Viele bezeichneten sie als Freundinnen, diese vier Frauen, nicht als Mutter und Töchter, die sich auch jetzt, nachdem die Töchter das Elternhaus verlassen hatten jeden Donnerstagabend trafen, zum Reden, zum Gedankenaustausch. Ja, sie waren für einander da, wenn jemand Hilfe brauchte, im Haushalt, bei Krankheit oder in Schul- bzw. Ausbildungsangelegenheiten, und doch erkannten sie gerade die Hilfe nicht, die so nötig gewesen wäre, um das Glück in ihrer Mitte wohnen zu lassen.
Julia, die Stiefmutter von Kerstin 22 Jahre, Carola 21 Jahre und Stefanie 20 Jahre alt, hatte zu diesem Abend, der ein Dienstag und kein Donnerstag war, geladen.
Allein dieser Umstand regte in den drei jungen Frauen den Traum von der Enthüllung eines Geheimnisses an, ob Julia nun doch schwanger war, aber mit 47 Jahren war das eher unwahrscheinlich. Die drei wussten wie sehr der Vater sich ein Kind mit der Frau, die ihn nach dem Tod ihrer Mutter aufgefangen und wieder Licht in sein Leben gebracht hatte, wünschte. Aber sie erinnerten sich auch daran, dass sie selbst davor immer Angst gehabt hatten. Sie waren noch sehr klein als die Mama damals in den Himmel zog, Stefanie war gerade mal drei gewesen. Lange Zeit lag Dunkelheit und Stille über ihrem Haus, der Vater betrachtete die Bilder der Mutter, die Töchter jedoch nicht. Erst als Julia zu ihnen kam verzog der Nebel sich, jedoch ohne die Erinnerung an die Mama mitzunehmen, ihr Platz war nie leer. Allerdings verstanden alle es Julia auf diesen Platz zu heben, wenn es notwendig war.
Die drei gaben sich gerade ihren mehr oder weniger sündigen Gedanken hin, als Julia mit den Getränken auf einem Tablett, den Raum betrat und verkündete:
„Es ist Zeit für mich zu gehen, und ich möchte, dass ihr es wisst.“
Sie sagte dies so leicht, als wäre es das Normalste der Welt, doch die gesenkten Blicke derer an die diese Worte gerichtet waren, erzählten etwas anderes.
„Wie?“, kam es da hauchzart aus der hintersten Ecke. Zerstörte doch dieser gerade so lapidar hin gesprochene Satz eine lang aufgebaute Scheinwelt.
„Ich, meine ich werde nicht nur euren Vater verlassen, ich werde gehen, auch aus diesem Leben, das nicht zu mir passt, das ich mir einfach angezogen habe.“
Sie machte eine Pause, nahm stumm das Schulterzucken ihrer Töchter, das wie spitze Pfeile schmerzte, entgegen.
„ Manchmal frage ich mich, warum nie jemand von euch zu mir gesagt hat wie lächerlich ich darin aussehe. Aber keine Angst, ich werde es nicht in die Altkleidersammlung werfen, und euch, die ihr dazugehört gleich mit, nein ich werde es zwischen Mottenkugeln und Pergamentpapier in der Schatztruhe meiner Zeit verstauen.“
„Bist du dir sicher?“
Carolas Frage kam hart und ein wenig vorwurfsvoll, doch ihr Blick verriet auch Verständnis für das Dilemma, in dem die Gefragte steckte.
„Sicher? Nein. Aber ich glaube es ist der einzige oder wenn du willst mein einziger Weg...“
Julias Stimme hüllte die Worte in eine so sanfte Melodie, dass man den Eindruck hatte sie schwebten im Raum, schaukelten sich leicht ins Ohr, tropften von dort fast zärtlich auf Herz und Seele. Man konnte ihr nicht böse sein, einzig der Wunsch zu verstehen, genährt durch die eigenen Tränen, ließ eine Knospe erblühen.
„Weißt du , manchmal denke ich, es gab eine Zeit, da trug der Papa den Hauch einer Ahnung in sich, wohin der Flug der Schmetterlinge in meinem Bauch gehen sollte.“
„Ich glaubte immer er wüsste es ganz genau!“, meinte Kerstin, und versuchte durch kräftiges Nicken ihren Worten Beharrlichkeit zu verleihen.
„Nein. Aber es ist nicht seine Schuld, auch nicht warum er nie versuchte die Richtung herauszufinden.“
„Was tat er dann?“
Carola runzelte die Stirn, wenn Julia sich in ihrem Leben nicht wohl fühlte, wo lag die Tat verborgen, die dies Gefühl auslöste?
„Er fing sie ein, breitete sie aus, presste sie unter Glas, um ihre Schönheit von allen Seiten sichtbar zu machen, einer nach dem anderen, versah sie mit dem Siegel: Ich liebe dich 1, ich liebe dich 2, ich liebe dich 113, und so weiter.“
Unter die Melancholie, die sich seit Jahren bei ihr heimisch fühlte, mischte sich nun leichte Erregbarkeit, die sie jedoch lebendig erscheinen ließ.
„Ja, ich erinnere mich daran, wie wir als Kinder oft kicherten, wenn Papa dir sagte dass er dich liebt, mit einem Glanz in den Augen, deren Strahlen Bänder um dich banden...“
Kerstins Stimme verlor an Glanz, als ihr die bewusst wurde, was sie gerade entdeckt hatte, dennoch fügte sie „als Jugendliche war es uns dann peinlich“, an und schlug die Lider nieder.
„Und habt doch genau wie ich nicht bemerkt, wie den drei schönsten Worten Dornen wuchsen.
Ich liebe dich“
Julias Stimmorchester hatte einen anderen Ton angeschlagen, dunkle Traurigkeit beschwerte ihre Worte, die klirrend auf den Boden fielen und dort verweilten, als warteten sie darauf zusammen gekehrt und wieder an ihren für sie bestimmten Platz gebracht zu werden.
„Aber,... wieso war es da nicht zu Ende?“
Wollte Carola wissen.
„Nun ja, es waren viele Schmetterlinge da, die weiter flatterten, die ihn auch mitnehmen wollten, in ein Leben voller Bewegung, sich nicht umdrehen, wenn der Wind von vorne kommt, auch mal in den Regen schauen. Also versuchte er, wenn du so willst den Anführer meines Schwarms ausfindig zu machen, deckte ihn zu, mit allem von dem er glaubte, das es ihn glücklich macht, um ihn zum Stillstand zu bewegen, ein Glas über ihn zu stülpen, das man irgendwo hinstellen konnte, sagen, seht meinen Schatz... und wissen morgen ist er auch noch da, egal was ich tue oder auch nicht.“
Die Gänsehaut, die den anderen nun über den Rücken kroch, löste eine seltsame Anspannung aus, unwillkürlich wurde über nackte Unterarme gestrichen, Haarmähnen geschüttelt, setzten sich Erinnerungsfetzen zu Bildern zusammen:
Julia beim jährlichen Mütter-Schulsackhüpfen, Julia beim Kuchenwettbewerb,
Julia mit Pokalen... ohne Freundinnen,
Julia ohne Julia Ideen.
„Er putzt sie blank, diese Kästen, so dass jeder fasziniert davor steht, geblendet zusieht wie ich, nein, nicht ich, sondern nur der seines Schatzes würdige Teil, konserviert wird.“
Scharf wie die Klinge eines Messers durchschnitten ihre Worte die Atmosphäre.
„Weiß er es?“
Es war so ein zartes Lächeln, das sie in die Runde goss, sodass die Damen sich beinah an das erste Sonnenlicht, das nach einer herrlich durchliebten Nacht, verträumt durch die Gardinen streicht, erinnert fühlten.
„Solltest du nicht mit ihm reden, versuchen es ihm klar zu machen?“
Die leichte Naivität, die in ihren Worten lag bemerkte Stefanie nicht, auch nicht als Julia einwarf, geredet habe sie immer wieder, jetzt ist Zeit zum Handeln.
„Er wird dies nicht überleben“, gab Kerstin zu bedenken.
„Doch“, flüsterte Julia und schenkte ihrer Stimme einen Hauch von rosa, das sanft den Nebel, der ihre Worte umgab auflöste, „das wird er, nur wird er nie den Feind erkennen, der in seiner Liebe steckt.“
„Feind?“, fragten die drei fast gleichzeitig.
„Wer im Namen der Liebe einem Schmetterling die Flügel bricht, wie würdet ihr es nennen?“
Betroffen schwiegen die jungen Frauen, hatten sie es doch auch getan.
©Angela Redeker
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2008
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