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Einleitung

Thomas beugte sich nach vorn und sah ins Wasser. Schon lange hatte er gehofft, eines Tages, am Ende seines Lebens, als lebenserfahrener, ergrauter Mann hierher, an den Bach seiner Kindheit und Jugend, an dem er trauliche Zwiesprache mit den Fischen hielt, die ihm so unendlich frei und sorglos erschienen, zurückzukehren.

Dieser Bach bedeutete für ihn Erinnerungen. Nein, vielmehr noch: Sein ganzes Leben. Das Ende war gekommen, doch jäher als gedacht. Noch war nicht ergraut das blonde kurze Haar, noch trübte nichts seine graublauen Augen und noch war nicht gebeugt der gesamte mittelgroße Mensch von den Bürden des Lebens. Auch seine helle, fast bleiche Haut wies keinerlei Altersflecken oder Falten auf, bis auf die Sorgenfalten auf der Stirn.

Wie lange es wohl her war, dass er das erste Mal hier stand? Schon zu lange. Wie viele trübe, verzweifelte Gedanken, er dem Wasser des fröhlich plätschernden Baches anvertraut hatte? Schon zu viele. Sich ihrer zu erinnern, hätte keinen Sinn.

Doch Thomas wollte sich erinnern, wollte wissen, warum ihn dieses quälende Gefühl der Nutzlosigkeit nie verlassen hatte. Oder hatte es? Gab es nicht auch glückliche Stunden?

In seinen Ohren klang das angenehme Rauschen des Baches wie höhnisches Gelächter. Zu Recht. Wer war er denn schon? Was bedeutete sein Leben? Ein Leben? Ein Kämpfen, Ringen, Treten … Überleben.

Noch einmal wollte Thomas alles seinem guten alten Freund anvertrauen. Noch einmal die längst vernarbten Wunden aufreißen. Noch einmal sich der Sinnlosigkeit seines weiteren Fortlebens, Dahintrottens bewusst werden.

1.Kapitel

„Du kannst nichts.“ „Du bist nichts.“ „Aus dir wird nichts.“ Wie oft hatte Thomas diese Sätze in der letzten Zeit gehört. Vor allem seit er in die zehnte Klasse gekommen war, in der er mit seinen knapp 19 Jahren (da er schon 2 Mal sitzen geblieben war) sowieso schon wie ein Außenseiter vorkam und er sich dann auch noch langsam aber sicher für einen Beruf entscheiden musste. Er wollte es nicht mehr hören, sprang auf sein Sofa, presste sich mit seinen Händen die Ohren zu und starrte an die weiße Zimmerdecke. Weiß. – Nichts. Wieder klangen in ihm die Stimmen. Er kniff die Augen zu und schüttelte sich. Doch es nützte nichts. Andere Mittel mussten her.

Er stand auf und drehte seine Stereoanlage auf Anschlag auf. „Wenn ich taub bin – endlich Stille.“ Das war eine paradiesische Vorstellung. In seinen Ohren stach es wie tausend kleine Nadeln und ein Rauschen, wie beim Tauchen, machte sich bemerkbar. Es war kaum auszuhalten, doch was tut man nicht alles, um endlich Ruhe vor diesen Stimmen zu haben. Plötzlich ging die Tür auf: Sein Stiefvater brüllte irgendwas, schüttelte drohend die Faust und knallte die Tür hinter sich zu, sodass das Bild von Thomas‘ altem Golden Retriever Bobby von der Wand fiel, das schon durch die starken Bässe, die aus den Boxen knallten, bedrohlich gewackelt hatte.

Ihn hatte man als Strafe einschläfern lassen. „Den haste dich nich fadient. Wenn de bessa in da Schulö jewesen wärst, hätte dit nich seijen müssen un da Köta hätt noch weitaleben könn‘n tun.“ Es hatte keinen Zweck. Musik aus. Ein Piepsen. Ein langer hoher Ton. Als hätte ein Herz aufgehört zu schlagen. Sein Herz? Nein, er lebte noch. Noch musste er die täglichen Schimpftiraden seines Stiefvaters über sich ergehen lassen.

Sein leiblicher Vater hatte die Familie nun schon vor 9 Jahren für eine Jüngere verlassen. Wie in einem kitschigen Liebesroman. Neue Besen kehren gut. Man kennt das ja. Kontakt hatte er keinen mehr. Thomas lachte schrill auf. Gott, es war zum Heulen. Wie gern ist er in solchen Momenten, in denen er sich so schmutzig und wertlos fühlte, zu seiner Mutter gegangen, die ihn dann umarmte und ihm ein Gefühl von Geborgenheit und Wärme vermittelte und, dass es wenigstens einen Menschen gibt, der ihn vermisste. Doch seit sie diesen egoistischen Säufer geheiratet hat, der den ganzen Tag nichts anderes tat, als furzend in die Röhre zu schauen und alles zu kommentieren, als säße man selbst nicht daneben, war sie wie ausgewechselt: Kein liebes Wort, keine mütterliche Geste, nicht einmal Zeit zum Plaudern über dies und das, was sie oder ihn bewegte, hatte sie mehr übrig. Es war, als hätte wäre sie diesem Scheusal hörig geworden, als hätte er Macht über sie. Absolute uneingeschränkte Macht.

Auch eine Freundin hatte er nicht. Wozu auch? Immerhin hatte er schon mit seinem eigenen Leben genug zu kämpfen, da wollte er nicht auch noch die Verantwortung für eines jener Wesen übernehmen, das seiner Meinung nach nichts anderes zu tun hatte als Shoppen, Tratschen, Schuhesammeln und Rumflennen. Außerdem käme ja dann der Tag, an dem er ihr seine Eltern vorstellen müsste und das wollte er ihr ersparen. Obwohl sein Stiefvater zu Fremden immer so oberfreundlich war, dass es fast aufdringlich erschien.

Nein, lieber schloss er sich in sein Zimmer ein, holte die Pornozeitschrift, die er von seinem Kumpel John geschenkt bekommen hatte, unter seiner Matratze hervor und sich einen runter. Das war die einzige Freude, die ihm geblieben war, das Einzige worüber er noch frei entscheiden konnte. Etwas, was ihn immer wieder Hoffnung, Wärme und Erfüllung gab und wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Danach setzte er sich meisten an seinen Computer und spielte, bis er schließlich einschlief und erst durch das Wummern an der Tür und das Gebrüll seines Stiefvaters wach wurde, welches sich dann jeden Tag so anhörte: „Ey! Scheißkind! Beweg dein dreckign Arsch zur Lehranstalt für Bekloppte wie dia und tu wenigstens so als könnste was. Aus dich wird sowieso nischt. Nie! Hörste? Niiie!!!“

2.Kapitel

Ja, mit John konnte man einiges anstellen. Konnte. Er hatte das einzig Richtige getan: sich erschossen. Was soll's? Keine Eltern, kein zu Hause, keine Chance im Leben. Jeden Tag bloß diese furchtbar strengen Erzieherinnen im Kinderheim, die ihre Schützlinge wie eine Sache behandelten und nur im Kasernenton sprechen konnten. Sie waren sowieso zumeist mit rauchen und essen beschäftigt. Mit John ging Thomas‘ letzte Hoffnung, die letzte Person, zu der er uneingeschränktes Vertrauen hatte, zu Grabe. Seit seinem Tod wurde das Leben Tag für Tag unerträglicher.

Heute – ein Jahr nach dem Selbstmord – wollte Thomas ihm zum Angedenken um die Häuser ziehen, sich die Hucke vollsaufen, sich prügeln und auf jedem Fall „alles aus seinem Schwanz rausholen“, was ging.

Morgens halb eins saß er noch in der „Bala perdida“-Bar. Mit John war er öfter hier gewesen. Thomas schloss die Augen und konnte ihn direkt vor sich sehn: Die ewig strubbeligen dunkelblonden Haare, braune Augen und dieses Grinsen, welches Thomas im Nachhinein fast blödsinnig vorkam und dann noch die knöcherige Gestalt. Und immer in den gleichen schwarzen Klamotten. Das ganze Jahr über. Wie eine nicht endende Trauerfeier. Was war das Leben auch anderes?

Thomas begann zu Lächeln. Was hatten sie nicht alles gemeinsam angestellt. Ihm fiel plötzlich die Szene ein, als sie im Deutschunterricht vor versammelter Klasse ihre Pimmel ausgepackt hatten. Die Lehrerin ist rot angelaufen. „Wahrscheinlich hatte sie so etwas Großes noch nie gesehen.“ Thomas lachte in sich hinein rief: „Auf deine 22 Zentimeter. Mögest du die Teufelinnen damit beglücken.“ und kippte den letzten Schluck seines Porrazo-Cocktails hinter die Binde und verließ das Lokal.

Als er auf die Straße trat, verstärkte die frische Abendluft noch sein Rauschgefühl und er wankte, nachdem er zögerlich stehen geblieben war nach Hause. „Nach Hause“ lachte er. „Zur Folterkammer. Aber ich werde ihnen ordentlich den Teppich vollkotzen.“

Vor ihm ging eine schlanke, braunhaarige Frau. Mann, hatte die einen Arsch! „Wie die in dem Pornoheft.“ Thomas‘ Augen ließen dieses wohlgeformte Gebilde nicht mehr los. Jeder Schritt, jede Bewegung dieses Hinterteils pochte in Thomas Kopf wie „Sie will es auch. Sie will es auch.“. „Vielleicht ist sie auch die aus dem Porno? Wer sich so geil fotografieren lässt, bettelt ja geradezu darum“, dachte Thomas und beschleunigte seinen Schritt, ergriff ihren Arm, riss sie blitzschnell herum und küsste sie. Die Frau wollte sich losreißen, aber Thomas turnte das noch mehr an und er schleuderte sie auf den Bürgersteig. „Bitte hören Sie doch auf“, flehte die Frau. Doch Thomas dachte nicht daran. „Komm Tussi, zeig mir deine Pussy!“

Die linke Hand hielt er an ihre Gurgel und drückte sie so auf den Boden. Mit der anderen machte er sich an ihrer Jeans zu schaffen. „Bitte“, klang flehend die Stimme der Frau, die sich nun mit Händen und Füßen zu wehren versuchte. Endlich hatte Thomas den Ort seiner Wünsche erreicht. Welch ein herrliches Gefühl diese Scheide streicheln zu können. „Oh John, könntest du jetzt hier sein. Diese geile, rasierte, warme, feuchte Fotze …“ Er reckte seinen Körper und zwang ihr einen Kuss auf. Sie wehrte sich nicht mehr. „Oh, ja. du willst es auch. Ja?“ Sie lag wie bewusstlos da. Er knöpfte ihre Bluse auf, öffnete ihren BH und leckte und knetete ihre Brüste. „Jetzt ist es soweit“, dachte er, befreite sich von seiner Hose und unter Seufzen drang er in sie ein.

3.Kapitel

Thomas saß in seiner Zelle auf seinem Bett und überlegte, wie er hierhergekommen war:

Als er endlich zum Orgasmus gekommen war, war er aufgestanden, hatte sich wieder ordentlich angezogen und sich noch einmal niedergebeugt um der „Fotze“ der immer noch bewusstlosen Frau einen Abschiedskuss zu geben. „Schade, dass es schon vorbei ist. Wusste gar nicht, dass ich so‘n geiler Stecher bin“, dachte er. „Und diese Brüste! Mmmh. Auf vielleicht Wiedersehn, ihr zwei Hübschen.“ Plötzlich: Polizeisirenen. Aus seinen Gedanken aufgeschreckt torkelte er schnell in irgendeine Richtung, ohne zu wissen, ob es die richtige sei. Doch er lief den Polizeiwagen direkt entgegen und kaum war er ein Stück weit gekommen, da standen sie auch schon vor ihm. Erschöpft ließ er sich auf seine Knie sinken und begann zu weinen.

Und dann kam das Schlimmste: Die Gerichtsverhandlung. Nicht nur, dass jene Frau eine ihm unbekannte Cousine väterlicherseits war, nein, auch seine Eltern waren anwesend, obwohl diese, seiner Meinung nach, ja eigentlich nichts mit der ganzen Sache zu tun hatten. Seine Mutter hatte ihn immer wieder gefragt: „Junge, was hab ich bloß falsch gemacht?“ Thomas wollte antworten, aber ein dicker Kloß versagte es ihm, zu sprechen. Auch wollte er seiner Mutter nun auch keine Vorwürfe machen. Sein Stiefvater hatte jede Antwort, die er hatte geben müssen mit „Recht geschiet‘s ihm.“ beendet und sein leiblicher Vater hatte ihn nur angestarrt, als wolle er ihn mit den Blicken durchbohren. Woher sollte er es denn wissen? Man hatte doch schließlich nichts miteinander zu tun. Also bitte, woher?

Das war nun 2 Wochen her. Doch was war das gegen sieben Jahre, die er noch hier verleben musste. In einem Raum mit grauen Betonwänden. Gegenüber dem Doppelstockbett, auf dessen unterer Etage er saß, stand ein antiquiert wirkender Tisch mit zwei ebensolchen Stühlen. An der Decke hing eine einsame Glühlampe, die aber ihren Dienst tat. Rechts an der Wand neben der Tür war eine Kloschüssel angebracht, die mit einem Emaille-Topfdeckel abgedeckt wurde. Links daneben war ein Waschbecken angebracht, neben den ein paar graue Handtücher hingen und darüber ein Spiegel in die Wand eingelassen worden. Durch das ungewöhnlich große, aber genauso ungewöhnlich vergitterte Fenster drang die Sonne ein. War das ein deprimierender Anblick. Ein Häufchen Mensch im großen Nichts.

Der einzige Lichtblick in diesem Grau war das Foto von Bobby, welches ihm seine Mutter kurz nach dem Antritt seiner Haftstrafe geschickt und er notdürftig mit Klebestreifen an die Wand geheftet hatte. Ach, sein armes Muttchen. Sein liebes, armes Muttchen. Sie war nun auch nicht mehr. Thomas schlimmster und häufigster Albtraum war Wirklichkeit geworden: Erstochen war sie worden. Von seinem Stiefvater. Als sie sich trennen wollte. Natürlich hatte die Polizei ihn nicht gekriegt. „Was habe ich nur falsch gemacht? Sag es mir! Sag es mir doch! Bitte!“klang es in ihm nach und sah sie händeringend im Zeugenstand sitzen. Er schrie auf.

„Ich muss mich ablenken“, dachte er. Wie vertriebe er sich jetzt wohl die Zeit? Und noch während er so darüber nachdachte, öffnete sich die Eisentür und der Wächter schob einen großen schlanken jungen Typen rein. „Thomas Schmidt, hier ist dein neuer Mitbewohner Charles Coleman, hihihi. Ihr werdet euch bestimmt verstehen.“ Darauf brach er in helles Gelächter und verließ den Raum. Sein Lachen war noch lange auf dem Flur zu hören. „Hoffentlich ist er nicht so ein Schlägertyp“, dachte Thomas. „Schwach sieht der jedenfalls nicht aus. Und das sieben Jahre…“ Thomas sah sich in genauer an: kurze dunkelbraune Haare, braune Augen, ein schmales Gesicht und eine Haut, als käme er gradewegs aus dem Urlaub vom Mittelmeer. Und wie schon gesagt: Schwach sah er nicht aus. Was sollte er von ihm halten? Was hielt er von ihm?

Nachdem sich die beiden nun lange genug betrachtet hatten, lächelte der Braungebrannte und reichte Thomas seine Hand. Dieser zuckte zurück, als hätte jemand ein Messer auf ihn gerichtet. „Ich bin Charles“, sagte der verschmitzt Lächelnde. Von der Freundlichkeit Charles‘ überzeugt, ergriff Thomas die ihm entgegengestreckte Hand: „Und ich Thomas.“ Nun lächelte auch er. „Du bist aber ängstlich“, lachte Charles. „Und du hast wohl dein Leben lang in der Sonne gefaulenzt“, erwiderte Thomas. „Nein, ich sehe immer so aus“, sagte Charles.

Charles schaute sich um. „Hübsche Bude hier. – Ist das dein Hund?“ und deutete auf das Foto an der Wand. Thomas sah gequält darein. „War“, sagte er und begann zu erzählen: von der Einschläferung, von seinem leiblichen und seinem Stiefvater, von der Vergewaltigung, von der Gerichtsverhandlung und vom Tod seiner Mutter, worauf er in Tränen ausbrach. Er wusste nicht, warum er diesem Charles das alles erzählte, aber irgendetwas an ihm weckte sein Vertrauen zu ihm und beruhigte ihn ungemein.

Charles hatte sich, während Thomas sprach, rittlings auf einen der Stühle gesetzt, sodass er Thomas gegenübersaß. Nun streckte er die Hand aus und streichelte ihm die Haare. „Puh, da hast du ja schon Einiges hinter dir“, sagte er zu ihm. „Ich komme aus gutem Elternhause. Ich hab dieses ganze piekfeine Getue, dieses Elitäre und Bevormundende schließlich nicht mehr ausgehalten und bin deswegen vor zehn Jahren, also mit zwölf, und der Brieftasche meiner Mutter abgehauen. Die hatte immer ein paar Hunderter bei sich. Das reicht ein Leben lang.

Dachte ich zumindest. Nach einer gewissen Zeit ging das Geld zur Neige. Arbeit fand ich natürlich nicht: Zum einen, weil ich keine Ausbildung hatte, zum andern weil ich aufgrund meiner etwas dunkleren Hautfarbe für einen Ausländer, der die Sprache nicht beherrscht gehalten wurde. Natürlich hatte ich auch keine Lust wieder nach Hause zu kriechen. Diesen Erfolg wollte ich ihnen nicht gönnen.

Nun was macht man in seiner Verzweiflung? Man scheißt auf die gute Erziehung und geht daran einen Juwelier auszurauben. Dummerweise wohnte der Juwelier eine Etage über seinem Laden, und als der unter sich Gepolter hörte, weil ich über den Kleiderständer gefallen war – wozu man den beim Juwelier braucht, frage ich mich heute noch – kommt er die Treppe runter, mich zu verjagen. Ich pack ihn in meiner Angst am Kragen und dresche erst mal auf ihn ein und pfeffere seinen Kopf gegen die Tresenkante.

Dann stand ich da. Geschockt und erschöpft von der eigenen Tat.“ Er begann zu weinen. „Ich wollte doch niemanden wehtun. Ich hatte nur Hunger.“ Er beruhigte sich wieder ein wenig und erzählte dann weiter: „Jedenfalls wurde ich von den Polizeisirenen wachgerüttelt. Ich sprang aus dem Fenster, durch das ich eingedrungen war. Doch zu spät. Und da fällt mir Idioten doch der Revolver ein, den mir irgendjemand in die Hand gedrückt hatte. Und den Warnungen des Polizisten zum Trotz ballere ich um mich rum und – hab Anfängerglück. Dem einen am Auge gestreift. Wie ich das hinbekommen habe? Gute Frage. Ich bekam prompt die Retourkutsche und mir wurde ins Bein geschossen. Ich ließ die Waffe fallen, wurde festgenommen et cetera, et cetera.“

Thomas sah ihn mit großen Augen an. „Woher ich überhaupt diese Kraft hatte? Es ist nicht so einfach auf der Straße zu leben. Sogar von den Ärmsten wird noch geklaut. Und irgendwelche Idioten gibt es immer die nur auf Prügelei aus sind und da musst du dich beweisen können und nicht unterbuttern lassen.“

Charles erhob und streckte sich. „Na gut, dann werde ich es mir mal gemütlich machen. Hast du das obere Bett in Beschlag genommen?“ Thomas schüttelte heftig den Kopf. „Ich habe die Angewohnheit rauszufallen“, lachte er. Charles lachte auch. Es war, als wäre der ganze Raum durchflutet mit Licht, Frühlingsluft und einer Art längst vergessener Glückseligkeit, die durch all die Sorgen und den ganzen Dreck zugedeckt wurde. Es werden 7 schöne Jahre.

Charles hangelte sich in das obere Bett und hopste darauf herum. „Mensch, ein richtiges Bett“, staunte er „und dann noch mit so einer tollen Federung. Sind wir hier wirklich im Gefängnis und nicht im Dreisternehotel?“ „Wieso fragst du? Hat dich die Dame vom Empfang nicht persönlich hierher geleitet?“ Sie lachten. „Fehlt nur noch, dass es hier Kaviar und so ein Zeug gibt.“

In dem Moment, als hätte er auf sein Stichwort gewartet, öffnete sich die Tür und der Wächter von vorhin brachte zwei Teller mit je zwei belegten Broten. „Wohl bekommt‘s!“, sagte er im Abgehen. Charles kletterte aus seinem Bett. „Wahrscheinlich ist der Koch krank“, sagte Thomas. Doch dieses Mal lachte er allein. Charles schien über etwas nachzudenken. Was war geschehen? Er stand da, als wolle er die Brote hypnotisieren, damit sie ihm dann von selbst in den Mund flögen. „Weißt du…“ Er schien aus einem Traum zu erwachen. „Weißt du, wann ich das letzte Mal so frische belegte Brote gegessen habe? In den vergangenen Jahren waren es immer nur die Abfälle der Restaurants und Cafés der Stadt gewesen, über die ich mich dann auch noch mit anderen armen Teufeln stritt.“

Charles setzt sich auf den Stuhl, der zur Wand gerichtet war, wahrscheinlich, damit ihn die späte Sonne nicht blendete, mit einer Feierlichkeit, die man sonst nur von einer Zeremonie gewohnt war. Auch Thomas setzte sich. Nach langem Schweigen schienen Charles‘ Lebensgeister wieder zu erwachen. Er griff zu und biss herzhaft in die Stulle. So verharrte er einige Zeit lang, sog den Geruch des Brotes auf und begann schließlich zu kauen. Erst langsam, dann immer übermütiger, als könne er es nicht erwarten wieder abzubeißen, denn der nächste Abbiss könnte ja noch besser und noch besser schmecken. „Dasch muscht tu prubürön“, rief er mit vollem Mund. Thomas wollte erst „Hab ich schon die letzten Wochen.“ antworten, besann sich jedoch eines Besseren und begann auch zu essen. Dieses Glänzen in Charles‘ Augen, diese kindliche Freude wegen einer belegten Stulle und dieses zwischen genüsslich-langsam und übermütig-schnell pendelnde und trotz seiner Lautstärke elegant wirkende Kauen des lächelnden Mundes: Das alles übte einen ungeheuren Reiz auf Thomas aus, dessen er sich nicht erwehren konnte, noch wollte. Denn dieser Mann ließ diese langweiligen Wurstbrote besonders werden.

Eins war klar: Sie werden sich verstehen!

4.Kapitel

In der letzten Nacht machte Thomas kein Auge zu. Mit Charles hat er in den vergangenen Tagen sehr viel geplaudert, gelacht und mit den abgegriffenen Karten gespielt, die sie vom Wächter bekommen hatten. Beim Ausgang, der sich täglich auf eine Stunde belief, legten sie sich meistens ins Gras und ließen ihrer Fantasie an den Wolken freien Lauf oder liefen schweigend hin und her und lächelten sich kurz an, wenn sie sich begegneten. Aber die Chance, ihre Zeit draußen zu verbringen, nutzten sie äußerst selten, denn die frische Luft steigerte ihre Lust nach der großen Freiheit, die außerhalb dieser Mauern lag.

Doch es war etwas anderes, das ihn wachhielt. Zum einen ging ihm die Bemerkung des Wächters „Ihr werdet euch bestimmt verstehen.“ durch den Kopf. Das taten sie auch. Hatte er etwas anderes erwartet? Was war dann aber der Grund seines Gelächters? Warum sah er sie immer so schief an? Vor allem Charles hatte unter diesen Blicken zu leiden. Bloß: Was war an ihm auszusetzen? Bei dieser Frage war Thomas immer und immer wieder stecken geblieben. Was war es, das dem Wächter so missfiel? Die etwas bräunliche Hautfarbe? Oder war es die Straftat, die er begangen hatte? Nur: War dann nicht eine Vergewaltigung verachtenswerter? Oder war er mit dem Juwelier verwandt? Tausend Gedanken drehten sich in Thomas‘ Kopf im Kreise.

Heute beschäftigte ihn aber noch etwas Anderes: Sein leiblicher Vater hatte sich zum Besuch angemeldet. Wie sollte er auf ihn, wie wird dieser auf ihn reagieren? Er schaute auf den alten Metallwecker, den ihnen wiederum der Wächter gegeben hatte. „Also irgendetwas stimmt doch mit ihm nicht. Auf der einen Seite freundlich, wie Mutter Theresa und dann wieder diese bösen Blicke“ dachte er. Nur noch 3 Stunden. Dann wird er wieder seinem Erzeuger, der seine Mutter und ihn so im Stich gelassen hatte, gegenüberstehen.

Am liebsten hätte Thomas den ganzen Tag verschlafen, doch da merkte er, wie Charles‘ Gesicht langsam von oben zum Vorschein kam. „Bonjour monsieur, üst dahas Menü schon angerüschtöt?“, fragte er mit gespieltem französischem Akzent. Thomas schüttelte gedankenverloren den Kopf. „Achso, stimmt ja, dein Vater kommt ja heute.“ Charles kraxelte aus seinem Bett. „Vielleicht bringt er dir etwas Schönes mir?!“ Er trippelte etwas schlaftrunken zum Waschbecken und beobachtete besorgt Thomas durch den Spiegel. Thomas lachte höhnisch durch die Nase. Das letzte Mal, dass sein Vater ihm etwas mitgebracht hatte, ist bestimmt schon 10 Jahre her und er wird sich bestimmt nicht plötzlich geändert haben. Vor allen nach dem, was vorgefallen ist…

Das Frühstück und Charles‘ zufriedenes Gesicht ließen Thomas wieder hoffen. Vielleicht hatte er doch recht?

Dann war es soweit. Thomas wurde aus seiner Zelle geführt. Als er sich umdrehte, sah er, wie Charles ihm die Daumen drückte. Den Weg bis zum Besuchszimmer schwiegen er und der Wächter. Dieser war von kleiner untersetzter Statur und schien sehr gern zu essen. Thomas wurde zu einem Tisch geführt und setzte sich auf einen, der sich gegenüberstehenden Stühle. Der Wächter öffnete eine Tür, ließ Thomas‘ Vater eintreten und stellte sich an eine Wand, die dem Tisch gegenüberlag, sodass er die Szene genau überblicken konnte.

Thomas musterte seinen Vater. Ein Bär! Groß, muskulös und Schlägervisage. „Wenn der dir jetzt eine reinhaut, fliegst du quer durch den Raum“, dachte er bei sich. Thomas‘ Vater setzte sich behäbig und mit einer gewaltigen Gebärde auf den anderen Stuhl. Aber was war das? Er – lächelte. Derselbe Mensch, der ihm im Gerichtssaal noch den Tod gewünscht zu haben schien, saß Thomas lächelnd gegenüber und sprach von Belanglosigkeiten des alltäglichen Lebens. „Wie geht’s?“ „Wie ist das Essen?“ „Verträgst du dich mit allen?“ – so banal waren seine Fragen. Doch etwas schien ihn innerlich zu beschäftigen. Seine Hände verkrampften sich andauernd, als müsse ein gewaltiges Gefühl unterdrücken. Thomas wusste, was das war: Wut. Er hoffte, dass dieses Gespräch so schnell wie möglich verging und er wieder in seine sichere Zelle verschwinden konnte.

Mit einem Sprung war sein Vater auf der anderen Seite des Tisches, packte Thomas am Schlafittchen und schleuderte ihn auf den Boden, sodass der auf dem Bauch knallte. Das war alles so schnell gegangen, dass Thomas nicht wusste, wie ihm geschah. Flehend sah er zum Wächter. Der stand hinterhältig grinsend mit vor dem Bauch verschränkten Armen da und dachte nicht daran, etwas zu unternehmen. Das Ganze schien ihm eine ungemeine Genugtuung zu sein. Er hatte ihm aber doch nichts getan! Doch das Lächeln wich einem entsetzen Ausdruck. Thomas‘ Vater hatte seinen Gürtel abgeschnallt und zog nun Thomas, auf den er mit einem Bein stand, das Hemd hoch, sodass der blanke Rücken zu sehen war. Nachdem er einige Zeit wie zur Salzsäule erstarrt dastand, sprang nun der Wächter und umklammerte den Riesen. Der machte sich mit einer einzigen ruckartigen Bewegung frei und begann mit einem Wutschrei Thomas auszupeitschen, der um Hilfe und Vergebung schrie und vor Schmerzen jaulte.

Eilig lief der Wächter los, um Hilfe zu holen, zum Aufenthaltsraum. Dort saßen die anderen Wächter. Rauchend und Skat spielend. „Ihr“, begann der Wächter aufgeregt zu erzählen, „ihr müsst sofort mitkommen, etwas Schreckliches ist passiert.“ „Ist die Torte ausgegangen?“, tönte es ihm entgegen. „Warum bist du so verschwitzt? Gab‘s irgendwo in der Stadt ein großes Buffet?“ Großes Gelächter. „Vielleicht ist er auch von den Treppen hier so erschöpft?!“ „Aber wir sind doch parterre!“ Verzweifelt versuchte der Wächter sich Gehör zu verschaffen. „Der Junge …“ „Dass du kein Mädchen bist, sehen wir.“ „Sag das nicht! Heutzutage ist ja alles möglich.“ Wieder ein Lachschwall. „… der Vater …“ „Er wird Vater! Habt ihr das gehört?“ „Ach, das war so anstrengend.“ „Wird wohl was Ordentliches bei rauskommen, wenn du dich soooo überanstrengt hast.“ „DER JUNGE WIRD VON SEINEM VATER VERKLOPPT!!“ brüllte er endlich. Nun war es still. „Und was“, fragte einer sarkastisch, „sollen wir jetzt deiner Meinung nach tun? Hm?“ „IHM HELFEN NATÜRLICH!!!“, rief der Wächter übermütig. Aufbrausend sprang einer auf: „Nun hör mir mal zu, Fettwanst! Du altes Pickelgesicht hältst mal jetzt schön deine Futterluke, kapiert?“ Der Wächter wusste nicht zu widersprechen. „Erstens siehst du, dass wir mitten in einem Spiel sind. Zweitens werd‘ ich diesem Perversling keine halbe Zigarette opfern und drittens: Er hat gequält – er wird gequält. UND JETZT SEH ZU, DASS DU LAND GEWINNST!“

Gewaltsam wurde er aus der Tür geschoben. „Fehlte nur noch, dass wir ihm vielleicht noch einen runter holen sollen, damit die Schmerzen vergehen.“, war noch aus dem Raum zu hören. „Und ihn mit Öl einmassieren. Raur…“ Großes Gelächter folgte.

Der Wächter stand nun da: Was tun? Es war eigenartig still geworden. Schnell lief er zurück zum Besuchszimmer. Dort fand er den blutüberströmten Thomas am Boden. Der Vater schien seine ganze Wut an ihm ausgelassen zu haben. „Ansonsten könnten nie solche tiefen Wunden entstehen“, dachte der Wächter und schloss die Tür hinter sich.

5.Kapitel

Während der Wächter den blutüberströmten und immer noch bewusstlosen Thomas in seine Zelle zurücktrug, erzählte er ihm, wie die anderen ihn ausgelacht hatten. Als Charles Thomas sah, sprang er sofort auf, nahm ihn aus des Wächters Armen und legte ihn auf sein Bett. Der Wächter verschwand – kam aber nach kurzer Zeit mit einem Eimer warmen Wassers, einem Lappen, einem Handtuch und einer Art Salbe wieder, legte alles auf den Tisch und verließ wieder die Zelle, jedoch nicht ohne Thomas unter Tränen noch einmal über den Kopf zu streichen.

Charles machte sich emsig an die Arbeit. Zuerst zog er Thomas das Hemd aus und begann das Blut vom Rücken zu waschen und sprach ihm beruhigend zu. Als er damit fertig war und die Wunden mit Salbe verarztet hatte – wobei er sich fragte, wo der Wächter diese so schnell herbekommen hatte – und Thomas in sein eigenes Hemd eingewickelt hatte, setzte er sich rittlings auf einen Stuhl direkt gegenüber Thomas, der von alledem nichts mitbekommen hatte, um dessen Erwachen zu erwarten. Er streichelte ihm die Wange. „Wach auf, Junge, bleib bei mir…“

Nach einiger Zeit, während der sich der Wächter einige Male nach Thomas‘ Befinden erkundigt und seine blutdurchtränkten Sachen zum Waschen mitgenommen hatte, öffnete Thomas endlich seine Augen. „Leb ich noch?“, fragte er schlaftrunken. Denn Charles erschien ihm, wie ein Engel. Vielleicht war es nur das Sonnenlicht, aber irgendwie schien Charles‘ Körper etwas auszustrahlen, was ihm so noch nicht aufgefallen war. Aber es war bestimmt nur seine Benommenheit als Folge seiner Ohnmacht. „Wie’s aussieht: ja.“ Charles rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Wie lange habe ich geschlafen?“ „Zehn Stunden. Wir dachten schon, dass du gar nicht mehr wach wirst.“ „Wer wir?“, fragte Thomas erstaunt.

Da öffnete der Wächter die Tür. Er hatte Stimmen gehört und nur auf einen passenden Augenblick gewartet, um eintreten zu können. „Er hatte mitgeholfen“, erklärte Charles. Thomas nickte. „Und mein Vater?“ Genauso schnell, wie er gekommen war, verließ der Wächter wieder den Raum. Zu groß waren die Scham und die Reue. „Über alle Berge“, sagte Charles leise. Thomas schloss die Augen. Er dachte an die Plötzlichkeit, die Härte und die Wut des Geschehenen. Aber auch daran, dass er diesen Mann hier nicht noch einmal sehen wird. Er war sicher. Dieser Gedanke erhellte seine Züge. Außerdem sollte Charles da nicht so rumsitzen, wie eine Trauerweide. „Warum bist du eigentlich nackt?“, fragte er grinsend. „Der Wächter hat deine Klamotten zum Waschen mitgenommen und da hab ich…“ „Danke“, flüsterte Thomas und taste seinen Rücken entlang. „Danke“, sagte er sanft. „Danke“ und schlief wieder ein.

Charles blieb noch eine Weile sitzen, beobachtete die gleichmäßigen Atemzüge des Schlafenden, erklomm dann sein Bett, ließ einen letzten Blick über den Verletzten schweifen, seufzte, drehte sich zur Wand, schloss die Augen und war sofort eingeschlafen.

Wenig später erwachte Thomas. Die Geschehnisse erschienen ihm wie eine Verkettung der schlimmsten Albträume seines Daseins. Doch er spürte die Schmerzen und, als er sich den Rücken betastete, war da immer noch Charles‘ Hemd. Er freute sich, dass der nun auch schlafen gegangen war. Er wickelte sich aus dem Hemd und führte es zu seinem Gesicht. „Zum Glück bin ich mit so einem netten Menschen zusammengekommen.“ Auf einmal hörte er von irgendwoher Stimmen, die lauter und immer lauter wurden. „Du kannst nichts… Warum?... Die eigene Cousine… Er hat es verdient… Sag mir… Stirb du Balg… NICHTS! NICHTS! NICHTS! NICHTS!“

Thomas schrie auf. Davon wurde Charles wach und schaute hinunter: „Wasn los? Tut’s immer noch so weh?“ Um ihm nicht die Wahrheit sagen zu müssen, nickte Thomas nur stumm und sagte: „Ja.“ „Der erklärt mich bestimmt für verrückt, wenn ich ihm sage, dass ich Stimmen höre“, dachte er, auch wenn er wusste, dass Charles für vieles Verständnis hatte. Der kraxelte aus seinem Bett, wankte zum Lichtschalter und machte das Licht an.

Thomas fiel auf, dass Charles, der nun vom Lichtschalter wieder auf ihn zukam, einen Steifen hatte, für den der enge Raum der Boxershorts nicht ausreichte. Thomas schloss die Augen und wollte nicht hingesehen haben. Ein eigenartiges Gefühl von Scham überfiel ihn.

„Du hast ja auch das Hemd weggenommen!“, rief Charles. Thomas reichte es ihm. „Ne, ne, lass mal“, sagte dieser, setzte sich dicht an Thomas‘ Bett und begann dessen Rücken zu streicheln.

Thomas hielt die Augen immer noch geschlossen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wie kann ein Mann zu einem anderen so zärtlich sein?“, dachte er. SCHWUL! durchzuckte es ihn. Er dachte daran, was ihm John erzählt hatte: Dass diese Leute alles nageln, was nicht bei „3“ auf den Bäumen ist. Doch er lebte mit ihm schon mehrere Wochen zusammen und es war nichts passiert. Hatte er nur auf einen günstigen Augenblick gewartet, weil die Auswahl hier so gering ist? Auch hatte John gesagt, dass sie verantwortlich für AIDS all diese ekelhaften Geschlechtskrankheiten sind und dass man durch Homo-Bakterien genauso wird wie die. Hatte er nicht Charles‘ Oberkörper bewundert? Und hatte er nicht eben gerade auf dessen Schwanz geschaut? War er etwa schon infiziert? Das schon; aber wollte er nicht auch, dass Charles weiterstreichelte?

„Ich mach mal das Licht aus.“ Thomas schreckte aus seinen Gedanken auf und nickte nur heftig, um sich nichts anmerken zu lassen. Charles erhob sich, betätigte den Lichtschalter, setzte sich wieder und streichelte weiter.

Plötzlich zuckte Thomas zusammen. Er spürte, wie sich Charles‘ Lippen auf seinen Rücken pressten. Jede Wunde wurde mit einem Kuss bedacht. Was für ein Gefühl durchfloss Thomas. Er begann zu weinen, selbst nicht wissend warum. Fast hätte er sich gewünscht, dass ihm sein Vater noch mehr Wunden geschlagen hätte. „Soll ich aufhören?“ Nur ein nasales „Mmh mmh.“ und ein Kopfschütteln kam als Antwort.

Doch Charles entschied sich anders und beließ es bei den Streicheleinheiten. Mal den Kopf; mal den Rücken. Thomas Atemzüge wurden langsamer und gleichmäßiger und er schlief ein. Charles streichelte noch eine Weile, gab Thomas einen Kuss auf die Wange und schlief am Boden sitzend, eine Hand auf Thomas‘ Rücken ruhend ein.

6.Kapitel

Als der Wächter die beiden am nächsten Morgen, als er das Frühstück brachte, da so sah, wollte er erst sagen: „Hab ich’s doch gewusst! Sowas sehe ich denen doch an den Augen an.“, dachte dann aber, dass der Arme jetzt jemanden brauche und er es sich mit ihnen auch nicht verscherzen wollte, sodass sie in ständiger Angst davor leben müssten, dass jeden Augenblick der „böse, böse Wachmeister“ hineinkommen könnte. Gerade jetzt, wo sie sich erst so ein bisschen angefreundet hatte. Irgendwie muss immer erst etwas Schreckliches passieren, bevor etwas Positives entsteht. Verrückte Welt. „Vielleicht hat der Braune den andern auch nur getröstet“, dachte er bei sich und stellte das Frühstück auf den Tisch.

Das war heute weitaus üppiger, als sonst: eine Kanne heißen Kaffees, Brötchen, Butter, Marmelade und zur Abrundung des Ganzen für jeden zwei Pralinen. Dann stellte er noch ein paar Blumen auf, die seine Frau aus dem Garten gepflückt hatte und eine „Gute Besserung“-Karte und verließ dann schweigend aber beglückt den Raum.

Zuerst erwachte Charles und betrachtete den schlummernden, leise atmenden Verletzten, seufzte, schüttelte den Kopf und ging in Richtung Waschbecken um sich den Schlaf aus den Augen zu wischen. Als er durch den Spiegel das „Festtagsmenü“ auf dem Tisch sah, rieb er sich ein zweites und ein drittes Mal die Augen und erst als zum Tisch gegangen war und er die Süße der Marmelade auf seiner Zunge spürte, weckte er aufgeregt Thomas und wies auf den Tisch: „Schau doch mal! Lauter leckere Sachen nur für uns.“ Thomas dachte sich „Dass er sich immer noch so freuen kann…“ und erst als er es mit eigenen Augen sah, sprang er auf und saß am Tisch, noch ehe sich Charles versah. Der setzte sich auch griff aber erst zur Karte, um zu erfahren, wem sie das alles zu verdanken hatten, obwohl er sich das im Stillen schon denken konnte. Er las:

 

„Liebe Freunde,

Dass übertriebene Voreingenommenheit zu schlimmen Dingen führen können, ist bekannt. Dass sie aber sogar zu gewalttätigen Übergriffen und somit einen Verletzten oder – in diesem Falle – Halbtoten zur Folge haben können, war eine neue erschreckende Erfahrung für mich.

Bitte verzeiht mir. Man wird mit Vorurteilen und Gerüchten groß und nimmt sie einfach als wahr hin, ohne selbst zu überprüfen, ob wirklich etwas Wahres an ihnen dran ist.

Ich kann euch nur nochmals um Verzeihung bitten. Für die dummen Sprüche, die bösen Blicke und vor allem, dass ich dich, Thomas, in diese Lage gebracht habe. Auch wenn mir bewusst ist, dass ich das Geschehene nicht durch ein paar Nahrungsmittel und ein paar Blumen wieder rückgängig machen kann, hoffe ich trotzdem, dass ich meinen guten Willen gezeigt habe und wir uns nun fortan besser verstehen.

Nehmt es mir bitte nicht übel, wenn ich einmal wieder in den alten Trott verfallen sollte. Ich werde mir Mühe geben mich zu ändern, und zu verstehen, wovor ich Augen und Ohren verschlossen habe.

Liebe Grüße auch von meiner Frau.

Hugo. (Der Wächter)“

 

Währenddessen hatte Thomas schon den dampfenden Kaffee eingegossen, dessen Aroma sich nun angenehm im Raum ausbreitete. Charles sah von der Karte auf: „Was meinst du dazu?“ „Worum nüsch?“, fragte Thomas mit vollem Mund zurück, schluckte und sprach dann: „Immerhin hat sich furchtbare Sorgen gemacht und etwas einfallen lassen.“ Charles nickte: „Hoffentlich bleibt das kein Einzelfall. Wenigstens ein Mal im Monat.“ „Genau!“ Nun begann auch Charles sein Frühstück zu genießen.

Nachdem das letzte Brötchen vertilgt und der letzte Schluck Kaffee aus der Kanne herausgekitzelt war, ließ sich Thomas von Charles noch einmal den Rücken einbalsamieren und kurz darauf kam auch schon der Wächter Hugo. Schweigend nahm er das Geschirr vom Tisch und wendete sich wieder der Tür zu, doch Charles hielt ihn zurück: „Wenn du willst, kannst du nachher zurückkommen und mit uns eine Partie Karten spielen, Hugo.“ Der lebte sichtbar auf und hätte Charles am liebsten umarmt, wenn nicht das Geschirr und einige noch nicht bewältigte Zweifel im Weg gewesen wären. So ging er eilig davon, um kurz darauf wiederzukehren, sich wie selbstverständlich, aber doch mit einer gewissen Scheu auf seinen mitgebrachten Stuhl an den Tisch zu setzen und die Karten zu mischen: „Wie wär’s mit Rommé?“

So verging die Zeit bis zum Mittagessen im Fluge. Dieses fiel auch dementsprechend üppig aus. Weil das Spielen langsam etwas langweilig wurde und Hugo den Vorschlag machte um Pfennige zu spielen, ohne irgendwelches Geld bei sich zu haben, beschlossen bis zum Abendessen eine Spielpause einzulegen, oder am nächsten Tag weiterzuspielen.

Der Wächter verließ den Raum und Charles wand sich Thomas zu: „So. Und du gehst jetzt brav ins Bett.“ Doch widersprach dieser: „Ich bin doch kein kleines Kind mehr, dass seine Mittagsheia braucht.“ „Vergiss nicht, dass du gestern stundenlang ohnmächtig warst.“ Das sah Thomas ein und legte sich in sein Bett: „Und du willst nicht?“ „Nö. Ich genieße lieber die Aussicht. Wer von uns beiden ist denn hier der Kranke?“ „Ja, Onkel Doktor.“ Beide lachten. Charles ging auf das Fenster zu und schien wirklich die Aussicht zu genießen, obwohl nichts weiter zu sehen war als Mauern, Zäune und Wachtürme.

Wahrscheinlich dachte er sehnsüchtig an jene Welt, die jenseits jenes Einheitsgraus lag und in der man laufen konnte. Ohne Grenzen, ohne auf einmal vor einer Mauer zu stehen. Einfach nur frei und glücklich den Wind, das Gras zwischen den Zehen und dieses wunderbare Gefühl der kindlichen Seligkeit zu spüren, dass den ganzen Körper bis in die Fingerspitzen durchströmt und einen tief atmen lässt. Doch auch eine Welt, die ihre Fehler hat und in der der Einzelne wenig gilt. Doch die nimmt man hin, seien sie noch so groß. Thomas betrachtete den gedankenverlorenen Charles noch eine Weile, dem die Sonne ins Gesicht schien und schlief nach kurzer Zeit ein.

 

Im Traum sah Thomas seine Mutter mit klaffender Brustwunde auf ihn zukommen. „Warum? Warum? Warum hast du mich getötet?“ „Das war ich nicht, dein Mann war es!“ „Du hast mich getötet. Das Mutterherz gebrochen. Warum? Sag es mir! Warum?“ Plötzlich merkte er, dass ihm jemand den Arm um die Schulter legte. Er blickte sich um - und sah in das Gesicht seines Stiefvaters. „Astreine Leistung, mein Lieba! Erst de Kusine vöjeln und dann de Mutta ermordn. Hahaha.“ Thomas riss sich los und lief. Da begegnete ihm John - mit Thomas‘ Cousine im Schlepptau. „Wir haben doch sonst immer alles geteilt, weißt du nicht mehr? Also lass uns auch diese heiße Schnecke hier teilen.“ Doch da kam schon sein Vater peitscheschwingend auf ihn zu. Ehe er ihn erreichte, wachte Thomas auf.

Charles hatte ihn wachgerüttelt. „Du hast schlecht geträumt“, sagte er und tätschelte Thomas die Wange. Dieser nickte nur stumm. es war schon dunkel geworden. Das Abendessen stand auf dem Tisch. „Belegte Brote“, sprach Charles, als er Thomas‘ Blicke bemerkte, „Aber diesmal Tee anstatt Wasser.“ „War ein ziemlich langes Mittagsschläfchen, nicht wahr Onkel Doc?“ Charles grinste. „Komm, steh auf.“ Er half Thomas beim Aufstehen und sie setzten sich an den Tisch, aßen die Stullen und tranken das Herzrasen verursachende Gesöff, das Hugo anscheinend „Tee“ nannte. Thomas erzählte seinem „Lebensretter“ seinen Traum. Doch der nickte bloß ab und zu teilnahmslos, brabbelte etwas von wegen „wird schon“ und schien im Großen und Ganzen mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Zwar war das Thomas schon gewohnt, aber irgendetwas schien ihm diesmal anders: „Ich erzähle die ganze Zeit von meinen Sorgen, dabei scheint es dir im Moment auch nicht grad bestens zu gehen.“ Charles lächelte gequält. „Nun sag schon.“

Er stellte die Tasse, die er eben ergriffen hatte, wieder auf den Tisch seufzte herzzerreißend und begann zu erzählen: „Ich hab dir doch erzählt, dass ich nachts von Mülltonne zu Mülltonne geschlichen bin um irgendwo etwas Essbares zu finden?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „Nun. Auf einem, meiner Streifzüge lernte ich Maria kennen. Sie war ein etwa acht- oder neunjähriges, braunhaariges und -äugiges Mädchen. Ihre Kleidung hing in Fetzen an ihr herab und war von Kot und Dreck nur so durchtränkt. Doch das schlimmste war, dass ihr an der linken Hand der Ringfinger fehlte.“

„Nun übertreibst du aber!“ platzte es aus Thomas heraus. Charles schüttelte betrübt den Kopf: „Leider nein. Sie erzählte mir, dass dieser Finger ein Ring ihrer verstorbenen Mutter trug. Ein anderer armer Sünder wollte ihn ihr rauben. Da sie ihn verständlicher Weise partout nicht hergeben wollte, biss er ihr in seiner Rage unversehens den Finger ab.“ Thomas schüttelte sich. „Was Menschen nicht anderen Menschen alles zufügen können?“, dachte er bei sich. „Die ganze Zeit war ich für sie so etwas, wie ihr großer Bruder. Immerhin bin ich 7 Jahre älter als sie gewesen. Alles, was wir fanden, teilten wir gerecht.

Nach einiger Zeit kamen wir in das hiesige Millionärs-Viertel. Ich wusste nicht wie wir hierher geraten waren, geschweige was sie hier wollte. Die Essensreste verfüttern diese piekfeinen Leute an ihre Hunde und meinen Eltern wollte ich auch nicht unbedingt begegnen. Wir hielten vor einem dieser riesigen, ewig gleichaussehenden gusseisernen Tore. Maria klingelte. War sie denn verrückt? Anscheinend verließ sie sich voll und ganz auf ihre kindliche Niedlichkeit, die unter dem ganzen Dreck noch in Ansätzen zu erkennen war. Sie schaute keck in die am Tor angebrachte Kamera und was sie dann sprach, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren: ‚Hallo, Mami, ich bin’s!‘ Hatte sie nicht gesagt, dass…

Der Summer ging und wir konnten eintreten. Maria zog mich den ganzen Kiesweg hinter sich her. Woher hatte sie plötzlich diese Kraft? Was war hier los? Kaum waren wir am Hauseingang angekommen, begann ein großes Herzen und Küssen und Kosen und dachte so bei mir: ‚Bestimmt wird sie mich als ihren Retter in der Not vorstellen.‘ Doch: ‚Das ist der Mann, der mich entführt hat!‘ Ich lachte. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein und ich wunderte mich, warum ihre Eltern nicht mitlachten. Seit wann begleitete ein Entführer seine Opfer wieder nach Hause?

Doch die Freude über das glückliche Wiedersehen war anscheinend so groß, dass das logische Denken aussetzte, sie mein Gelächter als weitere Gehässigkeit interpretierten und ihren Hund auf mich hetzten, von denen es in dieser Straße nur so wimmelt, um die Bettler, die es wagen sich ihrer Pforte zu nähern, zum allgemeinen Amüsement aller Anwesenden zu verjagen.

Noch bevor der Hund mir etwas anhaben konnte, erreichte ich das Tor. Abgeschlossen. Noch eh ich eigentlich kapierte, was das für mich hieß, biss sich dieser Köter in meiner Wade fest. Der Schmerz war unerträglich. Ich dachte, ich fiele in Ohnmacht. Aber ich rappelte mich auf, gab dem Vieh ein paar kräftige Fußtritte und, als wäre ich durch die Berührung mit der Erde zu neuen Kräften gekommen, kletterte ich über das Tor in die Freiheit.“

Er machte eine Pause, lehnte sich zurück und erzählte weiter:

„Hinter mir hörte ich nur noch das Gejaule des Hundes, das Schimpfen der Eltern und das Lachen der kleinen Maria.“ Schmerzgepeinigt schloss er die Augen und stemmte seine Faust gegen seine Stirn: „Gott, wie konnte ich so dämlich sein?“ „Shhhh…“, machte Thomas und legte den Arm um Charles Schulter. „Jetzt sag nicht: ‚Das hätte mir auch passieren können!‘ Garnichts hätte es!“, brüllte Charles und fing an zu weinen. Thomas umarmte ihn und nach und nach beruhigte sich Charles wieder und er sagte: „Heute ist es 4 Jahre her; und noch immer spüre ich die Schmerzen. Nicht den Biss, nein, den Knacks, den es gab, als Maria, die kleine unschuldige Maria mich verrat.“ Wieder brach er in Tränen aus.

„Kann ich mal die Narben sehen?“ Charles schaute Thomas mit einem Ausdruck an, als hätte der grade den größten Blödsinn gesagt. Als er aber dessen treuherziges Gesicht sah, nickte er und entblößte sein rechtes Bein. Ein langer weißer Streifen zog sich über die sonst makellose braune Haut. Thomas konnte nicht widerstehen und zog mit seinen Fingern die Narbe entlang. Immer und immer wieder. Auf und ab. Da entsann er sich der letzten Nacht und küsste die Narbe wie eine Reliquie.

Er sah auf und fragte: „Jetzt sind wir quitt, oder?“ „Scheint so“, erwiderte Charles. Wie automatisch trank Thomas seinen „Tee“ aus und legte sich in sein Bett. Charles beobachtete das mit befremdeten Blicken. Hatte er zu viel von sich preisgegeben? Hätte er „Nein“ sagen sollen? Zu seiner Verwunderung hatte sich Thomas nicht auf seinen Bauch gelegt, wie in der letzten Nacht, sondern mit dem Rücken zur Wand. Schweigend sahen sie sich an. Wollte er nicht mehr berührt werden und, dass er ihm beim Schlafen zusah? Charles zuckte mit den Schultern, stand auf, knipste das Licht aus und machte sich daran in sein Bett zu begeben.

„Charles“, hauchte Thomas. Schweigend hielt Charles inne: „Ja?“ Thomas spürte, wie der Kloß in seinem Hals stetig heranwuchs, aber es musste heraus: „Kannst du diese Nacht bei mir bleiben?“ - „Aber ich bin doch da.“ Thomas fiel es immer schwerer ein Wort herauszubekommen: „Ich meine hier. Hier unten. Bei mir. Unten… Im Bett.“ Was war davon zu halten? „Bitte. Du beobachtest mich sowieso die ganze Zeit und gestern bin ich so ruhig eingeschlafen, wie schon lange nicht mehr.“ Nun erkannte Charles die Ernsthaftigkeit, die in diesen Worten lag, schüttelte lächelnd den Kopf und legte sich Thomas gegenüber nieder. Der rückte ein bisschen näher an Charles heran, ergriff dessen Hände und legte sie auf seinen immer noch schmerzenden Rücken. Charles begriff und begann zu streicheln. Allerdings wollte er auch nicht, dass Thomas nur dalag wie ein steifes Brett, unterbrach sich deswegen und führte Thomas‘ Hände zu seinem Gesicht. So lagen beide da.

Und irgendwo in der Dunkelheit vermutete Thomas Charles‘ braune Augen, die liebevoll auf ihm ruhten. Mit diesem Gedanken schlief er ein. Und auch Charles, dem das alles sowieso schon wie ein wunderbarer Traum vorkam, begab sich ins Schlaraffenland, in dem alle Menschen menschlich miteinander umgehen und niemand hungern, frieren oder stehlen muss.

7.Kapitel

Am nächsten Morgen gab es wieder das Normal-Programm zum Frühstück: Belegte Brote und Wasser. Das einzig Besondere war ein Brief, der dem „Mahl“, wie am gestrigen Tag, beigelegt war und die beiden traurig stimmte.

Die Extrawurst des Vortages war nicht unbeobachtet geblieben und Hugo fristlos entlassen. Er hatte nur die Erlaubnis bekommen, ihnen zum Abschied noch einmal das Frühstück zu bringen. Wahrscheinlich hatte er sich nicht getraut sie zu wecken. Sie bekämen jetzt einen Wächter, der in seinen ganzen 20 Dienstjahren eine Zelle noch nie von innen, geschweige denn die Insassen gesehen hätte, da er bei der Essensvergabe ein einfaches Prinzip habe: „Klappe auf-Bemmen durch-Klappe zu“, deswegen wäre es ratsam zur gegebenen Zeit oder für die nächsten Jahre den Tisch unter die Türklappe zu stellen, damit das Essen nicht in den Dreck fällt.

„Vor allem werde ich das gemütliche Beieinandersitzen und Kartenspielen vermissen. Vielleicht sehen wir uns, wenn ihr draußen seid.

 

Euer Hugo.

Adresse:…“

 

Der Rest des Briefes war abgerissen worden. Man sah, dass er geweint hatte, denn an einigen Stellen war der Brief mit Tränen betropft.

8.Kapitel

Das war nun schon einige Jahre her. Die Wunden waren verheilt. Die Beziehung zwischen Thomas und Charles war enger geworden: Meist lagen sie engumschlungen im Bett. Es war einfach irgendwie passiert und sie genossen die Wärme des anderen, denn es gab ihnen ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit und bewahrte sie vor Albträumen und Einsamkeit. Manchmal hätte Thomas lieber den Busen eines schönen Mädchens gespürt und ihm drängte sich immer wieder die Frage auf, ob es Charles ebenso ging, oder ob er wirklich schwul war. Denn bis jetzt hatte er ihn noch nicht gefragt, denn er wollte das Beisammensein und damit das Klima der nächsten dreieinhalb Jahre nicht gefährden. Auch fragte er sich ob sich Charles dann mehr von diesem Beisammensein erhoffte. Der hatte sich nämlich in dieser Hinsicht auch noch nicht geäußert.

Grundsätzlich konnte sich Thomas keinen Sex mit einem anderen Mann vorstellen. Aber diese unbegreifliche Ausstrahlung, die von Charles‘ Körper ausging und diese Geborgenheit und Wärme, die er in seinen Armen spürte, von der er sich nicht vorstellen konnte, sie je bei jemand anderen zu finden.

Und dann überhaupt die Weichheit seiner Haut, die ihm schon manches Mal den Schlaf raubte. Oft brachte er Nächte damit zu, sie zu streicheln und immer nur zu streicheln, um dieses unbekannte wohlige Gefühl aufsteigen zu spüren und mit fast kindlich-naiver Freude zu beobachten wie Charles‘ Pimmel immer größer und größer wurde. Thomas war es beim Kuscheln auch schon passiert. Na und? „Männer sind doch in mancher Hinsicht genauso bewundernswerte Geschöpfe, wie Frauen“, dachte er. „Und wer einem die Einsamkeit nimmt, ist doch schließlich egal.“ Bloß ihn Anfassen, das wollte und traute sich Thomas noch nicht. Er traute sich schon nicht mehr sich selbst zu befriedigen und da sollt er…? Nein.

Schon öfters hatte er mitbekommen, wie Charles aus seinem Bett gestiegen, in Richtung Klo gegangen und sich nach langem Seufzen wieder neben Thomas gelegt hatte. „Warum auch nicht? Man ist ja unter sich und er schließlich auch nur ein Mann“, dachte Charles. „Mit ‘ner Frau in einem Raum ginge das bestimmt nicht. Viel zu peinlich.“

Allerdings konnte er sich zurzeit auch keine Beziehung mit einer Frau vorstellen: Zu frisch waren noch die Erinnerungen an jene verhängnisvolle Nacht: der Rausch, seine bittende Cousine und alles was danach kam… Trotzdem war er für diese Nacht manchmal von tiefstem Herzensgrunde dankbar, da er ohne sie nie Charles kennengelernt und solch eine Sicherheit und das Gefühl des Gebrauchtwerdens genossen hätte.

Seine Gedanken wurden vom Geräusch der quietschenden Luke und vom Herabfallen der Wurstbrote unterbrochen. „Essen fassen!“, rief der Wächter. Und schon war die Klappe wieder zu. An seine Marotten hatte man sich mittlerweile auch gewöhnt. Das „Quietsch-Klatsch-Essenfassen-Bumm“ war alltäglich geworden. Thomas robbte aus dem Bett, da er an der Bettkante lag, torkelte zu Tisch und ordnete die Stullen auf die Teller.

Doch sah er etwas, was seine volle Aufmerksamkeit einnahm: Dem Essen lag ein Brief bei. Das war seit jenem Abschiedstage nicht mehr vorgekommen. Er nahm ihn in die Hände und sah, dass er an ihn adressiert war. Hastig riss er ihn auf. Zuerst erhellte sich sein Gesicht, doch dann brach er in wehmutsvolles Schluchzen aus.

Schnell erhob sich Charles aus dem Bett. „Was ist los?“ Thomas ließ den Brief fallen, drehte sich um, ging auf Charles zu und umarmte ihn stürmisch immer noch weinend. „Hey, nun sag schon!“, sagte Charles mit erstickter Stimme. Doch Thomas schwieg und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Charles riss sich von ihm los. Erschrocken über seine eigene Reaktion ging er wieder einen Schritt auf Thomas zu. „Sag’s. Bitte. Sag es.“ Thomas sank in sich zusammen.

Charles lief zu ihm, hob ihn auf, trug ihn in sein Bett und streichelte ihm die Hand: „Was ist los? Du verwirrst mich, bist nicht mehr Herr deiner Sinne. Ich bin im Moment total überfordert. Spuck’s doch endlich aus!“ „Ich…“, begann Thomas, „ich…“ „Ja?“, fragte Charles erwartungsvoll. „Ich… komm frei.“ Charles erstarrte. Er wusste nicht, ob er sich für ihn freuen oder beweinen sollte. „Wann?“ - „Morgen“, antwortete Thomas schluchzend. „Ein Unbekannter hat die Kaution für mich bezahlt, unter der Bedingung, dass ich mich für die nächsten dreieinhalb Jahre von der Familie meines Vaters fernhalte.“ Er brach in Tränen aus, setzte sich und küsste die Stirn des immer noch verdutzt dasitzenden Charles. „Wir sehen uns heute zum letzten Mal.“

Charles erlangte wieder seine Fassung. „Nun mal nicht gleich den Teufel an die Wand. In drei Jährchen bin ich auch raus und dann können wir…“ Ein Kuss verschlug ihm die Sprache. „Du willst doch auch oder?“ Diese Frage hatte Charles nicht erwartet. Er entwand sich Thomas‘ Armen, setzte sich auf einen der Stühle und sagte, so kühl, wie es ihm gelang: „Komm erst mal runter.“ Thomas schien der Verzweiflung nahe: „Aber verstehst du denn nicht…“ „Klar versteh ich“, antwortete Charles hart „Aber ich will nicht dein Mittel zum Selbstzweck sein.“ Sprachlos saß Thomas da. Hatte er sich da verhört? „Du bist jetzt total aufgeregt“, lenkte Charles ein. „Iss erst mal ‘nen Happen und dann überlegen wir uns was, einverstanden?“ Thomas nickte schwach, erhob sich, setzte sich an den Tisch und begann zu essen.

Wie am ersten Tag betrachtete er Charles‘ elegantes Kauen. Doch etwas war anders. Zum einen das ernste Gesicht, das er zog und zum andern die tränenübervollen Augen. Thomas legte beschwichtigend seinen Arm auf Charles‘ Schulter. Doch dieser zog ihn blitzschnell weg und schüttelte nur schweigend kauend und mit einem gemischten Gefühl aus Wut und Verzweiflung den Kopf. Ihm fiel es doch genauso schwer.

Die nächsten Stunden verbrachten sie schweigend. Charles mit geschlossenen Augen. Thomas still in sich hinein weinend.

„So kann und soll es nicht enden.“ Es war Charles, der das Schweigen unterbrach. „Schau mal. Wenn wir jetzt miteinander schliefen, dann hättest du vielleicht späterhin Probleme eine Freundin zu bekommen. ‚Waaas? Du hast mit einem Mann geschlafen? Igitt!‘ Oder so. Und als ehemaliger Knacki und Sexualstraftäter hast du es sowieso schon schwer genug. So. Und anschweigen brauchen wir uns heute auch nicht. Wir spielen jetzt `ne Runde Karten, quatschen genüsslich, Mittag fällt wie jeden Tag aus, weil der Idiot die Suppe nicht durch die Klappe kriegt, essen dann Abendbrot und gehen danach schlafen. Jeder in sein Bett.“ Thomas wollte etwas einwenden, aber Charles ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Wir wollen es uns nicht schwerer machen, als es sowieso schon ist. Morgen früh packst du dann deine 3 Klamotten, wir umarmen uns nochmal und dann gehst du los ohne dich noch einmal umzudrehen.“ Wieder wollte Thomas etwas einwenden. „Ohne dich nochmal umzudrehen! Und in 1236 Tagen erwartest du mich dann unten am Tor. Dann können wir machen, was wir wollen.“ Thomas nickte nunmehr überzeugt und begann die Karten zu Mischen. Sie sprachen von alten Zeiten, so, wie sich Greise unterhalten.

Nach dem Abendbrot gingen sie sofort zu Bett. Und obwohl es Charles unter den flehenden Blicken Thomas‘ unendlich schwerfiel, kletterte er zum letzten Mal in das obere Bett. Morgen würde er das untere Bett besetzen, zur Erinnerung an dreieinhalb schöne Jahre. Er hörte Thomas noch lange weinen und schlief erst ein, nachdem es unter ihm ruhig geworden war.

9.Kapitel

Der Abschied war schnell und schmerzhaft verlaufen. Tasche gepackt – umarmt – los. Thomas wollte ihn nicht hergeben. Diesen Freund. Diesen Freund, der nicht wie John immer nur von perversen Dingen sprach und der jenen schon längst in seinem Herzen ersetzt hatte.

Nun stand er verloren vor dem Tor. Er hatte sich nicht umgedreht, doch sein Herz sagte ihm, dass Charles weinend dagestanden habe.

1236 Tage… Er wird da sein. Das hatte er sich versprochen.

Doch nun? Wohin? Kein Zuhause, keine Familie, kein Job, kein Geld, kein Charles. Alles, was ihm geblieben war, waren die Kleider, die er trug, die Häftlingsklamotten von Charles in einer Plastiktüte, das Foto von Bobby und eine vertrocknete Blume vom alten Wächter von damals. Halt! Da war noch die Herzbubenkarte, auf die Charles das genaue Datum und einige Worte geschrieben hatte. Die trug er am Herzen. Charles. Diesen Namen schienen die Bäume zu raunen und der Wind zu pfeifen.

Thomas ging los. Nach wenigen Schritten kam ihm jemand entgegen. Er kannte ihn nicht, doch schien dieser Herr genauso lange in der Sonne gelegen zu haben wie… Konnte das …? „ßönd ßö Thomas Schmödt?“, fragte der Mann in Frack mit Hut und weißen Lederhandschuhen. „Ja. Warum?“, fragte Thomas zögerlich. „Wonderbo. Ond dör Monsieur Chorles öst noch da?“ „Woher wissen Sie das?“ „Dankö. Gänögt“, sprach der Mann und wendete sich zum Gehen. „Moment mal!“, rief Thomas. Der Mann stockte. „Wer sind Sie und woher wissen Sie das alles?“ Der Mann lachte durch die Nase: „Ahohohohohohoho. Öch bön där Onbökanntö. Ond öch bön Chorles Vator. Ör soll ös nöcht zo ainfach habön öm Göfängnös. Gotän Tag.“ Thomas fiel auf die Knie, wie von einem Schuss getroffen und tat etwas, was er schon lange nicht mehr getan hatte: Er betete. Für Charles. „Dör wörd Öhnän jötzt aoch nöcht mähr hölfön“, rief der Mann von weitem.

10.Kapitel

Die nächsten 6 Monate waren für Thomas eine Zeit der Entbehrung, des Hungers und des Ringens ums nackte Überleben. Die Tüte hatte er irgendwo liegen gelassen, weil sie ihm hinderlich erschien. Die letzte Erinnerung an Charles einfach stehen gelassen auf nimmer Wiederseh’n, aber immer in dem Gedanken ihn, den Besitzer, bald wiederzusehen. Das Foto von Bobby eingetauscht gegen ein bisschen Brot. Nur diese Karte mit den Charles‘ Worten und dem Datum hatte er behalten. Das letzte Bindeglied zu einer wundervollen, märchenhaft erscheinenden Zeit.

Nach ein paar Tagen hatte er das Heer der Leute kennengelernt, die Charles „arme Teufel“ genannt hatte. Eine Gruppe meist ältlicher, verlotterter, nach Alkohol, Schweiß, Urin und Kot riechender Menschen auf der Suche nach dem, was andere als unbrauchbar weggeworfen hatten. Ihnen schloss sich Thomas an, denn sie wussten bestimmt, wo es etwas zu finden gab.

Die ersten Tage ging es gut. Man gewöhnte sich ans Schimmel-Abkratzen, ans Ums-Essen-Prügeln und man überwand sich selbst und lebte in einer einigermaßen gut funktionierenden Gemeinschaft.

Da sich aber die Anwohner über diese unansehnliche Ansammlung „des Ausschusses der Gesellschaft“ empörten und beschwerten, kam die Polizei und prügelte die Gruppe auseinander. Etliche waren zu schwach um wegzulaufen, ließen sich fallen und wurden auf das Brutalste zusammengehauen. Den Polizisten machte es Freude etwas zu tun zu haben und – Geld stinkt nicht… Es war ein fürchterliches Stöhnen, Röcheln und Seufzen, denn selbst zum um Hilfeschreien hatten die Armen keine Kraft mehr, die immer leiser und leiser wurden…

Thomas lief, so weit ihn seine Füße tragen konnten. Als er schließlich schweißdurchnässt stehen blieb und um sich sah, merkte er, dass er in einen der entlegenen Teile der Stadt gekommen war, den er noch nie betreten hatte. Kalte Fertigbauhäuser sahen ihn mit ihren großen Fensteraugen herablassend und böse an, als hätte er ihre Ruhe gestört. Und auch die Straßenlaternen flackerten bedrohlich.

Doch das beschäftigte ihn nur die ersten Augenblicke, denn seine Augen hatten längst etwas viel interessanteres gefunden: eine Bank. Das hieß: eine Schlafmöglichkeit. Von der Flucht entkräftet schleppte er sich die letzten Meter, die ihm wie eine Unendlichkeit vorkamen und sank erschöpft auf die Bank und in tiefsten Schlummer.

11.Kapitel

Am nächsten Morgen wurde Thomas von einer Stimme geweckt. Hatte er sich verhört? Hatte da nicht jemand seinen Namen gerufen? „Thomas, wach auf!“ Es war klar vernehmbar gewesen. Er öffnete die Augen – und sah in Hugos Gesicht. „Bestimmt träume ich noch“, dachte sich Thomas und lallte: „Geh weg, du Gespenst!“ Hugo lachte, nahm Thomas‘ Hand in die seinen und sagte: „Du Träumer, ich bin’s wirklich!“ Jetzt erst schien Thomas zu begreifen, sprang auf und lachte, wie ein Irrer und umarmte Hugo stürmisch. „ Mensch, was machst du denn hier?“, fragte er. „Das sollte ich dich fragen“, entgegnete Hugo. „In dieser abschüssigen Gegend. Ich soll hier für ein wenig Ruhe und Ordnung sorgen. Und du?“ Thomas‘ Gesicht nahm einen schmerzlichen Zug an, zynisch lächelnd sagte er: „Warten auf den nächsten Tag, die nächste schimmlige Mahlzeit, das Glück.“ Hugo lachte: „Das letzte scheint ja jetzt eingetroffen zu sein. Natürlich ziehst du bei mir ein.“ Thomas wollte etwas einwenden. „Keine Wiederrede. Wäre ja noch schöner, nach allem was ich dir getan habe, dich jetzt auch noch auf der Straße verhungern zu lassen. Das kannst du vergessen. Und überhaupt: Seit meine Frau gestorben ist, ist es etwas einsam geworden in diesem großen Haus, und da freue ich mich natürlich…“

„Deine Frau ist gestorben?“, unterbrach ihn Thomas. „Das wusstest du nicht?“ Hugo sah ihn misstrauisch an. „Ich hatte es euch doch geschrieben. Dachte schon, ihr hättet mich vergessen…“ „Wir haben nie Briefe bekommen.“ Thomas schüttelte betrübt den Kopf. Hugo seufzte. Wollte ihn dieser Typ, nachdem er ihm solch ein Angebot gemacht hatte, auf den Arm nehmen? Doch als er in Thomas offenherziges Gesicht sah, brabbelte er etwas von „Diese Säcke!“, lächelte, fasste Thomas bei der Hand und ging mit ihm nach Hause.

 

Während Hugo am nächsten Tag im Viertel seine Runden drehte, nutzte Thomas die Zeit, um sich ein wenig im Hause umzusehen. Zwei Etagen mit Wohnzimmer, einem Schlafzimmer, einem Kinderzimmer, das aussah, als wäre es nie bewohnt worden; dazu noch ein Gästezimmer, ein Arbeitszimmer, Bad, Küche (die beide sehr geräumig waren) und eine Rumpelkammer.

Im Wohnzimmer standen überall Fotos von lachenden Personen auf den Schränken und Tischen. Plötzlich stockte er. Konnte das sein? Da stand ein Foto von Charles und ihm beim Kartenspielen. Wann war das gemacht worden? Warum konnte er sich nicht mehr daran erinnern? Doch das erschien ihm jetzt nebensächlich. Es berührte ihn viel mehr Charles‘ lächelndes Gesicht zu sehen. Was der jetzt wohl tat? Thomas seufzte, küsste das Bild und stellte es wieder hin.

Nach einigen Tagen hatte es Thomas satt immer nur im Haus zu sitzen und die Hände in den Schoß zu legen. „Ich will arbeiten“, sprach er zu Hugo. „Egal was, egal wo und sollte die Bezahlung noch so kärglich sein.“ Hugo nickte schwach. Zwar konnte er Thomas verstehen, aber zum einen glaubte er nicht daran, dass er etwas finden wird und zum anderen wollte er ihn auch nicht missen: Ob als Gesellschaft beim Frühstück oder als Gesprächspartner beim Abendessen. Denn eins war klar: Sollte Thomas Arbeit finden, so bedeutete dies einen gewaltigen Einschnitt in die bestehende Beziehung der beiden. Trotzdem machten sie sich in den nächsten Tagen gemeinsam auf den Weg um einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden.

Und sie wurden fündig. „Jenau sone hartn Kerle brauchn wa hia“, sagte Herr Wagner, der Chef eines Bauunternehmens. „Hauptsache is, dass de ordntlich zupackn könn’n tust.“ und lachte. Schnell wurde ein Vertrag ausgehandelt, ausgedruckt und unterschrieben. Lohn gab‘s nicht viel, aber er reichte für eine gewisse Unabhängigkeit. Thomas beschloss alles zu sparen. Wofür wusste er noch nicht. Vielleicht für die gemeinsame Zeit mit Charles? Alles, was er brauchte, bekam er ja von Hugo und so zerbrach er sich auch nicht weiter den Kopf darüber.

12.Kapitel

Herr Wagner hatte nicht übertrieben: harte Arbeit, harte Kerle, harte Herzen. Um sich einzuarbeiten, bekam Thomas anfangs Handlangerarbeiten, die zumeist daraus bestanden, irgendjemanden irgendetwas zu reichen. Doch nach 2 Wochen band man ihn dann voll ein. Hugo sah er nur noch selten. Er ging eher als Hugo und kam auch früher nach Hause.

Nach einiger Zeit hatte er genug Geld (Hugo legte immer noch etwas drauf), um sich eine billige und leider auch recht verkommene Wohnung zu mieten. Natürlich war das kein Vergleich mit Hugos Haus, auch tat der Abschied furchtbar weh, aber für Thomas war es die ersehnte Unabhängigkeit. Hugo kam zunächst jede Woche, dann aller zwei Wochen und dann immer seltener zu Besuch, bis er sich schließlich gar nicht mehr sehen ließ.

Eines Tages kam ein kleiner glatzköpfiger Mann mit einer Aktentasche auf die Baustelle um mit Thomas zu sprechen. „Entschuldigen Sie bitte, ehem“, begann er. „Könnte ich Sie vielleicht bei Ihnen zu Hause, ehem, also nur wir beide, ehem, sprechen? Ehem. Es geht um einen, ehem, Hugo Rau.“ Thomas nickte eifrig, gab dem Herrn Wagner Bescheid und ging mit dem kleinen Mann zu seinem Apartment. Er lief mit großen Schritten voran, während der kleine Mann eifrig hinterhertippelte.

„Nun“, sagte der Mann, nachdem sie sich gesetzt hatten. „Um es, ehem, kurz, also ohne Umschweife, direkt sozusagen so zu sagen. Der Herr Hugo Rau wurde, ehem, also ganz plötzlich, unversehens, ganz unerwartet, ehem, nicht befürchtet von einer der hiesigen Gruppen, Gemeinschafts-Kollektiv-Banditen, ehem, Banden, Gangs auf einer seiner Streifen…“ „Was nun?“, schrie ihn Thomas an. Der Mann staunte ihn an, nickte, verzog sein Gesicht zu einer ernsten Miene und sagte: „Ermordet. Tot. Vermacht Ihnen Haus und Erspartes. Nur unterschreiben.“

Geschockt, aber auch gefasst, als erwarte er, dass noch etwas käme, saß Thomas da. Den Blick unverwandt in die Ferne gerichtet, wie automatisch unterschrieb er die Papiere. Der kleine Mann verbeugte sich, wünschte noch einen schönen Tag und ging.

Thomas war allein. Endgültig allein.

13.Kapitel

Nun war es schon ein Jahr her, dass Hugo gestorben und Thomas in sein geerbtes Haus eingezogen war. Das erste, was er tat, war, alle Fotos, außer jenes auf dem Charles und er abgebildet waren, in einen separaten Schrank zu sperren. Es könnte immerhin doch noch eines Tages ein entfernter Verwandter auftauchen und da wollte er diesem wenigstens diese privaten Erinnerungen überlassen. Auch allzu kitschige Staubfänger, und davon gab es einige, verschwanden zum Teil in Schubladen, zum Teil in der Rumpelkammer. Er wollte nicht mehr so oft an Hugo erinnert werden. Auch wollte er sich in seinem neuen Hause wohlfühlen.

Als er sich nach der erwähnten Barschaft erkundigte und eine sechsstellige Zahl genannt bekam, schüttelte er zum einen den Kopf, weil er sich Hugos Verhalten nicht erklären konnte und zum andern freute er sich natürlich sehr.

Trotzdem arbeitete er immer noch auf dem Bau. Er brauchte das um sich abzulenken. Seit sechs Monaten hatte er einen neuen Chef: Einen Amerikaner, der den Betrieb dem Herrn Wagner abgekauft hatte – Mr. Snyder. Ein Mittvierziger mit sehr kurzen schwarzen Haaren, dichten Augenbrauen, einem schwarzen Zwirbelbart, der eigentlich im Großen und Ganzen einen eher gemütlichen Eindruck machte.

Doch: weit gefehlt. Nun wehte ein strafferer Wind. Jeder hatte nun eine tägliche Norm zu erfüllen, die ihm morgens ausgehändigt wurde. Erreichte man diese fünf Mal innerhalb eines Monats nicht, wurde man für den restlichen Monat beurlaubt und erhielt keinen Lohn. Sollte diese Beurlaubung innerhalb von 2 Jahren 6 Mal vorkommen wurde man entlassen. Über jede Unregelmäßigkeit wurde Mr. Snyder von seinem Handlanger Mr. Jones, den alle „die Wanze“ nannten, informiert.

Doch das war für Thomas Nebensache, denn langsam rückte der Tag Charles‘ Entlassung näher. Die letzten Wochen wurden für ihn zur Qual. Er konnte sich nicht mehr richtig konzentrieren. Andauernd stand er gedankenverloren auf der Baustelle, ließ irgendetwas fallen und umarmte sogar einmal im Übermut einen seiner Kollegen, der ihn mit der Bemerkung „Schwuchtel“ hart von sich stieß.

Am Freitag sollte es nun endlich, endlich, endlich soweit sein. Donnerstag ging er ins Büro Mr. Snyders, legte ihm sein Anliegen vor und bat um Beurlaubung am nächsten Tag. Dieser sprach im gewichtigen Ton: „Schmidt. Haben Ihre Norm diese Woche schon drei Mal nicht erfüllt. Gäbe ich Ihnen Urlaub wäre das vierte. Kann ich nicht zulassen. Nein. Jones Sie morgen abholen, damit Sie zur Arbeit da. Guten Tag!“

Wie betäubt verließ Thomas das Büro. Was sollte er jetzt tun? Er wusste, dass er jetzt unter ständiger Beobachtung der Wanze stand. Klar, dieser schmächtige Hänfling konnte ihm nichts anhaben, wohl aber die Schergen des Mr. Snyder, die unter dem Kommando der Wanze standen und die ihn zur Arbeit prügeln würden.

Schon oft hatte er beobachten können, wie das bei „kleineren Unregelmäßigkeiten“ ablief. Und die Armen mussten den Rest des Monats unentgeltlich arbeiten und konnten auch nicht so einfach kündigen, weil dann eine saftige Geldstrafe wegen Vertragsbruches auf sie wartete.

Thomas hatte Geld. Aber war Charles es wert, sich für ihn in Gefahr zu begeben und sein bisheriges Leben aufzugeben? War der Job nicht sowieso zur Tortur geworden? Überhaupt: Wer konnte ihm garantieren, dass sich Charles in den letzten dreieinhalb Jahren nicht verändert und die Zeit mit ihm als nichtige Bagatelle abgetan hatte? Aber auch wenn er jetzt kündigte müsste er noch einen ganzen Monat für Mr. Snyder arbeiten – unentgeltlich natürlich.

Er hatte sich entschieden. Entschlossenen Schrittes ging Thomas auf Mr. Snyders Büro zu, riss die Tür auf und schrie so laut, dass seine Stimme sich überschlug: „Ich -kündige!“ Mr. Snyder nickte nur gelangweilt. Die Wanze Jones stand links hinter ihm, rieb sich die Hände und kicherte. „So kommt Geld in die Kasse, so kommt Geld in Kasse“, dachte er bei sich. Thomas drehte sich um, knallte die Tür hinter sich zu und verließ das Baugelände. Niemand verfolgte ihn. Er wollte es morgen drauf ankommen lassen. Er musste es versuchen, sonst würde er sich ewig Vorwürfe machen.

 

Und es kam, wie er es vorausgeahnt hatte. Kaum tat er den ersten Schritt aus der Tür, um Charles vom Gefängnis abzuholen, stand die Wanze vor ihm und wünschte ihm im süßlich-diabolischen Ton: „Guten Morgen, kleiner Mann. Haben wir gut geschlafen? Ja? Ach, das ist aber fein. Und genauso fein machen wir uns jetzt auf den Weg zur Arbeit, ja? Bist doch schon ein großer Junge und weißt doch, wie das geht, nicht wahr? Ansonsten muss der Onkel sauer werden und holt dann die großen Kinder, die dann dem kleinen Mann Aua-aua machen, und das möchte doch der kleine Mann nicht, oder? Drum sein ein braves Bübelein und geh fein mit dem Onkel mit. Ja, komm. Hast ja schon den großen Onkel böse gemacht. Eieieieiei. Der ist ganz doll böse, nur wegen Bubibubi Schnullerbäckchen. Aber ganz lieb von dir, dass du dich für uns und den lieben, lieben Onkel so elegant angezogen hast. Ist die Arbeit nicht eine Freude? Ja, der kleine Mann hat Recht, sie ist wohl einer solchen Kleidung würdig.“

Thomas gab sich drein, schon wegen den muskelbepackten Riesen, die hinter Mr. Jones auftauchten, ging zur Arbeit, wobei ihn die Wanze die ganze Zeit wie einen kleinen Jungen an der Hand hielt, „damit er nicht verloren ginge“, wie er sagte, und weinte den ganzen Tag bitterlich. Und die Wanze Jones wich den ganzen Tag nicht von Thomas‘ Seite und erfreute sich dessen Schmerz und Pein und war stolz, wie toll er das doch wieder hinbekommen hätte. Laufend lachte er in sich hinein wie ein Chinese. „Hab ich doch Recht gehabt“, sprach Thomas halblaut vor sich hin. „Wir werden uns nie mehr wiederseh‘n.“ „Wie war das, kleiner Mann? Was hast du gesagt?“, fragte ihn Jones. „Leck mich, du schwanzloser Arschkriecher“, schleuderte Thomas ihm voller Verachtung entgegen, sodass der erstaunt stehenblieb und Thomas nicht weiter behelligte.

14.Kapitel

Charles war es in den letzten dreieinhalb Jahren auch nicht besser ergangen. Er hatte erfahren, dass sein Vater für Thomas‘ frühzeitige Entlassung verantwortlich war und auch die Halbierung seiner Mahlzeiten durch eine „kleine Spende an die Gefängnisleitung“ veranlasst hatte. Doch das Schlimmste für ihn war, dass Thomas‘ Bild immer mehr verblasste. Sein Geruch verschwand aus dem Hemd. Und in seinen Träumen wurde Thomas immer mehr zur gesichtslosen Gestalt. Die meiste Zeit lag er nur im Bett, stand am Fenster oder saß am Tisch und ritzte mit dem Kugelschreiber, den er vom Abschiedstag zurückbehalten hatte, Herzen in das Holz mit dem Schriftzug „T + C“ in der Mitte. Und wenn er einmal die Karten zur Hand nahm, erinnerte ihn das Fehlen des Herz-Buben schmerzlich an den, der nicht bei ihm sein konnte und es doch irgendwie war, nur nicht so, wie er es sich wünschte.

Doch heute würde er ihn endlich wiedersehen. Nach langer Zeit wusch er sich wieder, ordnete, in Ermangelung eines Kammes, seine Haare ein wenig zurecht und bereitet sein Zimmer zum Verlassen vor. Die Tür ging auf, ein Wächter trat ein und geleitete Charles bis vor das große Tor, welches sich mit einem großen Knall hinter ihm schloss.

Charles sah jemanden am Ende des Weges stehen. Jemanden, der ein Schild mit der Aufschrift „Welcome back, Charlie!!!!!“ hochhielt. Thomas konnte es nicht sein, denn der hatte sich, sooft ihn Charles auch gebeten hatte, strikt geweigert ihn Charlie zu nennen. Aber vergessen hatte Thomas ihn bestimmt nicht, das hatte er die ganze Zeit gespürt und spürte es immer noch. Sein Vater war es bestimmt auch nicht, dieser gehässige Snob. Plötzlich durchschoss ihn ein Gedanke. Er beschleunigte seinen Schritt und blieb wie vom Donner gerührt stehen.

„Hey, Charlie!“ Der Mann ging ihm entgegen, ließ das Schild fallen, umarmte Charles stürmisch und küsste ihn leidenschaftlich. Charles riss sich los. „Lass mich, Rob!“, schrie er ihn an und stoß ihn zurück. Dieser kam hüftenschlenkernd wieder auf ihn zu. „Ts, ts, ts. Haben die sieben Jahre deine Gefühle für mich schon so verändert?“ fragte er unschuldig. „Sieben Jahre, die du hättest einsitzen müssen!“ schrie Charles ihn an. „Nun sei aber nicht undankbar, Charlie-Boy“, sagte Rob hämisch grinsend. „Immerhin hab ich dich von der Straße geholt und dir ein Obdach und gaanz viel Liebe gegeben.“ Dabei griff er Charles zwischen die Beine. Der befreite sich und schleuderte ihm entgegen: „Du hast mich zu diesem Scheiß angestiftet!“ „Was stellst du dich auch an wie der erste Mensch, hm?“, lachte Rob und wollte Charles umarmen, doch dieser entzog sich den Liebkosungen.

„Ich kann dich natürlich auch hier stehen lassen. Einfach so. Einsam. Ohne Dach über den Kopf. Ohne Zukunft. Mit einem riesengroßen Nichts. Willst du das etwa?“ Charles nickte. In seinen Augen flackerte es. „Komm, sei nicht dumm“, schmeichelte Robert. „Denk‘ doch an den Spaß, den wir beide hatten. Du und ich und nur der Mond sieht, was wir miteinander treiben und wie…“

Er konnte nicht weitersprechen. Blitzschnell packte ihn Charles an der Kehle. Verzweifelt suchte Rob sich zu befreien, doch in Charles erwachte eine unbändige Wut und Kraft. „Ich hab’s kapiert. Ich hab’s kapiert“ röchelte Rob. „Bitte, ich hab es doch kapiert!“ Charles ließ ihn los und Rob streichelte sich den Hals.

„Fahr‘ doch zur Hölle! Von mir aus verrecke. Wer bist du schon? Ein Niemand. Ich finde auch einen anderen in den Gassen, der mir die Rute lutscht und kleine Dinge für mich erledigt. Vielleicht finde ich jemanden, der nicht zu dumm dazu ist und sich so dilettantisch anstellt wie DU!“ schrie er und rannte davon, aus Angst Charles würde ihn wieder packen, auf nimmer Wiederseh’n.

Tief atmend, als hätte er eine schwere Last getragen und nun abgeworfen, stand Charles da. Was wäre wohl aus ihm geworden, wenn er Rob niemals getroffen hätte? Und wie hätten sie sich verstanden, wenn er nicht schwul gewesen wäre? Schon bevor er Rob begegnet war, hatte er kein Interesse an Mädchen.

Würde Thomas noch kommen? „Warum warte ich eigentlich auf ihn? Was erwarte ich von ihm?“, fragte er sich. „In der Einsamkeit macht man manchmal Dinge… Und er ist doch eindeutig hetero, denn er hat ja… Doch ich werde ihn suchen. Noch ist Hoffnung. Ich muss Gewissheit haben, was aus ihm geworden, wie’s mit uns weitergeht, und sollte mich die Wahrheit auch noch so sehr quälen.“ Aus dem nichts dräute in ihm ein Gedanke: „Was, wenn er tagelang nichts zum Essen gefunden und nun keine Kraft mehr hat aufzustehen?“ Er lief los. Ohne zu wissen wohin. Er lief einfach. Vielleicht hatte ihn jemand gesehen.

Doch er schien, wie vom Erdboden verschluckt. Keiner wollte ihn gesehen haben. In einer Gasse sah er Rob. Rob, der sich von einem Jungen, der noch ein Kind war, einen runterholen ließ. „Der hat wirklich kein Gewissen“, dachte er bei sich und überlegte, ob er eingreifen sollte. Doch da hatte ihn Rob schon erblickt und dreht sich so, dass Charles ihn im Profil sah. Nun zwang er den Knaben an seinem Penis zu saugen… Charles konnte sich nicht zurückhalten und sprintete dorthin. Allerdings hatte er Skrupel Rob vor dem Kind zu verprügeln. Stattdessen sagte er nur grimmig: „Lass den Jungen gehen.“ Da Rob bemerkte, dass Charles zögerte sagte er nur: „Kleiner, lass mal den Onkel ran. Der zeigt dir wie’s geht, dann kannst du’s auch gleich besser.“ Der Junge ließ von Rob ab, drehte sich um und schaute „den Onkel“ erwartungsvoll an.

Der stand unschlüssig da. Sollte er sich das Kind unterm Arm klemmen und weglaufen? Wenn es nun aber schrie? Denn es schien die ganze Sache für ein Spiel zu halten und könnte sich um seinen Spaß betrogen fühlen, so blöd dieser Gedanke Charles jetzt auch vorkam. Sollte er doch niederknien, nur damit Rob das Kind verschonte? Vielleicht war es auch genau das, was Rob von ihm erwartete? Hatte Rob noch solche Macht über ihn? Möglich. Doch wenn er jetzt weglief, konnte er sich hier nicht mehr sehen lassen, denn Rob hatte Einfluss auf alle in dieser Straße. Konnte es ihm aber nicht egal sein, was sie von ihm dachten, solange er nur seinen geliebten Thomas fände? Aber was wird mit dem Kind?

Voller Verzweiflung gab er Rob einen Stoß, sodass der nach hinten fiel, und packte das Kind bei der Hand und lief los. Doch der Junge schien die Situation zu missdeuten und biss zu. Charles schrie auf, ließ ihn los und lief einfach weiter. „Hauptsache Thomas, Hauptsache Thomas“, pochte es in seinem Kopf. „Das ist deine Vergangenheit. Lass sie hinter dir. Nur noch Thomas. Denk an dich. Das war alles gewesen. Thomas.“ Hinter sich hörte er nur noch Rob rufen: „Komm her, Kleiner und nimm mir die Schmerzen. Der Onkel ist sogar für dieses Kinderspiel zu bescheuert.“

 

Wo mochte Thomas nur sein? Charles war nach langer Zeit mal wieder im Millionärs-Viertel: Die ewig gleichen Häuser mit den ewig gleichen Zäunen und den ewig gleichen Vorgärten in denen die Rasensprenger heiß liefen. Vielleicht hatte sein Vater Thomas gezwungen die Stadt zu verlassen. Immerhin hatte er Geld. Aber ließ sich Thomas damit verblenden? Besser als verhungern wäre es allemal, sich einfach eine neue Heimat zu suchen.

Charles Vater stand schon am Tor. Er hatte seinen Sprössling vom Weiten erblickt. Diesen Augenblickt hatte er herbei gesehnt. Seit Jahren. Sein Sohn kommt zurückgekrochen. Triumph auf ganzer Linie.

„Main lüber ßohn. Ös froit möch ohngämain, döch wüdor an döa Schwöllö maines Haosös zu ßöhön. Lass düch omarmön!“ Charles wich der Begrüßung aus: „Wo ist Thomas?“ „Öch vorstöhö nücht was du mainst?“ „Mein Mitgefangener, mein Zellenbruder, wo ist er?“ Herr Coleman lächelte. „Öch habö kainö Ahnong.“ Charles packte ihn am Kragen und brüllte: „Hör zu, du alter seniler Tattergreis, spuck’s aus: Wo hast du meinen Kumpel versteckt, den du mir geraubt hast? Ich scheuer dir eine und wenn du zehn Mal mein Vater sein willst.“ Herr Coleman lachte höhnisch. Bumms, hatte er den ersten Schlag empfangen. „Main ßohn, üch möchte ös düa örklärin.“ „Wird’s bald?“ Herr Coleman verzichtete auf seinen Noblesse-Akzent und sprach: „Ich habe ihn nur am Gefängnis getroffen, ihn aufgeklärt und seitdem nie wieder gesehen.“ „Du lügst!“, rief Charles und holte zum nächsten Schlag aus. „Bitte, ich weiß es wirklich nicht“, jammerte Charles Vater in seiner Not. Der verzweifelte Gesichtsausdruck ließ Charles einsehen, dass es ihm ernst war. Er ließ von ihm ab. „Und Auflagen hast du keine weiter gestellt?“, fragte er. „Keine anderen, als die, die im Brief standen.“ Charles wendete sich zum Gehen. Eine Möglichkeit gab es noch. „Möchtöst du nücht noch zu ainem Töö blaibin?“ Charles winkte nur vom Weiten. Thomas lebte. Das spürte er. Und er wusste auch, wo er ihn fände. Und die Gewissheit.

15.Kapitel

Thomas hatte schon längst alle Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Charles über Bord geworfen. Das Foto in Hugos Haus hat er zusammen mit der Herzbubenkarte in den Schrank zu den anderen Fotos gesperrt. Zuerst wollte er diese Erinnerungsstücke zerreißen, aber Etwas in seinem Innern wehrte sich dagegen

So wurde Alles um ihn herum grau. Das Wetter ewig trübe, die Arbeit bereitete ihm keine Freude mehr, ja, er lebte nicht mehr – er funktionierte. Wie eine Maschine. Er hielt die Normen und alle Regeln ein und tat alles, was sein Chef Mr. Snyder von ihm wollte, dass er es tat.

Doch heute war sein vorletzter Tag. Nur noch morgen und dann – vorbei. Doch das ist nun auch nicht mehr so schlimm. Ein Kollege sagte ihm, dass Mr. Snyder ihn zu sehen wünsche. „Wieso? Ist heute Weihnachten? Bekommt heute jeder was er wünscht?“, gab er ihm trocken und lustlos zur Antwort und setzte sich in Bewegung. Richtung Büro.

„Schmidt“, begann Mr. Snyder. Er hatte sich aus irgendeinem Grund feierlich angezogen. Mit Anzug, Fliege und irgendwelchen Orden und allem saß er in seinem Sessel und streichelte er einen ausgestopften Fuchs in Ermangelung eines lebenden Haustieres. „ Sind der jüngste hier. Habe Sie ausgewählt. Heiraten meine Tochter. Ist schon einverstanden. Standesamtlich. Ohne viel Tamtam, natürlich.“ Thomas erwachte wie aus einem Dornröschenschlaf und wollte etwas einwenden, aber Mr. Jones brüllte ihn mit seiner greisenhaften Stimme zornig an: „Mr. Snyder lässt Ihnen eine große Ehre zuteilwerden. Bedanken Sie sich! Freuen Sie sich! Und nun zurück an die Arbeit! Los!“ „Aber…“ „Kein aber!“ Mr. Snyder legte der Wanze beruhigend die Hand auf die Schulter: „Lass hören, was sagen will.“

Thomas atmete tief durch und sprach: „Wertester Mr. Snyder. Ihr Angebot ehrt mich wirklich sehr. Doch Sie scheinen vergessen zu haben, dass ich wegen Vergewaltigung im Gefängnis saß. Mich quälen seitdem immer noch Albträume und ich traue mich auch noch nicht eine Frau anzusprechen, geschweige denn anzurühren, weil ich meine damalige Tat zutiefst bereue und verabscheue. Auch fühle ich mich nicht wert, zu einer Frau zärtlich zu sein. Enkelkinder werden Sie nicht von mir zu erwarten haben.“

Jetzt war es raus. Mr. Snyder und Mr. Jones schauten sich schweigend an – und brachen in helles Gelächter aus. „Er fühlt sich nicht wert eine Frau zu vögeln. Hahahahaha. Zu komisch. Ist anscheinend besseres gewohnt. Vielleicht liebt er ja auch nur Männer und das war ein Ausrutscher. Hahahahaha.“ Das Gelächter schwoll zu einem ohrenbetäubenden Lärm an. Ruckartig verstummte es. Mr. Snyder sah finster drein und sprach: „Hören zu! Morgen wird geheiratet. Keine Widerworte. Jetzt: Marsch! Raus! An die Arbeit!“ „Aber…“ „Raus, Nazi, raus!“, brüllte Mr. Snyder, sprang mit einem Tempo, das man ihm nicht zugetraut hätte von seinem Tisch auf und wollte Thomas eigenhändig hinauswerfen. Der war allerdings schon geflüchtet.

Wild schossen ihm Gedanken durch den Kopf: „Heiraten? Mit einer Frau zusammenleben? Ein Bett teilen? Vielleicht sogar Sex haben? Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht. In was für einen Horrortrip bin ich denn hier hineingeraten? Oh, Charles, Charles, wenn du mich doch jetzt in den Arm nehmen könntest, mich streicheln, so wie damals, als ich dich bat, zu mir zu kommen.“

Die Stunden vergingen schleichend. Er ging nach Hause. Er tat Alles. Er funktionierte.

16.Kapitel

Am nächsten Morgen klingelte es an Thomas‘ Tür Sturm. Als er verschlafen die Tür öffnete, traten Mr. Jones und mit ihm noch andere Herren in Frack und mit Monokel im linken Auge ein. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er wurde gewaschen, frisiert, rasiert, in einen viel zu weiten Anzug gesteckt und dermaßen einparfümiert, dass es im ganzen Hause nach einem Gemisch aus Rosen, Nadelwald und Aas „duftete“: Es stank erbärmlich. Dann wurde er in ein Auto geschubst, vor den Altar gestellt, wo er sein „Ja“ stammelte und eine Frau, die er noch nie zuvor gesehen hatte, küsste, nachdem man ihm eine Fußbank bereitgestellt hatte. Dann ging es unter dem Jubel und Bravo-Rufen des „kleinen Kreises“ von etwa 300 Leuten und Reisbeutelgeschossen in einem zur Hochzeitskutsche umfunktionierten Leichenwagen zurück zu seinem Haus, vor dem sie unsanft aus demselben gestoßen wurden. Das alles ging fast mechanisch von Statten. Es funktionierte. Wie er.

„Willst du mich nicht über die Schwelle tragen, mein Liebling?“, fragte ihn seine Angetraute. Immer noch in seiner nicht enden wollenden Trance verhaftet, wollte er „Nein!“ sagen, doch als er in der Ferne die Wanze mit den Presseleuten auf sich zu kommen sah, die genau diesen romantischen Augenblick festhalten wollten, besann er sich eines Anderen. Es war ihm egal. Alles war egal. Er war zu schwach und träge um irgendeine Gegenmaßnahme zu treffen. Es würde ja sowieso nichts bringen. Weder Freiheit und erst recht nicht Charles. Seinen Charles. Er stand vom Boden auf und half auch seiner Braut müheselig beim Hochkommen. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte er sie leise. Sie knickste und kicherte nur kindlich verlegen: „Ach, mein Liebling, du und deine Späßchen.“

Als die Meute von Fotografen angelangt war und es ans Über-die-Schwelle-tragen ging, sah sich Thomas seine Frau einmal genauer an – und schreckte aus seinem Dahindösen auf. Was um alles in der Welt war das? Eine Frau – Thomas hoffte inständig, dass es eine Frau war – von circa zwei Metern Höhe und Breite. Beine und Arme, die ihn an die Säulen der Akropolis erinnerten, nur viel aufgeschwemmter. Die dauergewellten blonden Haare glänzten wie Speckschwarten in der Sonne und schienen schon lange keinen Kamm mehr gesehen zu haben. Das größte Rätsel war vor Allem: Wo begann der Hals, der Busen, der Bauch, die Beine? Das Ganze war ein fließender Übergang aus zerfurchten Hügeln, die sie – dank des knappen weißen Tops und des viel zu kurzen Rockes, was sie offenbar als „modernes Brautkleid“ bezeichnete – öffentlich zur Schau stellte. Dabei tat sie noch zierlich, wie ein kleines Prinzesschen, dass jetzt allen Ernstes erwartete, von ihrem Traumprinzen, der neben ihr wie ein Streichholz wirkte, emporgehoben und sanft in das eheliche Bett gelegt zu werden. „Das sind ja die Alpen im unpraktischen Reisekofferformat“, dachte Thomas staunend bei sich.

„Ehem!“ Es war die Wanze, die Thomas aus seinen allegorischen Albtraum riss. „Genug bewundert?“, fragte er griesgrämig. „Können wir nun den Akt vollziehen?“ Verzweifelt versuchte Thomas seine Angetraute irgendwie zu fassen und hochzuheben. „Ach, mein Liebling.“, kicherte sie nur geziert. „Heb doch die Streicheleinheiten und das Kitzeln für nachher auf, mein Liebling.“ Die anwesenden Fotografen feixten. Endlich hatte Thomas Griff gefunden und hob das Walross im Schlafrock – wenn auch nur wenige Zentimeter – hoch.

Augenblicklich begann das Blitzlichtgewitter und es schien Ewigkeiten zu dauern. Gab es hier wirklich so viele Tageszeitungen? Thomas stiegen das Blut in den Kopf und der Schweiß auf die Stirn. Diese Frau schien immer schwerer und rutschiger zu werden. Er konnte sie nicht mehr lange halten. Und ständig rief dieser Gartenzwerg von Jones mit hochrotem Kopf: „Lächeln sollen Sie Schmidt, Sie gesichtsentgleister Volltrottel. LÄCHELN! Sollen wir Sie etwa noch extra zur Schönheitschirurgie schicken? Sie haben sie doch nicht mehr alle. Lächeln, Sie gehirnamputierter Affe. Das soll ein Lächeln sein? Das kann ja sogar ein Suizidgefährdeter besser als Sie, Sie Nichtsnutz, Sie…“ Und so weiter und so fort.

Endlich war auch der letzte Fotograf mit seiner Aufnahme zufrieden und trappelte in Richtung Redaktion. Als er weit genug weg war, drehte sich Thomas um 180 Grad, während Jones mit einem Taschentuch in der Hand gerührt daneben stand, und ließ sie mit einem zynischen „Hoppla!“ unsanft auf den Wohnzimmerfußboden fallen. Unbeholfen eilte Mr. Jones herbei, um der wilden weinenden weißen Winterberglandschaft auf die Beine zu helfen. „Wie können Sie es wagen?“, zischte er Thomas an.

Dem war das gleichgültig. Einerseits amüsiert, andererseits betrübt und kraftlos legte er sich in sein Bett. Kurz darauf kam auch seine Frau, die sich einigermaßen beruhigt hatte und den Zwischenfall für ein weiteres „Späßchen“ ihres „Lieblings“ hielt. Sie schloss zaghaft die Tür hinter sich, entkleidete sich bis auf ihre gelblich schimmernde Spitzen-Unterwäsche, die wohl einst weiß gewesen war, und ließ sich wie ein nasser Sack in das Bett fallen, ohne darauf zu achten, dass sie sich ausgerechnet auf Thomas‘ Arm legte. Das Bett quietschte und knarrte, als bräche es jeden Augenblick zusammen. Sie lächelte. Denn sie empfand es als liebevolle Umarmung. „Komm, mein Liebling“, sagte sie leise und zärtlich. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Thomas brachte vor Schmerz kein Wort zustande. Nur ein schmerzvolles Quieken kam aus ihm heraus. „Ist… die… Wanze noch da?“, presste er hervor. Seine Braut kicherte. „Du meinst Jonas Jones, mein Liebling? Ja, der ist noch da, mein Liebling. Der wird jetzt immer bei uns sein, mein Liebling. Damit du keine Dummheiten machst, mein Liebling“, sagte sie und tatschte mit ihren schwieligen Fingern auf Thomas‘ Brust herum. „Komm, mein Liebling.“ Dann stutzte sie.

„Ich werde es dir einfacher machen, mein Liebling“, sprach sie, stand auf und entledigte sich nun noch ihres BHs und ihres „Höschens“, wobei sie es wie bei einen Striptease erotisch in der Luft umherschwang. Thomas‘ Arm schien abgestorben zu sein – er ließ sich einfach nicht bewegen. Und da kam schon wieder diese Masse an Mensch geflogen, und wieder rauf auf seinen Arm. Thomas war den Tränen nahe und biss sich auf die Unterlippe. Seine Angetraute drehte sich zu ihm hin. Der Schmerz wurde unerträglich. „Mein Liebling, vergewaltige mich“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr. Thomas dachte er habe sich verhört und deutete auf seinen Arm. „Ach, entschuldige, mein Liebling“ sagte sie, stützte sich kurz auf und half Thomas seinen Arm hervor zu nehmen. Thomas stand auf, wendete dem Bett den Rücken zu und hielt seinen Arm, in den langsam wieder Blut floss, mit der anderen Hand fest.

Dann legte sich das Fräulein Braut in die Mitte des Bettes, spreizte ihre stolzen Beine, schloss die Augen und begann lustvoll zu seufzen. Als sich nichts rührte beziehungsweise nichts sie berührte fragte sie: „Wo bleibst du, mein Liebling?“ Der erwiderte bloß: „Ich werde nicht mit dir schlafen!“ „Das sollst du auch nicht, mein Liebling. Du sollst dir nur nehmen, was du willst und bekommst, mein Liebling.“ Nun wurde sie immer fordernder und wütender: „Liebe mich, wie du deine Cousine in jener Nacht geliebt hast, mein Liebling! Du toller geiler Hengst! Mein Liebling! Los! Vergewaltige mich! Sei hart! Nimm mich! Ver-ge-wal-ti-ge mich!“ „Das werde ich nicht tun!“, schrie Thomas in einem Gefühl aus Ekel und Verzweiflung zurück.

Wie auf ein Kommando sprang ein kleines nacktes Männchen mit einem übergroßen Penis – der wahrlich nicht für ihn geschaffen zu sein schien – zur Tür herein. Es war – Mr. Jones. Er erklomm die Frischvermählte und begann, nachdem er den Gipfel erreicht hatte, unter krächzendem Stöhnen mit heftigen Stößen sie zu befriedigen.

Angeekelt verließ Thomas das Zimmer. Er wollte es nicht hören und nicht sehen. Das Haus zu verlassen erschien ihm auch keine gute Idee, wer weiß was sie während seiner Abwesenheit sonst noch trieben. Aus dem Zimmer hörte man nur das zum Quieken übergegangenen Stöhnen Jones‘ und das Röcheln der dicken Braut. „Der Brunftschrei eines Walrosses und eine schlecht geschmierte Tür“, dachte Thomas belustigt und stellte sich ein Walross vor was immer wieder seinen Kopf gegen eine Saloon-Tür hämmerte. „Wie er überhaupt zwischen den ganzen Falten sofort die Richtige gefunden hatte?“

Nach etwa 6 Minuten war es dann vorbei. Das Ende war im Vergleich zum Ablauf sehr ruhig gewesen – es herrschte absolute Stille. „Hast du das gesehen, mein Liebling?“, schrie die Braut, schwer atmend wie nach einem 100-Meter-Lauf aus dem Zimmer. „Er hat es gemacht, mein Liebling. Er hat es geschafft, mein Liebling. Ich lieb dich nicht mehr, mein Liebling. Ich lass mich scheiden, mein Liebling. Sofort, mein Liebling. Jonas wird jetzt mein Liebling, mein Liebling. Denn er hat mich rangenommen, mein Liebling. Es war geil, mein Liebling. Er wird es wieder tun, mein Liebling. Denn sein Schwanz ist viel länger und besser, mein Liebling. Hast du das, du Schlappschwanz?“ Darauf stieg die Wanze ein: „Bestimmt ist er impotent. Hahaha. Nein, schwul. Hahaha. Nein, nein, impotent, schwul und ‚feingliedrig‘. Hahaha.“ Thomas schüttelte nur den Kopf. „So viel Dummheit auf einem Haufen“, dachte er bei sich und lachte lauthals über das Wortspiel. Das Lachen kränkte die Ausgepowerten. Sie entstiegen unter größter Kraftanstrengung dem Bett, dessen Beine sich nicht mehr in den Ursprungszustand zurückbogen, kleideten sich wieder an, wobei Thomas der Wanze die Kleider reinreichen musste und verließen Rübchen schabend, wie kleine Kinder, das Haus.

Als sich die Tür hinter ihnen schloss, atmete Thomas auf – und begann zu weinen. Es war vorbei. Sowohl dieses Martyrium, als auch die Arbeit. Nun stand er vor einem riesengroßen Nichts. Was sollte er machen? An wen sollte er sich wenden? Er kannte doch niemanden mehr. Sollte er sich auf die Suche nach Charles machen? Das war doch Irrsinn. Sicherlich liefen sie aneinander vorbei. Und auch wenn Charles auf der Suche wäre: Er käme bestimmt nicht hierher. Woher sollte er es denn auch wissen. Eine Annonce aufzugeben wäre auch zum Scheitern verdammt, da es anscheinend unzählige Zeitungen gab und Thomas nicht wusste, welche davon Charles las – wenn er überhaupt Geld dazu hatte, sich eine zu kaufen. Bestimmt hielt er ihn für tot: Neu auf der Straße und keine Ahnung von nix – die einzig logische Schlussfolgerung. Charles war wahrscheinlich in seine Straße zurückgekehrt und dachte nicht mehr an den Freund – eine Bagatelle für jeden normalen Menschen. Und Charles war ein kluger Mensch, warum sollte er sich also mit Belanglosigkeiten wie ihn beschäftigen? „Dreieinhalb Jahre auseinander, er hat noch andere Freunde, die ihn erwarten und hält mich für tot“, dachte Thomas. „Drei komplett logische und nachvollziehbare Argumente.“ Sein Blick verfinsterte sich. „Warum sollen auch nicht alle drei der Wahrheit entsprechen?“

Er erhob sich und durchsuchte das ganze Haus. Keine Schublade blieb unberührt, bis er fand, was er suchte.

17.Kapitel

Nun stand Thomas also da und warf einen letzten Abschiedsblick in den Bach seiner Erinnerungen. Er lächelte. Immer wieder nickte er und lächelte, als wäre er mit sich über irgendetwas im Klaren, was schön und erstrebenswert war. Dann erhob er seinen Blick und sah im unendlichen Blau des Himmels sich und Charles während der Ausgangs-Zeit im Gras liegen und miteinander lachen, während sie in den Wolken die verrücktesten Fabel-Wesen sahen.

Entschlossen erhob er die Hand, mit der er den Revolver umschlossen hatte und presste ihn gegen seine Schläfe, in der es wild wie in einem Vulkan vor dem Ausbruch brodelte, und schrie, während ihm die Tränen aus den Augen flossen: „Charles! Oh, mein Charles! Falls wir uns auf der anderen Seite sehen sollten, auch wenn ich weiß, dass Selbstmörder verdammt sind: Bitte verzeih mir! Bitte sei wieder so zärtlich, wie du es in jenen Tagen warst und vergib mir meine Fehler. Charles! Dort wird es besser werden. Dort werden wir uns wiedersehen, wieder in die Arme schließen. Wir werden weitergehen. Oh… vergib… mir… Charles!“

Sein ganzer Körper zitterte. Das Brodeln wurde immer schlimmer. Langsam rückte er die Hand noch einmal zurecht. In der anderen hielt er das Bild von Charles und sich fest umschlossen, welches er wieder aus dem Schrank genommen hatte.

Plötzlich berührte ihn etwas an der Hand. Er erschrak und wollte abdrücken, bevor er vollkommen den Verstand verlor. Doch… „Ich vergebe dir“, flüsterte ihm dieses Etwas ins Ohr und küsste ihm den Hals. Thomas glaubte, dass es eine Halluzination war. Es konnte einfach nicht sein. Er war doch so unwichtig, warum sollte Charles… Er glaubte sich dem Wahnsinn nahe. Er gab sich ihm hin.

„Charles“, entfloh es Thomas‘ Mund. „Ich bin doch da“, flüsterte diese Stimme, „Tu das uns beiden nicht an.“ Immer mehr ergab sich Thomas den Zärtlichkeiten. Es weinte immer mehr und schüttelte heftig den Kopf. Es konnte und konnte doch nicht sein. „Wirf die Waffe ins Wasser. Komm. Wirf sie weg.“ Es war doch eindeutig Charles‘ Stimme. Eine Hand streifte Thomas‘ Arm entlang, nahm ihm den Revolver aus der Hand und machte es selbst.

Thomas hatte sich entschieden: Auch wenn er diesen Traum nicht loslassen wollte, drehte er sich um – und sah Charles in die Augen. Nach dem ersten freudigen Schreck umarmte er ihn stürmisch und weinte sich aus. Den ganzen Dreck wusch er damit von seiner Seele, das ganze vergangene Leid, dessen er hier an dieser Stelle geklagt hatte und brachte kein Wort heraus. Er ergab sich einfach seinen Gefühlen, während Charles ihm den Rücken streichelte und seine Haare küsste.

Nach einiger Zeit hatte sich Thomas beruhigt und schniefte nur noch ein wenig vor sich hin. Doch er umarmte Charles immer noch mit aller Kraft, denn er wollte ihn nicht ein zweites Mal verlieren. „Woher wusstest du?“, fragte er. „Gar nichts wusste ich“, gab Charles ein wenig zu grob zur Antwort, fuhr dann aber weicher fort: „Tag für Tag kam ich hierher. Du hattest von diesem Platz immer so geschwärmt. Und ich habe gehofft. Habe gehofft, dass du hierher zurückkehrst, um dich auszusprechen und, dass auch ich in deinen Gedanken vorkommen werde. Aber Tag für Tag musste ich sehen, dass du nicht gekommen warst. Und Tag für Tag rauschte der Bach: ‚Morgen, morgen…‘ Nur das ließ mich nicht verzweifeln.“ Thomas drückte Charles noch fester an sich, sodass Charles schnippisch sagte: „Ganz ruhig.“ „Und nun bin ich… bist du da“, stammelte Thomas und ließ seine Hände auf Charles Hintern gleiten. „Nun beginnt das Leben.“ Charles unterbrach seine Streicheleinheiten, löste sich aus Thomas‘ Umklammerung und schaute diesen misstrauisch an. Thomas lächelte und blinzelte ihm zu. Er nickte, lächelte und erdrückte Thomas darauf fast mit seiner Liebe. „Leben“, seufzte er.

18.Kapitel

In dieser Nacht lagen sie sich nach langer Zeit wieder im Bett gegenüber. Sie genossen es die Haut des Anderen zu spüren, die Wärme, die vom Anderen ausging und der Geruch, den sie so vermisst hatten und der nun den ganzen Raum zu erfüllen schien. Kein Wort wurde gesprochen – ihre Hände sprachen für sie: Wie sie den Körper des geliebten Menschen wieder erforschten, streichelten, spürten. Ab und zu lachten sie leise, aus übergroßer Freude sich wieder zu haben. Was sie fühlten, konnte kein Wort der Erde ausdrücken.

Die nächste Zeit gestaltete sich, als wären sie neu geboren, ja, als hätten sie endlich eine zweite, ihre Chance bekommen.

Eines Tages stand Charles mit einem kleinen Bündel auf dem Arm vor der Tür – einen jungen Bobby. „Lässt du uns rein?“, fragte er mit Dackelblick. Thomas lachte wie ein kleines Kind am Heiligen Abend und umarmte ihn und hätte dabei voller Übermut fast den Welpen vergessen. Der wurde auf dem Boden abgesetzt und tapste nun unbeholfen in sein neues Daheim.

Ein anderes Mal kam er aufgeregt mit der Zeitung angelaufen. Thomas konnte aufatmen. Sein Stiefvater war gefasst. Später auch sein leiblicher Vater.

Auch hatte Thomas – auf Drängen Charles‘ – Kontakt zu seiner Cousine aufgenommen. Zuerst glaubte er niemals Antwort auf den ellenlangen Brief, den er geschickt hatte, zu bekommen. Wobei er sich immer noch wunderte, wo Charles so schnell die Adresse hebekommen hatte, da er sie doch gar nicht kannte. Doch nach einiger Zeit entstand ein reger Briefwechsel und nach einem Vierteljahr trafen sie sich das erste Mal und verstanden sich prächtig. Auch sprachen sie nicht mehr von jenem Abend. Sie hatten das Thema mehr als genug ausdiskutiert. Trotzdem musste Thomas‘ Cousine ihn immer wieder ermahnen, dass er sich nicht andauernd entschuldigen müsse und ihr auch deswegen keinen Gefallen schuldig sei. Charles schlug die Einladung einmal mitzukommen immer aus. „Ich will mich bei euch erstmal nicht weiter einmischen“, sprach er immer und immer argumentierte Thomas: „Aber du hast doch den Stein ins Rollen gebracht!“ worauf Charles nur geheimnisvoll lächelte, was Thomas immer dazu bewegte ihn zu umarmen.

Und jede Nacht lagen sie beisammen und erzählten sich, was sie den Tag erlebt hatten. An Morgen dachten sie gar nicht. Sie lebten einfach. Egal, was für ein Tag war und egal, was an Erledigungen anfiel. Und in jeder Nacht, bevor sie einschliefen, umarmten sie sich noch einmal ganz fest.

So auch in jener Nacht. Doch Thomas ließ vom Charles einfach nicht ab. Der fragte besorgt: „Stimmt irgendetwas nicht?“ Thomas antwortete nicht, ließ ein wenig locker und begann Charles‘ Rücken zu streicheln. Der wurde immer besorgter: „Hey, was los?“ Thomas hob den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich will ihn berühren.“ Und um zu zeigen, dass er es ernst meinte ließ er seine rechte Hand langsam an Charles Körper hinabgleiten. „Darf ich?“ Ohne zu antworten ergriff Charles Thomas‘ Hand und führte sie den Rest des Weges. Er wollte es mit ihm gemeinsam erleben.

Sanft umfasste Thomas Charles‘ erregtes Glied, das ständig zuckte. Seine Fingerspitzen berührten sich nur wenig und es stand noch ein großer Teil über. War das ein Schwanz! Thomas hatte es sich lange genug überlegt. „Willst du auch?“, fragte er scheu. Charles schüttelte den Kopf und sprach mit einem unterdrücktem Lachen um sein Anspannung zu überspielen: „Ich komm‘ noch früh genug dazu.“ Er hielt Thomas‘ Hand fest. Die ganze Zeit. Er wollte nicht, dass er weiterging.

Das spürte auch Thomas, dem es ein unbeschreibliches Gefühl war, einen fremden Penis in der Hand zu halten. Es jagte ihm wohlige Schauer über den Rücken und das Pulsieren entspannte ihn ein wenig und bestätigte ihm, dass er das Richtige tat. Er hatte ihn schon beim gemeinsamen Kuscheln gespürt, aber nicht so intensiv, wie jetzt. Ihm vielen die lächerlichsten Vergleiche ein, wie zum Beispiel eine flambierte Banane. Doch so lächerlich auch Thomas‘ Gedanken waren, so spürte er doch den Ernst, der dieser Situation innewohnte. Erst als Charles Hand sich von Thomas‘ loslöste und auf dessen Po ruhte, entspannte sich Thomas völlig. „Wenn doch die Zeit stehen bliebe“, dachte er. So hätte er sein ganzes restliches Leben daliegen können: Den immer noch heftig pulsierenden Penis in der Hand und Charles‘ Hand auf seinem Hintern. Auch den verließ nach und nach die Anspannung.

 

Doch jede Nacht hat leider ihr Ende und so auch diese.

Charles erwachte als erstes. Es bereitete ihm eine unglaubliche Freude Thomas schlummernd neben sich liegen zu sehen. Wie würde es weitergehen? Beziehungsweise: Würden sie weitergehen? Langsam schob er die Decke runter, sodass Thomas‘ ausgestreckte Morgenlatte zum Vorschein kam. „Mann“, dachte Charles. „Der Junge ist ja wirklich überall blond. Fällt mir Dummkopf erst jetzt auf.“ Er streichelte das goldene gelockte Schamhaar und spielte damit ein wenig herum.

Davon wurde Thomas wach und gähnte. „Guten Morgen, Goldlöckchen“, witzelte Charles. Thomas verzog schlaftrunken das Gesicht und lächelte: „Morgen.“ „Werd‘ ersteinmal wach. Ich koche Kaffee“, sprach Charles. Doch Thomas hielt ihn zurück, zog ihn an sich und umarmte ihn. „Ist die Nacht wirklich schon vorbei?“, fragte er immer noch benommen. Charles lachte. „So wie’s aussieht ja. Ich genieße es auch dich im Arm zu halten, wie du und läge hier auch gern den ganzen Tag…“ „Warum machen wir’s dann nicht?“, fragte Thomas, der nun so langsam zu sich kam. Charles lächelte und schüttelte belustigt den Kopf. „Träumer. Aber jetzt müssen wir wirklich so langsam.“ „Spielverderber“, gab ihm Thomas zurück.

Charles löste sich langsam aus der Umarmung, erhob sich und wollte sich anziehen. Doch Thomas schüttelte den Kopf und sagte schnell: „Machen wir’s anders…“ „Schon kapiert. Machen wir so“ antwortete Charles, zwinkerte Thomas zu, ließ das T-Shirt wieder fallen und ging nackt in die Küche um den Kaffee fertig zu machen. „Dass ich diesen Schwanz wirklich in meiner Hand gehalten habe…“, dachte Thomas und hob die Bettdecke hoch und sah an sich hinab. „Kann man glatt neidisch werden… Hm, Goldlöckchen…“

So liefen sie den ganzen Vormittag nackt im Haus herum. Immer wieder umarmten sie sich, nur um die Wärme des anderen zu spüren. Und, wie von einem Magneten angezogen, verirrte sich immer die Hand des Einen in den Schoß des Anderen. Charles streichelte dabei immer Thomas‘ Hoden, während Thomas Charles‘ Penis umfasste.

Doch Thomas wollte mehr und begann seine Hand auf und ab zu bewegen. Er wollte sehen und fühlen, wie es für Charles war, einen Orgasmus durch ihn, auf den er so lange gewartet und gehofft hatte, zu bekommen. Mit der anderen Hand führte er Charles‘ rechte Hand zu seinem Penis und hielt sie fest. Mehr wollte er noch nicht. Dazu war er noch nicht bereit. Sie hatten alle Zeit. Ein ganzes Leben. Wie kurz das doch ist. Charles sträubte sich nicht, denn er wusste nun, dass alles was Thomas tat, lange durchdacht war und nicht aus einer Laune heraus geschah. Er genoss es Thomas‘ Penis in seiner Hand zu spüren. Er war nicht ganz so groß und breit, wie sein eigener, aber er war ein Teil des Menschen, den er liebte. Er schloss die Augen.

Thomas‘ Blicke wechselten zwischen Charles‘ Gesicht und dessen Penis, den er langsam massierte. Charles atmete schwer und leckte sich die Lippen. Seine Stirn zog sich in Falten und entspannte sich wieder. Thomas sah, dass seine Lider zuckten und gab ihm einen Kuss, den er erwiderte. So hatte er sich das vorgestellt. Er nahm Charles‘ linke Hand und legte sie auf seinen Po, so wie in der letzten Nacht, und widmete sich nun völlig dem Liebkosen des Penis. „Ach… Tho… mas…“, seufzte Charles.

Das war für Thomas wie ein Zeichen und er zog die Vorhaut vollständig zurück. Er betrachtete die glänzende Eichel, welche sich ihm offenbarte und immer wieder nickte. Vorsichtig streifte er immer wieder mit zwei Fingern über die glatte Oberfläche und ein Zucken ging durch Charles‘ Körper.

Thomas begann wieder gleichmäßig seine Hand auf und ab zu bewegen und jedesmal, wenn er dabei Charles‘ Eichel berührte, zuckte der und knetete seinen Hintern. Charles presste Thomas‘ Penis. Er war bereit zu kommen. „Küss mich“, flüsterte er. Und als sich ihre Lippen berührten durchzuckte es Charles noch einmal und Thomas fühlte etwas Warmes seine Hand entlanglaufen. „Danke“, flüsterte er Charles zu. Dieser küsste ihn nur und atmete tief.

19.Kapitel

Nach dem Mittagessen ging Thomas „nur mal kurz los“. Das war Charles schon gewohnt. Meist klapperte Thomas bei solchen Gängen alle möglichen Läden ab, um irgendeine Kleinigkeit als Geschenk für ihn mit nach Hause zu bringen. „Hat er immer noch nicht verstanden, dass er das größte Geschenk für mich ist?“, dachte er bei sich und sah dem Hintern nach, den er eben noch so zärtlich berührt hatte und der ihm Sicherheit gegeben hatte. Sicherheit, dass Thomas alles aus tiefstem Herzensgrunde getan hatte und nicht um ihm einen Gefallen zu tun. Am liebsten wäre er Thomas hinterhergerannt, hätte ihm die Hose runtergezogen und seinen Po geküsst. Als Dank für das Vertrauen.

Charles zog sich nun auch an und ging los, wie jedesmal, wenn Thomas unterwegs war, um ihm Blumen zu kaufen. Eigentlich wollten sie ja das Geld genauso ausgeben, als wenn sie keins hätten – also nur für das Wichtigste – denn das hatte Hugo auch getan. Der hatte nämlich die Millionen auch nur geerbt, wie aus einer Urkunde hervorging, die sie in einem großen Stapel loser Blätter gefunden hatte. Und trotzdem war er noch arbeiten gegangen – was ihm dann schließlich zum Verhängnis wurde.

Nach 3 Stunden kam Charles mit einer sorgfältig ausgesuchten roten Lilie nach Hause. Kein Blumenstrauß der Welt konnte seiner Meinung nach die Größe der Erlebnisse und der Gefühle, die er damit verband, ausdrücken. Dieses Mal war er sogar früher da, als Thomas, was größten Seltenheitswert hatte. Wahrscheinlich hatte er sich irgendwo festgequatscht, oder konnte sich nicht entscheiden, was er holen sollte, da er die Läden schon so oft durchsucht hatte und die Auswahl sich nur in seltenen Fällen änderte. „Vielleicht ist er sogar zum Juwelier gerannt“, dachte er, doch dann wurde sein Gesicht ernst.

„Gleich verloben, nur weil er mir einen Orgasmus beschert hat?“, sprach er leise vor sich hin, während er die Lilie in einer Vase auf den Tisch stellte. „Klar, wär das schön. Aber genauso klar ist doch auch, dass wir niemals heiraten können, da es hier nicht erlaubt und damit nicht möglich ist. Als wäre das eine andere Art von Liebe. Es ist doch das gleiche Gefühl, das gleiche Erlebnis, welches ewig dauern soll und uns so glücklich macht und unser Herz und unser Leben erfüllt. Nur weil wir dem Staat keinen Nachschub an Kanonenfutter bringen?“

Er schüttelte den Kopf. Er wollte sich wieder auf Thomas konzentrieren. Charles hatte ihm noch nichts von Rob erzählt. Sollte er? Was würde er damit riskieren? „Was würde Thomas von mir denken? Dass ich für einen Blowjob alles tu?“ Das war doch die Vergangenheit! Und mit Thomas wollte er doch im Hier und Jetzt zusammenleben. Waren sie überhaupt richtig zusammen? Das fühlte sich alles noch so halb und so verschlossen an, trotz des gemeinsamen Schlafens und der Erlebnisse des Tages. Er schloss die Augen und dachte daran, wie zart Thomas seine Eichel gestreichelt hatte. Aber was fehlte ihm denn noch? Was? Dass es ausgesprochen wurde, dieses einfache „Ich liebe dich.“. „Es ist bestimmt grade alles sehr neu und verwirrend für ihn. Alles kam bis jetzt von ihm selbst. Und heute war es auch schon viel. Also: abwarten. Es ist seine Entscheidung. Hauptsache, sie fällt zu meinen Gunsten aus. Gibt es eigentlich noch ein zurück? Für Ihn? Für mich?“, sagte er vor sich hin, während er sich wieder auszog. „Ach was. Fass dich an den Kopf Charles, du Zweifler, du! Er wird’s wissen, wie’s weitergeht. Er wird weitergeh‘ n. Mit oder ohne dich. Vielleicht macht er sich auch grade seine Gedanken. Vielleicht…“ Er schaute auf seine mitgebrachte Lilie. Sie schien ihm fast ein wenig zu kläglich, so wie sie da einsam in der Vase stand. Aber sie hatte ja ihren Grund, ihren Inhalt, ihre Berechtigung in die Hände von seinem Thomas zu gelangen, der ihm heute so viel gegeben hatte. Voller Erwartung setzte sich Charles auf das Sofa und schaute zur Tür.

20.Kapitel

Inzwischen war es dunkel geworden und Charles war, vor Kummer weinend, auf dem Sofa eingeschlafen, da öffnete Thomas sachte die Tür. Mit ihm trat eine brünette Frau ein, die eine Taschenlampe in der Hand hielt. „Pssst“, wisperte Thomas. „Mein Baby schläft schon.“ Die Frau kicherte, beleuchtete den nackten Charles und flüsterte: „Wie niedlich er aussieht. Aber ganz schön sexy. Raur. Bei dem ist das ganze Jahr Sommer. Kann er wirklich so zupacken, wie er aussieht? Bestimmt. Ich beneide dich. Warum müssen hübsche Männer eigentlich immer schwul sein?“ Thomas lief es eiskalt den Rücken runter. So ganz hatte er sich an diese Bezeichnung noch nicht gewöhnt. Aber das kam bestimmt mit der Zeit, denn nun war er es ja auch, und das gern. In der Schule hatte er das Wort immer als Beleidigung gebraucht. Missbraucht. Das tat ihm jetzt im Nachhinein leid. Er zuckte mit den Achseln. Ob Charles wohl je daran gedacht hatte mit einer Frau zu schlafen? Er war doch wirklich ein Adonis und bei seinem fast gewaltigen besten Stück… In dem Augenblick leuchtete die Frau dorthin und betrachtete den steifen Penis – schwieg aber. Thomas sah sie von der Seite an. Schweigend gingen sie in die obere Etage, gradewegs ins Gästezimmer.

Von dem lauten Knarren der Stufen erwachte Charles. Hatte ihn Thomas nicht gesehen? Wo war er so lang geblieben? Hatte er ihn nicht auch sehnsüchtig vermisst? Und was wollte er im Obergeschoss?

Er stieg die Stufen empor. War das nicht eine Frauenstimme? Also war er nicht allein. Vielleicht war es ja nur seine Cousine. Aber warum gingen sie nicht ins Arbeitszimmer, da gab es doch mehr Platz und einen ordentlichen großen Tisch, an dem man sich besser unterhalten konnte. Im Gästezimmer waren doch nur ein Nachttisch, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl und ein… „Ein Bett“, dachte Charles entsetzt. Ihm war, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Aber, nein, es konnte doch nicht sein, dass… Immerhin war es doch heute Vormittag so… Und in der Nacht… Er hatte doch… Er genoss…

Hatte Thomas etwa nur vergleichen wollen, was besser war: ein Busen oder ein Schwanz? Hatte er den Vergleich verloren? Das wäre doch zu kindisch! Hatte sich doch Thomas vor ein paar Monaten das Leben nehmen wollen, weil er seinen Charles verloren glaubte. Er hatte doch den Himmel angefleht, ihn ihm wiederzugeben. Und die kleinen Geschenke, und die Liebkosungen, und dann die Nacht, der Morgen, der Vormittag… Alles nur Maskerade?

Charles wollte die Tür aufreißen, aber ein letzter Funke Vertrauen zwang ihn, Ruhe zu bewahren, wie betäubt die Treppen hinabzusteigen und zu warten. Wie die letzten dreieinhalb Jahre. Warten. Auf dass sein Thomas zu ihm käme, ihn umarme und alles auflöse. Hoffentlich wird er kommen. Hoffentlich.

 

Während Charles sich im Wohnzimmer den Kopf zerbrach, herrschte im Gästezimmer eine rege Unterhaltung.

Thomas war den ganzen Tag auf der Suche nach einem passenden Kleinod gewesen. Alle möglichen Läden hatte er abgesucht. Sogar einen solchen, wo sich Hugo anscheinend seine Staubfänger gekauft hatte. Heute wollte er Charles endlich seine Liebe gestehen. Es musste sein, denn es war so viel Schönes passiert und er wusste, dass sein Charles es schon sehnsüchtig erwartete. Er wollte Gewissheit. Und die wollte er ihm geben. Ein ganzes Leben lang. Für immer. Egal was auf sie zukäme.

Allerdings war es für Thomas doch leichter gesagt, als getan. Deswegen hatte er auch seine Cousine, die ihm schon in manchen Situationen zur Beraterin geworden war, um Hilfe gebeten. Immerhin musste sie ja wissen, wie man das bei Männern anstellt, auch wenn sie noch nicht allzu viel Erfahrung in solchen Dingen hatte, wie sich im Verlaufe der Unterhaltung herausstellte.

Bei Frauen stellte Thomas sich das ganz einfach vor: Ich-liebe-dich – Ring – Kuss – Sex: Fertig. Aber bei einem Mann…

Und Thomas‘ Cousine gab sich alle erdenkliche Mühe, Thomas einen guten Rat zu geben. Manche Hirngespinste waren darunter. So schlug sie ihm zum Beispiel vor, es ihm beim Fallschirmspringen zuzurufen. Das aber war Thomas zu langwierig. Es musste doch eine einfachere Lösung geben. „Vertrau‘ einfach auf dein Gefühl“, hatte sie schon mehrere Male gesagt. Bloß das war grad ein riesengroßes Durcheinander. Sollte er abwarten, bis es sich beruhigt hatte? Sollte oder konnte er Charles noch warten lassen?

Am liebsten hätte er sich die Worte „Ich liebe dich.“ mit Schlagsahne auf den Körper gesprüht und es von Charles ablecken lassen, so wie er es schon irgendwo gesehen hatte. Aber war das nicht ein Bisschen zu aufdringlich? Aber konnte das ihm nicht egal sein? Würde Charles es doch sicherlich doppelt genießen und ihm die frohe Botschaft gleich noch besonderer und süßer machen, als sie ohnehin schon für ihn sein würde. Thomas stellte es sich schön vor, die nasse Zunge und den heißen Atem auf seinem Körper zu spüren.

Bei diesen Gedanken fiel Thomas wieder der Schlafende ein, um den es sich hier eigentlich drehte und der immer noch sehnsüchtig auf ihn wartete; vielleicht auch mit einer kleinen Überraschung. Er dankte seiner Cousine für die „Aufopferung ihrer kostbaren Zeit“ und geleitete sie zur Tür. Dort verabschiedeten sie sich und gaben sich die Hand.

Kaum hatte Thomas die Tür hinter seiner Cousine geschlossen, ging das Licht an. „Ach du bist’s“, sagte Thomas aufatmend. „Hast du mich erschreckt.“ „Ja, ich bin das. Hattest du jemand anderen erwartet oder bist du nur überrascht, dass ich wach bin und deinen nächtlichen Besuch bemerkt habe?“ Mit verschränkten Armen lehnte Charles an der Wand und musterte seinen Freund. Es kostete ihm viel Mühe nicht in Tränen auszubrechen. Die Situation war einfach zum Heulen.

„Achso, das war nur meine Cousine“, versuchte ihn Thomas zu beschwichtigen. „Das war nur meine Cousine“, äffte Charles ihn nach. „Bestimmt. Hat es wohl vermisst von dir ordentlich durchgevögelt zu werden. Kannst ihr ja sagen: Ich hab mehr zu bieten!“ „Na, hör mal!“ „Nein, jetzt du mal zu! Jahrelang habe ich gewartet. Immer nur gewartet. Und heute seh‘ ich dich mit einer Frau hier reinspazieren. Und du übersiehst mich einfach. Was sollte dann das alles heute? Wolltest du mir unnötige Hoffnungen machen? Glückwunsch! Ziel erreicht! Kannst dir auf die Schulter klopfen. Hast fein gemacht. Kriegst ‘nen Keks. Und was hast du jetzt davon? Als hätte es nicht gereicht, dass ich schon zweimal von geliebten Menschen verraten wurde… Nun auch du!“ Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Zweimal?“, fragte Thomas wütend. „Wie meinst du das? Was hast du zu verheimlichen? Wer war noch vor mir? Und waren es schon mehrere? Raus mit der Sprache, wenn wir schon mal dabei sind…“

Charles erstarrte. Eine ganze Flut von Gedanken überfiel ihn, unter welcher er zusammenbrach. Thomas, der nicht wusste, was er mit dieser Frage angerichtet hatte, eilte hinzu, ergriff seine Hände, küsste sie, kniete sich vor ihm und sagte leise zu ihm: „Ach, Charles. Mach’s mir doch nicht noch schwerer, als es so schon für mich ist. Das war wirklich nur meine Cousine, die ich um Hilfe gebeten habe, weil ich…“ Charles schaute zu ihm auf. Thomas schloss die Augen und küsste ihn zärtlich.

„Ich liebe dich“, seufzte Thomas. „Ich wusste nur nicht, wie man das am besten zu einem anderen Mann sagt. Es ist doch noch alles so anders, so neu für mich. Aber es fühlt sich auch so gut an. Ich liebe dich, Charles, von ganzem Herzen. Ich liebe dich. Es ist so schön, es dir endlich zu sagen. Den ganzen Tag hab ich überlegt, doch eigentlich gab es nie etwas Einfacheres und Schöneres: Ich liebe dich, mein Charles. Mein allerliebster schw… schwuler Charles. Ich will nur noch dich allein und ich hab…“ Er richtete sich auf und kramte in seinen Taschen umher. „Ich hab den hier für dich geholt.“ Und er reichte Charles einen schlichten glatten Goldring. „Ich liebe dich. Und ich brauche und will nichts anderes als dich, deine Liebe und deine Zärtlichkeit. Bitte glaub mir doch.“

Thomas kniete wieder nieder und küsste den immer noch stumm dasitzenden Charles.

Der hatte sich das alles anders vorgestellt, romantischer, nicht so aggressiv. Liebe ist doch etwas Schönes und sie hatten sich hier angebrüllt. Er betrachtete betrachte den Ring, den er zwischen dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand hielt, umklammerte ihn mit seiner Faust und begann zu weinen. Er nahm den Ring in die linke Hand und streckte Thomas die rechte entgegen, damit er ihm Aufstehen helfe. Der ergriff die Hand, zog den weinenden Charles hoch und umarmte ihn.

„Ich liebe dich“, flüsterte Thomas ihm ins Ohr. „Alles ist gut. Ich bin bei dir. Ich werde dich nicht verraten. Ich verlasse dich nicht.“ Statt etwas zu sagen ließ Charles den Ring fallen, nahm Thomas Kopf zwischen seine beiden Hände und küsste ihn innig. Das war der Moment auf den er gewartet hatte: Endlich hatte er die volle Gewissheit und konnte sich ihm uneingeschränkt hingeben. Er sah ihn an und umarmte ihn dann wieder. Er genoss, den Geruch, den er im Gefängnis fast vergessen hatte und ein Traum war für ihn endlich Wirklichkeit geworden. Alles andere zählte nicht.

„Gefällt er dir denn gar nicht?“, fragte Thomas. Charles schüttelte den Kopf und sagte: „Ich hab doch dich. Was soll ich da mit kaltem Metall und Edelstein, wenn ich deinen warmen, weichen Körper habe, der mir doch viel mehr wert ist als alles andere auf der Welt?“ Thomas löste sich langsam aus der Umarmung und lächelte Charles an. „Hast du dir das grade ausgedacht?“

Charles küsste ihn einfach. Damit war genug gesagt. Und jeder Kuss war wie ein Versprechen, dass er immer und immer wieder bekräftigen wollte. Unter ständigem Küssen knöpfte er Thomas das Hemd auf und zog es ihm aus. Er umarmte ihn, als wäre dies ein anderer, besserer Thomas als der, der am Vormittag das Haus verließ. Thomas zitterte vor Freude. Auch für ihn war diese Umarmung eine andere: sie war ganz und vollkommen. Sie waren eins geworden.

Als töne von Ferne Musik begannen sie, den anderen immer noch fest umarmt ihre Körper hin und her zu wiegen. „Ich tanze mit die in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe. Die Erde versinkt und wir zwei sind allein, in dem siebenten Himmel der Liebe“, klang es herüber. Die Zeit gehörte ihnen.

Charles hörte auf zu schaukeln und küsste Thomas, dessen gesamter Körper zu vibrieren schien. Dann küsste er seinen Hals und öffnete dabei dessen Hose, aus der der steife Penis hervorschnellte. Charles zog die Hose herunter und umfasste ihn. War er in der kurzen Zeit größer geworden? Sicherlich war das Thomas‘ Erregung zuzuschreiben. Er war für alles bereit, denn er wusste, dass sein Geliebter ihm nie schaden würde. Er wusste ja noch nicht, was das genau hieß, schwul zu sein.

Langsam bewegten sich Charles Lippen an Thomas hinab zu seinen Nippeln, die steif auf dessen Brust prangten und die er mit seiner Zunge umspielte. Thomas seufzte tief. Soetwas hatte er noch nie gespürt. Charles zog Thomas die Vorhaut zurück und streichelte, wie dieser es getan hatte, die glatte Eichel. Seine Küsse gingen immer tiefer. Am Bauchnabel verweilte er noch einen Augenblick. „Mach weiter“, bat ihm im Flüsterton Thomas.

So zog Charles mit seiner Zunge langsam und in Schlängellinien eine Spur hinunter zu dessen Schamgegend.

Dort zog Charles den Kopf zurück und betrachtete das aufgerichtete zuckende Glied, das ihm entgegenstrebte. Das blonde gelockte Schamhaar, das er am Morgen noch gestreichelt hatte, war weg.

„Hey“, sagte er schelmisch, „du hast mir mein Spielzeug weggenommen.“ Thomas sah etwas erschrocken drein: „Es wächst ja wieder nach. Ich dachte, dass das so sein muss, weil’s bei dir auch so ist.“ „Ich mach‘s für mich, weil es so schön und angenehm finde. Orientier‘ dich nicht an mir. Mach, was du fühlst“, sagte Charles und umfasste Thomas‘ Penis mit beiden Händen. „Und? Was fühlst du?“, fragte er ihn. Thomas lächelte auf ihn hinab und sagte: „Dass du mein bist und ich dein und, dass das alles hier, du und diese Gefühle das Richtige sind. Das, was ich mir immer gewünscht habe und ich nie mehr missen will.“

Charles küsste die noch rötlich entzündete Haut und Thomas‘ Hoden, wo vorhin noch ein blonder Wald war. Er spielte mit seiner Zunge am Hodensack, der schlaff hinunterhing, während er mit seinen Händen Thomas‘ Hintern massierte. Er erhob sich noch einmal, um Thomas zu küssen und an dessen Nippeln zu saugen und unter einem Seufzer ließ Charles Thomas‘ heißen pulsierenden und vor Erregung nur so strotzenden Penis in seinen Mund gleiten.

Thomas stockte der Atem. Ein Cocktail aus Liebe, Lust, Glück, Freude und endlosem Vertrauen bahnte sich den Weg durch seine Adern. Er fühlte: Er war angekommen. Die schlimmen Zeiten waren endgültig vorbei. Es konnte nur noch besser werden. das war sein Leben. Aber er konnte nicht weiterdenken, denn ihm vergingen die Sinne. Der Mann, den er liebte, aus tiefstem Herzensgrunde und für immer liebte, auf den er jahrelang entbehrungsvoll gewartet hatte, saugte an seinem Schwanz und umspielte seine Eichel mit der Zunge.

„Ich liebe dich“, seufzte Thomas befreit, worauf Charles‘ seinen Hintern nur noch stärker massierte und seufzte. Für ihn war es alles wie ein Traum. Wie ein Traum, der hoffentlich nie aufhören werden wird. Da ging ein Ruck durch Thomas‘ Körper. Er schrie leise auf, presste Charles‘ Kopf gegen seinen Körper und sein Penis entlud sich in Charles‘ Mund. Noch lange behielt Charles Thomas’ erschlaffenden, tropfenden Penis in seinem Mund und saugte an ihm und noch immer massierte er Thomas‘ Po, um das Erlebnis, den Orgasmus und diese Gefühle für ihn so lange wie möglich zu erhalten. Für ihn war Thomas seine Erlösung, die lang ersehnte wahre Liebe. Bei ihm war er zu Hause...

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Tag der Veröffentlichung: 01.08.2013

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