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Chapter 1

to see

Als es an der Tür klopfte, rollte sich Lýan Witherit auf den Rücken und blickte zu der dunklen Holzdecke. Es war morgens und wie gewohnt holte Lýans beste Freundin sie ab, um gemeinsam mit ihr zur Schule zu gehen. Es klopfte wieder - nur dieses Mal etwas lauter.
"Ich komme ja schon! Einen Moment!" rief das schwarzhaarige Mädchen Richtung Tür und schwang sich aus ihrem warmen, weichen Bett, das mit blauer Wolkenbettwäsche bezogen war. Lýan fand diesen Bezug ziemlich kindisch, aber sie hatte nur diesen und einen grauen, der sich momentan leider in der Wäsche befand.
Schnell zog sie ihr weißes T-Shirt aus und dafür ein schwarzes, abgetragenes Sweatshirt an. Nun ging sie an die Tür.
"Morgen. Schön dich auch mal wieder zu sehen", wurde sie von einem Mädchen mit dunkelblonden, kinnlangen Haaren begrüßt.
"Hey, Cassy! Komm rein", entgegnete Lýan und machte sich schon wieder auf den Weg in ihre Wohnung, die aus einem geräumigen Schlafzimmer, einer kleinen Kochnische und einem Bad bestand. Sie setzte sich auf ihr Bett und wühlte in einem Berg Wäsche nach einer geeigneten Hose, bis sie schließlich eine braune fand.
"Ich versteh nicht, wie du diesen Typen nur mögen kannst." Cassedy hatte sich inzwischen vor den mannshohen Spiegel gestellt und betrachtete das Foto eines Jungen, das im Rahmen des Spiegels steckte. "Zugegeben, er sieht ganz niedlich aus, aber er ist manchmal schon merkwürdig."
Lýan schlüpfte in ihre weite Hose, schloss den Knopf- und Reißverschluss und verhinderte mit Hilfe eines breiten Gürtels, dass die ganze Sache nach unten rutschte. "Ich finde ihn nett. Schließlich zieht er mich nicht auf oder so was in der Art."
"Um das zu können, müsste er dich ja auch erst mal bemerken." Cassedy zupfte das Bild aus dem Rahmen und drehte es in ihrer Hand. "Das fängt schon mit seinem Namen an. Wie kann man sein Kind nur Jude nennen? Das ist doch Kinderquälerei." Sie ließ sich auf den einzigen Stuhl in der Wohnung fallen, der hinter einem alten Holztisch stand.
"Ich finde den Namen okay. Er passt zu ihm." Lýan gesellte sich zu ihrer Freundin, nahm ihr gekonnt das Foto aus der Hand und befestigte es wieder an seinem ursprünglichen Platz. "Mach ihn nicht so nieder. Außerdem müssen wir jetzt los." Sie griff nach ihrer Tasche und zog Cassedy nach draußen vor die Tür.
"Was findest du nur an diesem Kerl? Am Ende willst du mit dem noch zum Abschlussball." Cassedy lehnte sich gegen den Holzrahmen der Tür und wartete, bis Lýan abgeschlossen hatte. Sie wollte sich nicht so leicht geschlagen geben.
Diese stöhnte, lehnte ihren Kopf kurz gegen die Tür und warf ihrer Freundin, nachdem sie ein stilles Stoßgebet von sich gegeben hatte, einen mürrischen Blick zu. "Ich kann dir den Grund dafür nicht erklären."
"Du kannst ihn nicht erklären, weil es keinen Grund gibt", entgegnete Cassedy schnippisch. "Alle Mädchen der Schule sind in ihn verknallt. Abgesehen von einer Person, die so klug ist nicht auf sein blödes Lächeln hereinzufallen. Diese Person heißt Cassedy Breccie." Dabei deutete sie mit beiden Daumen auf sich. "Übrigens nur weil alle Leute ihn so überaus cool finden, heißt das noch lange nicht, dass du ihn auch toll finden musst."
Lýan gab es auf und machte sich auf den Weg zum Treppenhaus.
Ihre Wohnungen befanden sich in einem alten Blockhaus, das vor dem Zerfall stand. Hier und da hatten die Wasserrohre, die nicht in, sondern außerhalb der Wände durch die Zimmer verliefen, ein Leck. In der untersten Etage sorgten stählerne Tragesäulen dafür, dass die Decke nicht unter dem Gewicht der anderen Stockwerke zusammenbrach. Innen sowie außen bröckelte der Putz ab und die Kakerlaken und Ratten fühlten sich im nassen und dreckigen Keller pudelwohl. Diese Bewohner waren wohl die Glücklichsten. Im Gegensatz zu ihren menschlichen Kollegen zogen sie nicht aus diesem Gebäude aus - ganz im Gegenteil.
Lýan wohnte ganz oben. Sie hatte nicht vor fortzuziehen, obwohl das Gebäude wahrscheinlich bald abgerissen werden würde. Nicht nur, weil sie kein Geld dazu hatte, sondern auch, weil Lýan in der Wohnung wohnte, in der auch ihre Eltern gelebt hatten.
Cassedy hingegen wohnte gemeinsam mit ihrem älteren Bruder und ihrem Vater eine Etage unter Lýan, im dritten Stock.
Eigentlich wurde das Gebäude immer mehr zur Heimat von Jugendlichen, die ohne ihre Eltern lebten. Entweder sie waren gestorben oder wohnten zu weit von der Schule und schickten ihre Kinder hierher, denn dieses Haus lag nur etwa fünfhundert Meter von der Schule entfernt.
Lýan und Cassedy hatten bereits die Straße, in der sie wohnten, verlassen, als ein rothaariger Junge mit Sommersprossen zwischen ihnen auftauchte, jeder einen Arm um die Schulter legte und sie fest drückte.
"Sean!" keuchte Cassedy. Sean war der Letzte aus dem Freundschafts-Trio und am gestrigen Abend von einer Reise nach Europa zurückgekehrt, die er während der Sommerferien unternommen hatte. Nun begann für die Freunde das letzte Schuljahr, das bedeutete: Abschlussprüfungen und Abschlussball.
"Meine Mädchen! Gott, hab ich euch vermisst!" schauspielerte er mit tragischer Stimme und dramatischer Gestik, um sich letzten Endes eine Träne abzuringen.
Lýan befreite sich aus der Umarmung und tätschelte ihren Freund am Kopf. "Ja jetzt hast du uns ja wieder. Wie war's drüben auf der anderen Seite des Ozeans?" wechselte sie geschwind das Thema.
"Es war einfach traumhaft!" schwärmte Sean und tänzelte vor den beiden Mädchen auf und ab. Lýan und Cassedy sahen sich kurz an und gingen, ohne dass er es bemerkte, an dem immer noch tanzenden Jungen vorbei Richtung Schule.
Als er endlich mit seinen Schwärmereien aufgehört, um sich gesehen und sie wieder erblickt hatte, rannte er den beiden hinterher, stürzte sich von hinten auf sie und redete etwas davon, wie einsam er doch ohne die zwei gewesen sei.
"Weißt du wie sehr ich Geschichte hasse?"
Inzwischen hatte es zur ersten Pause geläutet und aus allen Klassenzimmern kamen Schüler. Lýan verstaute ihr Portemonnaie, aus dem sie sich zuvor etwas Geld für ihr Essen genommen hatte, in ihrem schwarzen Rucksack und diesen wiederum in ihrem Spind.
Sean stand neben ihr und blickte abwechselnd aus dem Fenster und wieder auf das Lösungsblatt seines Tests, den er in der zweiten Stunde geschrieben hatte.
"Nachdem du es schon mehr als zehn Mal gesagt hast, hat es sich in meinen Schädel eingebrannt." Lýan grinste und warf einen kurzen Blick auf ihren Freund. Auf seiner Stirn kräuselte sich eine Zornesfalte. Lýan liebte diese Falte, sie wusste nicht wieso, aber sie fand einfach, dass sie zu ihm passte. Nicht, dass sie Sean nicht mochte wenn er gut gelaunt war. Sie mochte ihren Freund immer, aber am meisten, wenn er begeistert einen Witz erzählte, der genau genommen gar nicht witzig war, oder wenn er, wie im Moment, zornig oder besorgt war.
"Komm schon, es war doch nur ein Test. Heut ist der erste Schultag. Du solltest es nicht so ernst nehmen", tröstete das Mädchen, schloss ihren Schrank und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.
"Wenn du meinst", gab sich Sean geschlagen und zog mit ihr durch den Gang.
Plötzlich wurde Lýan von hinten angestoßen, konnte ihr Gleichgewicht nicht mehr halten, kippte nach vorn und knallte auf den kalten Marmorboden. Sie hörte ihre Geldmünzen auf dem harten Untergrund scheppern. Sean war sofort bei ihr und half ihr wieder auf die Beine.
"Du Idiot, kannst du nicht aufpassen wo du hinrennst?!" rief er einem braunhaarigen Jungen nach, der sich daraufhin umdrehte und auf Sean zustürmte.
"Wen nennst du hier Idiot?! Pass lieber auf was du sagst! Ich bin heut nämlich nicht sehr gut gelaunt!" brüllte er zurück. Es war Jude, der beliebteste Junge der Schule, mit dem markelosesten Körper und Gesicht und natürlich mit den schlechtesten Noten des Jahrgangs. Er funkelte Lýan s Freund mit seinen schwarzen Augen an. Lýan s Meinung nach hatte er wieder einmal Stress mit seinem Vater gehabt.
Sean schob Lýan hinter sich, funkelte eben so böse zurück und nahm sie somit vor 'Mr Perfect' in Schutz, der gerade einen letzten Schritt auf sie zumachte und mit der Faust ausholte. Plötzlich stand ein Junge mit hellbraunen, kreuz und quer stehenden Haaren neben Jude und hielt diesen am Handgelenk fest.
"Komm schon... Es lohnt sich nicht, für diesen Typen Ärger zu kassieren", meinte der Fremde mit fester Stimme.
Jude murmelte irgendetwas und löste wütend sein Handgelenk aus dem Griff des anderen.
"Komm mir die nächste Zeit lieber nicht unter die Augen... Das wäre für deine Gesundheit besser", drohte er Sean mit undefinierbarem Blick, drehte sich um und lief Richtung Cafeteria.
Lýan ging in die Hocke und sammelte ihr Geld zusammen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie hatte in ihrem Schwarm immer einen liebenswürdigen, freundlichen Jungen gesehen. Zumindest war er zu anderen Mädchen nett. Aber er hat ja Sean angebrüllt und nicht mich, dachte sie irritiert.
"Kann ich dir helfen?" Der fremde Junge hatte sich neben sie gehockt und begonnen, die Münzen einzusammeln. Das registrierte Mýa aber kaum. Sie nickte nur. Die Leute um sie herum setzten ihren Weg fort. Irgendwo hinter sich, glaubte sie Seans und Cassedys aufgebrachte Stimmen zu hören.
Hatte sie sich nur etwas vorgemacht? Hatten ihre Freunde Recht mit dem, was sie über Jude sagten? Komisch, das ausgerechnet jetzt ihre Meinung über diesen Typen auf die Probe gestellt wurde.
"Hey?" versuchte eine ferne Stimme sie wach zurütteln. Ihr Kopf wurde sanft am Kinn angefasst und zur Seite gedreht. Vor ihr erschien das besorgte Gesicht eines Jungen - das des fremden Jungen. Lýan fielen erst jetzt die kleinen Lachfältchen und seine weichen grünen Augen, die sie besorgt musterten, auf, dann seine gerade Nase und der schön geschwungene Mund.
Lýan blinzelte, was musste dieser Junge über sie denken, wenn sie ihn die ganze Zeit anstarrte. Hastig zog sie ihren Kopf zurück und rieb sich mir der Hand die Stirn.
"Du hast blaue Augen? Von weitem sehen sie viel dunkler aus", meinte der Junge und betrachtete ihr Gesicht. Nach einem Moment ließ er von ihr ab, stand auf und half ihr ebenfalls auf die Beine.
"Es geht schon. Danke", erklärte sie, als er fragte ob es ihr gut ginge. Langsam strich sie eine Strähne aus ihrem Gesicht und zählte ihr Geld nach. Sie musste irgendwas machen, bis sie wieder vollkommen klar denken konnte und die Wärme besiegt hatte, die ihr langsam in den Kopf stieg.
"Ich heiße Charon...", setzte der Junge an, um sich vorzustellen. Als er merkte, dass Lýan ihn nicht beachtete legte er den Kopf in den Nacken und wartete, bis das Mädchen auf einmal aufstöhnte und sich suchend umsah.
"... ach, ist auch egal...", meinte sie nach ein paar Sekunden leise.
"Fehlt was?" fragte Charon.
Lýan blickte ihm kurz in die Augen und bejahte schließlich. Der Junge wollte ihr daraufhin das fehlende Geld ersetzten.
"Es ist nicht so schlimm... Die paar Münzen. Außerdem bist du ja nicht Schuld daran, dass mein Geld irgendwo durch die Gegend kullert", lächelte das Mädchen letzten Endes darüber.
"Nicht direkt... Aber ich bin sozusagen der Babysitter für meinen Cousin und hab in dem Moment nicht aufgepasst. Sorry", entschuldigte sich Charon bei ihr.
"Das ist nicht der Weltuntergang", behauptete Lýan. Sie wollte unbedingt den traurigen Blick aus seinen Augen vertreiben, aber warum nur? Schließlich kannte sie ihn doch gar nicht.
Endlich gongte es und das Mädchen wandte sich geschwind ab, um in den Schülermassen untertauchen zu können. Charon hinderte sie erfolgreich daran, indem er sie am Arm festhielt.
"Kann ich wenigstens wissen wie du heißt?" Charon legte seinen Kopf schief und sah sie fragend an.
" Lýan ", erwiderte sie rasch, wand sich aus seiner Hand und rannte zu Cassedy, die auf sie wartete.
Cassedy stieß ihre Freundin, nachdem der Kunstlehrer ihnen ihre Aufgabe erklärt hatte, mit dem Ellenbogen an. "Wie fandest du den Typen? Ich finde ihn total niedlich... Ich meine, er ist charmant, hilfsbereit und sieht dazu noch süß aus", schwärmte sie.
"Der Typ heißt Charon, wenn's dich interessiert", entgegnete Lýan knapp und kritzelte mit einem Bleistift Umrisse eines Gesichts auf ihr Blatt, die sie aber sofort wieder energisch wegradierte. Auf Cassedys schmunzelnden Blick meinte sie: "Ja, er sieht gut aus. Na und? Er ist nichts für mich, weil er mir zu sehr auf die Pelle rückt."
"Unser Charon mag dich eben", folgerte Cassedy aus ihren Beobachtungen. "Sean hat mir erzählt, dass er verhindert hat, dass Jude ihm eine reinhaut. Warum hat unser Obermacho auf ihn gehört?"
"Er ist sein Cousin." Wie verrückt zog Lýan ihren Radiergummi über das Papier, auf dem bereits kein einziger Bleistiftstich mehr zu sehen war. "Und außerdem ist er nicht unser Charon", fügte sie hinzu.
"Oh entschuldige. Er ist natürlich dein Charon... Wie ich sehe hast du doch ein wenig Interesse...", schmunzelte Cassedy und wendete sich grinsend wieder ihrer Zeichnung zu.
Lýan wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, denn der Lehrer tauchte neben ihr auf und betrachtete ihr Blatt.
"Miss Witherit, geht es Ihnen nicht gut?" fragte er besorgt. Eigentlich war Lýan eine durchaus talentierte Zeichnerin. Doch nun klappte es bei ihr nicht so recht.
"Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen", beruhigte sie ihren Lehrer und spickte kurz auf Cassedys Blatt. Auf diesem war ein Kopf mit zwei Augen zu sehen. Cassedy begann nun mit der Nase.
"Warum haben Sie dann noch nicht begonnen? Normalerweise fällt Ihnen ein Portrait doch leicht zu zeichnen. Gehen Sie lieber erst einmal an die frische Luft. Sie können sich den Rest der Stunde frei nehmen." Der etwas ältere Herr mit dem weißen Vollbart ließ sich nicht beirren.
Lýan widersprach ihm nicht. Sie kannte ihn und wusste, dass man ihm nicht widersprechen sollte, es würde sowieso nichts nützen. Außerdem fand sie es auch gut, somit konnte sie mal in Ruhe nachdenken. Sie packte ihre Zeichenutensilien zusammen, stand leise auf und verließ, unter den fragenden Blicken der andern, das Klassenzimmer.
Das Mädchen ging schleichend den Gang entlang und durch eine schmale Tür nach draußen in den großen Schulhof, der sich in der Mitte der Schulanlage befand. Er wurde an drei Seiten durch das Schulgebäude eingegrenzt. An der Vierten befand sich ein kleiner See, in dem die Neulinge immer zur Begrüßung "getauft" wurden. Der Hof selbst bestand aus einer großen Wiese und mehreren Bäumen - er war sozusagen ein Park.
Lýan stellte ihren Rucksack auf eine Bank, die rings um einen Baum verlief, setzte sich daneben und lehnte ihren Kopf nach hinten an die Rinde der alten Weide. Sie schloss die Augen, genoss das Gefühl der schwülen Luft, die den Regen ankündigte und döste ein paar Minuten. Plötzlich hörte sie, wie jemand aus der Schule kam und sich auch auf die Bank setzte.
"Na? Ärger gekriegt?" meinte eine Jungenstimme. Lýan vernahm, dass eine andere Person auf sie zukam.
"Könnte man so sagen...", meinte die Person von der Bank.
Lýan kam diese sanfte, tiefe Stimme bekannt vor. Sie tat so, als würde sie schlafen, ließ ihren Kopf zur Seite kippen und blinzelte heimlich, um zu erfahren wer da saß. Es war Charon. Er blickte kurz zu ihr, wohl um sicher sein zu können, dass sie auch wirklich schlief. Neben ihn ließ sich Jude fallen und lenkte ihn somit von Lýan ab.
"Und? Was wollte deine Alte von dir?" wollte Jude wissen. Er öffnete seinen Rucksack und zog zwei Getränkedosen hervor, davon reichte er eine seinem Cousin.
"Das Übliche... Sie hat gefragt, wann ich nach Hause komme... Wie's mit der Schule aussieht... und so weiter." Charon zog langsam an der Lasche der Dose, sodass die entweichende Luft einen langen zischenden Laut von sich gab.
"Sie brauchen also wieder jemanden, der ihnen das Haus sauber macht", grinste Jude und nahm einen Schluck von seinem Getränk.
Charon öffnete den Verschluss nun ganz und tat es dem anderen Jungen gleich. "Warum verstehen meine Eltern nicht, dass ich als Achtzehnjähriger mehr Freiraum will?"
Jude prustete los: "Du hörst dich schon an wie so'n Psychoheini!"
"Und du kennst dich sicherlich mit solchen Typen aus", konterte Charon giftig.
Sein Cousin überging diese Bemerkung, nahm wieder einen großen Schluck und sah ihn anschließend fragend an. "Willst du immer noch hier wohnen? Mein Vater schmeißt dich sicherlich raus, wenn der Monat vorbei ist. Du kennst ihn ja."
"Ich hab schon ne Wohnung in Aussicht", erklärte Charon und blickte wieder zu Lýan, die sich vornahm, ihre Augen von nun an lieber geschlossen zu halten.
Die Jungen schwiegen. Ein Wind kam auf und blies Lýan eine schwarze Haarsträhne ins Gesicht. Sie spürte wie eine Hand sie wieder zurück hinter ihr Ohr strich. Eine Gänsehaut überkam Lýan und sie merkte, wie ihr die Röte langsam ins Gesicht stieg.
"Magst du sie?" hörte sie die belustigte Stimme von Jude fragen.
"Es geht. Sie ist niedlich", gab Charon zur Antwort.
Jude seufzte: "Was ist an der niedlich? Es gibt Mädchen, die sehen besser aus. Wie kannst du nur auf so was stehen."
"Sie ist hübscher als du glaubst", entgegnete Charon.
Es begann zu regnen. Die Jungen leerten schnell ihre Dosen und standen auf, um zurück in die Schule zu gehen. Charon kam noch einmal zurück.
" Lýan?" fragt er.
Diese tat so, als würde sie jetzt erst aufwachen. Sie blickte verschlafen in seine Augen.
"Es regnet. Du solltest lieber rein gehen. Außerdem beginnt gleich die fünfte Stunde."
"Die Fünfte?!" Lýan war wieder hellwach und sah geschockt auf ihre Armbanduhr. Sie hatte die Vierte verpasst, war sie etwa doch kurz eingenickt, als sie sich hingesetzt hatte?
"Na dann hab ich jetzt wohl aus", stellte sie lachend fest und machte Anstalten zu gehen.
Der Regen nahm zu. Charon zog seine Jacke aus und hing sie ihr um die Schultern. "Damit du mir nicht erfrierst. Bring sie morgen einfach wieder mit." Daraufhin rannte er zu der Tür, die in die Schule führte.
Lýan blickte ihm stumm nach und regte sich anschließend auf dem Heimweg darüber auf, dass sie sich nicht bei ihm bedankt hatte. Der Regen hatte nämlich noch mehr zugenommen. Das Mädchen kuschelte sich in die warme Jacke, sog den hervorstechenden Minz-Eukalyptusgeruch von Charon ein und plante für den Abend ein heißes Bad zu nehmen, um wieder auf angenehme Körpertemperatur zu kommen.


Chapter 2

to visit

Lýan ließ noch einmal heißes Wasser in die alte Wanne nachlaufen. Schon seit einer Dreiviertelstunde lag sie mit geschlossenen Augen da und nahm sich immer wieder mal ein Stücken Obst aus der Schüssel, die neben der Wanne auf dem Kachelboden stand. Langsam rutschte sie wieder in ihre ursprüngliche Lage und entspannte sich.
Bevor Lýan hatte baden gehen können, hatte sie noch Cassedy alles erklären müssen. Bei einer Tasse Tee hatte Lýan sich aufgewärmt und ihre Freundin erzählte, dass Sean und sie Lýan in ihrem Englisch-Kurs entschuldigt hätten.
"Sie würde mich doch sicherlich nur aufziehen, wenn sie wüsste, was ich gehört hab...", sagte Lýan zu ihrem schlechten Gewissen, da sie einige Details bei ihrem Gespräch ausgelassen hatte. Das Mädchen tauchte unter Wasser, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen - in zweifacher Hinsicht.
Als sie wieder auftauchte klingelte es an der Tür.
"Hat man hier denn nie seine Ruhe?" schimpfte Lýan, stieg aus der Wanne, griff nach ihrem Handtuch und wickelte es um sich. Wütend lief sie aus dem Bad zur Tür.
"Cassedy! Was...", brüllte sie der Person, die vor ihr stand, entgegen, als sie die Wohnungstür schwungvoll geöffnet hatte. Nur war es nicht Cassedy, die vor ihr stand.
"Du wohnst hier?" fragte ein ihr inzwischen nicht mehr so unbekannter Junge.
"Charon? Was willst du denn hier?" Lýan griff nach ihrem Handtuch, um zu verhindern, dass es nicht doch irgendwie aufging, und schloss die Tür ein bisschen.
"Sorry, wenn ich störe, aber... Gehst du immer so an die Tür, wenn's klingelt?" grinste Charon sie an.
"Ja, du störst! Also hau ab!" entgegnete sie der Unverfrorenheit des Jungen und knallte die Tür zu. Hinter ihr klopfte es. Doch Lýan setzte ihren Weg ins Bad fort. Zornig zog sie den Stöpsel aus der Wanne, damit das Wasser abfließen konnte und wickelte sich ein sauberes Handtuch um ihr nasses, taillenlanges Haar.
Es klingelte wieder. Lýan ging zurück zu ihrem Bett, zog die Vorhänge vor ihrem Fenster zu, denn sie hatte neugierige Nachbarn, und begann sich anzuziehen. Es klingelte wieder. Charon rief ihren Namen, aber sie ignorierte das. Als sie eine Hose und ein Top anhatte, klingelte es noch einmal. Nun ging sie an die Tür.
"Was willst du?" fragte sie Charon, der sich gegenüber von ihrer Wohnung im Gang niedergelassen hatte.
"Ich bin grad beim Umziehen. Bei mir drüben ist es saumäßig kalt. Kann ich mich fünf Minuten bei dir aufwärmen?" Charon stand auf und deutete auf die Tür neben der Wohnung von Lýan.
Einen Moment blieb Lýan im Türrahmen stehen. Er hat mir ja auch seine Jacke geliehen, ohne die ich verloren gewesen wäre, überlegte sie still.
"Okay...", gab sie kurzerhand nach und lehne sich an den Durchgang, so dass der Junge hindurch gehen konnte.
"Danke", meinte er, als sie die Tür hinter ihm schloss, und sah sich in dem großen Raum um. Überall war es notdürftig aufgeräumt und die Wände waren über und über mit Fotos beklebt. Bei näherem Betrachten konnte man feststellen, dass auf jedem dieser kleinen Bilder immer nur Lýan zu sehen war. Manchmal mit Sean oder Cassedy, aber meist alleine und immer mit traurigem Gesicht. Sie sieht aus wie Schneewittchen mit ihrem langen schwarzen Haar und ihrer blassen Haut, bemerkte Charon.
Lýan ließ sich auf ihr Bett fallen. "Du ziehst hier ein?" wollte sie wissen. "Oder ist das nur ein Trick gewesen?" Sie stutzte. Flirtete sie etwa?
Charon ließ von den Fotos ab und wandte sich ihr zu. "Ja, ich ziehe wirklich hier ein, aber ich werde erst Anfang des nächsten Monats hier wohnen. Ich hatte übrigens keine Ahnung, dass du hier lebst."
"Achso... Du bezahlst Wasser und Strom auch erst dann, oder? Darum ist es bei dir auch kalt.", schloss das Mädchen daraus.
"Bingo!" stimmte Charon ihr zu. Er sah sich suchend nach einer Sitzgelegenheit um - als er keine fand, die nah genug in Lýan s Nähe war, ließ er sich schließlich vor ihr auf dem Fußboden nieder.
"Warum ziehst du nicht wieder nach Hause?"
Charon legte wie immer den Kopf in den Nacken. "Das weißt du doch", grinste er. "Du hast doch alles gehört."
Lýan schluckte, aber blieb standhaft. "Aber ich kenne deine Eltern nicht. Was ist so schlimm an ihnen?"
"Sie engen mich zu sehr ein", stöhnte er und änderte seine Sitzposition. Ihm war dieses Angelegenheit sichtlich unangenehm. "Daheim darf ich nach sechs Uhr nicht mehr raus und muss um Zehn im Bett sein, das wird sogar kontrolliert. Ich muss die meisten Hausarbeiten machen und anderes. Meine Eltern haben bis jetzt jede meiner Freundinnen abgeschreckt." Am Ende bei seiner Erzählung musste er jedoch grinsen.
Langsam ließ Lýan Luft aus ihrer Lunge entweichen und sah Charon mitleidig an.
"Kann ich dich auch was fragen?" wechselte der Junge geschwind das Thema, wartete aber nicht auf ihre Antwort. Er deutete mit den Daumen hinter sich auf den großen Spiegel, der neben der Badtür stand. "Warum hängt da ein Foto von Jude? Magst du ihn?"
"Ja, er ist nett..." Lýan drehte in ihrem Schoss verlogen Däumchen, biss sich auf die Unterlippe und verfluchte sich innerlich, dass sie das Bild noch nicht weggeschmissen hatte. Wahrscheinlich hing es noch an seinem Stammplatz, weil sie sich über die Gefühle die sie für Jude empfand noch nicht so sicher war. Instinktiv spürte sie, dass er kein so schlechter Kerl war, aber bisher hatte sie noch keinen Beweis dafür.
Charon räusperte sich belustigt, woraufhin er einen giftigen Blick von ihr einfing.
"Keine Angst. Ich sag ihm schon nicht, dass du scharf auf ihn bist", grinste er. Doch schlagartig änderte sich seine grinsende Miene zu einer ernsten. "Schade, dass ich dir nicht vor ihm begegnet bin."
Das Mädchen zeigte ihre naive Seite, obwohl es wusste was er meinte, und fragte, was das bedeuten solle.
Er blickte auf seine Uhr, stand auf und meinte: "Denk drüber nach. Ich muss jetzt los, sonst komm ich zu spät."
Als er sich Richtung Tür aufmachte, sprang Lýan vom Bett und folgte ihm.
"Tu mir einen Gefallen und erzähl keinem, dass ich hier einziehen will", bat Charon sie noch, als sie die Klinke runterdrückte. Sie sah ihn fragend an, nickte jedoch. Dann verabschiedete sie sich und schloss die Tür. Anschließend lehnte sie sich dagegen und sank verwirrt zu Boden.
Charon war wirklich ein sehr interessanter Typ. Er hatte Humor, konnte aber auch ernst sein. Wie sollte das nur alles enden?
" Lýan?! Hey, Lýan?!" hörte Lýan Cassedy am nächsten Morgen brüllen. Diese schlug schon seit einer Viertelstunde mit der geballten Faust auf das alte Holz, das sie von Lýan trennte, so, dass es unter der Wucht vibrierte. Zwischendurch klingelte sie auch mal stürmisch, doch Lýan presste ihr Kissen auf den Kopf und blieb in ihrem Bett liegen, das heute gar nicht so weich zu sein schien, wie sonst immer.
" Lýan?! Ich geh jetzt!"
Das Mädchen vernahm, dass ihre beste Freundin die Treppe hinuntertrampelte. Sie hatte heute keine besondere Lust auf Schule. Sie würde schon nichts verpassen. Lýan setzte sich auf, rieb sich die Stirn, krabbelte aus dem Bett und ging vor ihren Spiegel. Langsam drehte sie sich hin und her, dann blieb sie vor ihrem Abbild stehen, das nur einen schwarzen Slip und ein kurzes Top trug, trat dichter heran und schob sich mit den Händen den langen schwarzen Pony aus dem Gesicht. Lange sah sie sich an.
Ihr dunkles Haar war spröde und hatte kein bisschen Glanz. Ihre Haut glänzte umso mehr in einem hellen, elfenbeinfarbenen Ton. Die hellblauen Augen des Spiegelbilds, die von weiten marineblau wirkten, sahen sie müde an.
"Was findet dieser Typ nur an mir?" murmelte Lýan vor sich hin. Das war genau die Frage, die sie in der letzten Nacht wach gehalten hatte.
Charon fand sie süß, das wusste sie, aber sie wusste auch, dass Charon wusste, dass sie wusste, dass er sie süß fand. Lýan rieb sich verzweifelnd die Schläfe und blickte wieder ihr zweites Ich an. Es könnte ja sein, dass er das nur aus Spaß gesagt hatte, um mich zu ärgern. Aber er hatte sie immer so seltsam angesehen und ihr seine Jacke geliehen, die jetzt auf ihrem Bett lag.
Nachdem sie in der letzten Nacht einfach nicht einschlafen gekonnt hatte, hatte sich Lýan Charons Jacke umgehängt und war sofort weg gewesen. Diesen Einfall hatte sie allerdings erst vier Uhr früh gehabt.
Schlaftrunken wankte das Mädchen wieder zurück zu ihrem Bett, ließ sich fallen und wickelte sich erneut in die schwarze Wildlederjacke ein. Sofort nickte sie wieder ein.
Nach etwa zwei Stunden wachte sie wieder auf und ihr schoss nach einem Blick aus dem Fenster durch den Kopf, dass sie Charon seine "misshandelte" Jacke wiedergeben muss. Draußen hatte es nämlich begonnen stark zu regnen.
Ruckzuck hatte sich Lýan angezogen und war auf dem Weg zur Schule.
Als sie nur noch hundert Meter entfernt von dem alten Gebäude war, blieb sie wie angewurzelt stehen. Wenn sie da jetzt reingehen würde und ein Lehrer würde sie sehen, bekäme sie bestimmt Ärger. Schließlich war sie offiziell krank. Das Mädchen drehte sich auf der Stelle um und machte sich auf zu einem beliebten Einkaufs-Center.
Sie hatte von Cassedy erfahren, dass Judes Mutter dort in einem Modeladen arbeitete, der sich Nouvelle nannte. Normalerweise machte Lýan immer einen großen Bogen um solche Läden. Schließlich war ihre Armee-Schlabberhose nicht unbedingt modern - nur bequem.
Nach zehn Minuten des Suchens stand sie endlich vor einem Laden, an dem eine dezente Leuchtreklame angebracht war, die mit geschwungenen weißen Buchstaben das gesuchte Geschäft verlauten ließ. Diese Einfachheit beruhigte Lýan.
Allerdings war dieser Laden kein kleines, unbekanntes Geschäft wie sie geglaubt hatte. Es war unheimlich gut besucht und wie man an den Preisschildern, die auf dem Boden neben den Klamotten in Schaufenster standen, erkennen konnte, war dies hier wohl nur etwas für reiche Leute.
Das Mädchen schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihr Vorhaben. Sie wollte die Jacke von Charon, von der sie bis jetzt angenommen hatte, sie wäre ein Imitat, hier abgeben und noch eine Weile krank spielen. Kraftvoll stieß sie Luft aus der Nase und trat durch die dicke Glastür.

In dem Geschäft hingen, nach Farben sortiert, viele Kleidungsstücke in vielen Regalen. Die Wände waren weiß und die vereinzelt angebrachten Spiegel auf Hochglanz poliert.
Plötzlich zweifelte Lýan angesichts dieses Luxus an ihrem Vorhaben und trat einen Stück zurück - Dabei lief sie gegen eine hübsche, junge Frau.
"Entschuldigung? Kann ich Ihnen helfen?" fragte sie mit freundlicher Stimme und rieb sich dabei ihren Arm, der, wegen Lýan s Ungeschicklichkeit, gegen ein Regal geprallt war.
Wenn sie den Aufzug von Lýan nicht besonders modisch fand, ließ sie sich das zumindest nicht anmerken.
"Ähm... Ich suche Mrs Hue...", stammelte Lýan.
"Ja, dass bin ich. Was kann ich für Sie tun?" erklärte sie.
Sofort war Lýan s Schüchternheit wie weggeblasen: "Sie sind... Aber Sie sehen so jung aus."
Mrs Hue begann erfreut zu lachen und hielt sich dabei graziös die Hand vor den Mund. "Dankeschön, aber ich bediene Sie auch ohne, dass Sie mir Komplimente machen. Es sei denn, Sie sind ein Mann. Darüber könnten wir noch mal reden."
Lýan wartete, bis sich die Frau beruhigt hatte und reichte ihr dann die Jacke.
"Die gehört doch Charon... Achso, dir hat er sie ausgeliehen." Mrs Hue schmunzelte. "Ich frage mich nur, warum er dir sein Lieblingsstück anvertraut hat. Normalerweise ist er nicht so."
Sie nahm die ordentlich zusammengelegte Jacke über den linken Unterarm und schubste das Mädchen sanft mit der rechten Hand, damit sie sich in Bewegung setzte. Diese war zwar verunsichert, gehorchte jedoch und ließ sich willig an den Ständern vorbei zu einer Hintertür führen.
Die junge Frau öffnete die Tür, drückte Lýan das Kleidungsstück wieder in die Hand, zwinkerte ihr kurz zu und deutete ihr hindurch zu gehen.
Lýan war so irritiert, dass sie den Aufforderungen nachging.
"Tante Mary? Bist du das?" Charon richtete sich von seiner Arbeit auf und sah Lýan direkt in die Augen. "Hey, was machst du denn hier? Bist du nicht in der Schule, oder schwänzt du wieder?" grinste er und ging wieder in die Hocke um einen Karton zu öffnen.
"Es sieht nicht gerade so aus als würdest du brav in dir Schule sitzen", konterte das Mädchen frech. "Ich wollte dir eigentlich bloß deine Jacke vorbeibringen, aber wenn du sie nicht willst behalte ich sie eben."
"Okay, tu das", meinte Charon ohne von seinem Block aufzusehen.
"Im Ernst?"
"Nein, aber wenn du sie willst." Jetzt stand der braunhaarige Junge auf und kam auf sie zu. Lýan wollte schon zurückweichen, als er dann doch vor ihr stehen blieb. Er nahm ihr seine Jacke aus der Hand und roch daran, dann hob er seinen Kopf, ging nah an ihren Hals und atmete dort ebenfalls den Geruch ein. Sie bekam, wie immer wenn er sie auch nur ansatzweise berührte, eine Gänsehaut. Behutsam wanderte er nach oben bis zu ihrem Ohr und berührte es leicht mit seinen Lippen.
"Hmm... sie riecht nach dir... Ich glaube ich sollte sie doch behalten", flüsterte er sanft und nahm das seine nun vollkommen an sich, nur, um es daraufhin neben sich fallen zu lassen. Nun trat er noch näher an Lýan heran und strich ihr durchs Haar. Er schloss die Augen und sein Mund näherten sich dem ihren. Als nur noch wenige Millimeter zwischen ihnen waren, zuckte Lýan zurück und er ließ von ihr ab.
"Sorry", sagte er trotzig und wand sich wieder seinen Kartons zu.
Lýan löste sich aus ihrer Erstarrung. Dank ihrem Unterbewusstsein hatte sie richtig reagiert - aber hatte sie denn auch gewollt, dass er sie nicht küsste?
Sie wusste nicht genau, wie sie reagieren sollte, doch spontan viel ihr sein Umzug ein. "Ähm... bist du nun ganz eingezogen? Ich meine in deine neue Wohnung", stammelte sie.
"Interessiert dich das wirklich?" wollte er mit hochgezogener Augenbraue wissen.
Stumm nickte sie. Lýan traute ihrer Stimme nicht über den Weg.
"Ich werd am Wochenende noch ein paar Schränke aufbauen. Wieso willst du das wissen? Willst du mir helfen?" fragte er mit einem Grinsen im Gesicht.
Er war noch attraktiver wenn er lächelte, stellte Lýan fest, dann schienen seine Augen auf magischer Weise zu glänzen. Sie leuchteten wie ein satter Laubwald der von der Morgensonne angestrahlt wird. "Nein, tut mir Leid. Ich hab keine Zeit. Ich muss was für die Schule machen. Also, ich werd mich jetzt auf den Weg machen."
"Okay. Wir sehen uns bestimmt mal wieder. Wir sind jetzt immerhin Nachbarn", setzte er anzüglich hinzu.


Chapter 3

to help

Lýan drehte den Lautstärkeregler ihres Discmans noch etwas lauter und strich mit dem Stift das gerade gezeichnete Bild durch.
Seit etwa einer Stunde versuchte sie schon ein geeignetes Portrait für ihre letzte Prüfung in diesem Schuljahr zu zeichnen. Trotz ihres Zeichentiefs, in dem sie sich momentan befand, würde sie wenigstens einen Entwurf skizzieren können - wenn da nicht ein Problem wäre, das ziemlich laut war: Charon, ein Hammer zusammen mit einer Bohrmaschine.
Es war schon eine Woche seit dem Vorfall im Nouvelle vergangen und Charon wollte am Samstag einziehen. Lýan hatte seit diesem Ereignis nicht mehr mit ihm gesprochen und war ihm aus dem Weg gegangen. Sie traute sich, wegen des Kusses, der fast passiert wäre, nicht, zur Nachbarwohnung zu gehen und ihn zu bitten, wenigstens für eine Viertelstunde Pause zu machen.
Lýan lehnte sich zurück und schloss die Augen, um sich auf die Musik zu konzentrieren. Doch es gelang ihr nicht. Sie hörte noch immer das unrhythmische Klopfen durch die Wand. Was trieb der Kerl da drüben?
Plötzlich verstummte die Musik. Das Mädchen musste nur einen kurzen Blick auf das Display werfen, um festzustellen, dass die Batterien leer waren.
Lýan sah sich um. Sie hatte schon ihre ganze Wohnung nach dem Netzstecker abgesucht, ihn aber nicht gefunden. Anscheinend hatte sich zurzeit alles gegen sie verschworen.
Sie stand auf, schmiss ihren Bleistift unsanft auf den Tisch und ging raus auf den Flur zu Charons Tür. Zögernd klopfte sie an.
Keine Reaktion. Drinnen wurde munter weitergehämmert.
Lýan fuhr sich durch die Haare. Sie wollte es bei einem Versuch belassen und wieder gehen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie das Portrait morgen schon abgeben musste. Wenn sie das nicht tat, würde sie sich verschlechtern und somit keine Chance auf ein Stipendium für eine Universität haben. Lýan erinnerte sich noch sehr gut daran, wie hart sie um einen der seltenen Plätze in ihrem Kurs gekämpft hatte, in den nur die besten aufgenommen wurden. Ihre Eltern hatten immer gehofft, dass ihre Tochter es schaffte auf diese Uni zu kommen. Nur wegen Charons dummen Gehämmers würde sie diesen bestimmt nicht aufgeben.
Voller Wut trat sie an die Wohnungstür von dem Übeltäter. Sofort durchfuhr sie ein Schmerz und sie hielt sich den nackten Fuß.
"Verdammte Schei..."
"Was ist los?" Charon hatte die Wohnungstür schwungvoll geöffnet. " Lýan? Du musst mir doch nicht gleich die Tür eintreten", meinte er ernst, obwohl er sich das Grinsen, das typisch für ihn war, nicht verkneifen konnte.
"Sorry! Ich wollte nicht stören! Ich bin schon wieder weg!" Lýan ließ ihren schmerzenden Fuß los, setzte ihn sorgsam auf den kalten Boden und wandte sich zum Gehen.
"Nein", sagte Charon nur knapp und legte seinen Arm um ihre Taille. Als sie sich von ihm lösen wollte setzte er hinzu: "Du hast geklopft, also kommst du auch rein."
Sanft zog er sie in seine Wohnung und führte sie zu einem mit blauem Samt bespannten Sofa. Auf einem Bein hüpfend ließ sich Lýan bereitwillig nieder.
"Du bist wirklich ein dummes Mädchen", stellte er fest und setzte sich neben sie.
"Wie...aua! Lass meinen Fuß los!"
Charon hatte Lýan s Fuß auf seinen Schoss gelegt und begutachtete ihn jetzt. "Ich meine, wer tritt auch mit dieser Wucht gegen eine stabile Tür, und das auch noch barfuss. Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, dass man so etwas nicht machen soll."
"Nein, dazu hatten sie keine Zeit mehr!" giftete sie ihn an und zog ihren Fuß zurück.
Charon verwechselte die Tränen und die Wut, die ihre anschwellenden Zehen bei den kleinsten Berührungen verursachten, mit dem Schmerz über den Tod ihrer Eltern, und nahm Lýan in die Arme.
"Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht verletzen", murmelte er in ihr Haar.
Nach dem ersten Schock genoss Lýan die Wärme und den beruhigenden Geruch, die von Charon ausgingen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter, schloss die Augen und wischte mit dem Ärmel ihres hellblauen Strickpullovers die wenigen Tränen aus dem Gesicht. Lýan lächelte. Er musste ja nicht wissen, dass sie den Tod bereits in ihrem Leben akzeptiert hatte.
" Lýan?" fragte Charon mit besorgter Stimme nach einiger Zeit des Schweigens.
"Mmh..."
"Geht's wieder?" Er strich mit der Hand ihren Rücken sanft entlang.
Lýan riss die Augen wie vom Blitz getroffen wieder auf. Was tat sie da nur? Sie hätte doch wissen müssen, dass Charon es wieder ausnutzen würde. Schnell und geschickt löste sie sich aus seiner Umarmung.
Damit er nicht merkte, wie sie sich fühlte, blickte sie sich in seiner Wohnung um.
Allem Anschein nach hatte Charon die vier Zimmer, die ihm zur Verfügung standen, restaurieren lassen. Die Wände waren in einem sanften Hellblau gestrichen, das professionell verlegte Kiefernparkett war frisch gebohnert und glänzte. An einer Seite der Wand standen eine Kommode und eine halb aufgebaute Schrankwand. Beides war aus klassischem hellem Holz mit schwarzen Schlössern. Vor dem Sofa, auf dem Lýan saß, stand ein heller Couchtisch, dessen Tischplatte aus Panzerglas bestand. Mit Hilfe von Holzsockeln war die Küche, die halb geflieste Wände hatte, von dem Wohnzimmer abgetrennt. Durch eine offenstehende Tür konnte man in ein in meerblau gehaltenes Bad sehen, das eine große eingemauerte Eckbadewanne besaß. Hinter einer anderen Tür, die neben der Kommode war, befand sich wahrscheinlich das Schlafzimmer.
Lýan staunte, dass Charons Wohnung um so vieles größer war, als die ihre.
"Was wolltest du von mir?"
Die Stimme von Charon lenkte sie von einem der an der Wand hängenden Bilder, auf dem eine rote Rose auf einem Tisch lag, ab. Alles, bis auf die Rose, war schwarz-weiß.
"Ich... ähm..." Suchend sah sie sich erneut in der Wohnung um, bis ihr Blick auf ein Brett mit halb eingeschlagenem Dübel fiel. Daneben lagen ein Hammer und ein Bohrer.
"Ich wollte dich bitten, für eine Weile aufzuhören mit dem Hämmern. Ich kann mich bei dem Lärm nicht konzentrieren", fiel es Lýan wieder ein.
"Wobei willst du dich denn konzentrieren?" wollte Charon wissen.
"Für morgen muss ich eine Skizze anfertigen, da ist nämlich der letzte Termin um sie abzugeben."
"In welchem Kurs bist du?" hakte der Junge nach.
Lýan zog misstrauisch eine Augenbraue hoch und sah ihn fragend an. "Im A-Kurs, wieso?"
"Der fällt morgen doch aus. Der Abgabetermin wurde auf nächsten Mittwoch verschoben. Das hat die Sekretärin vor letzte Woche gesagt. Ach ja, da hast du ja blau gemacht", grinste Charon und stand auf. "Hast du Durst?"
Das Mädchen verneinte, folgte ihm jedoch in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und nahm sich eine Flasche Wasser heraus.
"Wow", sagte Lýan erstaunt, als sie einen kurzen Blick hineinwerfen konnte.
Als Charon sie fragend ansah, erklärte sie: "Du hast kein bisschen Alkohol hier."
"Ich trinke keinen." Er stellte die Flasche ab, wandte sich ihr zu, nahm ihr Gesicht in die Hände und näherte sich ihr mit seinem. "Ich trinke nicht, rauche nicht und nehm keine Drogen. Interesse?"
Lýan fixierte seine dunkelgrünen Augen mit den ihren. Sie zuckte nicht zurück. Das war sicherlich wieder einer seiner Scherze, die sie in Verlegenheit bringen sollten. "Hör auf so rumzualbern. Das ist nicht witzig."
"Was wäre wenn ich es ernst gemeint hätte?" Sein Blick wurde weich und er hob ihren Mund zu seinen Lippen.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Sollte sie es dieses Mal zulassen? Was würde passieren, wenn er sie geküsst hatte? Wie sollte sie dann reagieren? Sie wollte doch was von Jude und nicht von dessen Cousin.
Charon hielt inne und beobachtete seine Hände, die langsam über ihren Pullover bis hinunter zu ihrem Po strichen, um am Ende wieder auf dem nackten Rücken hoch zu gleiten.
Lýan gab dem Schwindelgefühl, das langsam von ihr Besitz ergriff, nicht nach und befreite sich somit von seinen Liebkosungen.
Mehr als Charons Grinsen bekam Lýan nicht zur Antwort. Er führte sie zurück ins Wohnzimmer und drückte sie nochmals auf das Samtsofa.
"Ich hab ein Problem", durchbrach er plötzlich die aufgekommene Stille und schwang zu einem neuen Thema über.
Lýan musterte ihn verwundert. Hat er was dagegen, dass ich nicht auf seine Anmachen eingehe?
"Meine Eltern wollen, dass ich wieder nach Hause komme", fuhr er fort, "Ich habe keine Lust bei ihnen zu bleiben und mich immer rumschubsen zu lassen."
Nach einem kurzen Stirnrunzeln über Charons plötzlichen Themenwechsel schlug Lýan vor: "Warum bittest du nicht deine Tante um Hilfe? Ich fand sie ganz nett."
Charon stöhnte auf und erhob sich. "Ja, sie ist auch ganz okay, aber bei Jude ist mein Onkel der Mann im Haus, und der kann mich sowieso nicht leiden."
"Hm... dann bleib doch einfach hier."
"Das geht nicht. Dann drehen mir meine Eltern den Geldhahn zu und ich will nicht die ganze Zeit arbeiten müssen, sondern mich auf die Schule konzentrieren."
"Und was ist, wenn dir deine Tante hilft?" wollte Lýan wissen.
Charon hörte auf, im Zimmer auf und ab zu gehen und setzte sich wieder schwungvoll neben sie. "Ich arbeite ja jetzt schon bei ihr im Laden und helfe etwas aus. Packe die neuen Sachen aus und gebe alles in den Computer ein. Nur das Geld würde nicht für die Wohnung reichen."
Unbemerkt rutschte Lýan ein Stückchen von ihm weg. "Wenn du nicht mehr arbeiten willst, gibt es keine andere Möglichkeit hier zu bleiben?" wollte sie wissen.
"Doch. Meine Eltern denken ich hätte hier eine Freundin. Aus diesem Grund durfte ich noch eine Woche länger bei Jude bleiben. Sonst würde ich zu weit von ihr wegwohnen und könnte mich nicht um sie kümmern. Das glauben zumindest meine Alten." Er musste unwillkürlich lächeln. "Du musst wissen, dass meine Eltern ziemlich sentimental sind, wenn es um das Glück ihres einzigen Sohnes geht."
"Und was hat das mit der Lösung deines Problems zutun?"
"Wenn ich sage, dass ich mit meiner Freundin zusammengezogen bin und wir uns die Miete teilen, dann könnte ich hier bleiben."
"Aber dein Vater und deine Mutter könnten dich ja dann trotzdem heimholen und sagen, dass deine Freundin sich ne billigere Wohnung suchen soll", schloss Lýan und lehnte sich zurück.
"Ja, und wenn sie ewig keine Wohnung findet kann ich hier bleiben. Meine Eltern sind nicht so herzlos und setzen ein Mädchen auf die Straße."
"Na also, dann hast du ja jetzt eine Lösung."
"Nein. Mein Problem ist eine Freundin. Ich hab ja keine", erklärte Charon.
"Woher sollen deine Eltern denn wissen, dass du keine hast? Bis jetzt hast du doch auch keine gebraucht."
"Tja... meine Eltern haben aber beschlossen mich in drei Wochen zu besuchen und wollen meine Freundin kennen lernen."
Lýan zog eine Augenbraue hoch. Das war ja kompliziert. Waren seine Eltern wirklich so komisch drauf?
"Dann schaff dir doch eine Freundin an. Mit deinem Aussehen wirst du das doch in dem Zeitraum hinbekommen", schlug sie unvermittelt vor, worauf sie aber wegen des Komplimentes gleich errötete.
"Toll. Es liegt aber unter meinem Niveau, in einem T-Shirt mit dem Aufdruck 'Single' rumzurennen", knurrte er und ging nicht auf Lýan s Höflichkeit ein.
"Muss ich das jetzt verstehen?" fragte diese irritiert.
"Ja, du bist nämlich die Lösung meines Problems!"
"Hä? Du meinst doch nicht etwa... Nein, vergiss es!" Lýan schwang sich auf ihre Füße und humpelte so schnell wie möglich zur Tür.
Charon holte sich geschwind ein, zog sie am Arm zurück und sorgte dafür, dass sie ihm in die Augen sah.
"Ich verspreche dir dagegen, dass ich dich und Jude zusammenbringe, außerdem ist es doch nur ein Tag. Bitte."
Lýan starrte fest in das Dunkelgrün seiner Augen. Er verlangte von ihr für einen Tag seine Freundin zu spielen, dafür würde er sie mit ihrem Schwarm zusammenbringen. Eigentlich war das gar kein so schlechter Handel. Trotzdem war sie noch etwas argwöhnisch.
"Okay. Nehmen wir einmal an, ich würde deine Freundin spielen. Muss ich dich auch küssen?" wollte sie wissen und versuchte ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen, obwohl ihr Herz wie verrückt schlug.
Charon ließ ihren Arm wieder los, als er sicher war, dass sie nicht weglaufen würde.
"Eventuell auf die Wange, wie ein Liebespaar das eben vor den Eltern macht."
"Okay, aber warum ausgerechnet ich?"
"Dich kenn ich inzwischen ganz gut und du wohnst gleich nebenan. Außerdem weiß ich bei dir, was ich als Gegenleistung machen könnte. Und das mach ich auch. Ehrenwort", schwor Charon.
Lýan wusste, dass sie ihn schlecht von seinem Vorhaben abbringen konnte und gab sich einverstanden, ihm zu helfen.
Er ging daraufhin in die Küche und wies sie an, sich auf einen Küchenstuhl zu setzen. Sofort begann er, ihr seinen Plan für die Verkupplung von Lýan und Jude zu erläutern.


Chapter 4

to change

Charon hatte Recht gehabt mit dem, was er über den Abgabetermin der Entwürfe gesagt hatte, wie Lýan am nächsten Tag feststellten musste. Sie hätte die Skizze sicherlich auch nicht fertigbekommen, denn Charon und sie hatten noch bis spät in die Nacht ein Plan ausgeheckt, mit dem sie Lýan und Jude zusammenbringen konnten.
Zumindest hatte Charon das getan. Sie selbst hatte immer nur genickt, wenn es angebracht war.
Im Groben sah der Plan so aus, dass Lýan eine kleine Verwandlung hinter sich bringen sollte. Vom hässlichen Entlein zu stolzen Schwan.
Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte, irgendwelche knappen Röcke anzuziehen, und das nur, um einem Jungen zu gefallen. Naja, vielleicht würde es ja was bringen. Außerdem hatte sie Charon bisher noch nie so ernst über etwas reden hören. Bisher hatte er immer herumgeblödelt und sie versucht zu necken, aber gestern hatte er ruhig über alles gesprochen und alles gründlich erläutert ohne Witze zu reißen.
Nun war die letzte Stunde vorbei und Lýan wartete am Schuleingang auf Charon. Hätte sie vorher von der "Kleidernummer" gewusst, hätte sie ihm nicht versprochen hundertprozentig zu kommen und wäre schon längst weg.
Sie lehnte sich an die kalte Hallenwand und blickte auf den Fußboden, der aus dunklem Stein bestand und wartete auf Charon, der sie heute in das Geschäft seiner Tante schleifen würde, um sie "neu einzukleiden", wie er sagte.
Ein Gähnen entfuhr Lýan und zwei ausgetretene Sportschuhe tauchten vor den ihren auf, nur dass die anderen Schuhe sichtlich teurer als ihre waren.
"Na? Müde?" fragte eine bekannte Stimme.
"Nicht mehr als sonst, Charon. Aber wenn das ein Grund ist die ganze Sache abzublasen: Ja", begrüßte sie den Jungen vor ihr.
"Vergiss es! Und wenn ich dich tragen muss!" grinste Charon und machte einen Schritt auf sie zu.
"Nein!" entfuhr es ihr, aber ihr Ausweichmanöver kam zu spät und Charon nahm sie auf seine Arme.
"Lass mich runter! Wenn uns jemand sieht!" Lýan hampelte verzweifelt auf ihm herum - was sie aber kein bisschen weiter brachte.
"Wenn, dann werden wir wegen deines Geschreis gehört. Also sei still und gib auf. Ich lass dich nicht runter."
Charons Grinsen war wie angeschraubt, was Lýan noch mehr Richtung Palmenspitze brachte. Aber sie hörte auf zu zappeln und klammerte sich stattdessen fest an ihn und legte ihr Kinn auf seine Schulter, um nach hinten zur großen Schultreppe zu sehen. Es war niemand in Sicht.
"Trotzdem. Du bist gemein", meinte Lýan trotzig, da ihr nichts besseres einfiel.
"Ich weiß. Halt dich gut fest." Charon setzte sich in Bewegung und ging Richtung Ausgang.
Der Schulhof war, wie das Schulhaus, menschenleer. Die wenigen Schüler, die noch da waren hatten inzwischen Nachmittagsunterricht und warfen keinen Blick aus den Fenstern.
Dennoch behielt Lýan die Schüler von draußen im Auge. Erst als Charon mit ihr auf den Parkplatz bog, auf den man sie nicht mehr sehen konnte, richtete sie ihren Blick nach vorn.
"Ähm... du hast doch nicht vor, mich bis zum Einkaufszentrum zu tragen", wollte sie unsicher wissen, als sie ein paar Mädchen an der Einfahrt zum Parkplatz vorbeilaufen sah.
"Eigentlich schon." Charon keuchte leicht, lachte aber dennoch. Er ließ sie langsam auf die Straße gleiten.
"Siehst du, jetzt bist du außer Atem, weil du mich unbedingt tragen musstest", äußerte sie sich zu seinem Japsen.
Prompt zog er sie zu sich und stützte sich auf sie.
"Hey! Du bist schwer!" Lýan stolperte unter Charons Gewicht etwas zurück.
Plötzlich hörte dieser auf nach Luft zu ringen und stellte unter normalem Atemrhythmus fest: "Du auch. Komm, lass uns gehen."
Als Lýan vor dem Nouvelle stand, wurden ihre Beine wieder wackelig und sie griff unbeabsichtigt nach Charons Hand. Als er ihre mit seinen Fingern umschloss wurde Lýan zwar leicht rot, bekam aber etwas mehr Mut den Designer-Laden zu betreten.
Charon zog sie zärtlich mit sich in das Geschäft und grüßte mit seiner anderen Hand seine Tante, die daraufhin sofort auf sie zukam.
"Hallo Charon. Was kann ich für dich und deine Freundin tun?" fragte Mrs Hue in ihrem üblichen höfflichen Ton.
Lýan versuchte heimlich ihre Hand wieder aus der von Charon zu ziehen, weil es ihr unangenehm war, dass seine Tante glaubte, dass sie seine Freundin war. Doch Charon ließ sie nicht los und festigte seinen Griff etwas mehr.
Wahrscheinlich hat er seiner Tante gesagt, dass ich seine Freundin wäre, damit sie seiner Mutter nicht erzählt, dass er keine hat oder so was, fiel es Lýan ein und sie hörte auf ihre Hand befreien zu wollen.
"Ich hab gedacht, Lýan einen neuen Look zu verpassen. Kannst du mir dabei etwas helfen? Immerhin kennst du dich besser aus als ich", erklärte Charon seiner Tante schmeichelhaft.
"Natürlich!" gab sie erfreut von sich, warf einen kurzen Blick auf Lýans dunkle Kleidung, führte beide nach hinten zu einigen bunten Ständern und begann in einem von ihnen herumzuwühlen.
"Bitte lass mich nicht verunstalten", flüsterte Lýan Charon auf Zehenspitzen zu, als Mrs Hue eine kiwigrüne Bluse mit weiten Puffärmelchen von einer Stange nahm und sie betrachtete.
"Welche Größe hast du?" fragte Charon sie.
Lýan zuckte mit den Schultern. Bis jetzt hatte sie sich noch nie etwas gekauft, sondern immer nur ihre alte Kleidung getragen - Sweatshirts und weite Baumwollhosen - weil sie sich nichts neues leisten konnte.
"Ich denke sie hat sechsunddreißig", meinte Mrs Hue und warf einen kurzen Blick auf Lýan s weites Shirt. "Vielleicht auch achtunddreißig."
Charon schob seine Hände unter ihren Jumper und fasste ihr um die Taille. Lýan unterdrückte einen überraschten Aufschrei und warf ihm einen giftigen Blick zu.
"Sie hat vierunddreißig", stellte er richtig und lächelte Lýan unwiderstehlich an.
"Wie wär's hiermit?" Charons Tante hielt ihnen eine rosa Bluse mit Dreiviertelärmeln unter die Nasen.
"Ähm... Ich denke wir sollten lieber in dem Normalfarbenbereich bleiben, Tante Mary", meinte Charon, als Lýan einen unbemerkten Schritt nach hinten auf ihn zu ging.
"Ich kann es nicht leiden, wenn du mich 'Tante Mary' nennst, dann fühle ich mich so alt." Die junge Frau drehte sich schmollend zu einem Gestell mit roter Kleidung.
"Wie wär's hiermit", schlug Lýan vor und griff blind in einen Ständer, um Charon und seine Tante abzulenken. In ihrer Hand hielt sie eine eng anliegende Latino-Bluse deren Ärmel sich zu Ende hin weitete. Sie war weiß und hatte einen tiefen Ausschnitt.
"Hm." Charon legte seine Arme um ihre Schultern und blickte über diese hinweg. "Sowas würdest du anziehen? Ich habe dich wohl unterschätzt."
Mary zog einen weißen Seidenrock hervor, der mit weichen roten Blüten bedruckt war. "Dieser passt perfekt dazu. Es steht dir sicher sehr gut", erklärte sie.
Charon nahm dankend die zwei Kleidungsstücke an sich, wies seine Tante darauf an, weiter zu suchen und schob Mýa zu den Garderoben.
"Ich muss das doch nicht jetzt anziehen, oder?" Lýan stemmte sich widerstrebend gegen Charon.
"Doch, genau jetzt." Er griff um ihren Bauch, zog sie an sich und trug sie zu einer der Kabinen.
Lýan blieb davor stehen.
"Sonst kannst du Jude vergessen", erwähnte Charon seinen Cousin.
Lýan blieb stehen.
"Ich rede nie wieder mit dir."
Lýan blieb stehen.
"Ich geh mit dir da rein und zieh dich um."
Lýan ging in die Kabine, zog den Vorhang zu und setzte sich auf den Stuhl.
" Lýan ", ermahnte Charon sie kurz und reichte ihr die Kleidung hinein.
Was hatte sie schon für eine Wahl. Charon war nun mal ein Sturkopf. Sie nahm die Bluse und den Rock entgegen und begann sich langsam auszuziehen.
"Wenn du in zwei Minuten noch nicht fertig bist, greif ich natürlich auf mein Angebot zurück, dir zu helfen", hörte Lýan Charon von draußen. Sofort fing sie an sich zu beeilen.
Als sie den Rock anzog fiel ihr auf, dass kein Preisschild angebracht und dies wohl ein Zeichen dafür war, wie teuer der Laden wirklich war. Immerhin war das ja ein Designerladen.
"Charon?" zweifelnd steckte sie den Kopf aus der Kabine. Als er fragend eine Augenbraue hob, meinte sie: "Ich kann mir das niemals leisten. Gehen wir lieber woanders hin."
"Mach dir darum keine Sorgen. Ich schenk sie dir."
"Aber..."
"Zieh dich um." Er lächelte sie aufmunternd an und damit war für ihn das Thema erledigt.
Lýan seufzte und zog sich nun auch die Bluse an. Sie sah in den Spiegel und vor ihr stand ein unbekanntes Mädchen. Ein sehr gut aussehendes Mädchen.
Charon kam wie versprochen herein, stellte sich hinter sie und pfiff durch die Zähne.
Nach dreistündigem Dauershoppen stand Lýan nun völlig ausgelaugt vor der Kasse. Sie lauschte auf das dauernde Piepsen des Etikettscanners.
" Lýan?" ertönte plötzlich die Stimme von Mary.
"Ja?"
"Ich übernehme die Rechnung", unterbrach Charon seine Tante, die gerade wieder ansetzen wollte die Summe der Rechnung zu wiederholen. Er nahm seine Kreditkarte aus dem Portemonnaie und gab sie ihr.
Geschwind rechnete Mary ab. "Da du mein Neffe bist, gebe ich dir einen Rabatt."
Lýan ignorierte das Gespräch, ging erschöpft nach draußen und setzte sich auf eine der Bänke. Sie beobachtete die Menschen, die an ihr vorbeigingen und verfolgte einige von ihnen bis sie in irgendeinem Geschäft waren.
"Lass und zum Friseur gehen." Charon stand plötzlich neben ihr.
Überrascht sprang sie auf. "Friseur?!"
"Ja. Es soll nicht fiel abgeschnitten werden, nur ein bisschen. Die Tüten hab ich bei meiner Tante gelassen. Wir holen sie dann ab, wenn wir fertig sind."
Lýan gab ein Geräusch von sich, von dem sie selbst nicht wusste, was es war und machte ein Gesicht, als würde sie zur Schlachtbank geführt werden. Genau so fühlte sie sich auch, als sie Charon folgte.
Sie war zu müde um mit ihm zu streiten. Es machte ihr zwar Spaß, aber sie wollte so schnell wie möglich wieder zuhause in ihrem warmen Bett liegen und einfach nur schlafen.
"Mach morgen doch einfach wieder blau. Ich werde dich schon entschuldigen", grinste Charon.
Lýan lehnte sich gegen ihn, schloss die Augen und ließ sich durch das Einkaufszentrum führen. Wenigstens hatte sie jetzt wieder ihre alten Klamotten an. Den Friseur würde sie schon irgendwie überleben.
Lýan hörte ein leichtes Zischen und sog den Geruch von gebratenem Schinken in die Nase. Etwas plätscherte, ein Stuhl wurde umgestellt und Besteck klapperte.
Als Lýan ihre Augen öffnete wurde sie von hellen Sonnenstrahlen begrüßt, die gelb-rot schimmerten. Gemächlich ließ sie den Blick über das Zimmer streifen.
Erschrocken fuhr sie zusammen. Sie war gar nicht in ihrer Wohnung, sondern in der Charons.
"Guten Morgen, Prinzessin. Ihr Mahl ist gerichtet", begrüße Charon, der plötzlich neben ihr stand, sie in einem schelmischen Ton.
Lýan griff nach dem Kissen unter ihrem Kopf, warf es ihm schwungvoll ins Gesicht und drehte sich auf die andere Seite. Unerwartet wurde sie mit einem Male hochgehoben.
"Du solltest lieber aufstehen und frühstücken", befahl der braunhaarige Junge mit einem gespielt sorgevollen Blick. Er trug sie die paar Meter in die Küche und setzte sie auf einem hölzernen Barhocker ab.
"Warum musst du mich immer rumschleppen?!"
"Ich hab nix andres zutun."
"Das ist kein Grund."
"Ich finde, dass ist ein guter."
Lýan gab es auf und begutachtete das Frühstück. Es bestand neben Toast, Ei mit Schinken und Orangensaft auch aus Salat, Müsli und einer Schale mit Obst.
"Ich hab nun mal nicht gewusst, was du sonst so isst. Also hab ich alles gemacht, was mir eingefallen ist", verteidige sich Charon, als Lýan ihm einen fragenden Blick zuwarf.
"Normalerweise esse ich gar nichts zum Frühstück. Ich hab nie Zeit dafür", erklärte diese daraufhin. Dann nahm sie sich etwas von dem Salat und dem Toast.
"Ich will dich nur darauf hinweisen, dass wir gerade die Schule schwänzen. Nicht das du einen auf Panik machst", gestand Charon.
"Hm... Ich kann mich nicht erinnern, gestern ins Bett gegangen zu sein", wechselte Lýan das Thema und schob sich den letzten Bissen Toast in den Mund.
Charon trank noch einen Schluck Saft. "Nach dem Friseur warst du vollkommen weggetreten. Ich frag mich nur, wie man im Gehen nur schlafen kann?"
Das Mädchen errötete und kam mit einer Gegenfrage: "Warum hast du mich nicht in meine Wohnung gebracht?"
"Ich hatte leider keinen Schlüssel."
"Der ist in meiner Hosentasche."
"Na, bevor ich dich befummle, bring ich dich lieber zu mir", meinte Charon und steckte sich ein Apfelstück in den Mund.
"Aha... und da kann man keinerlei Hintergedanken feststellen?"
Als Charon gerade etwas kontern wollte, klingelte irgendwo ein Telefon. Mit einem "Moment" ging er in das Zimmer, von dem Lýan glaubte, dass es das Schlafzimmer von ihm war.
Sie wartete zwei Sekunden, dann sprang sie auf und ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel.
Ihr Pony - der vorher nicht existiert hatte - war nun kinnlang und etwas gestuft. Die restlichen Haare waren kaum gekürzt worden, dafür nun aber lockig. Zudem waren ihre Augenbrauen nun schmaler und elegant geschwungen. Zum Glück war sie gestern so müde gewesen, dass sie das Augenbrauenzupfen nicht mitbekommen hatte.
"Und?" fragte Charon, der erneut neben ihr stand.
Erschrocken fuhr Lýan zusammen. "Hör auf dich dauern anzuschleichen!"
"Sorry. Also, was sagst du dazu?" gab Charon dem Gespräch einen Stoß in eine andere Richtung.
"Ich find's irgendwie... cool", lächelte sie Charon an.


Chapter 5

to celebrate

Lýan steckte hektisch die letzte Wäsche in die alte Waschmaschine und schloss die Glastür mit einem Knall, dann hastete sie an die Tür. Schnell warf sie einen Blick in den Spiegel und zog ihr kurzes Kleid glatt. Es war dunkelblau – fast schwarz – und bestand aus feinem Satin. Dazu trug sie gleichfarbige Sandalen. Ihre Augen waren leicht dunkel geschminkt - was ihre Augenfarbe betonte - und ihre Lippen waren mit durchsichtigen Lipgloss bemalt.
Es war nun schon zwei Tage her, seit sie bei Charon aufgewacht war und heute würde sie zum ersten Mal auf eine Party gehen. Sie wollte pünktlich kommen und hatte deshalb schon vor einer Stunde angefangen sich zu stylen.
Es machte ihr Spaß sich hübsch zu machen. Früher hatte sie sich immer gefragt, was Mädchen so toll daran fanden, sich das Gesicht zu beschmieren. Sie war der Ansicht gewesen, dass sie das für die Jungs taten und um dem Schönheitsideal zu entsprechen. Gut, das stimmte auch, aber Lýan hatte gemerkt wie toll es war, wenn einem die Jungen hinterher blickten und eventuell gegen eine Laterne liefen.
Plötzlich klingelte es. Lýan sah auf die Uhr. Sie hatte tatsächlich fünf Minuten vor dem Spiegel gestanden – wie konnte sie nur.
Über sich selbst lachend öffnete sie die Tür.
„Warum so vergnügt?“ wollte Charon wissen und legte den Kopf schief.
„Nur so. Ich hab etwas getrödelt.“ Lýan nahm ihren ockerfarbenen Mantel vom Haken, ging aus ihrer Wohnung und schloss die Tür ab.
„Mädchen trödeln nicht. Es liegt in ihrer Art, uns Männer immer warten zu lassen.“
„Trotzdem, ich mach das ungern.“ Sie betrachtete den Schlüssel in ihrer Hand. „Das dumme an Kleidern und Mänteln ohne Taschen ist, dass man nicht weiß wo der Schlüssel hinkommt.“
Vergnügt nahm Charon ihn ihr weg und ließ ihn in seine schwarze Hose gleiten. Neben dieser Schlabberhose trug er ein ebenfalls schwarzes Hemd und darüber ein offenes dunkelblaues Flanellhemd. „Ich werd drauf aufpassen“, meinte er nur und ging mit ihr hinunter vor das Haus.
„Wow, gehört dir das Auto?“ wollte Lýan wissen und begutachtete den silbernen Flitzer der dort geparkt war.
Charon kramte nach dem Autoschlüssel und schloss anschließend auf. „Nein, ich hab ihn mir von meiner Tante geliehen. Hat 'ne Weile gedauert bis ich ihn bekommen habe.“
Mit einem Satz war der Junge um das Auto herum und öffnete Lýan wie ein Gentleman die Tür. Diese setzte sich vorsichtig in den tiefer gelegten Zweisitzer.
„Ich hoffe mal, dass du einen Führerschein hast“, deutete Lýan zweifelnd an, als sich Charon in den Fahrersitz fallen ließ.
„Führerschein? Was is’n das für'n Ding?“
Sicher und wohlbehalten hielt Charon den Wagen eine Straße weiter von der Party entfernt auf einem kleinen Parkplatz.
„Kann ich die Augen wieder aufmachen?“ fragte Lýan lächelnd.
„Ja, und wenn du willst, dass ich nachkucke ob noch alles dran ist…“ Charon lehnte sich leicht zu ihr hinüber.
Errötet winkte sie ab. „Nein, nein. Ich bin mir sicher, dass alles heil angekommen ist.“
„Das hoffe ich“, meinte Charon amüsiert, stieg aus den Wagen und kam auf ihre Seite, um ihr beim Aussteigen zu helfen.
„Du musst nicht nervös sein. Ich bleib an deiner Seite. Entspann dich, okay?“ beruhigte er sie mit überzeugender Stimme, als er merkte, dass sie zitterte.
Lýan nickte stumm vor sich hin. Charon nahm sie bei der Hand und führte sie durch die Straßen zu einer großen weißen Villa.
In den großen Fenstern flackerten bunte Lichter und überall auf der Veranda und dem Rasen tummelten sich Jugendliche.
Stumm zog Charon sie näher zu sich, als ihnen ein betrunkener Junge in ihrem Alter entgegen torkelte. Bevor dieser überhaupt etwas sagen konnte kippte, er zur Seite in ein Blumenbeet. Lýan warf besorgt einen Blick auf ihn, während ihr Begleiter sie drängte weiterzugehen. Als sie ein leises Kichern hörte und sah wie der fremde Junge sich langsam wieder aufrappelte, kam sie Charons Wunsch nach und setzte sich wieder in Bewegung.
„Hey Charry!“ Ein muskulöser Mann stand an der offenen Eingangstür und klopfte Charon freundschaftlich auf die Schulter, als Charon neben ihm stand. „Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr!“
„Du weißt doch, ich komme immer erst, wenn die Party schon im Gange ist!“ versuchte Charon die laute Musik zu übertönen. „Das ist übrigens Lýan!“ stellte er sie dem nahtlos gebräunten vor.
„Hey! Mich nennen alle Nash!“ Nash gab ihr einen festen Händedruck. „Seit wann bist du Charrys Freundin?! Ich kenn dich gar nicht!“
„Sie ist nicht meine Freundin! Weißt du wo Jude ist?!“ wechselte Charon prompt das Thema.
Nash schmunzelte, ging aber nicht weiter darauf ein und deutete über seine Schulter hinweg zur Terrassentür. „Er ist im Pool!“
Charon nickte seinem Freund kurz zu und machte sich auf den Weg zur Tür, dicht gefolgt von Lýan.
Sie blickte sich nervös um. Überall flirteten die Jungs mit den Mädchen, tanzten oder taten unsittliche Dinge. Wo war sie da nur hineingeraten. Als sie bemerkte, wie sie ein Junge beobachtete und nach einigen Sekunden zu ihr ging, rückte sie etwas näher an Charon heran.
„Hey Süße! Bist du alleine hier?!“ fragte der Fremde, als er sie erreicht hatte, sie am Oberarm festhielt und sich mit der anderen Hand an seine Bierdose klammerte.
Lýan war im ersten Moment wie gelähmt, doch dann blickte sie ihm fest in die Augen. „Nein! Mit meinem Freund!“ Auch sie musste schreien, um gegen das Technogehämmer anzukommen. Ihr wurde von seiner Alkoholfahne langsam übel.
„Und wer ist das?!“ wollte er wissen und blickte sich suchend um.
„Ich!“ Jemand legte seine Arme von hinten um ihre Taille und drückte sie an sich. Lýan nahm einen leichten Geruch von Minze war. „Hat er dir weh getan, Kleines?!“ wollte Charon wissen und strich über Lýan s Arm, den der Fremde bei Charons Erblicken blitzschnell losgelassen hatte.
Lýan musterte nun gelassen die angsterfüllte Miene ihres Gegenüber. Ein heimtückisches Grinsen flammte in ihrem Gesicht auf. Noch bevor sie etwas sagen könnte, machte sich der angetrunkene Junge aus dem Staub.
„Komm mit! Und bleib dieses Mal bei mir!“ wies ihr Retter in der Not sie zu zurecht. Er löste seine Umarmung und nahm sie stattdessen wie ein kleines Kind bei der Hand.
Nach fünfminütiger Suche hatten Lýan und Charon Jude endlich im Pool gefunden, wobei sich Lýan hinter Charon versteckte. Sie wollte Jude nicht gegenübertreten. Nicht nur, weil sie ihn nicht leiden konnte, sondern auch, weil sie einfach von hier verschwinden wollte. Ihr war so eine Party einfach zu laut und zu… schmutzig, fiel ihr ein, als sie ein Paar beobachtete, das ihr Liebesspiel genüsslich vollzog. Errötet drehte sie sich zu Charons Rücken und lehnte ihren Kopf an seine Wirbelsäule.
„Wenn hast du denn da mitgebracht?“ hörte Lýan plötzlich Judes Stimme. Erschrocken fuhr sie zusammen.
Charon schob sie gegen ihren Willen vor sich. „Das ist Lýan. Du müsstest sie doch eigentlich kennen. Sie geht doch in dieselbe Schule wie wir.“
Jude musterte sie aus dem Wasser heraus und schwamm nach einer Weile bis an den Rand, um Lýan besser sehen zu können.
„Nein. Ich kenn sie nicht. Wenn sie an unserer Schule wäre, wäre sie mir schon längst ins Auge gesprungen. Ich kenne jede Schönheit“, lächelte er sie verführerisch an.
Lýan s Herz machte einen Sprung. Aber es war mehr ein ängstliches Stolpern.
„Kennst du sie wirklich nicht? Lýan Witherit“, versuchte Charon noch einmal.
Sie rieb sich die Stirn. Lýan hasste es, wenn man einfach über sie redet, als wäre sie gar nicht da. Sie versetze Charon mit dem Ellenbogen einen unbemerkten Schlag in die Magengegend.
„Hm… Komm mal runter“, forderte Jude sie auf, als sie belustigt zusah, wie Charon ein stummes „Auh“ formte. Sie kam nur zögernd Judes Bitte nach, hockte sich aber schließlich doch an den Beckenrand.
Jude wickelte sich eine ihrer schwarzen Locken um den Zeigefinger, strich ihr mit den Fingern über die Nase und schließlich über die Lippen. Lýan riss sich bei jeder Berührung zusammen, um nicht zurückzuzucken. Früher, als sie noch eine Schwäche für ihn gehabt hatte, hatte sie oft davon geträumt, dass Jude sie so berührte. Nun war es ihr unangenehm.
„Sorry, aber ich kann mich trotzdem nicht an dich erinnern. Bist du Charons Freundin?“ gab er mit verheißungsvollem Blick zu.
„Nein.“
„Hast du momentan einen Freund?“
„Nein. Aber ich arbeite dran“, meine sie schnippisch und stand auf.
Jude erhob sich kräftig aus dem Wasser und richtete sich neben ihr empor. Er nahm eine ihrer Hände und führ deren Knochen nach. „Wer ist denn der Glückliche?“ fragte er interessiert.
„Wird wohl ein Geheimnis bleiben.“
„Gib mir wenigstens einen Tipp.“
Lýan entzog ihm seine Hand und meinte zuckersüß: „Nur soviel: Du nicht.“
Judes verführerisches Lächeln verblasste, dafür erschien ein herausforderndes Grinsen in seinem Gesicht.
Das Mädchen wendete sich allerdings Charon zu. „Können wir gehen? Mir ist plötzlich so schlecht“, bettelte sie mit einem Blick auf Jude.
Charon blickte sie überrascht an, stimmte ihr aber dann doch noch zu. Er verabschiedete sich kurz von seinem Cousin, der ihm noch schnell ein paar Worte zuflüsterte, und führte Lýan dann zum Auto.
Auf der Heimfahrt hatten sie nicht miteinander geredet. Als Lýan schließlich ihre Wohnungstür aufgeschlossen hatte, bat Charon darum, dass er kurz mit ihr reden dürfe. Sie nahm ihn mit hinein und ließ sich auf ihr Bett fallen. Nach einigen Sekunden setzte sie sich auf.
„Also, was wolltest du mit mir bereden?“ wollte sie schließlich wissen, wobei sie versuchte ihre ungewohnten Gefühle und das Flattern im Bauch zu unterdrücken.
„Ich wundere mich nur“, erklärte Charon nachdem er sie eine Zeit lang angestarrt hatte. Auf Lýan s Hochziehen der Augenbraue meinte er: „Jude hat angebissen und du freust dich kein bisschen.“
„Er hat nicht angebissen, sondern ich habe ihn abgeschreckt“, stellte Lýan richtig.
Charon setzte sich neben sie. „Mir hat er allerdings was ganz andres gesagt. Also freu dich.“
„Juhu“, murmelte das Mädchen sarkastisch. Sie korrigierte sich schnell, als er sie fragend ansah. „Ich meine, dass war meine erste Party. Und ich bin den Lärm und so einfach nicht gewöhnt. Ich bin jetzt zu müde um mich darüber zu freuen.“
Charon presste seine Lippen zusammen und nickte verständnisvoll.
Lýan wundere sich über seine Reaktion. Er schien irgendwie traurig zu sein.
Nur um ihn zu trösten, und weil sie sowieso schon müde war, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und genoss seine Wärme. Daraufhin nahm Charon sie unvermittelt in den Arm, worauf sie sich an ihn kuschelte.

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Texte: Copyright by angel88
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2009

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