommt ja schon Schwester Sophie mit dem Kaffee.“ „Na, das wird aber auch Zeit,“ sagt Hedi barsch zu der freundlich lächelnden Schwester. Die blinzelt mir zu, das kennt sie schon, Hedi ist nicht die Einzige, die so sehnsüchtig auf Essen und Trinken wartet. Das ist nun mal die einzige Freude die die alten Leute haben. Bei Hedi eher mehr Ärger, denn es findet kein Kuchen oder Brot vor ihr Gnade. Das hält sie aber nicht ab, jeden Tag von neuem ungeduldig auf das Essen zu warten. Ein immer gleicher Ablauf. Da kann man nichts machen. Nachdem ich mich zu ihr gesetzt habe, erzählt sie mir, dass der „freche Kerl“ sie in den Hals gebissen hat und das in ihrem Bett. Tatsächlich ist der Stich einer Mücke ganz deutlich an ihrem Hals zu sehen. Sie hat sich schon ganz rot gekratzt. Ich versuche ihr zu erklären, dass das eine Mücke war. „Weißt du, die macht immer Ssss,Ssss.“ Sie nickt: „Ja, das war so was.“ Na also, das versteht sie doch noch, denke ich. Aber fünf Minuten später ist es doch wieder der freche Kerl, der sie einfach im Bett überfällt und beißt. Während sie in dem Pflaumenkuchen mit der Gabel herumstochert und angewidert die Pflaumenschale an den Rand des Tellers schiebt, erzählt sie mir: „Meine Tochter kommt ja nicht mehr, aber neulich ist sie mit vielen Menschen, die alle eine Fahne trugen, hier unten vorbeigekommen. Ich hab hier draußen gestanden,“ sie zeigt auf den Balkon, „und da hat sie hochgekuckt, aber sie ist weiter gelaufen.“
- Vielleicht hat sie eine Demo gesehen. - Ich stelle den Fernseher an, mal sehen ob sie das ablenkt. Man sieht die Oberelbe mit ihren schmucken Bauernhäusern. Da macht es plötzlich Klick in ihrem Kopf. „Da bin ich immer mit Gerhard gewesen.“ Stimmt, dahin haben sie ihre kleinen Ausfahrten gemacht, mit einer langen Kolonne von Autos hinter sich her. Hedi hatte Gerhard jedes Mal ermahnt, langsam zu fahren, damit sie die Landschaft auch wirklich genießen könne. Aber dann interessiert sie das Fernsehen nicht mehr und sie zeigt mir den Vorhang an ihrem Zimmereingang. „Ist der nicht schön? Den hat mein Vater mir geschenkt. Den kannst du haben wenn,... wenn mir was passiert.“


12.10.00

Es wird immer verwahrloster bei Hedi. Überall Kuchen- und Kekskrümel.
Sogar der Seidenblumenstrauß ist mit Krümeln zugedeckt. Als ich ihn über dem Waschbecken ausschütteln will, ruft sie: „Nein, Nein, den sollst du nicht wegwerfen.“ „So, nun ist er wieder wie neu,“ sage ich, und stelle ihn wieder in die Vase. Sie ist beruhigt. Die Sofakissen sind eine einzige Speisekarte, als ich die Bezüge abziehe, klirrt es in einem. Was kommt zu Tage... die Schlüssel zu ihrer Vitrine! Raffiniert versteckt, man kann nur noch den Kopf schütteln. Ich packe die Bezüge in meine Tasche, um sie zum Waschen mit nach Hause zu nehmen, denn es sind keine Namensschilder daran für die Heimwäscherei. Dann klingelt es und Frau Kaiser steht wieder einmal vor der Tür. Jaaa, die Heimleiterin hätte ihr gesagt, dass das Heim darüber entscheidet wann Hedi zu den Dementen im ersten Stock kommt und nicht der Hausarzt und Neurologe. Beide könnten nur über die Medikamente bestimmen, die Hedi einzunehmen hätte. So, da hat sie ihren Trumpf ausgespielt..
Im übrigen wäre Hedi ja auch ganz einverstanden, denn dann wäre sie ja nicht mehr „so allein,“ wie sie Frau Kaiser jeden Tag vorlamentieren würde. Hedi guckt verständnislos, nickt aber eifrig mit dem Kopf. „Nicht wahr Frau Riemann, dann sind sie nicht mehr allein und brauchen auch gar keine Angst mehr zu haben vor den bösen Geistern hier.“ (Wetten, dass sie die Geister dorthin mitnimmt?) Sich zu mir wendend, erklärt Frau Kaiser: „ Abends hat sie immer Angst vor dem Schlafengehen, und ich muss sie dann beruhigen. Das hört dann ja auf, wenn sie mit einer anderen Frau das Zimmer teilt.“

Bitte, soll doch das Heim darüber entscheiden, ich bin langsam mürbe. Wenigstens kann man mir dann nicht die Schuld in die Schuhe schieben, wenn das in die Hose geht. Später nehme ich die Kissenbezüge wieder aus der Tasche und stopfe sie in den Müllbeutel. Die Kissen gleich dazu. Es sind noch drei Kissen da, die noch ordentlich aussehen. Im Geiste räume ich schon das Zimmer leer, denn in ein Zweibettzimmer kann man nicht mehr viel einbringen.
So, eben ist mir beim Überlesen dieser Seite, der Kronleuchter aufgegangen. Hedi hat das Sofakissen mit ihrer Handtasche verwechselt, den Reißverschluss aufgezogen, Schlüssel rein und zugezogen
Ja, es wird wohl wirklich höchste Zeit, dass sie in bessere Betreuung kommt.
Auf dem Flur fehlt eine Bodenplatte. Das ist eine Stolperfalle. Aber wo ist die fehlende Bodenplatte. Im Wäscheschrank finde ich wieder einmal eine Packung Kekse versteckt und Hurra, die Bodenplatte. Hedi versteckt alles. Auch die Abwaschbürste liegt in trautem Verein mit jeder Menge Gabeln, Messern und Löffeln unter verschmierten, verklebten Familienbildern. Ich schreibe dem Hausmeister eine Notiz in sein Auftragsbuch im Treppenhaus, und wie ich ihn einschätze, wird er den Schaden, sprich Bodenplatte morgen behoben haben. Dann ist es Zeit für mich zu gehen. Als ich auf die Straße trete, steht Hedi winkend und rufend auf dem Balkon.


17.10.00

Als ich die Treppen hoch komme, sehe ich Hedi schon auf dem Flur stehen und auf den Kaffeewagen warten. Sie begrüßt mich wie immer überschwänglich: „Nie hätte sie gedacht... usw. usw.“
Ich reiße als erstes in ihrem Zimmer das Fenster auf. Die Luft ist zum Durchschneiden. Dann packe ich meine Einkäufe aus und fange an aufzuräumen. Finde wieder listig angelegte Verstecke für weich gewordene Kekse, und im Wäscheschrank ein Tohuwabohu von Tischdecken, Unterwäsche, uralte Postkarten, Fotoalben, im trauten Verein mit der Geschirrspülbürste. Gerade habe ich ihre Kostümjacke ausgebürstet, auf der sich die Speisekarte der vergangenen Woche etabliert hat, da klopft es. Ich öffne die Tür, und herein kommt eine stattliche Schwester, die mir noch unbekannt ist. In ihrem Schlepptau: Frau Schmidt, die Fußpflegerin. Die Schwester beugt sich begütigend über Hedi, die natürlich nicht weiß wie ihr geschieht. Sie zieht ihr blitzschnell die Strümpfe aus und Frau Schmidt öffnet ihren Pediküre Koffer. Da kommt Hedi zu sich. „Nein, Nein, das will ich nicht,“ schreit sie. „Nun bin ich so alt geworden, nie, nie hab ich so was gemacht.“ Die Schwester spricht auf sie ein: „ Wenn das nicht gemacht wird, Frau Riemann dann bekommen sie Schmerzen, es geht doch schnell und dann sind sie erlöst.“ Doch das kapiert Hedi nicht. Sie schreit weiter, wie ein verzogenes Gör. „Nein! Nein! Ich will das nicht. Lassen sie mich in Ruhe. Meine Schwester ist hier und jetzt machen sie alles kaputt.“ Frau Schmidt sagt: „Wenigstens die Hornhaut und das Hühnerauge muss ich abschleifen, sonst entzündet sich das irgendwann.“ Unter Hedis Geschrei, versucht sie wenigstens das Gröbste zu entfernen. Ich stürze auf den Flur, mein Herz rast und mein Gesicht ist schweißnass – gerade heute morgen war ich zur Grippe-Impfung – der seelische Stress ist bestimmt nicht gut. Auf dem Flur stehen alle Bewohner vor ihren Wohnungstüren, auch Frau Kaiser. Alle sagen wie furchtbar das für mich sein muss und schütteln die Köpfe. Dann höre ich Hedi rufen: „Hanny, Hanny, hilf mir doch.“ Ich gehe wieder hinein, und die Schwester ist dabei ihr die Strümpfe wieder anzuziehen. Sie richtet sich auf und sagt zu mir: „Wir können nichts machen, sie ist ein erwachsener Mensch, und wir haben unsere Vorschriften, zwingen dürfen wir sie nicht.“ Frau Schmidt sagt mir, dass sie es weiter versuchen wird, vielleicht ist sie an einem anderen Tag besserer Laune und es klappt dann. „Sie will ich nie mehr wiedersehen,“ schreit Hedi hinter ihr her, als ich Frau Schmidt auf den Flur begleite. Wir lehnen uns an die Wand und sind beide fix und fertig. Ich sage ihr, und sie sagt mir, wie leid es uns gegenseitig tut, aber was soll man da machen. Dann bin ich wieder mit Hedi allein. Am liebsten möchte ich flüchten, und nie wieder etwas mit ihr zu tun haben, aber das kann ich doch nicht. Ich versuche ihr begreiflich zu machen, dass es so immer schlimmer wird, aber ich rede gegen eine Betonwand. Sie schnallt nichts mehr. Altersstarrsinn? Wahnsinn? Wahrscheinlich das letztere. Ochsenzoll ist bestimmt Endstation. Das bleibt ihr und mir wohl doch nicht erspart. Als ich gehen will, treffen wir Frau Kaiser auf dem Flur. Sie meint, das müsste sie jeden Tag ertragen, irgendeiner schreit immer. Wenn dann die Verwandtschaft auch nicht mehr kommt, wäre es nicht zu ertragen. Also, das heißt: „ Komm weiter deiner Kindespflicht nach, bis in alle Ewigkeit Amen!“


24.10.00

Als ich heute durch die weit offene Wohnungstür trete, sieht sie mich verständnislos an und fragt unwirsch: „ Ja, was ist?“ „Na, was ist denn los?“ Frage ich zurück. Sie sieht mich wieder an und ruft: „ Ach Edith, du bist es, wo kommst du denn her?“ „Von zu Hause,“ sage ich und lache sie an. Sie fängt sofort an zu schluchzen. Sie hätte nun genug von diesem Haus in dem sie leben müsste, und alle wären gegen sie, und die freche Frau hätte sie einfach ausgesperrt, und die anderen hätten gelacht über sie(Hedi). Ich werde überhaupt nicht mehr daraus schlau. Ich will die Tür zumachen, aber sie ruft, das soll ich nicht, sie könnte sonst nicht sehen wann die Frau kommt. (Wer auch immer.) Das ist neu! Sonst tat sie nichts lieber, als sich mit mir von der Außenwelt abzuschotten und mich „ganz für sich allein“ zu haben. Ein Gefühl der Erleichterung überkommt mich, lässt endlich die hartnäckige Fixierung auf mich, bei ihr nach? Während ich ihre Sachen aufräume, läuft sie immer wieder auf den Flur und sucht... ich weiß nicht wen. Der Kaffeewagen kommt und Hedi stürzt darauf zu. „Sie haben mir gestern auch nichts gegeben, jetzt will ich aber was haben.“ Die Lernschwester sagt: „Aber natürlich Frau Riemann, bekommen sie ihren Kaffee.“ „Ja, und meine Schwester auch. Die ist hier auf Besuch.“ „Das ist ihre Tochter, Frau Riemann, nicht ihre Schwester.“ „Ach was, das ist Hanny!“ Also bin ich Schwester Hanny. Wenn ich geglaubt hatte, dass sie nun ihren Kaffee trinken und den Kuchen essen würde, habe ich mich getäuscht. Angewidert verzieht sie das Gesicht, während sie in den Kuchen beißt. Dann schimpft sie wieder über die „Frau“ und zerbröselt den Kuchen dabei in Atome. „Die lässt sich einfach nicht sehen,“ sagt sie, und stürzt wieder raus. Jetzt klopft sie bei Frau Kaiser und ruft: „ Mach doch auf, warum machst du nicht auf?“ Die Tür geht auf und Frau Kaiser steht halb angezogen in der Tür. Sofort macht Hedi ihr Vorwürfe. Sie würde sie immer allein lassen und sich gar nicht mehr kümmern und sie hätte ihr doch gar nichts getan. Frau Kaiser und ich sehen uns an: „Heut ist sie total durch den Schuss,“ sage ich. „Ja,“ sagt Frau Kaiser, „das geht schon einige Zeit so. Ich nehme ja noch an Kursen hier im Heim teil und dann bin ich nicht hier oben, das begreift sie nicht.“ Also, haben Frau Kaiser und ich jetzt die Identität gewechselt und sind austauschbar geworden. Hedi lässt mich links liegen.
Am anderen Ende des Flurs, spricht eine Schwester beruhigend auf eine Frau im Rollstuhl ein, die offensichtlich ins Krankenhaus gebracht werden soll. Da schreit Hedi über den Flur: „Das ist ja gar nicht wahr! Das stimmt ja nicht! Ich hab noch nie nicht jemand was getan!“ Ich gehe zu der Schwester am Kaffeewagen und sage ihr, dass meine Mutter heute total durch den Wind ist. „Ja,“ sagt sie. „Meine Kollegin hat vorhin vom Etagentelefon mit jemandem gesprochen, und ihre Mutter hat hinter ihr gestanden und dazwischen gerufen: „Das ist gar nicht wahr! Das lügen sie doch!“ „Wir mussten so lachen, obwohl es ja eigentlich traurig ist.“ Ich erzähle ihr, dass Frau Kaiser mir immer sagt, meine Mutter käme nun bald zu den Dementen, es müsste nur noch ein Bett frei werden. Das wäre das Neueste was sie hörte, sagt die Schwester: „ Nein, das können wir Frau Riemann doch nicht antun, sie aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen. Das würde doch nicht gut gehen.“ Zurück zu Frau Kaisers Tür, höre ich wieder: „ Na Frau Riemann, bald kommen sie in ein Zimmer zu zweit, da wird dann alles besser...“
Ich dreh auch bald durch. Wieder in Hedis Wohnung, hört man von irgendwoher ein Hämmern. „Siehst du, die lassen mich nicht in Ruhe,“ dann schlägt sie mit der Hand auf den Tisch: „ So, das kann ich auch!“ Jetzt reicht es mir. Das muss ich mir nicht antun. Ich gehe. Sie geht mit nach unten. Sagt mir ganz normal auf Wiedersehen und will nun schnell wieder nach oben, um vom Balkon zu winken. Das warte ich aber nicht mehr ab. Alles hat seine Grenzen und ich bin froh als ich um die Straßenecke verschwunden bin.


30.10.00

Wie ich es mir schon gedacht habe, ist Hedi heute wieder ganz friedlich. Nach dem Kaffeetrinken bringen wir das benutzte Geschirr zu der Schwester am Kaffeewagen zurück. Da sagt Hedi: „Gibt es jetzt Abendbrot?“ Und sucht mit den Augen den Wagen ab.
Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung, bleibt sie vor der geöffneten Tür von Frau Kaiser stehen. Die unterhält sich gerade mit einem Zivi und nimmt keine Notiz von Hedi. Es nützt auch nichts, dass ich sie weiterziehen will, sie bleibt wie in den Boden gestampft stehen. Endlich dreht sich Frau Kaiser unwillig um. „Na, was wollen sie denn?“ Hedi: „ Meine Schwester will nur auf Wiedersehen sagen.“ Frau Kaiser fasst mich ins Auge und überschüttet mich mit einer Flut von Anklagen. Ich sollte mich endlich kümmern, dass Hedi zu den Dementen kommt, denn sie hielte es nun nicht mehr aus mit Hedi. Ewig würde sie ihr auf die Nerven fallen, mit ihrem ständigen Gejammer, sie wäre ja so allein. Sie wären hier alle allein. Sie und Frau Meier hätten sich schon beschwert, dass sie dauernd gestört würden, durch das ständige Gerenne auf dem Flur und das irre Gerede. (Nun sieh mal einer an, welch Sinneswandel plötzlich.) Auf meinen erstaunten Blick hin sagt sie hastig: „Nein, Frau Riemann wäre das ja nicht allein, da wären ja noch Frau J. und Frau L. und ständig würden sie miteinander palavern, die wären auch schon auf der Liste für die Dementen-Abteilung. Bevor ich auch mal etwas dazu sagen kann, dreht sie sich strahlend zu einer neuen Bewohnerin um, die gerade den Flur entlang kommt. Sie eilt überschwänglich auf sie zu und überschüttet sie nun mit ihrem Wortschwall. Energisch ziehe ich Hedi in ihre Wohnung und mache die Tür zu. „Du musst da nicht immer klopfen, das mag Frau Kaiser nicht haben,“ sage ich. „Ja, aber wenn ich das nicht tue, dann kommt sie immer gleich zu mir gerannt. Die mag mich nicht mehr leiden, das habe ich schon gemerkt. Immer sagt sie: „Sie müssen trinken, trinken Frau Riemann.“ „Das geht die doch gar nichts an, ob ich das mache oder nicht.“
Damit hat Hedi ja eigentlich Recht.


6.11.00

Heute steht Hedi schon an der Treppe. Sie wartet nicht auf mich, sondern auf das Mittagessen. Sie guckt mich an und sagt: „Bist du das? Ich hab dich gar nicht erkannt...“ Wer immer „Du“ ist. Na egal, Sie hätte solchen Hunger, und die kommen einfach nicht. Das wäre doch unerhört! Nein die Tür müsste offen bleiben, sonst würden sie ihr nichts zu Essen bringen. Ja und die Frau wäre hier gewesen. „Welche Frau?“ „Na die, wie heißt sie denn noch? Sie hat mich gefragt, ob sie das machen darf, und da hab ich gesagt: „Immer kann man ja nicht nein sagen. Sie war ja sehr nett.“ Nach einem schnellen Blick auf ihre Hände, sehe ich dass Fr. Schmidt da gewesen ist.
Die Fingernägel sind sauber geschnitten. Ob sie auch die Füße geschafft hat, kann ich nicht herauskriegen, Hedi kann sich nicht erinnern, und ihr die Schuhe und Strümpfe ausziehen, das lasse ich lieber, wer weiß was ich damit heraufbeschwöre. Ich packe die Fressalien, wie Schokolade, Kekse, Kuchen und Gurken aus. Zwischendurch läuft Hedi immer wieder auf den Flur, ob denn das Essen noch immer nicht da ist. Endlich kommt die Schwester mit dem Essenwagen. „Meine Schwester ist da,“ höre ich Hedi wieder sagen. Die Schwester kommt mit dem Essen herein und fragt mich: „Sind sie nun die Schwester oder die Tochter?“ Das verschlägt mir denn doch die Sprache. „Sehe ich schon aus wie achtzig oder neunzig?“ „Nein, nein, aber es gibt auch Schwestern die zwanzig Jahre jünger sind.“ ... Ach so, alles klar.

Hedi guckt sich die Kohlroulade mit Salzkartoffeln und Soße an, und verkündet, wie ich schon erwartet habe, „das esse ich sowieso nicht.“
„Du hast doch solchen Hunger,“ „Ja, aber das kann man nicht essen.“ Immer das selbe Theater. Es klingelt. Dr. Bauer: „Na, ihre Mutter wird ja bald neunzig Jahre alt. Dann kommt jemand vom Ortsamt und sie bekommt eine Medaille und eine Urkunde.“
„Wofür? Für langes Leben?“ Begreift sie ja sowieso nicht. Hedi hält einen Holzspieß hoch. „Das kann ich doch nicht essen, was ist das?“ Der hielt die Kohlroulade zusammen. „Ja, der Koch ist sicher ein junger Mann,“ sagt der Doktor, „und junge Menschen denken noch nicht darüber nach, wie gefährlich das für verwirrte Leute sein kann. Sind die bösen Männer noch im Bad?“
„Nach wie vor, sie sehen es an der Kommode vor der Badtür.“ „Ach ja, ich sehe schon.“ Er misst den Blutdruck und sagt: „So alt wie die Generation ihrer Mutter, werden wir alle nicht. Die haben so viel durchgemacht und das hat sie wiederstandsfähig gemacht.“ Womit er ein wahres Wort gesprochen hat.
„Ihr esst zu Hause bestimmt viel schönere Sachen,“ lässt sich Hedi vernehmen. „Da ist was dran,“ schmunzelt der Doktor. „Die heimische Küche ist durch nichts zu ersetzen.“ Sprachs und verabschiedete sich. „So, das Essen bring ich jetzt wieder raus, und das hier mag ich auch nicht.“ Das hier, ist Apfelmus aus der Dose zum Nachtisch. Ehrlich gesagt, das mag ich auch nicht. Ich packe den Spritzkuchen und den Berliner aus und sage: „So, das kann man aber essen.“ „Oh ja, wenn ich dich nicht hätte, du bringst mir wenigstens was zu essen mit. Ich kann mir ja selbst nichts kaufen, die lassen mich ja nicht gehen.“ „ Du brauchst dir nichts zu kaufen, das bringe ich dir, wenn ich komme, doch mit.“ Sie beißt in den Spritzkuchen, guckt über den Tisch: „Wo ist denn der Kaffee? Die haben mich bestimmt vergessen.“ Es ist 13 Uhr.
Wir reden noch ein bisschen hin und her. Von Edith, die ja oft unten auf der Straße vorbeigeht, aber nicht raufkommt. Aber ich bin ja auch ganz nett. Um 14 Uhr, erkläre ich ihr, dass ich nun auch für Klaus Mittagessen kochen muss. Sie ist verständnisvoll und lässt ihn schön grüßen. „Aber du kommst doch wieder?“ „Ich komme immer wieder,“ tröste ich sie.
Wenn mir doch mal einer sagen könnte, was in ihrem Kopf vor sich geht. Aber das weiß wohl auch kein Experte.


21.11.00

„Edith, meine Edith, dass du noch mal wiederkommst, das hätte ich nie gedacht. Ich hab nichts mehr, überhaupt nichts mehr...“ zu Essen, ergänze ich im stillen, und so ist es. Die Kommodenschublade ist leer bis auf ein paar Kekskrümel. Sie schlägt die Hände zusammen, über
all die Herrlichkeiten, die ich auspacke. Sogleich verspeist sie hungrig einen gefüllten Berliner. „Gleich kommt der Kaffee, ich höre draußen schon die Tassen klappern,“ sage ich. Sie guckt mich verständnislos an. „Na, was zu trinken,“ sage ich und mache die Bewegung als hielte ich eine Tasse vor den Mund. Sie kapiert es trotzdem nicht. Als der Kaffee schließlich real vor ihr steht, erzählt sie mir wieder eine phantastische Geschichte. Gestern wäre sie aus dem Bett gesprungen, weil durch die Balkontür Männer gekommen wären um sie zu holen und sie mit einem großen Auto weit weg zu fahren. Sie hätte sich ganz schnell angezogen und wäre auf den Flur gelaufen und hätte sich in einer Ecke versteckt. Bildet sie sich das nun ein, oder ist etwas wahres daran, ich weiß es nicht. Dann kommt Frau Kaiser. Hedi zischt: „Die will ich nicht!“ Doch Frau Kaiser ist so leicht nicht abzuschütteln.
Sicherlich hätte meine Mutter mir schon erzählt, was gestern Nacht vorgefallen wäre. „Erzählt schon, aber ich werde nicht daraus schlau,“ sage ich. „Ja, ihre Mutter ist mitten in der Nacht auf den Flur gerannt und hat geschrieen, das sind ihre Ängste die sie immer hat. Ich habe dann eine Schwester gerufen, die sie dann wieder ins Bett gebracht hat. So kann es doch nicht weitergehen, sie leidet doch.“ Das sehe ich alles ein, aber sie hat auch ihre Zeiten, wo sie einigermaßen klar ist. „Frau Kaiser,“ sage ich, „der Pfleger D. hat schon gesagt, dass meine Mutter auf die Dementenstation kommt, aber erst muss ja jemand seine Augen für immer schließen, bevor dort Platz ist. So sind nun mal die Realitäten.“ „Ja, wenn sie doch nur die Medikamente nehme, aber letztens hat die Raumpflegerin vier Tabletten auf dem Fußboden gefunden.“ „Es steht nicht in meiner Macht, dass sie, sie nimmt oder nicht. Mein Einfluss ist sehr begrenzt.“ (Mein Gott, muss ich mich immer verteidigen?) Wenn das Heim meint, dass meine Mutter nicht mehr tragbar für das Haus ist, werden sie es mir schon sagen. Hedi wartet nun mit einer neuen Story auf. „Gestern bin ich runter gegangen ich hatte solchen Hunger. Da unten haben sie alle gefressen und gefressen, aber als ich sagte ich möchte auch was essen, da haben sie gerufen, ich soll sofort nach oben gehen aber schnell.“ Sprachlos sehen wir uns an, Frau Kaiser und ich. Das ist nun wirklich erdichtet. Da steht man machtlos Visavis. Frau Kaiser tritt den Rückzug an, und ich schließe die Tür hinter ihr. Hedi beugt sich vor und flüstert mir zu: „Das will ich dir sagen, sie hat gestern zu mir gesagt: „Lassen sie mich in Ruhe!“ „Und hat die Tür zugeknallt.“

So leid es mir tut, ich kann das schon verstehen. Der Pfleger D. hat zu Susann gesagt: „Die anderen Heimbewohner sind selbst mit ihrem Alter und ihren Gebrechen beschäftigt und es wird ihnen zuviel, ständig das Gejammer ihrer Großmutter anzuhören. Die anderen sind auch allein, manche bekommen überhaupt keinen Besuch, aber keine, oder keiner, jammert soviel wie ihre Oma. Dabei ist sie meistens ganz lieb, und man kommt mit ihr zurecht, aber das Jammern liegt ihr nun einmal im Blut.“ Wie wahr!

Gestern hatte Tante Ellie ihren 95.Geburtstag. Alle Kinder, Enkel und Urenkel waren geladen, und ich als einzige Nichte ebenfalls. Unerschütterlich saß Tante Ellie in dem ganzen Trubel und genoss es geradezu. Ich saß eine Zeitlang neben ihr und unterhielt mich mit ihr. Welch eine Wohltat nach den Besuchen im Altenheim. Tante Ellie ist glasklar im Kopf, sie bewohnt noch ihre kleine zwei Zimmerwohnung am Schinkelpark, macht noch Handarbeiten, liest viel und schimpft über das Fernsehen, das nichts zu bieten hat als Horrorthriller, Wiederholungen, und dann diese blöde Sendung „Big Brother.“ Wie kann man sich solchen Schwachsinn nur angucken.“ Einmal hat sie da rein geguckt, aber die wälzen sich ja nur im Bett, oder stehen nackt unter der Dusche. (Ganz meine Meinung.) Sie geht in Begleitung ihrer Enkelin immer noch ins Theater, am liebsten Ohnsorg. Von Hedi spricht sie bedauernd: „Weißt du, früher konnte sie so lustig sein, man konnte so schön mit ihr lachen. Aber ich erinnere mich auch noch daran, dass sie Ihre Mutter als junges Mädchen so getriezt hat, dass Mutter Johanne ganz verzweifelt war.“ Das wusste ich nicht. Hedi hat immer sehr liebevoll von ihren Eltern gesprochen. Was soll´s das kann ich nicht mehr rekapitulieren. Jedenfalls, wenn Hedi so klar wie Tante Elli im Kopf wäre, ich würde alles für sie tun, um ihr das Altern angenehmer zu gestalten. So bin ich hilflos. Ich kann nur abwarten was sich tun wird. Übrigens, ich marschiere selbst mit Riesenschritten auf das sogenannte Alter zu. Ein Oberschenkelhalsbruch und Hedi wird mich so bald nicht wieder sehen.


22.11.00

Susann war vormittags bei Hedi gewesen. Hedi hatte ihr haargenau die Stories erzählt, die sie mir am Montag serviert hatte. Als sie die Worte ausspuckte: „Die fressen und fressen und fressen,“ verzerrte sich ihr Gesicht zu einer so schrecklichen Fratze, dass Susann dachte, das ist ja gar nicht mehr meine Omi. Nein, das ist ein unbekanntes Wesen voll Gift und Galle. Dann beugt sich Hedi vertraulich vor und fragt Susann, ob sie ihr nicht eine kleine Wohnung besorgen könnte, denn hier will sie nicht bleiben, sie hasst das Haus und die Leute. Dann kommt Frau Kaiser und erzählt, dass Hedi hier weg will. „Wohin? Frau Riemann,“ habe sie gefragt. Dann würde sie eben unter den Brücken schlafen oder ins Wasser gehen, Hauptsache weg hier, hätte sie ihr entgegnet.


24.11.00

Unser Enkel Thorsten, sitzt an meinem Computer und spielt „Star Trek Voyager Elite Force.“ Opa Klaus hat es im Kreuz und leidet vor sich hin, und ich lasse mit Sven ein Holzfloß im Goldbekkanal schwimmen, das Sven gerade in der Holzwerkstatt gebaut hat. Das dumme Floss will nicht so wie Sven es gern hätte, es segelt mit seinem Papiersegel immer wieder in dieselbe Bucht. Wir amüsieren uns eine ganze Weile damit, inzwischen wird es dunkel. Einige Male versucht Sven es mit einem Stock weiter zu bewegen, mit dem Erfolg, dass es nur in die nächste Bucht treibt und dort nicht mehr zu erreichen ist. „Ach Mimi, das dumme Floss wird langweilig, komm wir gehen jetzt.“ Von der Brücke sehen wir noch einmal hinunter, aber das Floss hat wohl endgültig Anker geworfen. Sven will unbedingt durch die Semperstraße gehen. „Warum?“ „Weil, da ist so n Kiosk. Hast du Geld mit Mimi? Dann würde ich mir so gerne Süßigkeiten kaufen.“
Natürlich hat Mimi für Sven Geld mit. Welche Omi hätte das wohl nicht. Er kauft zwei Snickers (Schokoriegel) einen für sich und einen für seinen kranken Freund. Das findet Mimi in Ordnung.
Nachdem ich ihn nach Hause gebracht habe, gehe ich froh gestimmt zu uns nach Hause. Dort angekommen sagt Thorsten: „Es hat eine Frau vom Altenheim hier angerufen, sie ist vom Besucherdienst und wollte mit dir über Urmele sprechen.“ Aha, Frau L. Oh, bestimmt hat Hedi ihr auch die ganzen Stories erzählt und nun ist sie geschockt. Sie wollte am Abend noch einmal anrufen, aber als das Telefon dann klingelt, ist es ein Meinungsforschungsinstitut das ich ungnädig abwimmele. Frau L. meldet sich nicht mehr. Na gut, nächste Woche werde ich sie wohl im Heim treffen.
Eben grade habe ich eine nette Stunde mit meinem Enkel verlebt, aber schon schiebt sich das Problem Hedi wieder in meinen Kopf.


26.11.00

Frau Kaiser hat für Hedi unsere Nummer gewählt. „Wer ist da,“ schreit Hedi in s Telefon. „Bist du das Edith? Sag doch mal was.“ „Ja, hier ist Edith.“ (Seufz) „Die sind hier alle so frech zu mir. Die ballern mir das Essen auf den Tisch und sagen, ich soll das „Fressen“. Das kann ich nicht essen, Igitt, obendrauf haben sie Scheiße gelegt. So gehen die mit mir hier um.“ O mein Gott, denke ich, ich halte das wirklich nicht mehr aus. Dann ein Stöhnen von Hedi: „Ich kann nicht mehr, ich, ich weiß nicht ...“ dann versucht sie den Hörer aufzulegen, schafft es aber nicht und das weitere kriege ich als Hörspiel mit. Frau Kaiser: „Was ist denn Frau Riemann, ist ihnen nicht gut? Warten sie, ich hole die Schwester... Die Schwester kommt schon, gleich geht es ihnen besser.“ Die Schwester kommt und sagt: „ Kommen sie, ich helfe ihnen beim Ausziehen und dann gehen sie ins Bett, da können sie sich dann ausruhen.“ Hedis Stimme klingt wieder ganz normal. „ Ja, ja, es geht mir schon wieder besser.“ „ Wo ist denn ihr Nachthemd?“ Keine Antwort. Frau Kaiser sucht das Nachthemd ohne Erfolg. „Frau Riemann, hat die Edith den Hörer aufgelegt?“ Hedi gibt keine Antwort. Also, das ist doch die Höhe, ich herzlose Tochter werde verdächtigt einfach aufgelegt zu haben. Dann ist Hedi endlich im Bett. „Gute Nacht und schlafen sie schön,“ höre ich die Schwester sagen, dann klappt die Wohnungstür zu. Ich höre noch eine Weile zu was nun passiert, aber Hedi dreht sich einige Mal im Bett herum und dann ist alles still. Da lege ich auf.
Am nächsten Tag trabe ich dann brav wieder an mit Süßigkeiten, Kuchen und Gurken beladen. Der Fernseher in der Ecke ist mit dem Bildschirm zur Wand umgedreht, davor steht das zusammengeklappte Dinett und davor ein Stuhl. Also ist diese Ecke jetzt auch bewohnt. Dann klopft es und Frau Kaiser steht vor der Tür. „Die Mutti ist so unruhig in der letzten Zeit, aber das macht wohl das Wetter. Heute Morgen ist sie auch schon in aller Herrgottsfrühe auf dem Flur umhergegeistert. Das stört uns alle.“ Das verstehe ich ja, aber was bitte soll ich dagegen tun. „Ich kann sie nicht zu mir nehmen Frau Kaiser, dann wären drei Menschen innerhalb von einigen Tagen psychisch fertig.“ Das bezweifelt Frau Kaiser. Dann geht sie. Hedi sagt: „Was habe ich denn getan, ich weiß gar nicht was, ich tu doch niemand was. Aber die ist ja nur neidisch, dass du immer kommst und mir schöne Sachen mitbringst. Die guck ich nie, nie, wieder an.“ Plötzlich dreht sie sich zu mir um und sagt misstrauisch: „Oder willst du, dass ich hier raus soll?“

„Wenn du unbedingt umziehen willst, können wir ja die Treppe runtergehen und mal sehen, ob du dahin ziehen kannst.“ „Meinst du,“ „Ja das meine ich.“ Also gehen wir da runter. In einem Gemeinschaftsraum sitzen also einige an Demenz erkrankte Frauen und trinken Kaffee, betreut von einem Zivi und einer Schwester. Fröhlich geht es hier grad nicht zu, wie soll es auch. Auf mich macht das Ganze einen deprimierenden Eindruck, da würde ich Ohlsdorf vorziehen. Na ja, ich hab gut reden, noch bin ich nicht soweit. Als wir wieder oben sind, sagt Hedi, dass Sie da doch nicht hinziehen will. (Ja, meine Liebe, dazu wird es wohl im besten Fall noch kommen, wenn nicht gar die Psychiatrie.)


29.11.00

Ich gehe zum Altenheim um mir einen Vortrag über Betreuungsrecht anzuhören. Ich biege um die Ecke zum Eingang... und was sehen meine Augen – Hedi! Schnell ziehe ich mich wieder zurück, damit sie mich nicht sieht. In den Vortrag kann ich doch mit ihr nicht gehen. Dann hätte ich ja gleich zu Hause bleiben können.
Nach einer Weile gucke ich um die Ecke und sie ist weg. Also laufe ich schnell in den Saal um in den dahinterliegenden Vortragsraum zu gelangen. Der Saal ist vollbesetzt und wer thront am ersten Tisch – Hedi!... „Edith, o wie schön, komm wir gehen gleich nach oben zu mir.“ Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Aber diesmal bleibe ich hart. „Nein, ich muss gleich da hinten reingehen, da wollen sie was erzählen, das ist für dich zu langweilig.“ Sie macht ein enttäuschtes Gesicht. Ein Zivi kommt und stellt mir Kaffee und Kuchen hin. „Danke,“ sage ich, „aber eigentlich wollte ich zu dem heutigen Vortrag.“ Da kommt schon eine nette Dame auf unseren Tisch zu. Sie gibt mir die Hand und ich gebe mich als Tochter von Frau Riemann zu erkennen. „Ach ja, Frau Riemann, sie läuft hier im Haus ja immer fleißig spazieren,“ sagt sie liebenswürdig. Also, Hedi ist bekannt wie ein bunter Hund. Aber scheinbar nicht so negativ, wie Frau Kaiser es immer hinstellt. Also lasse ich Hedi am Tisch sitzen und gehe in den Vortragsraum. Natürlich habe ich das Glück, dass der nette 92jährige, irgendwie auch schon verwirrte Herr, sich neben mich setzt und mir sofort allerhand erzählen will, obwohl die Heimleiterin schon einleitende Worte spricht. Hinter uns heißt es „Pst, Pst.“ Ich lege den Finger an die Lippen, weil er offenbar schwerhörig ist und immer weiter redet. Da sagt er: „Ach das ist doch alles langweilig, das hab ich doch schon oft gehört.“ Eine andere Frau, unterbricht die Rednerin mit einem Beispiel aus dem Fernsehen und erzählt gleich einen ganzen Film. Dafür bin ich nun hergekommen. Einmal und nicht wieder. Nach dem Vortrag treffe ich Frau Kaiser an der Tür. Sie erzählt mir wie lustig Hedi gestern bei einem achtzigsten Geburtstag gewesen sei, gar nicht wieder zu erkennen. „Komisch nicht wahr? Da sieht man doch mal, was noch alles in ihr steckt.“
Ich will nur noch nach Hause. Morgen muss ich wieder hierher.
Termin mit der Heimleiterin und einer Stationsschwester.
Im Treppenhaus steht Hedi und hat die ganze Zeit auf mich gewartet!
Sie vergisst alles, aber mich nicht.
Dann höre ich Frau Kaiser zu jemandem sagen, sie wäre praktisch auch eine Betreuerin, nämlich die von Frau Riemann! Mir platzt fast der Kragen. Ich mache Hedi klar dass ich jetzt gehen muss, aber (leider Gottes) morgen wieder käme. Im Torweg stecke ich mir eine Zigarette an, ich kann nicht anders.


30.11.00

Um 9.30 Uhr bin ich schon unterwegs. Kaufe drei Stücke Kuchen für Hedi und treffe natürlich in der Frühstückspause des Personals ein.
Ein Zivi sagt Schwester Gerda Bescheid und sie kommt gleich zu mir heraus. Ich sage ihr dass es mir leid tue, sie beim Frühstück zu stören und ich hätte gerne so lange gewartet. Aber sie sagt es mache ihr nichts aus und sie wäre froh, dass wir einmal miteinander sprechen könnten. Im Büro der Schwestern, fragt auch sie mich das, was schon zwei Schwestern vor ihr gefragt haben: „Warum ist ihre Mutter so eine Männerhasserin?“
Meine Antwort darauf kann ich mir hier schenken, denn darüber habe ich wohl schon ausführlich in diesem Buch geschrieben. Wir gehen also die ganze Krankheitsgeschichte Hedis durch bis zu den Wahnvorstellungen und ihrer zeitweiligen Aggressivität.
Sie hat sich schon mal persönlich ein Bild gemacht und fühlt sich durch meine Angaben bestätigt.
Dann kommen wir auf die leidige Tabletteneinnahme – oder vielmehr Nichteinnahme – zu sprechen und Schwester Gerda erzählt mir, dass sie die Tabletten schon zermörsert in den Tee getan hätten, aber das würde Hedi merken und den Tee einfach nicht trinken.
Da frage ich wieder einmal, ob es solche Medikamente nicht in flüssiger Form geben würde; und siehe da, diese Schwester meint das müsste es doch geben und sie will nachher gleich den Neurologen anrufen und ihn fragen. Wenn das alles nicht greifen würde, dann würden sie Hedi nach Ochsenzoll schicken. „Erschrecken sie nicht, das wäre nur für eine stationäre Aufnahme, um sie zu beobachten und einzustellen. Das hat schon bei vielen Wunder gewirkt und plötzlich hat man wieder ganz vernünftig mit ihnen reden können. Wenn das alles nicht helfen wird, dann kommt sie allerdings auf die Dementenstation, wo sie dann doch viel intensiver betreut wird.“ Mit dem Werdegang bin ich auch einverstanden.
Dann erzählt sie mir, dass Hedi mitten in der Nacht Frau Kaiser aus dem Schlaf geklingelt und gefragt hätte, ob sie nicht bei ihr schlafen könnte. Die Ängste sind schlimm und Hedi leidet wirklich, aber das geht nun wirklich nicht, Frau Kaiser ist selbst krank und bekommt durch Hedi ihre Ruhe nicht. „Ich habe Frau Kaiser gewarnt,“ erkläre ich wieder einmal, „meine Mutter hat sie als ihr Eigentum angenommen, ganz so wie sie es mit mir immer gemacht hat.“
Schwester Gerda findet es auch nicht gut, dass Frau Kaiser mir in Hedis Gegenwart, Bericht über ihre letzten Entgleisungen geben würde. Das würde nur Verwirrung bei ihr stiften. „Und lassen sie sich nicht ein schlechtes Gewissen einreden, sie müssen doch auch ihr eigenes Leben leben. Ihre Mutter ist hier gut untergebracht, und ich werde öfter nach ihr sehen und sie beobachten.“ Dann rät sie mir noch, heute nicht mehr zu Hedi zu gehen, denn das rührt nur alles wieder in Hedi auf. Einmal die Woche, wäre wirklich genug, denn sonst komme ich selbst in Gefahr, meine Nerven zu verlieren. Auch zur Heimleiterin bräuchte ich nicht mehr zu gehen, denn wir hätten ja nun alles besprochen, was nötig wäre. So befinde ich mich früher auf dem Heimweg als ich angenommen hatte.


01.12.00

Heute Anruf vom Altenheim, Schwester Gerda: „Ich muss ihnen sagen, dass ihre Mutter nun doch, innerhalb von vierzehn Tagen auf die Dementenstation kommt. Sie weint nur noch und bringt die Nachbarn damit in Unruhe.“
Das heißt, dass ich im Dezember ihre Wohnung leer räumen muss. Da muss man mir aber noch
garantieren, dass Hedi nicht gerade dann auftaucht, wenn ihre Möbel rausgeschleppt werden. Das gibt ein Drama, da bin ich gewiss. Oh, ich glaube nicht dass Das das Ende der Geschichte ist. Ochsenzoll kommt auch noch, wenn man festgestellt hat, dass sie auf der Dementenstation nicht tragbar ist. Jedenfalls ist das Ende einer Ära nun Realität.
Ja Hedi, es tut mir sehr leid für dich, aber es ist nicht mehr zu ändern. Da müssen wir nun durch. Frau Kaiser hat sicher auch ihren Anteil daran, dass es so kommen musste. Mir bricht jedenfalls schon der kalte Schweiß aus, wenn ich an die kommenden Wochen denke. Advent- und Weihnachtszeit Ade.

04.12.00

Heute ist Hedi so lieb und nett, das mir das Herz noch schwerer wird als es ohnehin schon ist. Gestern Abend hat doch tatsächlich Frau Kaiser unsere Nummer gewählt und dann schnell Hedi den Hörer gegeben. Ich höre die altbekannten Klagen, über das Heim, das Essen, die frechen Leute und dass sie unbedingt eine Wohnung für sich ganz allein haben will, denn es kümmert sich ja sowieso keiner um sie. Das muss ich nach Frau Kaisers Meinung hören. Denn, wieso lebt die Tochter ihr Leben und braucht sich Hedis Phantasien nicht jeden Tag anzuhören.

Hedi bedankt sich für alles, was ich für sie mache. Sie erzählt mir, das Dr. Bauer da gewesen ist, sehr nett war und dass er mich grüßen lässt. Dann zeigt sie mir ihre Hände die sauber geschnitten sind - Aha die Fußpflegerin war da – dann weist sie auf ihre Beine, ja die hat sie auch gemacht, bis ganz oben hin. Ich verstehe, die Fußnägel geschnitten, na Gott sei Dank. „Und die ist ja auch so nett die Frau.“ Nun guck mal an. Plötzlich steht sie auf und kommt auf mich zu, bleibt neben meinem Stuhl stehen und sagt ganz klar und deutlich: „Ich bin so froh, dass ich dich hab. Sonst hab ich doch niemanden mehr, es kommt jedenfalls keiner mehr.“ Ach Hedi, Hedi, warum musste es nur soweit kommen. Frau Kaiser verschont uns heute und ich muss immer daran denken, das es vermutlich heute das letzte Beisammensein ohne andere Menschen um uns herum ist.


02.01.01

Nun ist Hedi tatsächlich auf der Dementenabteilung.
Es ist so viel auf mich eingestürmt, dass ich einfach keine Lust hatte den PC anzustellen. Das Ganze musste ich erst einmal verarbeiten.
Aber nun von Anfang an. Eine Schwester Birgit ruft mich an und erklärt mir, dass wir am Sonnabend den 09.12.00 mit dem Ausräumen beginnen können. Hedi würde gleich nach dem Frühstück abgeholt und in die Dementenabteilung gebracht werden, sie würde also nichts davon merken, was sich hinter ihrem Rücken tut. Denn wie gesagt, mit ihr würde es ein Drama geben, das ist mir klar. Ich frage ob der Hausarzt und der Neurologe, die Hedi behandeln, informiert sind, und sie sagt, dass beide es befürwortet hätten, sie bräuchte dringend intensivere Betreuung. Ich nehme mir vor, mit beiden Rücksprache zu halten und tue es auch am folgenden Tag. Beide Ärzte versichern mir, dass es so am besten wäre, obwohl Dr. Bauer einräumt, dass Hedi keine 100%ige Dementin wäre, aber ihre Wahnvorstellungen würde man so wohl doch besser in den Griff bekommen. Nun erkläre ich mich einverstanden mit dem Umzug.
Schwester Birgit schlägt mir auch gleich eine Firma vor die preiswert räumen und entrümpeln würde. Der Mensch kommt natürlich, als ich ein letztes mal mit Hedi in der Wohnung bin. Schwester Birgit lockt Hedi aus der Wohnung, und der Mann kommt hinter ihrem Rücken rein um sich ein Bild, sprich Überschlag zu machen. So weit so gut. Hedi hinterfragt mich anschließend was der Mann denn wollte. Ich fabuliere drauf los. Es ist der Hausmeister und er muss kontrollieren ob es was zu reparieren gibt, und das macht er in allen Wohnungen. Sie gibt sich damit zufrieden.
Einen Tag vor dem bewussten Ausräumen unsererseits, ruft mich wieder Schwester Birgit an. Tja, da wäre eine kleine Änderung eingetreten. Hedi müsste abends in ihrer Wohnung weiterhin in ihrem Bett schlafen, denn das Bett auf der Dementenstation wäre erst am Mittwoch den 13.12.frei......
Ich denke mich tritt ein Pferd. „Wie sollen wir - meine Töchter und ich – denn ausräumen, wenn es abends aussehen soll, als ob nichts gewesen wäre,“ schreie ich ins Telefon. „So doof ist meine Mutter nun doch nicht, dass sie nicht merkt wie da lauter blaue Abfallsäcke stehen, die vorher nicht da waren.“ Die Schwester lenkt schnell ein und sagt: „Nein natürlich nicht, das würde ihre Mutter wohl merken, aber ich habe da einen anderen Vorschlag, sie können die Säcke in den Schwesternkeller bringen und Herr Y. kann sie dann am Mittwoch raus holen.“
Das heißt für uns, das wir alle Bilder an den Wänden hängen lassen müssen, dass die Seidenblumen in der Vase auf der Kommode stehen bleiben müssen, und eine Tischdecke weiterhin, bis Mittwoch, auf dem Tisch liegt. Sind wir eigentlich Zauberer?
Sylvia schäumt vor Wut, als ich es ihr am Telefon erzähle und ruft am anderen Morgen Schwester Birgit an um ihr einige Takte zu erzählen. Wer sind wir eigentlich, dass man so mit uns verfährt. Das ist ja schon ein Fall für den Anwalt. Schwester Birgit lenkt sofort ein, als sie Sylvias Anruf bekommt. Erzählt ihr aber unter welchem Druck sie steht. Hedis Wohnung muss am 13.12. sofort nach der Räumung renoviert werden, damit die Nachmieterin am folgenden Tag dort einziehen kann. Das Bett auf der Dementenstation wird auch erst am 13.12. frei, weil die Frau die bis dahin das Bett belegt hat, auf die Pflegestation im Parterre verlegt wird...
Wie das Bett auf der Pflegestation zum passenden Zeitpunkt frei wird, liegt im Dunkeln. Wahrscheinlich gibt sich der Todeskandidat rechtzeitig die Kugel.

Meine Töchter und ich verabreden uns am 9.12. um 9 Uhr vor dem Heim. Schwester Birgit hat an diesem Tag keinen Dienst, aber sie wird ihre diensthabende Kollegin informieren. Hedi wird dann nicht mehr in ihrer Wohnung sein und den Tag auf der Dementenstation verbringen. Die Kollegin wird uns auch den Schlüssel zum Schwesternkeller aushändigen. Also, ist alles bestens geregelt.
Als ich Punkt 9 Uhr dort auftauche, weiß die Kollegin von nichts. Nein, Schwester Birgit hat sie nicht darüber informiert. Da muss ich alles noch einmal erklären und setze erbittert hinzu: „Wenn meine Mutter jetzt gestorben wäre, dann hätten wir 14 Tage Zeit gehabt, um die Wohnung zu räumen, so kommt sie heute Abend wieder in die Wohnung und es soll so aussehen, als ob nichts gewesen wäre.“ Da sagt die Schwester: „Das geht doch gar nicht.“ „Ja, das habe ich auch gesagt,“ kontere ich. Nun die Schwester weiß von nichts und möchte auch lieber keine Stellung dazu nehmen. Okay. „Nun brauche ich aber einen Schlüssel für die Wohnung, denn meine Mutter hat den ihrigen in ihrer Handtasche und hütet ihn wie ein Heiligtum.“ Das wäre kein Problem, denn es gibt einen Universalschlüssel und den würde sie mir sofort verschaffen. Der Schlüssel ist nicht aufzufinden, also wird eine andere Schwester damit beauftragt ihn im Hause zu finden. Sie bittet mich mit ihr zu kommen, denn dann könnte sie mir gleich aufschließen. Vorsichtshalber sage ich ihr, sie möchte erst mal sehen ob meine Mutter noch drin wäre, denn wenn sie mich sähe, könnten wir alles vergessen. Nun, sie findet den Schlüssel, geht zur Wohnung – ich halte mich zurück – und ruft: „ Ihre Mutter ist hier.“ Toll! Welche Teamarbeit. Sie kommt zu mir zurück und ich sage: „Wo soll ich mich verstecken, wenn sie sie in die Dementenstation bringen?“ Wir einigen uns auf eine Etage höher. Dann höre ich von oben, wie sie sagt: „Na, dann kommen sie mal Frau Riemann, sie machen jetzt einen Besuch im ersten Stock.“ „Jaaa? Wieso? Davon weiß ich ja gar nichts,“ höre ich Hedi antworten, und dann gehen sie die Treppe zum ersten Stock hinunter. Gleich darauf kommt die Schwester wieder und öffnet mir die Tür zu Hedis Wohnung. Ich schleiche wie ein Dieb in dunkler Nacht hinein und komme mir schäbig vor. Hier hat sie eben noch gesessen, ahnungslos dass wir jetzt ihre Schränke leeren und die Spreu vom Weizen trennen.
Sylvia, eben so vorsichtig wie ich, fragt über Handy, ob die Luft rein sei. Wirklich, wie die Gauner. Zuletzt trifft Susann ein, die vorsichtshalber mit dem Fahrstuhl gefahren ist, um nicht doch noch Hedi in die Arme zu laufen, dann können wir endlich beginnen. Bis auf eine Kommodenschublade mit Wäsche und der Glasvitrine mit Büchern und Geschirr leeren wir alle Schubladen und Schränke. Einige Sachen teilen wir unter uns auf, damit nicht das meiste in den Sperrmüll geht. Wir blättern die Bücher durch, auf den Rat des Entrümpelungsmannes, das alte Leute oft ihr Geld in Büchern verstecken, aber Fehlalarm. Doch in der Sofaritze finden wir ihren lang vermissten Aquamarinring wieder, umgeben von Brotrinden und Schokoladenresten. Nach einigen Stunden sind wir so weit wie man es heute unter diesen Umständen schaffen kann, damit durch. Sorgfältig versuchen wir keine Spuren zu hinterlassen damit sie ja nichts merkt, dann schleichen wir von dannen. „So,“ sage ich, „und jetzt gehen wir zusammen Essen, dabei können wir uns am besten von dem Ganzen ablenken. Wir können nichts dafür, dass es so gekommen ist und Hedi begreift es eh nicht mehr.“

Am 11.12. laufe ich ein letztes mal zu ihr in die Wohnung. Ich muss ja noch einmal die gebrauchte Wäsche für die Heimwäscherei einsammeln, und außerdem will ich doch hören, ob sie wohl etwas gemerkt hat von unseren Aktivitäten.
Sie empfängt mich mit den Worten: „Nun haben sie mir alles geklaut, es ist nichts mehr da!“

Zu allem Unglück klopft es jetzt an die Tür, und als ich öffne steht da eine Pflegeschwester mit einer jungen Frau im Schlepptau. Die junge Frau ist die Tochter der Nachmieterin von Hedis Wohnung und möchte einmal sehen... ob das Sofa ihrer Mutter hier auch reinpasst.
Ich blicke hilfesuchend die Schwester an, sie versteht und eilt auf Hedi zu, mit ihrem Körper die Sicht auf uns Töchter versperrend. Tochter meint, dass das Sofa wohl passen würde und fragt, was wir mit unseren Möbeln nun anfangen werden. Ich bin nicht geneigt Erklärungen abzugeben und komplimentiere sie schnell wieder hinaus. Dann darf ich mir wieder Ausreden ausdenken, auf Hedis Fragen: „Was wollten die denn?“ Mein Zigarettenkonsum ist in der letzten Woche sprunghaft angestiegen. Dann kommt die unvermeidliche Frau Kaiser und sagt: „Na, Frau Riemann, nun ist es bald soweit und...“ ich falle ihr in die Rede: „Um Gottes Willen lassen sie das, es wird noch schwer genug werden.“
Diese Frau ist eine Landplage für mich geworden.

Zu Hause angekommen, ruft mich die Firma für Entrümpelung an. Ob sie denn am 13.12. um 9.30 Uhr antanzen könnten. Mir bricht der kalte Schweiß aus. Also, zwei Stunden brauchen wir auch noch um den Rest zu ordnen und alles für Hedi auszusuchen was sie mitnehmen muss und kann. „Das ist zu früh, das schaffen wir nicht,“ sage ich. Ja, sie wollen uns sicher nicht drängen, aber sie müssen sobald die Wohnung leer ist, renovieren, denn am anderen Tag zieht doch die Nachmieterin ein. Entnervt rufe ich Sylvia an. Die ruft wütend Schwester Birgit an und sagt ihr, dass es uns scheißegal ist, wie die bewusste Firma und das Heim es schaffen, erst einmal müssen wir fertig sein und eher kommt da keiner rein! Schwester Birgit ruft wiederum die Firma an und die Firma ruft wieder mich an. So wäre das doch alles nicht gemeint, also wenn sie dann um 12 Uhr kämen wäre es dann recht so? Erschöpft sage ich ja.

Dann kommt der bewusste Tag heran. Schwester Birgit empfängt uns superfreundlich, geleitet uns nach oben in die Wohnung und sagt uns, dass uns alle Hilfe zu teil wird die wir brauchen. Hedi könnte auch das eine oder andere Möbelstück mit hinunter nehmen, damit sie doch etwas gewohntes um sich hätte, das wäre so üblich. Gut, wir suchen eine Kommode einen Sessel und die Stehlampe aus. Bilder könnten wir so viel an die Wand hängen wie wir wollen, der Hausmeister würde die entsprechenden Nägel schon in die Wand schlagen. Dann bringt eine Lernschwester einen Rollwagen, da können wir alles drauflegen was mit hinunter soll.
Nun kommt Susann, und gemeinsam packen wir Fotoalben, Briefe und Postkarten ein, um sie in Ruhe zu Hause zu sichten und dann Hedi ein Sammelalbum einzurichten. Dann rücken wir die Möbel ein Stück von der Wand ab und dort finden wir so einiges. .. Grau angelaufene Schokolade, Brot- und Kuchenkrümel, Tempotaschentücher, noch einen Ring, aber ohne Stein.
Wir hängen die Bilder von den Wänden ab und entscheiden welche Hedi haben soll.
Sylvia sucht sich eine Truhe und die Vitrine aus, sie kann noch Möbel gebrauchen, und das wäre doch ganz im Sinne Hedis, wenn sie noch klar denken könnte.
Dann gehen wir in den Keller. Dort steht der Bauernschrank, der hier seit sechs Jahren eingelagert ist, weil er oben keinen Platz mehr gefunden hatte. Auch diesen will Sylvia mitnehmen. Susann und ich haben keinen Bedarf an Möbeln, wir sind komplett eingerichtet. Hinter dem Schrank entdecke ich einen Koffer, ziehe ihn hervor und öffne ihn. Silberbestecke fallen mir entgegen. Ich kombiniere: Die hat Hedi mit Grete hier runter gebracht, weil sie ihr ja sonst geklaut würden. Dann hat sie es vergessen, dass der Koffer hier unten steht, und also hat man sie ihr geklaut.
Im Schrank hängen seit Jahren fünf Mäntel. Inzwischen hat sich Hedi mindestens zwei neue gekauft. Einen suche ich noch für Hedi heraus, aber was sollen wir mit den übrigen. Die weichherzige Susann sagt: „Vielleicht könnte hier im Haus noch jemand einen Mantel brauchen, denn das sind doch gute Mäntel.“ „Wie stellst du dir das vor,“ sagt Sylvia, „dazu hat man uns einfach zu wenig Zeit gelassen. Willst du jetzt durchs Haus laufen, mit vier Mänteln über dem Arm, und jede Frau fragen ob sie einen Mantel benötigt. Dann müssen sie die Mäntel aussuchen und anprobieren, das wird ein volles Tagesprogramm.“ Nein das ist nicht mehr durchführbar, das sieht Susann ein. Mit gemischten Gefühlen stopfen wir die Mäntel in blaue Säcke für die Entrümpelung. Mit dem Besteckkoffer ziehen wir wieder nach oben.
Nun kommen die Schwestern und schaffen alles für Hedi zurechtgestellte, eine Etage tiefer. Damit, sagen sie, haben wir nichts mehr zu tun. Auch das Einräumen unten übernehmen sie, denn es wäre nicht gut, wenn wir Hedi heute über den Weg laufen würden. Allerdings.
Um Punkt 12 Uhr erscheint Schwester Birgit und erklärt uns, dass Hedi von diesem Zeitpunkt an, auf der Dementen- Abteilung offiziell aufgenommen worden ist.
„Wenn sie das Betreuungsrecht für ihre Mutter jetzt ablehnen wollen, dann brauchen sie sich um nichts mehr zu kümmern. Dann ist für sie hier alles erledigt.“
Es verschlägt mir die Sprache. „Aber, aber,“ stammele ich, „es ist doch meine Mutter. Ich kann mich doch nicht umdrehen und sie ihrem Schicksal überlassen.“ „Nein,“ erwidert sie, „das hätten wir von ihnen auch nicht erwartet, aber wir müssen es ihnen sagen, dass sie die Möglichkeit haben sich zurückzuziehen.“ „Also,“ frage ich, „was beinhaltet denn dieses Betreuungsrecht?“ „Nichts anderes als das, was sie schon vorher gemacht haben. Sie ab und an besuchen. Wenn sie ein neues Kleid braucht, fragen wir sie, ob wir das besorgen sollen, oder ob sie das tun wollen. Das wäre es eigentlich schon. Die Heimleiterin wird einen Antrag an das Amtsgericht einreichen, dass sie das Betreuungsrecht bekommen möchten. Da ihre Mutter nicht mehr in der Lage ist selbst zu entscheiden, wird das Amtsgericht prüfen, ob sie als Tochter in Frage kommen. Das wird einige Zeit dauern.“ Gut, warten wir es ab.

Gleich wird auch die Entrümpelungsfirma eintreffen und den nicht unerheblichen Rest räumen. Wir müssen noch auf die Firma warten, um ihnen die Möbel zu zeigen die zu Sylvia gebracht werden sollen. Nach einem vorherigen Telefongespräch, hat die Firma kulanter Weise auch diesen Kleintransport übernommen.
Doch vorher kommt, wie kann es anders sein... Frau Kaiser! Sie hält uns ein Keramikengelchen entgegen. Das sollten wir doch Hedi, bei unserem ersten Besuch in der Dementen-Abteilung, übergeben. Sie selbst würde natürlich Hedi auch fleißig besuchen.
Na wie schön.

Am nächsten Tag werde ich von der leitenden Schwester des Wohnbereichs D. (Demenz) angerufen. Hedi wäre ja eine Bereicherung der Abteilung. Sie hätte im Gemeinschaftsraum gleich allen auf ihrer Mundharmonika vorgespielt und alle wären begeistert gewesen. Hedi hätte ja alle Melodien im Kopf und würde sie exakt richtig spielen. Am Abend hätte es allerdings einige Tränen gegeben, aber dann hätte sie die Nacht über ruhig geschlafen. Ich sollte lieber noch zwei Tage warten mit meinem Besuch, denn das würde Hedi nur durcheinanderbringen.

Ich lasse noch einen Tag verstreichen, und dann rufe ich doch an, um mich zu erkundigen wie es denn nun so geht mit ihr. Die Schwester am Telefon holt tief Luft und sagt: „Gestern Abend ist ihre Mutter nach unten gelaufen und wollte weg. Ich konnte sie an der Haustür noch abfangen. Eine dreiviertel Stunde habe ich gebraucht um sie zu überreden wieder mit nach oben zu kommen. Sie hat geweint und geschrieen: Lieber will ich auf der Straße schlafen, als bei euch da oben. Das hätte man aber auch nicht machen dürfen, sie so von einem Tag zum andern aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen.“
Das hört sich wie ein Vorwurf für mich an. Ich kann doch nun wirklich nichts dafür, aber das weiß diese Schwester wohl nicht. So kommt man immer wieder in den Ruf, sich seiner Mutter zu entledigen.

Am Sonntag, ihrem neunzigsten Geburtstag, gehe ich also Hedi besuchen.
Sie kommt mir auf dem Flur entgegen und ist bester Laune. Im Aufenthaltsraum hängt ein Schild an der Wand: Frau Riemann hat Heute am 17.Dezember Geburtstag!

Na Klasse! Ich konnte doch unter diesen Umständen keine Feier organisieren, sie ist doch erst vier Tage hier. Die nette Schwester meint: „Gehen sie nur ruhig mit ihrer Mutter in den Speisesaal, da gibt es jetzt Kaffee und Kuchen.“ Also gehe ich mit Hedi die Treppe runter zum Speisesaal. Der Saal, ist bis auf drei, vier Frauen die verstreut an den Tischen sitzen, gähnend leer. Ein Zivi kommt und bringt uns Kaffee und Käsekuchen. Hedi ist zutiefst enttäuscht. Irgend jemand hat sie heiß auf ihren Geburtstag gemacht, sie die sonst alles vergisst, heute weiß sie es aber. Es tut mir in der Seele weh, als sie sich umsieht und sagt: „Wo sind denn die anderen, die wollten doch alle kommen.“ Oh ja, Frau Kaiser und die übrigen Nachbarinnen hatten Hedi schon eine ganze Zeit gehänselt: „Wir kommen alle zu deinem Geburtstag.“ Das hätten sie auch können, wenn es nicht so ganz anders gekommen wäre.
Da kommt der Akkordeonspieler, von dem Hedi mir schon vorgeschwärmt hatte. Er spielt jeden Sonntagnachmittag zum Kaffee auf. Er sagt zu Hedi: „Na mein Schatz, wie geht es dir denn heute?“ und als er hört, dass Hedi Geburtstag hat, da spielt er ihr gleich ein Ständchen vor.
Dann kommt Susann mit einem hübschen Blumenstrauß und umarmt Hedi. Sylvia ist beruflich verhindert zu kommen, also bilden wir nur einen Dreiertisch
Nach einiger Zeit gehen wir mit Hedi nach oben, wir wollen doch mal sehen, wo und wie sie nun untergebracht ist.

Ein Zweibettzimmer. In der Fensterecke der Rest ihrer Möbel. Die Stehlampe, der Sessel und die Kommode. An der Wand, über dem Bett, hängen die wohlbekannten Bilder und Fotos.

So reduziert sich das Leben, wenn man nicht mehr in der Lage ist es selbst zu lenken. Susann treten Tränen in die Augen voller Mitleid mit ihrer Omi. Aber Hedi selbst, merkt eigentlich nichts von der großen Umstellung aus der Heimwohnung in dieses Zimmer. Merkwürdig, wie schnell sie das vergessen hat. Im Gegenteil. Sie zeigt Susann voller Stolz ihre wenigen noch verbliebenen Habseligkeiten, als wären das Neuanschaffungen.

„Am Heiligen Abend haben wir hier auf der Dementen-Abteilung eine schöne Weihnachtsfeier,“ erzählt uns die leitende Schwester. „Angehörige sind herzlich eingeladen. Sie müssen sich nur in die Liste eintragen, mit wie vielen Personen sie kommen wollen.“ Also trage ich mich und Sylvia ein.
Pünktlich um 15 Uhr treffen wir dort ein. Es ist alles sehr weihnachtlich geschmückt und die Bewohner/innen sitzen bereits – unter ihnen Hedi – auf ihren Plätzen. Es gibt sogar Tischkarten mit unseren Namen und so sitzen wir gleich rechts und links von Hedi. Es gibt Torte und Napfkuchen, Kaffee und Tee. In der Ecke steht ein geschmückter Tannenbaum, an den Fenstern hängen Schneeflocken aus Watte, und auch ein Knusperhäuschen fehlt nicht. Nach dem Kaffeetrinken wird die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Eine Bewohnerin spricht die Geschichte synchron mit. Wie wir später hören, ist sie eine geborene Pastorentochter. Dann werden Weihnachtslieder gesungen. Hedi singt aus vollem Halse mit. Auch wir überwinden unsere anfänglichen Hemmungen und singen ebenfalls mit. Mit stumpfen Gesichtern sitzen mehrere da. Doch plötzlich fällt bei einigen der Groschen. Die bekannten Weisen wecken Erinnerungen aus der Kindheit in ihnen und sie singen auch mit. Dann werden Geschenke vom Weihnachtsmann verteilt, die die Dementen ziemlich gleichgültig entgegennehmen. Die Fähigkeit sich zu freuen, oder neugierig auf den Inhalt des Paketes zu sein, ist ihnen längst abhanden gekommen. Die Heimleiterin geht herum und begrüßt jeden mit Handschlag und sagt zu Hedi: „Na Frau Riemann, wie gefällt es ihnen denn bei uns?“ „Doch, ganz gut,“ sagt Hedi. „Das sind bestimmt ihre Enkelin und Tochter.“ „Ja, ja, das ist meine Schwester,“ antwortet Hedi. Die Heimleiterin kommt zu mir und erzählt, wie gut Hedi sich in diesen wenigen Tagen schon eingelebt hätte, und dass es doch so am besten wäre, sie wäre nun nicht mehr allein und auch für mich würde es sicher leichter werden, da sie hier gut betreut würde. Ich will alles gerne glauben, aber so ganz sicher nach dem Motto: „Ende gut, alles gut,“ bin ich leider noch nicht.
Nach einem Blick auf die Uhr wollen wir uns verabschieden, denn jetzt sitzt Klaus allein zu Hause und wartet auf uns. Wir dürfen ohne Tränenausbrüche Hedis gehen und versprechen, sie bald wieder zu besuchen.

Das nächste Mal gehen Susann und ich wieder hin. Es ist gerade Kaffeezeit und wir helfen der Schwester den Tisch zu decken. Es gibt Klöben und Butter, aufschmieren sollen sich die Bewohner selbst, damit sie eine gewisse Selbstständigkeit behalten, oder wieder erlangen. Die meisten sitzen da und tun gar nichts. Eine schläft die ganze Zeit. Die Schwester stellt ihr die gefüllte Kaffeetasse hin. Eine andere ruft alle zwei Minuten „Ruhe“ und haut mit der Faust auf den Tisch. Ein Mann schaut stur die gegenüberliegende Wand an, als ob alles um ihn herum nicht existiere. Plötzlich dreht er sich zu seiner zierlichen Tischnachbarin um, die auch nichts von sich gibt, und sagt ganz normal: „Wie geht’s dir denn?“ Und Sie legt ihre Hand auf seine und sagt: „Gut.“ Dann schweigen beide weiter. Die Schläferin ist aufgewacht und die Pastorentochter ruft: „Trinken sie mal ihren Kaffee, der wird doch kalt.“ Langsam ergreift die Angesprochene die Tasse... und schüttet ihn in aller Gemütsruhe auf den Kuchenteller der Pastorentochter.
„Also, das ist doch... das geht doch nicht,“ stottert die. Nachdem sie sich so ihres Kaffees entledigt hat, will sie ihn offensichtlich wieder zurückholen. Sie nimmt den Teelöffel und löffelt den Kaffee vom Teller in die Tasse zurück.

Als wir nachher mit Hedi in ihr Zimmer gehen, entdecken wir wie gewohnt, Tabletten unter dem Bett und auf dem Tisch. Aha, das schaffen sie hier auch nicht. Dann zeigt Hedi uns stolz, einige buntgemusterte Kleider und Nachthemden, die sie auf ihrem Sessel aufgehäuft hat und sagt: „Sind das nicht hübsche Stoffe, da kannst du schöne Sachen draus nähen.“ Verblüfft gucken wir uns an. Hedi klaut ihrer Zimmernachbarin die Kleidung. Sie, die immer nur vom beklaut werden spricht, klaut selber. Ich kann mir nicht helfen, aber ich muss lachen.
Beim nächsten Besuch, fällt Hedi mir vor versammelter Mannschaft um den Hals und ruft stolz: „Das ist meine Edith, ja meine Edith!“ Frau P. die Pastorentochter sagt förmlich: „ Nun lerne ich sie ja auch mal kennen.“
Dann greift sie über den Tisch, und nimmt seelenruhig einer Frau im Rollstuhl, den Teller mit Klöben weg. Die läuft puterrot an und ruft: „Na, Pastorentöchter können sich das wohl leisten. Unerhört!“ Und nach einem giftigen Blick zu uns herüber: „Und einige müssen immer mit ihren Angehörigen angeben.“ So da haben wir unser Fett weg.
In der nächsten Woche ist Hedi grantig auf die Schwester und schreit plötzlich los: „Sie, ja Sie, sie geben mir einfach nichts zu essen, aber die andern die fressen und fressen bis nichts mehr da ist.“ Dann hakt sie mich unter und zieht mich in ihr Zimmer. Am Bett ihrer Zimmernachbarin – jener Frau im Rollstuhl – bleibt sie stehen, nimmt einen Zipfel der Wolldecke, die am Fußende über dem Bett hängt zwischen die Finger, schnäuzt sich kräftig darin aus und sagt: „Das kann die gerne mal haben, die alte Kuh.“ Also, wie im Kindergarten.

So wird es weitergehen. Sie hat nun ebenbürtige Partnerinnen, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Wenn ich auftauche, erinnert sie sich wohl doch noch an Dinge in ihrem Leben, die sonst vergessen sind.
Heute den 17.01.01 sagte sie mit Tränen in den Augen zu mir: „ Mein ganzes Leben,... mein ganzes Leben, warst du immer für mich da.“


Im April 2001 findet eine Anhörung durch eine Amtsrichterin statt.
Das heißt: Die Richterin, die Betroffene Frau Riemann und ihre Tochter, sind zu diesem Termin im Zweibettzimmer versammelt.

Aus dem Protokoll:
„Wie alt sind sie denn Frau Riemann?“ Ratloses Schweigen. Als die Tochter schließlich sagt: „Neunzig,“ nickt Frau Riemann mit dem Kopf: „Ja, Neunzehn.“
„Wo sind wir denn hier?“
„Dies ist meine Wohnung, die hab ich von meinem Geld gekauft!“
„Welches ist denn ihr Bett?“
„Dieses hier.“
„Möchten sie dass ihre Tochter alles für sie erledigt, was sie selbst nicht mehr können?“
„Ach, eigentlich hab ich ja alles.“
„Möchten sie, dass ihre Tochter sie auch weiterhin besucht und ihnen ab und an ein neues Kleid oder Schuhe kauft?“
„Ach, eigentlich brauch ich ja nichts.“
„Soll ihre Tochter sie denn nicht mehr besuchen?“
„ Oh, doch, doch, meine Edith, meine Edith, die tut alles für mich!“
„Ist Edith ihre einzige Tochter, Frau Riemann, oder haben sie noch mehr Kinder?“
„Nein, nur meine Edith, meine Edith!“
Damit ist die Anhörung beendet. Es folgt der schriftliche Beschluss:
Dass das Amtsgericht, das Betreuungsrecht für die Mutter, der Tochter übergeben hat.



Station D




„Hilfe, Hilfe, ich muss mal. Hilfe, Hilfe, man will mich ermorden!“ Schrill tönen die Schreie aus dem ersten Stock ins Treppenhaus, als ich die Treppen heraufkomme. Den Fahrstuhl benutze ich nicht, denn die Luft dort drinnen ist noch unerträglicher als im Treppenhaus. Nun bin ich an der Tür angelangt, die in den Wohnbereich führt aus dem die Hilfeschreie kommen. Ich kenne die Stimme, sie kommt von einer kleinen verhutzelten Frau, die damit auf sich aufmerksam machen will. Sie sitzt in ihrem Zweibettzimmer in einem Sessel und stößt immer weiter ihren gellenden Hilferuf aus. Schnell husche ich an der offenen Zimmertür vorbei und gehe den Flur entlang zum Aufenthaltsraum. Dort wischt eine Pflegerin gerade einen mit Orangensaft überschwemmten Tisch ab. Auf dem Fußboden hat sich ebenfalls eine Saftpfütze gebildet. Das macht Frau S. immer so, wenn sie keine Lust mehr hat ihren Saft oder Kaffee zu trinken dann kippt sie einfach das Glas oder die Tasse um. Darum sitzt sie jetzt in ihrem Zimmer und schreit, weil die Pflegerin sie kurzerhand dorthin gebracht hat, um sie bei der Säuberung aus dem Weg zu haben. Ein Zivi geht zu Frau S. und sagt: „Frau S. sie waren gerade auf der Toilette und niemand will sie umbringen.“ Sofort ist Ruhe. Doch kaum ist der Zivi außer Sichtweite, gehen die Hilfeschreie wieder los.
Die anderen Bewohner sitzen sich an den Tischen gegenüber und hören zum Teil der klassischen Musik zu, die aus dem Radio erklingt.
„Das ist von Brahms,“ sagt Frau P. und lacht. Sie lacht eigentlich immer. Etwas abseits sitzt eine kleine lieb aussehende Frau und brabbelt immer den gleichen Satz vor sich hin. „Wer ist denn mal so nett und bringt mich in mein Bett. Wer ist denn mal so nett...u.s.w. und so fort. Neben Frau P. sitzt Hedi und schaut gelangweilt aus. Aber ihre Miene wird sofort hell, als sie mich erblickt. Frau P. zeigt auf die kleine vor sich hin brabbelnde Frau und sagt: „Man wird ganz nervös wenn man das immer hören muss.“ Hedi steht auf und will aus ihrer Ecke auf mich zukommen, doch eine energische Frau sitzt ihr im Weg und trifft auch keine Anstalten Platz zu machen. „ Ich muss dadurch, meine Mutter, meine Schwester ist da,“ sagt Hedi. „Da kann ja jeder kommen,“ sagt die Forsche, „das ist mein Stuhl, den kriegst du nicht.“
Der Zivi kommt und lotst Hedwig aus der Ecke heraus. Die Forsche ist empört, als er sie mit ihrem Stuhl ein wenig beiseite schiebt.
„Komm, wir gehen auf dein Zimmer, ich habe dir auch etwas mitgebracht,“ sage ich zu Hedwig. „Das ist meine Wohnung, die hab ich mir von meinem Geld gekauft,“ berichtigt sie mich. In der „Wohnung“ liegt die zweite Bewohnerin krank im Bett und reagiert nicht auf meinen Gruß. Also beeile ich mich Hedi die mitgebrachten Kekse und die Schokolade auszuhändigen, und mache mich dann daran ihren Kleiderschrank durchzusehen wegen fehlender Knöpfe an den Kleidern oder abgerissener Namensetiketten. Sofort macht sich Hedi an dem Schrank ihrer Nachbarin zu schaffen und wühlt darin herum. „Das ist nicht dein Schrank,“ versuche ich ihr zu erklären, aber sie hört nicht zu und hält hingerissen einen Kleiderärmel in der Hand. „Ist das nicht hübsch?“ Da sagt die Kranke plötzlich: „Das ist mein Schrank Frau Riemann.“ Hedi dreht sich um und sagt: „Das ist meine Wohnung und ich hab Besuch und da muss ich doch...“
„Immer gehen sie an meine Sachen, unerhört.“ „So,“ sage ich, „jetzt machen wir den Schrank zu und dann gehen wir wieder raus, damit Frau J. ihre Ruhe hat. Komm wir gehen jetzt,“ sage ich zu Hedi, aber sie muss unbedingt noch die Kekse verstecken, damit sie ihr nicht geklaut werden. Endlich sind wir wieder auf dem Flur.
Dort geht Herr M. Hand in Hand mit der Forschen, er hält sie für seine langjährige Lebensgefährtin und sagt zu uns: „Wir gehen jetzt spazieren, kommt ihr mit?“ Die Therapeutin ist auf der Suche nach der Zahnprothese von Herrn W. vergeblich. Später, als Herr M. von seinem Spaziergang im Park mit der Forschen zurück kommt, findet sich die Prothese im Mund von Herrn M. wieder an. Seine eigene hatte er in der Hosentasche und kramt sie jetzt hervor. „Wie hat er sie bloß in den Mund bekommen,“ sagt kopfschüttelnd die Therapeutin, „sie kann doch gar nicht passen.“ Doch Herr M. hatte offensichtlich keine Probleme damit. Ungern lässt er sich von der Therapeutin in sein Zimmer bringen um den Gebisswechsel vorzunehmen.

Heute treffe ich Hedi und Erna P.,die beiden Unzertrennlichen, im Aufenthaltsraum beim Kaffeetrinken an. Hedi trägt einen Nylonkniestrumpf über den rechten Arm
gestreift. Herr M. steht im Raum und zieht sein Oberhemd aus, darunter trägt er zwei Unterhemden. Als er die gerade über den
Kopf zieht, kommt die Therapeutin und sagt: „ Aha, was wird das denn nun?“
Sie nimmt ihn an die Hand, geht mit ihm auf den Flur und versucht ihn wieder anzuziehen, aber er sträubt sich. Zum Glück kommt seine Tochter gerade zu Besuch. Sie zieht ihn energisch in sein Zimmer und als die beiden nach ein paar Minuten wieder auftauchen, sieht er wieder zivilisiert aus.
„Hallo ihr Beiden,“ sagt er zu Hedi und mir, „heute Nacht bleibe ich zum erstenmal hier, mal sehen wie mir das gefällt.“ Seine Tochter zwinkert mir zu.
In Hedis „Wohnung“ thront die Zimmergenossin auf dem Toilettenstuhl und sieht uns misstrauisch an. Ich halte die Luft an und ziehe Hedi aus dem Zimmer, melde uns bei dem Pfleger ab und gehe mit ihr in den Park. Endlich frische Luft!
Auf dem Rasen sitzt Frau Kaiser mit einigen Damen zusammen. Ich grüße sie, und sofort stecken die Damen die Köpfe zusammen. Im Weitergehen höre ich noch, „Fr. Riemann und die Tochter, da kann man mal sehen...“ usw. und sofort.
Von mir aus sollen sie doch tratschen.

Seit Hedi in diesem Wohnbereich lebt, ist es für mich wesentlich leichter geworden. Sie sitzt nicht mehr allein auf dem Sofa in ihrer Heimwohnung, sondern mit vielen im Aufenthaltsraum zusammen. Speziell natürlich mit Erna, die ihre Bezugsperson geworden ist. Nur wenn ich auf Besuch komme, wiederholt sich das alte Spiel: Sie will mit mir allein sein. Sie schiebt Erna, die uns ins Zweibettzimmer gefolgt ist, unbarmherzig zur Tür hinaus. „Nein, das geht jetzt nicht ich hab Besuch, meine Schwester ist da und da muss ich... also bitte.“
Erna wird also ausgebootet und irrt ziellos auf dem Flur umher. Mir tut sie leid, denn sonst klebt Hedwig wie Kleister an ihrer Seite. Ich reduziere den Besuch in ihrem Zimmer auf ein Mindestmaß und kann sie auch schnell wieder überreden in den Aufenthaltsraum zurückzugehen.
Wenn Frau A., die Therapeutin, dort ist, ist es fast gemütlich. Sie versteht es für diese verwirrten Menschen eine Atmosphäre zu schaffen.
Zum Beispiel, versammelt Sie alle an einen Tisch um sich herum, und sagt: „Heute kochen wir uns mal eine Suppe zum Abendessen. Wer hat Lust das Gemüse zu putzen? Na wie ist es Frau S.“
Und siehe da, Frau S. putzt das Gemüse, wie früher für ihre Familie.
Es wird auch Kuchenteig angerührt oder geknetet und bis auf wenige, immer desinteressierte, machen sie eifrig mit. Hedi hat natürlich, wenn „ihre Schwester, ihre Mutter, ihre Tochter“ da ist, zu nichts Lust. „Na, Frau Riemann, zeigen sie doch mal ihrer Tochter, wie gut sie noch Kekse ausstechen können.“ „Nein, nein, meine Schwester, meine...“ „Ja weiß ich ja, ihre Tochter ist da, dann ein andermal.“.
Sie ist also dort gut aufgehoben. Ihre Wohnung im zweiten Stock, hat sie schnell vergessen. Ich hätte mir also nicht so viele Sorgen machen müssen, aber das konnte ich doch vorher nicht wissen.

Die Bettlägerige Zimmernachbarin hat einen Schlaganfall bekommen und ist ein Stockwerk tiefer auf die Pflegestation gekommen. Nun teilt Erna das Zimmer mit Hedi.
Als Hedi bei meinem Besuch wieder Frau P. kurzerhand vor die Tür setzen will, sage ich energisch: „Das geht nicht, sie wohnt auch hier," und frage Frau P. ob das ihr Bett hier an der Tür ist. Sie sagt lachend: „Ach Gott, irgendwo muss man ja schlafen.“

Wieder einmal ist Sommerfest im Park des Altenheimes. Als ich
In den Park komme, sehe ich auch gleich den Tisch, um den einträchtig die Dementen sitzen von Frau A. betreut. Nur Hedi sehe ich nicht. „Sie wollte auf keinen Fall mit uns herunter kommen, ich glaube, die vielen Menschen machen ihr Angst,“ sagt Frau A. zu mir. „Vielleicht können sie sie ja überreden.“ Oben im Aufenthaltsraum sitzt Hedi vor ihrem Kaffeegedeck und unterhält sich mit dem netten Pfleger. „Sehen Sie, da kommt ihre Tochter, Frau Riemann,“ und zu mir gewandt: „Wir haben uns ein bisschen unterhalten über frühere Zeiten.“ Er steht auf und sagt: „Na, nun haben sie ja Besuch Frau Riemann, dann mache ich mich mal an meine anderen Aufgaben.“
„Wollen wir beide denn jetzt in den Park gehen, da ist es nett, hörst du die Musik? Und Frau A. wartet schon auf dich,“ sage ich bittend zu Hedi. Aber Hedi will nicht, auch nicht auf den Balkon gehen, von wo man einen schönen Blick über den Park hat. Sie zieht sich ängstlich zurück und schüttelt den Kopf. „Klaus kommt gleich, er wollte dich heute auch mal besuchen.“ „Das ist aber nett von ihm,“ sagt sie freundlich, und als er kommt, begrüßt sie ihn, als hätte sie ihn gestern erst gesehen. Dabei sind fast zwei Jahre inzwischen vergangen.
Ich staune immer wieder über dieses merkwürdige Krankheitsbild. Gestern noch keine Erinnerung und heute ganz normal.
Unten gibt es jetzt Spanferkel vom Grill und Klaus möchte schon gern etwas davon probieren. Wir sagen Hedi, dass wir uns etwas zu Essen holen wollen und ob wir ihr etwas mitbringen sollen. „Jaa, ich hab ja solchen Hunger.“ Im Park scharen sich viele Besucher, so wie wir, um den Grillplatz. Die Dementen werden natürlich am Tisch versorgt. Es gibt auch einen Weinausschank und wir trinken ein Glas Weißwein zum Grillfleisch. Dann geht Klaus noch einmal zum Grill und holt für Hedi eine Portion. Im Treppenhaus erwartet sie uns schon. Aber das Fleisch ist ihr zu zäh, das kann sie nicht essen, sagt sie. Trotzdem ist das ja so nett von Klaus, das er ihr etwas mitgebracht hat. Es war das letzte Mal, das wir uns mit ihr einigermaßen verständigen konnten und das letzte Mal, das Klaus sie gesehen hat.

Ich bin ein Störenfried geworden.
Gestern saß Hedi einträchtig wie immer, wenn ich komme, mit Erna zusammen. Erna entdeckt mich zuerst und lächelt mir zu. Bei Hedi dauert es länger, sie ist heute etwas abwesend. Doch dann ruft sie: „Oh, da ist ja meine Tochter, ach meine Edith ich bin ja so froh.“ Sie fasst meine Hand und lässt sie nicht mehr los. Erna, die das sieht, fasst ihrerseits Hedis rechte Hand und hält sie zärtlich fest. Aber das will Hedi nicht. Sie zieht ihre Hand weg, hält meine weiterhin fest und flüstert mir zu: „Du ja, aber Sie nicht!“ Dann erhebt sie sich von ihrem Stuhl: „ Ich will hier raus, in meine Wohnung, mit dir!“ Natürlich erhebt sich auch Erna und folgt uns. Hedi geht immer schneller und zieht mich mit. Als wir in ihrem Zimmer angelangt sind und Erna ebenfalls eintreten will, stemmt Hedi sich gegen die Tür, wird aggressiv und ruft: „Nein, Du nicht,“ und knallt ihr die Tür vor der Nase zu. Irgendwie ist das nicht der Sinn meines Besuches. Ich stifte ungewollt Unfrieden zwischen den beiden. Nach zehn Minuten will Hedi aber zurück in den Aufenthaltsraum. Dort sind inzwischen die Stammplätze besetzt. Das findet Hedi unerhört und schimpft vor sich hin. „Komm,“ sage ich, „wir setzen uns auf eine Bank im Flur.“ Hinter uns höre ich Schritte, Erna! Wir lassen uns alle drei auf der Bank nieder, Hedi in der Mitte. Dieses mal protestiert sie nicht, sie ist wieder abwesend. Erna singt das Lied: „Hoch auf dem gelben Wa-agen, sitz ich beim Schwager vorn...“
Eine Tochter geht mit ihrem Vater Hand in Hand vorbei. Er bleibt stehen und sagt zu uns: „Guten Tag und auf Wiedersehen. Ich geh jetzt mit meiner Frau nach Hause.“ Wir Töchter sehen uns verständnisinnig an. Das muss man nun so nehmen wie es ist, es wird nicht mehr anders. Im Aufenthaltsraum klappert Geschirr. „Gleich gibt es Abendbrot,“ sage ich zu Erna. Sie hört mit Singen auf, erhebt sich und fasst Hedwigs Hand. Hedi lässt sich von ihr hochziehen und geht mit ihr. Erna hakt Hedi unter und einträchtig gehen die beiden den Flur entlang. Mich haben sie vergessen.
Gut, sage ich mir, sei froh, sie ist nicht mehr allein. Du hast das Betreuungsrecht und wirst weiterhin darauf achten, dass es ihr den Umständen entsprechend gut geht. Mehr kannst du nicht mehr für sie tun.



Nachtrag




Hedwig hat diese Welt am 02.November 2001 für immer verlassen.
In den letzten vier Wochen ihres Lebens schrumpfte sie immer mehr zusammen. Sie verließ nur noch ungern ihr Bett und konnte kaum noch sprechen. Meist fand ich sie schlafend vor, während die anderen schon beim Nachmittagskaffee saßen.

Zu allem Unglück wurde der Wohnbereich renoviert. Das hieß, dass sie eines Mittags nicht in ihr Zimmer und ihr geliebtes Bett konnte, weil eben dieses Zimmer renoviert wurde. Verzweifelt versuchte sie die Kommode, die man als Barriere vor die Tür geschoben hatte, beiseite zu rücken. Ein Pfleger und ich versuchten ihr zu erklären, dass sie bestimmt, sowie das Zimmer fertig wäre, wieder dort hinein könnte, aber sie verstand uns nicht. Das letzte was ihr armes Gehirn noch fasste war, dass sie wieder einmal, wie so oft in ihrem Leben, und in ihrer Einbildung, vertrieben wurde. Das muss ihr den Rest gegeben haben. Doch eine Woche vor ihrem Tod, Frau Kaiser und ich standen an ihrem Bett, wachte sie auf und wollte unbedingt in den Aufenthaltsraum. Eine Pflegerin und ich stützten sie. Es kostete sie große Anstrengung einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber eisern schleppte sie sich vorwärts. An der Tür zum Gemeinschaftsraum stand die „Forsche“ und rief: „Die ist doch verrückt, die ist doch hier,“ und tippte mit dem Finger an ihre Stirn.
Am anderen Morgen wurde ich von Hedi`s Arzt angerufen: „Kommen Sie bitte bald möglichst, es geht sicherlich mit ihrer Mutter in den nächsten 24 Stunden zu Ende.“ Als ich kam, war sie nicht mehr ansprechbar, ihre Augen blickten ins Leere. Sie hat dann doch noch vier Tage lang gelebt, besser gesagt geatmet. Jeden Tag saß ich einige Stunden neben ihrem Bett und erzählte ihr von früher: „Weißt du noch?“ Man sagte mir, es könnte doch sein das die Stimme des Angehörigen den Sterbenden erreicht und ihn beruhigt. Ich hielt ihre Hand, ich streichelte ihren kahlen Kopf und nannte sie „meine Kleine.“ Denn klein war sie geworden und wurde jeden Tag kleiner. Es wurde alles für sie getan, was man noch für sie tun konnte. Ganz friedlich ist sie in eine hoffentlich bessere Welt hinüber geschlafen, aus der sie sicher nicht mehr vertrieben wird!



Impressum

Texte: Edith Scherlitz
Bildmaterialien: Edith Scherlitz

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