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Ankommen

Langsam ging Luna am Strand entlang. Es dämmerte und war ganz ruhig. Nur ganz wenige Menschen waren noch zu sehen. Es war Ende April und die ersten warmen Tage hatten schon viele an den Strand gelockt. Aber nun wurde es dunkel und es leerte sich. Luna war das nur recht, denn sie wollte allein sein.
Vor einer Woche, in den Osterferien, war sie mit Ihrer Mutter und ihren zwei kleinen Brüdern von Frankfurt hierher gezogen.
Heute war es genau sechs Monate her, dass ihr Vater bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Beim Gedanken daran wurde ihr kalt. Überhaupt fühlte sich ihr Herz seit dem Tod ihres Vaters eisig an.
In Frankfurt hatte die Familie alles an den Vater erinnert und ihre Mutter war durch den Schmerz wie gelähmt.
Um wieder leben zu können, hatte sie ein Jobangebot als Köchin in einem Hotel in St. Peter Ording angenommen. In dieser völlig anderen Atmosphäre hatten ihre Mutter – und auch sie selbst - die Hoffnung, wieder aufatmen zu können.
Für Luna war dieser Schritt sehr schwer gewesen. Sie hatte die ganzen 16 Jahre ihres Lebens in Frankfurt verbracht, hatte Freunde dort, die sie nun zurücklassen musste.
Vor allem ihre beste Freundin Marie vermisste sie sehr.
Luna setzte sich in den Sand. Die Nordsee hatte sich zurück gezogen, es war Ebbe. Ihr Blick schweifte zum Horizont, der Mond war schon zu sehen.
Unweigerlich musste sie wieder an ihren Vater denken, dessen Familie aus Italien stammte und der ihr den Namen Luna, Mond, gegeben hatte. Sie vermisste ihn so sehr. Würde dieser Schmerz irgendwann aufhören? Es tat ihr weh zu sehen, wie ihre Mutter kämpfte. Wie sie versuchte, für die Kinder tapfer zu sein. Ihre Augen aber sprachen eine eindeutige Sprache.
Ihre beiden Brüder Enio und Fabiano waren Zwillinge und erst fünf Jahre alt. Die beiden hatten in den letzten Monaten ebenfalls viel von ihrer Fröhlichkeit verloren. Sie war froh, dass sie hier einen sehr schönen Kindergarten gefunden hatten, in dem die sie sich sicher wohl fühlen würden.
Luna bewunderte das Abendrot, das es so schön wohl nur am Meer gab, das aber auch unweigerlich die Kälte brachte. Sie sah auf die Uhr. Es war bereits halb acht und sie beschloss, nach Hause zu gehen, bevor ihre Mutter sich Sorgen machte.
Morgen war ihr erster Schultag an der neuen Schule. Sie schauderte bei dem Gedanken an die vielen Leute, für die sie „die Neue“, das Thema Nummer eins des Tages sein würde.
Ihr war so gar nicht danach, neue Leute kennen zu lernen. Aber sie war fest entschlossen, sich hier ein neues Leben aufbauen. In den letzten Monaten war sie erwachsen geworden. Sie fühlte sich mitverantwortlich für ihre kleinen Brüder und wollte auch für ihre Mutter stark sein und sich alle Mühe geben. Bloß nicht schwach sein. Sie konnte den sorgenvollen Blick ihrer Mutter nicht mehr ertragen. Sie hatte so viel Hoffnung in diesen Neuanfang gesetzt, Luna wollte sie auf keinen Fall enttäuschen.
Also stand sie auf und ging zurück zur Straße, an der sie ihr Fahrrad abgestellt hatte. Der Strand war wirklich endlos. Unter anderen Umständen hätte ihr das sicherlich gut gefallen.
Luna stieg auf ihr Fahrrad und fuhr in die Richtung des Bauernhofs, auf dem sie mit ihre Mutter einen kleinen Reetdach-Bungalow gemietet hatte.


Erstkontakt

Das schrille Summen des Weckers weckte Luna unsanft aus einem wirren Traum, den sie jedoch nicht festhalten konnte.
Es war halb sieben, in einer Stunde würde der Unterricht an ihrer neuen Schule, einem Gymnasium, anfangen. Eigentlich sollte sie wohl aufgeregt sein, aber Luna empfand nichts dergleichen.
Sie ging ins Bad und sah in den Spiegel. Sie war blass und hatte dunkle Augenringe. In den letzten Monaten hatte sie stark abgenommen, das Essen wollte ihr nicht mehr recht schmecken. Sie sah ihrem Vater sehr ähnlich, hatte die selben, rehbraunen Augen und die selben dunkelbraunen Locken. Früher mochte man sie für eine rassige Südländerin gehalten haben, jetzt wirkte sie nur noch blass und unscheinbar.
Luna wusch sich das Gesicht und band ihre Locken zu einem Zopf zusammen. Sie schlüpfte in Jeans und Sweatshirt, nahm ihre Tasche und ging die Treppe hinunter. Ihre Mutter war bereits wach, die Jungen schliefen noch.
„Guten Morgen mein Schatz“, sagte ihre Mutter freundlich und lächelte sie an. „Möchtest Du noch einen Tee mit mir trinken? Es tut mir leid dass ich dich an deinem ersten Tag nicht begleiten kann“, plapperte sie, eindeutig aufgeregter als Luna selbst.
„Ich habe dir ein Frühstück zusammengestellt, Du musst langsam mal wieder anfangen, etwas zu essen“, sagte sie sorgenvoll und reichte ihr einen gut gefüllten Stoffbeutel.
„Guten Morgen Mama“, sagte Luna, „Danke... und mach dir keine Sorgen, ich schaff das schon.“
„Ja, ich weiß, Du bist eben meine Große.“ Wehmut schwang in ihrer Stimme mit, und sie stellte zwei Tassen Tee auf den Küchentisch.
Luna setzte sich und nahm ihre Tasse.
„Wo warst Du denn gestern Abend noch?“, wollte ihre Mutter wissen.
„Nur kurz am Strand.“
„Sei bitte vorsichtig, wenn es dunkel wird, so allein am Strand.“
„Na klar, Mama“, sagte Luna und stand auf. „Ich muss jetzt los“. Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.
„Okay Liebes, dann viel Spaß, ich bin nachher zu Hause, wenn du kommst.“
Luna ging zur Tür und trat hinaus in die kühle Morgenluft.
Der kleine Bungalow, den sie gemietet hatten, stand etwas abseits auf dem Bauernhof. Er hatte vorher einige Jahre als Ferienhaus gedient, das die Besitzer des Bauernhofes an Feriengäste vermietet hatten. Die Schule war etwas weiter weg,
im Ort, so entschloss sich Luna mit dem Fahrrad zu fahren.
In der Schule angekommen ging sie als erstes ins Sekreteriat um sich zu melden. Hier wurde sie wenig später von ihrer neuen Klassenlehrerin abgeholt.
„Hallo, Luna, mein Name ist Huber“ sagte diese freundlich und reichte ihr die Hand. „Komm mit, ich zeige dir deine neue Klasse. Wir haben noch einen neuen Schüler, er ist allerdings nur diesen Sommer als Austauschschüler hier und wartet bereits am Klassenraum. So...hier habe ich deinen Stundenplan. Deine erste Stunde heute ist Deutsch“, sagte Frau Huber und Luna ging hinter ihr her.
Am Klassenraum angekommen sah sie einige Schüler, die sich nach ihr umdrehten und sie neugierig musterten – war ja klar. Etwas abseits sah sie einen Jungen, der ihr den Rücken zugedreht hatte. Er hatte dunkles, etwas längeres Haar und sehr breite Schultern. Frau Huber ging auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter. Der Junge drehte sich um und Luna blieb für einen Moment das Herz stehen. Tiefblaue Augen blickten sie an, schauten aber sofort wieder weg. Luna brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, denn sie hatte noch nie solche Augen gesehen. Für einen Moment hatte sie das Gefühl gehabt in die Tiefen eines Ozeans zu schauen und darin zu versinken.
Als sie sich wieder gefangen hatte, stellte sie etwas erschrocken fest, dass alle anderen Schüler bereits in den Klassenraum gegangen waren. Frau Huber stand noch an der Tür und wartete mit fragendem Blick auf sie. Sie ging schnell hinein und blieb neben ihrer Lehrerin stehen. Auch der geheimnisvolle Junge stand dort, blickte sie aber nicht an.
Alle anderen Schüler saßen schon auf ihren Plätzen und 20 neugierige Augenpaare waren erneut auf sie gerichtet.
Die Lehrerin ging an die Tafel. „Guten Morgen“ sagte sie zur Klasse. „Ich hoffe ihr hattet alle angenehme Ferientage. Wir haben zwei neue Mitschüler. Luna, Nikanor, ihr könnt euch ja selbst kurz vorstellen“.
Der Junge mit den Ozeanaugen trat vor und sagte mit glockenklarer Stimme und einem leichten, französischen Akzent:„ Guten Morgen. Mein Name ist Nikanor und ich komme aus Lacanau in Südfrankreich. Ich werde bis zu den Sommerferien als Austauschschüler hier zur Schule gehen, um mein Deutsch zu verbessern. Ich bin bei Gasteltern untergebracht, deren Sohn auf ein Internat in meiner Heimat geht.“ Obwohl das alles ziemlich einstudiert klang, bekam Luna Gänsehaut bei dieser Stimme und erschrak, als sie bemerkte, dass sie nun dran war und alle sie erwartungsvoll ansahen.
„Ähm, Hallo, ich bin Luna. Meine Familie und ich sind von Frankfurt hierher gezogen“, sagte sie schüchtern.
„Gut ihr beiden, dort hinten ist noch ein Tisch frei, setzt euch bitte“ sagte Frau Huber und wies auf einen Tisch in der letzten Reihe.
Mit weichen Knien ging Luna voran. Was war nur los, dass dieser Junge sie so aus der Fassung brachte? Sie setzte sich und sah starr geradeaus. Nikanor setzte sich neben sie und würdigte sie ebenfalls keines Blickes.
Die Stunde verging und Luna war verkrampft. Ab und zu drehten sich ein paar Schüler neugierig zu ihnen um.
Es läutete, aber Luna war sich nicht sicher, ob sie das gut finden sollte. Es war ihr zwar unangenehm so verkrampft neben Nikanor zu sitzen, aber sie kannte hier auch niemanden. Nikanor erhob sich neben ihr und ging zur Tür hinaus. Luna erhob sich ebenfalls und als sie an der Tür angekommen war stellte sich ihr ein blondes Mädchen in den Weg.
„Hallo Luna, ich bin Jenny. Ich bin die Klassensprecherin hier. Soll ich dich ein bischen herumführen?“
„Hm, ja, gern“, antwortete Luna verlegen, aber auch erleichtert, dass jemand den ersten Schritt gemacht hatte und sie angesprochen hatte.
„Okay, wir haben als nächstes Bio, ich zeige dir, wo der Raum ist. In der großen Pause zeige ich dir dann die ganze Schule.“
„In Ordnung“, entgegnete Luna.
„Du bist also aus Frankfurt hierher gezogen?“
„Ja.“
„Das ist sicher eine Umstellung für dich.“
„Schon ein bischen, ja.“
„Warum seid ihr denn hierher gezogen?“
„Naja, mein Vater ist vor einem halben Jahr gestorben und meine Mutter hat hier ein gutes Jobangebot bekommen“, sagte Luna tonlos.
„Oh,- das tut mir leid...“ Sie lächelte unsicher.
„Kein Problem, kannst du ja nicht wissen“, Luna lächelte zurück.
„So, da sind wir.“ Luna und Jenny stellten ihre Taschen vor dem Raum ab. Ein anderes Mädchen mit kurzen, roten Haaren gesellte sich zu Ihnen.
„Hi, ich bin Tessa.“
„Hallo.“
„Gefällt es dir hier in St. Peter Ording?“, fragte Tessa.
„Naja, ehrlich gesagt, habe ich noch nicht so viel gesehen.“
„Wenn du möchtest, können wir uns mal nach der Schule treffen und dann zeigen wir dir den Ort.“
„Ja, gern – das klingt prima!“
Plötzlich kam Nikanor um die Ecke.
„Der Neue hat was, oder?“, sagte Jenny.
„Aber irgendwie ist er ein bisschen seltsam“
„Die Augen sind auf jeden Fall der Hammer“, erwiderte Tessa verträumt.
„Sein Name ist auch interessant, klingt irgendwie gar nicht französisch, finde ich“, bemerkte Jenny.
Nikanor blieb ein paar Meter entfernt stehen und lehnte sich an die Wand.
Ein großer, blonder, schlaksiger Junge ging auf ihn zu.
Die beiden unterhielten sich kurz. Nikanor wirkte freundlich distanziert. Luna konnte einfach nicht anders, als ihn anzustarren. Er musste das gemerkt haben, denn er sah kurz mit seinen Ozeanaugen zu ihr hinüber und Luna stockte abermals der Atem. Schnell sah sie beschämt in die andere Richtung. Was musste er wohl denken, wenn sie ihn so anglotzte.
Ein dicker, glatzköpfiger, Mann kam um die Ecke.
„Das ist unser Bio-Lehrer, Herr Schneider“, sagte Jenny flüsternd.
Herr Schneider schloss die Tür auf und sah sich um, bis er Luna entdeckte. „Guten Morgen, Sie müssen Luna sein“, sagte er zu ihr.
„Mein Name ist Schneider. Ah, und sie sind sicher Nikanor.“ Nikanor hatte sich neben sie gestellt. Ihre Arme berührten sich leicht und Luna bekam eine Gänsehaut.
Ein freundliches „Guten Morgen“ kam glockenklar aus Nikanors Mund. Unglaublich, diese Stimme, dachte Luna.
Sie betraten den Raum und Luna wartete ab, bis die meisten Schüler sich gesetzt hatten.
„Luna, Du kannst dich zu uns setzen, hier ist noch ein Platz frei“, rief Tessa, die bereits an einer Tischgruppe am Fenster Platz genommen hatte. Dankbar nahm Luna das Angebot an und setzte sich zu Jenny und Tessa.
Nikanor setzte sich an einen freien Tisch gegenüber dem Lehrerpult. Er saß nun genau in Lunas Blickrichtung und sie ertappte sich dabei, dass sie sich freute, ihn „fast unauffällig“ beobachten zu können.
Dieser Junge faszinierte sie und seit Monaten war sie das erste Mal abgelenkt von den traurigen Gedanken an ihren Vater. Dies empfand sie als angenehm und gleichzeitig beunruhigend.
Der Schultag ging vorbei, ohne dass Luna noch einmal neben Nikanor sitzen musste. Oder sollte sie sagen: durfte?
Jenny und Tessa waren sehr nett, zeigten ihr alles und erzählten ihr, was sie wissen musste.
Nikanor blieb unnahbar. Ein Junge aus der Klasse, sein Name war David, hatte versucht sich seiner anzunehmen und ihm alles zu zeigen. Man sah die beiden in den Pausen gemeinsam. Nikanor wirkte freundlich, aber immer distanziert. Manchmal trafen sich ihre Blicke kurz und das war Luna unangenehm, obwohl es ihr gleichzeitig wohlige Schauer durch den Körper trieb. Sie kam sich blöd vor, ihn so anzustarren, aber sie konnte einfach nicht anders.
Jenny und Tessa schienen Nikanor ebenfalls interessant zu finden.
Auf dem Heimweg von der Schule dachte Luna die ganze Zeit darüber nach. Sie hatte nicht genau gesehen, wohin Nikanor gegangen war und niemand wusste, wo er wohnte und wer seine Gasteltern waren.
Als Luna die Tür des kleinen Bungalows aufschloss, steckte sofort ihre Mutter den Kopf aus der Küchentür.
„Hallo Schatz! Erzähl, wie war dein erster Tag?“
„Luna, Luna!“, ihre beiden Brüder kamen ebenfalls herbei geflitzt und sprangen an ihr hoch.
„Hey, langsam ihr zwei Wilden“ sagte Luna und musste ein bisschen lachen.
„Nanu, du hast ja ganz rote Wangen“, bemerkte ihre Mutter erstaunt. „Jetzt erzähl mal, wie ist die neue Schule?“
„Lass mich doch erstmal nach Hause kommen“, sagte Luna, zog sich ihre Jacke aus und setzte sich an den bereits gedeckten Tisch.
Ihre Mutter stellte den Topf mit dampfendem Eintopf auf den Tisch und die Zwillinge setzten sich ebenfalls.
„Ich war nicht die einzige Neue“, begann Luna zu erzählen. “Es gibt noch einen Austauschschüler aus Frankreich, der bis zu den Sommerferien bleibt. Er heißt Nikanor.“
„Aha, ist das also der Grund für die roten Wangen?“, fragte ihre Mutter amüsiert.
„Was? Quatsch! Das ist ein komischer Kerl, irgendwie total unnahbar und arrogant“, sagte Luna schnell und fühlte sich ertappt. Ihre Wangen wurden nur noch roter.
Ihre Mutter grinste nur und setzte sich ebenfalls. Luna hatte erstaunlicherweise Appetit.
Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Es war ein komisches Gefühl in ihrer Magengegend. Sie war unglaublich aufgeregt und konnte nur noch an Nikanor und seine Ozean-Augen denken.
Es war schön, mal wieder abgelenkt zu sein. Aber es war ihr auch unangenehm. Sie wusste nicht genau, was diese Gefühle zu bedeuten hatten. Sie war schon des öfteren verliebt gewesen, zumindest hatte sie das gedacht, aber das war anders. War das verliebt sein?
Sie ging an ihr Zimmerfenster und sah hinaus. In der Ferne konnte sie das Wasser sehen. Sie dachte an ihre neuen Klassenkameradinnen Jenny und Tessa. Die beiden schienen echt nett zu sein. Sie hatte ihnen erzählt, wo sie wohnt und die Mädels wollten sie einmal besuchen.
Vielleicht würde es hier in St. Peter Ording ja doch gar nicht so schlecht werden. Vielleicht war es wirklich die richtige Entscheidung gewesen, Frankfurt hinter sich zu lassen und hier neu anzufangen, ohne dass einen ständig überall alles an Papa erinnert. Papa würde es sicher auch gut finden, wenn es uns wieder besser geht, dachte Luna. Er war selbst immer so ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch gewesen.
Papa... ich vermisse dich Papa... dachte Luna. Der Schmerz den diese Gedanken auslösten war noch da, aber sie hatte gelernt, damit umzugehen.
Die Klingel und das Rufen ihrer Mutter rissen sie aus ihren Gedanken. „Luna, Du hast Besuch“, kam es von der Haustür. Luna öffnete langsam ihre Zimmertür, und da stand Tessa in der Tür und grinste. „Hey, wir treffen uns mit ein paar Leuten in der Strandbar und ich dachte, du hast vielleicht Lust mitzukommen?“
Luna überlegte kurz. War ihr das für heute schon zu viel des Guten? Sie fühlte sich zwar schon etwas wohler, aber sie musste sich daran noch gewöhnen.
„Sei mir nicht böse Tessa, aber heute noch nicht“, sagte sie.
„Okay, wie Du meinst, dann eben beim nächsten Mal“, sagte Tessa, „bis morgen in der Schule.“
„Hey, warum bist Du nicht mit gegangen?“, fragte ihre Mutter, als sie die Tür geschlossen hatte.
„Ich bin müde und muss Hausaufgaben machen und au゚erdem habe ich noch nicht alle Kisten ausgepackt“, entgegnete Luna schnell und ging wieder in ihr Zimmer.
Sie setzte sich an ihre Hausaufgaben und erledigte sie schnell.
Dann schloss sie ihre Musikanlage an und legte ihre Lieblings CD von Robbie Williams ein. Sie hatte sie lange nicht gehört. Mit Musik ging das Auspacken der Kisten einfacher und sie begann eine Kiste mit Büchern in das Bücherregal zu räumen. Nachdem die Kiste leer war, sah Luna auf die Uhr.
Es war halb fünf. Sie sah aus dem Fenster, es war ein sonniger Tag. Kurzentschlossen zog sie sich ihre Sneakers und eine Sweatjacke an und ging zur Haustür.
„Mama, ich geh jetzt doch noch einmal raus“, rief sie ihrer Mutter zu, die mit ihren beiden Brüdern im Wohnzimmer saß und Memory spielte.
„In Ordnung, aber sei zum Abendessen wieder da“, rief ihre Mutter zurück.
Luna nahm wieder den Weg zum Strand, den sie am Tag zuvor auch gefahren war. Es war wieder reger Betrieb.
Sie setzte sich etwas abseits in den Sand und sah übers Wasser.
Nicht weit entfernt, sah sie einen Pfahlbau und sie überlegte,
ob das wohl die Strandbar war von der Tessa gesprochen hatte.
Ihre Gedanken schweiften unwillkürlich wieder zu Nikanor.
Sollte sie versuchen mit ihm in Kontakt zu kommen? Sie hatten ein paar mal Blickkontakt gehabt, aber sie hatte die Blicke nicht deuten können. Es war kein Lächeln auf seinem Gesicht gewesen.
Lunas Blick schweifte über den Strand. Es leerte sich. Etwas entfernt sah sie jemanden am Wasser stehen. Als sie etwas genauer hin sah, machte sich ein heftiges Kribbeln in ihrem Magen bemerkbar. Es war Nikanor, der da stand. Es wehte ein milder Wind der sein Haar verwehte. Er sah übers Wasser und wirkte sehr abwesend. Er war dunkel gekleidet, in dunklen Jeans und schwarzem Shirt und sah unglaublich gut aus.
Luna konnte nicht anders, sie musste ihn beobachten. Er war so anders als alle sechzehnjährigen Jungen, die sie kannte. Er wirkte viel reifer. Die meisten Jungen in dem Alter waren „möchte gern coole“ Halbstarke. Nikanor dagegen wirkte ernst und besonnen. Als wüsste er jetzt schon genau, wie sein Leben laufen sollte.
Worüber er wohl nachdachte, dort drüben, so allein am Strand? Dieser Junge war so geheimnisvoll, sie würde so gern mehr über ihn erfahren. Diese paar Stunden in der Schule, die sie ihn jetzt erst kannte, wenn man das schon so nennen konnte, hatten sie beeindruckt.
Sie beobachtete ihn noch eine Weile, bis er plötzlich seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Obwohl er ein ganzes Stück entfernt war, konnte sie die blauen Ozean-Augen erkennen, die sie nun direkt ansahen.
Der Blick fesselte sie, und plötzlich wirkte es, als ob sein Gesicht immer näher käme. Sie war wie hypnotisiert, bis Nikanor sich plötzlich wegdrehte und in die andere Richtung davon ging. Luna atmete schnell und sah der Gestalt nach, die immer kleiner wurde. Ihr Herz raste und sie verspürte ein unglaubliches Glücksgefühl. Sie war wie im Rausch, als sie plötzlich eine bekannte Stimme wieder zurück in die Realität holte.
„Hey Luna, alles okay?“ Es war Jenny.
„Ich hab dich von der Terrasse der Strandbar aus gesehen“, sagte sie und zeigte zu dem Pfahlbau hinüber. „Geht es dir gut?“
„Ja, alles okay“, erwiderte Luna und lächelte etwas verlegen.
Sie fühlte sich ertappt.
„Möchtest Du allein sein oder darf ich mich kurz zu dir setzen?“
„Setz dich ruhig.“
„Gefällt es dir hier?“, fragte Jenny.
„Ich weiß nicht, ehrlich gesagt, ist in den letzten Tagen seit meiner Ankunft hier eher alles an mir vorbei gegangen.“
„Es ist wegen deinem Vater, stimmt’s?
Luna schluckte. „Ja.“
„Das tut mir wirklich leid“, erwiderte Jenny.
Sie schwiegen eine Weile und sahen über das Wasser.
„Möchtest Du nicht doch noch kurz mit hoch kommen? Wir sind eine ganze Clique und alle echt nett. Tessa hat schon von dir erzählt und die Jungs sind gespannt darauf, dich kennen zu lernen“, sagte Jenny mit einem Grinsen. „Vielleicht lenkt dich das ein bisschen ab.“
Luna sah Jenny an. Sie war wirklich nett, obwohl sie sich erst ein paar Stunden kannten, war sie ihr irgendwie schon vertraut.
Aber Jungs kennen lernen, danach war ihr gerade so gar nicht.
Wenn allerdings Nikanor dabei wäre...energisch schob sie den Gedanken beiseite! Sie wollte sie sich ihre neue Freundin nicht gleich vergraulen, schließlich wollte sie ja Anschluss finden. Also entschloss sie sich mit zu gehen.
Einen kurzen Moment lang bekam ihr Herz einen Stich als sie an Marie dachte, ihre beste Freundin in Frankfurt am Main.
„Na gut, aber nach Verkuppeln ist mir ehrlich gesagt gar nicht zumute“, sagte Luna zögernd.
„Nein, keine Angst“, sagte Jenny, die mittlerweile aufgestanden war, und hielt ihr die Hand hin. Luna nahm Jennys Hand und stand ebenfalls auf. Sie liefen nebeneinander in Richtung Strandbar.
Luna hatte mal gehört, dass die „Nordlichter“, wie man die Norddeutschen nannte, eher kühle Persönlichkeiten sein sollten, aber das konnte sie bisher nicht bestätigen.
Sie gingen die lange Treppe hinauf und betraten die Terrasse der Strandbar. Hier oben ging der Wind etwas stärker, aber es war immer noch angenehm mild. In einer Ecke, an einem runden Tisch, saßen sechs Personen. Luna erkannte Tessa sofort, die zwischen zwei Jungs saß. Außerdem befanden sich am Tisch noch zwei Mädels und ein weiterer Junge.
Als Tessa sie erblickte stand sie auf.
„Hey Luna, schön dass du doch noch mit her gekommen bist!“, sagte sie fröhlich.
„Setz dich zu uns, das sind Dennis und Lasse, Tina, Jule und Tim“, stellte sie die anderen fünf vor.
Die Jungs lächelten alle sehr freundlich, die Mädels sahen nicht ganz so begeistert aus.
Jenny ging wieder zu ihrem freien Stuhl und zog noch einen Stuhl vom freien Nachbartisch neben ihren. Luna ging zu dem leeren Platz und setzte sich zwischen Jenny und den Jungen, der ihr als Lasse vorgestellt worden war. Lasse sah sie freundlich an und fragte: „Möchtest du etwas trinken?“
Luna fiel ein, dass sie ihren Geldbeutel nicht mit hatte und antwortete: „Nein, danke.“
Die Clique stimmte wieder in ihre Unterhaltung ein und Luna hörte zu und hatte Zeit, jeden etwas genauer zu betrachten.
Der Junge links neben Tessa, Dennis, war groß, blond und blauäugig. Er war durchaus hübsch, nur etwas dünn. Tim war klein und sehr breit, er machte sicher Krafttraining. Er war dunkelhaarig und hatte grün-braune Augen. Er war gar nicht Lunas Geschmack, aber sie konnte sich vorstellen, dass er trotzdem viele Verehrerinnen hatte, da er eine sehr sympathische Ausstrahlung hatte. Er wirkte außerdem älter.
Tina war klein, blond gelockt und sehr zierlich. Sie hatte ein Püppchen-Gesicht, wirkte aber etwas arrogant. Jule war etwas kräftiger und hatte langes, schwarzes Haar. Ihr Gesicht war hübsch, sie hatte volle Lippen und sehr lange Wimpern. Und dann war da noch Lasse. Er saß neben Luna, deshalb konnte sie ihn nicht so anschauen, aber sie mochte seine Stimme. Er war sehr groß und breit, aber nicht so muskulös wie Tim. Er hatte braunes Haar, das etwas verwuschelt war. Lunas erster Eindruck sagte ihr, dass er der Typ Teddybär war und das machte ihn noch sympathischer. Er musste auch schon älter sein, denn er spielte mit einem Autoschlüssel in seinen Händen. Nach ein paar Minuten sah Luna auf die Uhr und erschrak, es war schon halb sieben, sie musste nach Hause! Sie stand abrupt auf.
„Sorry, ich muss heim, meine Mutter wartet mit dem Abendessen“, sagte sie.
„Schade, dann bis morgen“, sagte Tessa
„Ja, bis morgen“, sagte Jenny. Lasse lächelte sie an und sagte: „War nett dich kennengelernt zu haben, vielleicht trifft man sich ja jetzt öfter mal.“
„Ja, mal sehen, bestimmt“, sagte Luna ein bisschen verlegen. Sie winkte noch einmal in die Runde und ging dann in Richtung Treppe. Sie stieg auf ihr Fahrrad und radelte los.
Sie musste sich jetzt echt beeilen! Unterwegs dachte sie an die Clique. Eigentlich waren alle echt nett, wenn auch Jule und Tina etwas skeptisch geguckt hatten.
Lasse war ihr besonders sympathisch und Jenny und Tessa sowieso. Vielleicht könnte sie ja tatsächlich ab und zu mal etwas mit der Clique unternehmen, das würde es sicher einfacher machen, sich hier einzuleben.
Zu Hause angekommen schloss sie die Tür auf. Ihre Mutter und die Jungs saßen schon am Tisch.
„Luna, Mensch, ich habe mir schon Sorgen gemacht“, sagte ihre Mutter erleichtert.
„Sorry Mama, ich habe am Strand noch die beiden Mädels aus meiner Klasse getroffen, die mich heute Mittag mitnehmen wollten. Sie waren mit ihrer Clique da und ich habe mich noch einen Moment dazu gesetzt und nicht auf die Uhr geschaut.“
„Ach so, naja dann, freut mich, dass du jetzt schon so schnell Freunde gefunden hast. ワbrigens, Marie hat angerufen.“
„Marie, echt? Dann muss ich sie gleich nach dem Essen zurück rufen.“
Luna aß ein bisschen was, half ihrer Mutter den Tisch abzuräumen und schnappte sich dann das Telefon, um Marie anzurufen. Es tat gut, die Stimme ihrer Freundin zu hören, aber es schmerzte auch. Auch Marie war traurig und vermisste Luna. Und mit Marie zu sprechen und zu hören was zu Hause alles so los war, rief wieder Heimweh in ihr Herz. Sie war hier, in
St. Peter Ording, nicht einfach im Urlaub oder nur vorübergehend, nein, das war jetzt ihr neues Zuhause. Zwar hatte sie in der Nähe von Frankfurt noch Verwandte, wie zum Beispiel ihre Oma und ihre Tante, aber so oft würde sie die wohl nicht besuchen.
Nach dem Telefonat mit Marie half sie ihrer Mutter die Zwillinge bettfertig zu machen. Die beiden hatten morgen ihren ersten Tag in der Kita und in zwei Tagen würde ihre Mama ihren neuen Job anfangen. Nachdem sie den beiden eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen hatte, ging sie ins Bad und ließ sich Badewasser ein. Sie musste jetzt einfach ihren Gedanken nachhängen und das konnte sie am besten in der Badewanne.
Sie hatte auf dem Stundenplan gesehen, dass sie morgen einige Stunden in ihrem Klassenraum Unterricht hatten, was bedeutete, dass sie neben Nikanor sitzen würde. Der Gedanke daran verursachte ein nervöses Kribbeln in ihrem Bauch.
Nach dem Bad ging Luna ins Bett. Sie war müde und schlief schnell ein. Sie träumte einen wirren Traum, in dem ihr ständig Nikanor begegnete und sie mit seinen Ozeanaugen ansah.
Sie sah so tief in seine Augen, dass sie hinein gezogen wurde und sich plötzlich unter Wasser befand. Eine Unterwasserwelt mit bunten Fischen, Quallen, ja sogar Delfine sah sie.
Erstaunlicher weise konnte sie im Wasser atmen. Plötzlich war Nikanor neben ihr. Irgendetwas war anders an ihm, seine Haut schimmerte grünlich. Er bewegte sich im Wasser sehr geschmeidig, als ob er das ständig tun würde. Er sah sie an, aber sagte nichts und in dem Moment, als er von ihr weg schwamm und sie ihn ganz sehen konnte, schrillte der Wecker.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.03.2010

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