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Prolog

Ich weiß nicht an welchem Punkt, alles den Bach runterging.
Was hatte den Stein ins Rollen gebracht, der mein Leben so plötzlich überrollte.
   Noch vor weniger als 48 Stunden schien alles normal. Ok, wenn man mein bisheriges als ›normal‹ bezeichnen konnte.
   Doch was hatte ich getan, um dies hier zu verdienen? Hätte ich öfter Bitte und Danke sagen, oder mich für gemeinnützige Zwecke einsetzen sollen? Oder war es wegen des Kaugummis, der mir im Laden aus dem Mund gefallen war, und den ich dann einfach liegen gelassen habe?
   Was es auch war — der Tod schien mir dann doch eine etwas zu rabiate Strafe.
Ein gebrochener Arm hätte es auch getan.
Mein Arm war wahrscheinlich sogar gebrochen.
Obwohl man das vielleicht schlecht beurteilen konnte, wenn man sich noch nie was gebrochen hatte. Prellungen hatte ich bereits etliche gehabt. Aber ein Bruch? Noch nie. Naja, bis jetzt…denke ich…
Und ich hätte auch wirklich drauf verzichten können!
   Tja, und jetzt lag ich hier auf dem kalten Asphalt in einer dunklen Gasse — hätte ja nicht eine Blumenwiese sein können —, mein Körper fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt an, und der verdammte Piepton, der durch meinem Kopf schrillte, trieb mich noch in den Wahnsinn!
   Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, fing es tatsächlich auch noch an zu regnen.
Danke für die Blumen.
Wenn es einen Gott gab, dann konnte er mich wohl nicht besonders gut leiden.
   Ich blickte zur Seite auf der Suche nach meinem Peiniger. Was sich als echte Geduldsprobe herausstellte, da meine Sicht immer wieder verschwamm, so als würde eine Kamera jedes Mal neu fokussieren.
Konnte er es nicht endlich mal hinter sich bringen, oder war er zu beschäftigt sich an meinem Elend zu ergötzen?
Das einzige was ich ausmachen konnte, waren zwei Gestalten, die sich blitzschnell hin und her bewegten, fast so als würden sie tanzen. Dann wurde meine Sicht mit einem Mal wieder klar.
Sie kämpften? Gerade rammte der eine, dem anderen etwas von unten in den Kehlkopf, da wurde meine Sicht auch schon wieder unscharf.
Verdammter Autofokus!
   Mein Herzschlag dröhnte in meinem Kopf, wohl um mich zu erinnern, dass ich noch lebte — mit Betonung auf noch —, während ein Schemen sich mir langsam näherte.
Nun war es wohl so weit. Hoffentlich würde es schnell gehen.
   Vor mir ging die Gestalt in die Hocke und stützte seinen Kopf mit einem Arm auf dem Knie ab.
Es sah fast so aus, als würde er nachdenken. 
»Dich hat man ja ganz schön zugerichtet.«
   Mein Atem stockte kurz. Es war nicht die Stimme, die ich erwartet hatte — sie klang jung.
Vergeblich versuchte ich meinen Blick zu fokussieren, doch es war zu anstrengend, also gab ich es nach wenigen Sekunden wieder auf. Stattdessen richtete ich meine Konzentration auf mein Gehör.
Was nicht minder kräftezehrend war, da sich mein wummerndes Herz und der Piepton, in meinem Kopf um meine Aufmerksamkeit zankten.
   »Hast dich wohl mit den falschen Leuten angelegt.«
Keinerlei Mitgefühl schien in seiner Stimme zu schwingen. Ohne dass ich es verhindern konnte, rollte mir eine Träne aus dem Augenwinkel.
Verdammt!
Ich wollte nicht weinen.
Ich weinte nie!
   Was würde mein Vater wohl jetzt zu mir sagen? ›Sei stark, mein Mädchen!‹ oder ›Hättest den Kaugummi wohl lieber aufheben sollen, was?‹ 
Ok, letzteres wohl eher nicht...
   »Was mach ich jetzt mit dir?«
Er klang nachdenklich und wandte seinen Kopf zur Seite.
Wahrscheinlich dachte er gerade darüber nach, wo er meinen Körper am besten entsorgen konnte und was für ein nerviger Aufwand dies sein wird.
   Plötzlich beugte er sich über mich und sein Gesicht schwebte nur wenige Zentimeter über meinem.
Seine Eisblauen Augen, die selbst mit verschwommener Sicht zu strahlen schienen, blickten mich direkt an. Mein jetzt rasendes Herz gewann die Oberhand und drängte den Piepton in den Hintergrund.
   »Sag mir: Willst du leben oder willst du sterben?«
Was?
Warum fragte er das? Was würde eine Antwort bringen? Ich war wahrscheinlich nur noch Minuten, wenn nicht sogar Sekunden vom Tod entfernt. Auch wenn ich kein Arzt war, wusste ich, dass es nichts mehr gab, was man tun konnte, um das zu ändern.
Es gab keine Rettung mehr.
Nicht für mich.
Und dennoch.
Auch wenn ich wusste, dass es nichts ändern würde, wollte ich es aussprechen. 
»Ich...«, krächzte ich schwach.
Es war schwerer als gedacht. Meine Stimmbänder fühlten sich an wie Sandpapier und so klag auch meine Stimme. Meine letzte Kraft zusammennehmend, versuchte ich es erneut.
 »Ich...will...nicht sterben.«
Das verzweifelte Schluchzen am Ende konnte ich einfach nicht unterdrücken. Es hatte etwas Befreiendes es auszusprechen.
Ohne meinen Willen fielen mir die Augen zu und alles wurde still.
Ein warmer Atem streifte mein Ohr.
   »Dann Lebe«, hauchte er. 
Das letzte was ich spürte, war ein glühender Schmerz in der Brust. 
Dann verschlang mich die Dunkelheit.

 

Kapitel 1

„Dad steh auf! Das Essen wird kalt!“
Ich blickte zur Couch auf der mein Vater, ohne Decke und vollkommen angezogen, wie ein Murmeltier schlief.
Keine Reaktion.
„Dad steh schon auf. Du musst etwas essen!“
Ungeduldig rüttelte ich ihn kräftig an der Schulter.
Er brummte verschlafen, machte aber dennoch keine Anstalten aufzustehen.
„Dad!“
„Ist ja gut. Ich steh ja schon auf“, murmelte er genervt und setzte sich auf.
„Wie spät ist es?“, fragte er gähnend, während er sich am Kopf kratzte.
Er sah aus, ob er gleich wieder im Sitzen einschlafen würde.
„Acht Uhr.“
„Acht Uhr?! Wieso weckst du mich denn so früh!“
„Acht Uhr Abends“, sagte ich trocken als ich sah, dass er sich schon wieder schlafen legen wollte.
„Oh.“
Innehaltend blickte er zum Fenster.
Es war März. Was hieß, dass die Sonne bereits untergegangen war.
Schweigend hielt ich ihm einen Teller Spagetti vor die Nase, den er mit halb geschlossenen Augen entgegen nahm. 
Ich ließ mich auf den Sessel zu seiner linken plumsen und beobachtete ihm dabei, wie er die Spagetti nur so in sich rein schaufelte.
„Und wie ist es gelaufen?“, fragte ich schließlich, möglichst beiläufig klingend.
Für eine Sekunde zögerte er.
„Wie immer“, antwortete er knapp und aß weiter.
Warum hatte er gezögert? Ich betrachtete ihn genauer.
Seine Kleidung war schmutzig.
Aber das war sie immer nach seiner Arbeit.
Warte.
War das Blut an seinem Ärmel?!
Jetzt erst, viel mir auch der große Fleck an seinem Hosenbein auf.
„Bist du verletzt“, fragte ich erschrocken und wollte mich schon auf dem Weg zum Verbandskasten machen.
„Was? Nein, das ist nicht mein Blut.“
Ich blieb stehen und hob misstrauisch ein Augenbraue.
„Ok, dann kannst du deinen mittlerweile leeren Teller ja zur Spüle bringen."
Herausfordernd setzte ich mich wieder.
„Das kann ich auch gleich noch machen. Lass mich erstmal wach werden.“
Lügner.
Ganz leicht stieß ich mit dem Fuß gegen sein Schienbein.
Sofort zuckte er zusammen und machte ein schmerzverzerrtes Gesicht.
„He“, brummte er anklagend.
„Nicht verletzt also?“
Bevor er noch etwas erwidern konnte, war ich schon aufgestanden und ging zur Wohnzimmerkommode. Der Verbandskasten stand immer griffbereit, da Verletzungen bei meinen Vater leider keine Seltenheit waren.
Sein Beruf war Gefährlich.
Auch wenn ich mir wünschte, er würde etwas anderes machen, wusste ich, dass es egoistisch wäre so zu denken.
Er rettete Menschenleben.
Vielen denken jetzt wahrscheinlich an einen Feuerwehrmann oder Polizisten. Oh, ich wünschte er wäre ein einfacher Polizist. Aber Nein.
Mein Vater war ein „Jäger“. Um genauer zu sein ein Monsterjäger.
Monster gibt es doch gar nicht, richtig?
Falsch.
Monster waren real, wie auch die Geschichten über sie.
„Leg dein Bein hoch“, befahl ich und stellte den Verbandskasten auf dem kleinen Wohnzimmertisch ab.
„Das schaff ich schon selbst“, murmelte er, gehorchte aber trotzdem.
Vorsichtig schob ich sein Hosenbein hoch. Auf seinen Schienbein prangte eine riesige Platzwunde.
Sie hatte aber bereits zu bluten aufgehört.
„Sagst du mir was passiert ist?“, fragte ich, während ich mich setze und dran machte sein Bein zu verarzten.
„Du weißt, dass das nicht geht.“
Wütend blickte ich ihn an. Es war immer das gleiche. Nie erzählte er mir etwas.
„Dad, ich bin schon 17! Ich bin kein Kind mehr!“ 
„Es ist...“,setzte er an, wurde aber prompt von mir unterbrochen.
„...zu deiner Sicherheit. Es ist besser so.“,zitierte ich ihn,“Das sagst du immer.Wann erzählst du mir endlich etwas.“
„Ich will nicht, dass du irgendetwas mit der Sache zutun hast.“
War das sein verdammter Ernst. Kochend vor Wut ließ ich vom seinem Bein ab und stand auf.
„Tja, das hättest du dir überlegen können, BEVOR du mich von Stadt zu Stadt schleifst! Hättest du mich nicht einfach zurücklassen können?!Mom wusste auch nichts von Monstern und es hat ihr nichts genützt“
„Alexandria!“
Mein Vater blickte mich voller Zorn an.
Ich war zu weit gegangen.
Den letzten Satz hätte ich vielleicht nicht sagen sollen, aber wenn man wütend war, sagte man oft Dinge die man später bereute. Und leider war mein Mundwerk oft schneller, als mein Gehirn.
Schnell stürmte ich die Treppe hoch in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu, um schlimmeres zu verhindern. Ich konnte meine Gefühle eigentlich immer ziemlich gut kontrollieren. Das letzte mal hatte ich geweint als ich neun war. Nur mit Wut konnte ich leider nicht so gut umgehen.  Ich hasste es andere zu verletzen, aber es war sowas wie mein Schutzmechanismus, um nicht selbst verletzt zu werden. Oder es zumindest nicht zu zeigen, wenn ich es war.

Ich ging zur Wand an der eine Zielscheibe hing, in dessen Mitte drei Wurfmesser steckten.
Warum konnte er mir nicht einfach etwas erzählen? Wieso behandelte er mich immer noch wie ein kleines schwaches Kind?!
Wütend zog ich die Messer, eines nach dem anderem, heraus und ging zur anderen Seite des Raumes. Während ich eins der Messer in meine Rechte Hand nahm, visierte ich gleichzeitig mein Ziel an.
Tief holte ich durch die Nase luft und blies sie langsam durch den Mund wieder aus.
Blitzschnell ließ ich meine Hand, in einer fließenden Bewegungen, vorschnellen.
Das Messer traf genau die Mitte. Das gleiche Wiederholte ich mit den beiden anderen Messern und natürlich verfehlten auch sie nicht ihr Ziel.
Wieder ging ich zur Zielscheibe, zog die Messer heraus, brachte mich in Position und lies meine Messer erneut nach einander vorschnellen.
Was für die einen Shoppen war, war für mich das Messerwerfen.
Dies war meine Art mich abzulenken und meine Wut abzureagieren. So konnte ich alles ausblenden. Ich musste mich einfach nur auf mein Ziel fokussieren.
Immer und immer wieder ließ ich meine Messer in die Zielscheibe sausen.
So lange bis meine Arme müde wurden.
So lange bis meine Wut verflogen war.
So lange bis ich mich irgendwann erschöpft ins Bett fallen ließ und zu meinem Wecker schielte.
23:18Uhr.
Ich war verschwitzt und stank höchstwahrscheinlich wie ein Stinktier.
Doch um jetzt noch aufzustehen und zu duschen war ich einfach zu müde.
Egal, ich konnte auch morgen früh duschen und das Bettzeug musste sowieso mal wieder gewechselt werden. Meine Faulheit siegte und ich schlüpfte, nachdem ich mich bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte, unter die Decke.
Kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen.

 

Kapitel 2


Das klingel meines Weckers riss mich aus meinem Schlaf. 7Uhr.
So wie jeden Tag. Verschlafen setzte ich mich auf und streckte mich ausgiebig. Ich schaltete das nervige piepen meines Weckers aus und  machte mich auf dem Weg zum Badezimmer.
Kurz schnüffelte ich an mir. Was ich direkt bereute. Ich machte einem Stinktier wirklich Konkurrenz.
Schnell vollzog ich meine nötige Dusche und putzte mir die Zähne. Nachdem ich meine Haare geföhnt hatte, ging ich mit einem Handtuch bekleidet in mein Zimmer um mich anzuziehen. Kurz grübelte ich. Was sollte ich später mit meiner Zeit machen? Auch wenn Dienstag war, hatte ich keine Schule. Die hatte ich schon mit 16 abgeschlossen. Was eine ziemliche Meisterleistung war, wenn man bedenkt wie oft wir umzogen. Freunde hatte ich auch keine mit denen ich mich hätte Treffen können. Es war einfach lächerlich sich mit jemanden anzufreunden, den man nach kurzer Zeit nie wieder sehen wird. Auch die Geheimnisse meines Vaters waren ein Grund. Ich hätte meine Freunde stets anlügen müssen. Seit ich 12 Jahre alt war, hatte ich aufgehört es zu versuchen. Ich hielt die Leute auf Abstand. So ist es besser. Das redete ich mir zumindest stets ein.
Ich blickte zu meinen Bücherregal. Ob ich einfach zu Hause bleiben sollte und die Bücher lesen, die ich mir gestern in der Stadtbücherei ausgeliehen habe? Es waren Bücher über Mythen und Legenden. Der Großteil über verschiedene Fabelwesen. Mein Vater erzählte mir ja nicht viel, aber so konnte ich wenigstens selber versuchen, etwas über die Dinge die er jagte, herauszufinden. Klar, die meisten der Geschichten waren erfunden, aber in jeder steckte auch ein Fünkchen Wahrheit.
Ich war gerade dabei mir meine Hose zu zuknöpfen, als ein lauter Knall, der von unten zu kommen schien, mich zusammenzucken ließ. Schnell schlüpfte ich in meinen Pullover und eilte die Treppe runter.
Auf der letzten Stufe blieb ich verblüfft stehen. Meiner Vater lief unruhig im Raum hin und her. Ok, er humpelte mehr. Eilig riss er Schubladen und Schranktüren auf, packte ein paar Gegenstände und trug sie zum Wohnzimmertisch auf dem ein Koffer stand. Wahllos schmiss er die Sachen rein und machte sich schon wieder auf den Weg um neue Dinge zu holen.
„Was machst du da?“
Ich stand immer noch wie versteinert auf der letzten Treppenstufe.
„Ich packe“, sagte er ohne mit seinem tuen aufzuhören und sich zu mir umzudrehen.
„Das sehe ich“, sagte ich trocken,“Warum packst du ?“
„Wir müssen los.“
„Was? Du meinst wir ziehen wieder um?“
Es sollte mich eigentlich nicht überraschen. Aber das tat es. Ich hatte gehofft, dass es diesmal länger wäre. Ich war naiv genug zu glauben, dass es nur weil mein Vater ein Haus statt eine Wohnung oder ein Hotelzimmer gewählt hatte, es einen Unterschied machen würde. Ich hatte sogar mein Zimmer eingerichtet. Mir einen Bücherreiausweis besorgt und mich nach Jobs umgesehen. Drei Monate. So lange waren wir hier. Deutlich kürzer als sonst. Meistens wohnten wir mindestens 6 Monate an einem Ort. Was natürlich auch nicht besonders lang war.
„Was stehst du da noch rum? Geh hoch und pack deine Sachen! Wir fahren heute noch los, bevor es dunkel wird.“
Das riss mich aus meinen Gedanken. Ich ging zum Wohnzimmertisch und stellte mich ihm in den Weg.
„Wieso müssen wir so plötzlich aufbrechen?!“, fragte ich aufgebracht.
Er hielt kurz inne, als würde überlegen was er sagen sollte.
„Weil wir es eben müssen. Ich habe dafür jetzt keine Zeit, Alex“
Er wischte sich unruhig übers Gesicht und fing wieder damit an Sachen zusammen zu suchen.
Stur verschränkte ich die Arme und bewegte mich nicht vom Fleck. Ich mochte dieses Haus. Ja, sogar diese Stadt. Ich wollte bleiben. Ich wollte nicht einfach kampflos aufgeben. Nicht ohne Antworten.
„Sag mir doch einfach, wieso wir so überstürzt aufbrechen müssen!“
„Alexandria, hör auf fragen zu stellen und pack endlich deinen verdammten Koffer!“, schrie er aufgebracht und sah mich wütend an. Das hatte mich kalt erwischt. Mein Vater verlor selten die Beherrschung. Zumindest wenn um Themen ging, die nicht meine Mutter betrafen.
Ich, wie ich nun mal war, reagierte darauf mit noch mehr Zorn.
Und dann tat ich etwas, was ich zuvor beteuert hatte nicht zu sein.
Ich benahm mich wie ein kleines Kind.
„Das kannst du vergessen. Geh doch ohne mich“,schrie ich zurück, stampfte zur Tür und riss sie auf.
„Alexandria, bleib sofort stehen!"
Mein Vater versuchte mir nach zulaufen. Musste, aber dank seines verletztem Beins, auf halber Strecke stehen bleiben und sich auf der Sofalehne abstützen.
„Keine Sorge. Ich komme auch ganz gut ohne dich Zurecht.“
Bevor er noch etwas erwidern konnte, hatte ich die Tür bereits zugeknallt.
Schnell schlüpfte ich in meine Sneakers, die auf der Veranda standen und rannte los.
Ich weiß, dass es kindisch von mir war. Wenn ich heute Abend nach Hause kam, würde ich zu meinem Vater ins Auto steigen und wir würden zusammen in eine neue Stadt fahren.
Aber ich wollte eben einfach nicht Kampflos aufgeben. Selbst wenn ich wusste, dass ich bereits verloren hatte.
Als ich gut 500Meter vom Haus entfernt war, verlangsamte ich meinen Schritt. Womit sollte ich jetzt solange meine Zeit verschwenden? Gleich wieder nach Hause laufen wäre zu erniedrigend und kam gar nicht erst in frage. Ich blieb stehen und wühlte in meinen Hosentaschen herum.
Da war einmal mein Klappmesser, dass ich immer bei mir hatte. Mein Vater hatte es mir zum 13. Geburtstag geschenkt. Ich weiß. Es ist kein übliches Geschenk. Und vor allem keins was man einer 13 Jährigen schenkt. Mein Vater fand aber, dass Geschenke stets einen nutzen haben sollten. Mit Puppen und Barbies konnte man sich eben nicht verteidigen. Oder zumindest nicht sehr erfolgreich, besonders nicht gegen Monster.
In meiner linken Tasche entdeckte ich meinen Ausweiß und noch etwas Kleingeld. Ich zählte nach.
Ok, es war nicht besonders viel, aber für einen kleinen Snack würde es reichen.
Gerade als ich schon weiter gehen wollte, vibrierte plötzlich meine hintere rechte Hosentasche. Ah, mein Handy hatte ich auch noch dabei. Ich nahm es heraus und schaute auf das Display.
Dad.
Er war aber auch der einzige der meine Nummer hatte, weshalb es mich nicht überraschte. Sofort drückte ich auf den roten Hörer und ging weiter.
Gut zehn Minuten später war ich auch schon in der Stadt angekommen. Auch wenn es noch besonders Früh war, war es nicht verwunderlich, dass nicht besonders viele Leute unterwegs waren.  Es war ein ziemlich kleiner Ort, mit nicht all zu vielen Einwohnern oder Geschäften. Aber gerade das gefiel mir so an dieser Stadt. Ich mochte es einfach durch die Straßen zu schlendern und mir die Schaufenster anzugucken. Ohne von irgendwelchen Lärm gestört zu werden oder mich durch die Menschenmengen schlängeln zu müssen. Schon wieder klingelte mein Handy.
Ich nahm es heraus und schaltete es aus. Sollte er ruhig warten.
Mein Magen knurrte. Keine zehn Schritte weiter entdeckte ich eine kleine Bäcker. Hungrig eilte ich dort hin und kaufte mir von etwa der Hälfte meines Geldes ein Croissant und einen Kakao. Beides verspeiste ich zufrieden, während ich gemütlich durch die Stadt schlenderte. Ich betrachtet die bunten Schaufenster. Alles fühlte sich so normal an. Als wäre ich eine ganz normale 17 Jährige, die einen Stadtbummel machte. Doch mein Leben war nicht normal. Nicht mehr nach dem Tod meiner Mutter. Nicht nach dem ich mit angesehen habe, wie sie von einem Monster getötet wurde. Schnell wischte ich die Bilder fort.
Gewöhnliche 17 Jährige gingen shoppen, statt mit Wurfmessern zu spielen.
Gewöhnliche 17 Jährige verabredeten sich mit Freunden, statt mit ihrem Vater Selbstverteidigung und Angriffstechniken zu trainieren.
Gewöhnliche 17 Jährige wussten nichts von Monstern.
Ich drehte mich um und machte mich auf dem Weg nach dem Haus, dass ich vorrübergehent bewohnt hatten. Kurz bevor ich das Haus erreichte, schaltete ich mein Handy ein um auf die Uhr zu gucken. Sofort sprang mir die Anzeige „23 verpasste Anrufe“ entgegen. War das sein ernst?
Ich guckte auf die Uhr. Es war gerade mal 12Uhr. Ich war keine drei Stunden weg gewesen. Genervt stapfte ich die letzten Meter die Straße herunter. Ich hatte meinen Vater bereits mit gepackten Koffer in der Auffahrt erwartet, doch dort war er nicht. Sein Auto stand immer noch unberührt an seinem Platz. Hatte er es sich anders überlegt? Überglücklich wollte ich schon zur Haustür rennen. Blieb dann aber abrupt vor der Veranda stehen. Mein Vater änderte nie seine Pläne. Wenn er vorhatte aufzubrechen, dann taten wir das auch. Immer.
Ich konnte einfach dieses Gefühl nicht loswerden, dass irgendetwas nicht stimmte.
Wieder starrte ich auf mein Handy. Es waren keine Nachrichten hinterlassen worden und es war auch nichts auf der Mailbox. Sollte ich ihn anrufen? Schnell ging ich zur rechten Seite des Hauses und presste mich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Ok, ich war eindeutig paranoid. Leise und mit kleinen Schritten näherte ich mich dem Wohnzimmerfenster. Ich späte vorsichtig hinein und riss geschockt die Augen auf. Es sah aus als hätte ein Kampf statt gefunden. Die Möbel waren umgeworfen worden und der Koffer war samt Inhalt auf dem Boden verstreut. Hier und da waren Glasscherben zu sehen, aber ich konnte keine Personen entdecken und auch nicht meinen Vater. Waren sie vielleicht oben? Ich blickte mich noch einmal genauer im Raum um, um mich zu vergewissern, dass ich nichts wichtiges übersehen hatte. Und dann sah ich ihn.
Blitzschnell wendete ich den Blick ab und presste meine Hände auf den Mund um einen Aufschrei zu ersticken.
Doch es war zu spät.
Es hatte sich bereits in meine Netzhaut eingebrannt. Dieses Bild werde ich nie wieder vergessen können. Ich rutsche mit dem Rücken die Hauswand runter auf das nasse Gras.
Nein.
Ich krallte eine Hand in den Kragen meines Pullovers.
Etwas zerquetschte mir die Lunge und erschwerte mir das atmen.
Das ist nicht möglich.
Doch ein Blick hatte genügt um sicher zu sein.
Das Bild tauchte klar und deutlich vor mir auf.
Hätte ich doch einfach meine blöden Koffer gepackt.
Wäre ich nicht weggerannt.
Wäre ich doch einfach zu  meinem Vater ins Auto gestiegen und losgefahren.
Doch ich habe meine Koffer nicht gepackt.
Ich bin weggerannt, und dies werde ich bis an mein Lebensende bereuen.
Und jetzt blickte ich in tote Augen.
Augen dessen Kopf zu einem Körper gehörten, der einem Meter weiter entfernt lag.
Ich blickte in die toten Augen meines Vaters.
Nein.
Ich fühlte mich wie betäubt.
Nein.
Ich presste mir die Hände an die Schläfen und schüttelte den Kopf um das Bild fortzutreiben.
Nein.
Dieses Wort wiederholte ich immer wieder und wieder.
Nein, es ist jemand anderes.
Mein Vater kann nicht...
Ich stemmte mich hoch.
Es ist nicht mein Vater.
Ich ging die Stufen der Veranda rauf. Bevor ich meine Hand auf den Türknauf legte, zögerte ich.
Er ist es nicht.
Er kann es nicht sein, sagte ich mir selbst. Ich drückte den Türknauf herunter und als ich die Tür einen Spalt öffnete, kam mir ein bestialischer Gestank entgegen. Gegen meinen Willen musste ich angewidert das Gesicht verziehen. Was war das für ein Geruch? Es roch irgendwie nach...
Faulen Eiern? Ich öffnete die Tür noch ein kleines Stück. Plötzlich ertönte ein Geräusch.
Es war leise gewesen. Es hatte sich angehört wie... Erschrocken riss ich die Augen auf, als mich die Erkenntnis traf, woher ich es kannte.
Aber es war zu spät.
Bevor ich reagieren konnte, explodierte bereits die Welt vor mir.

Kapitel 3

 


Benommnen kam ich zu mir und blickte mich orientierungslos um. Ich lag im Gras, inmitten von  Trümmern.
Mein ganzer Körper fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt an. In meinem Kopf dröhne ein kopfschmerzeregender Piepton und alle Geräusche hörten sich dumpf an, so als wäre ich unter Wasser. Ich versuchte mich aufzurichten, was ich sofort wieder bereute. Als wäre meine Schmerzen am ganzen Körper nicht genug, fing die Welt auch noch an sich zu drehen. Ich konnte mich gerade noch mit der Hand abstützen um nicht umzukippen. Ok, ich hatte eindeutig ein Gehirnerschütterung. Naja, so sehr ich es beurteilen konnte, als jemand der noch nie eine hatte…
Ich fügte „Gehirnerschütterung“ zu meiner Imaginären Liste hinzu von Dingen, die ich zum ersten mal hatte und nie wieder haben will. Mein Blick glitt zum Haus, oder besser gesagt was noch davon übrig war. Das Wohnzimmer war komplett verstört, das gleiche galt für die Veranda. Der Rest stand lichterloh in Flammen. Es waren höchstwahrscheinlich nur wenige Minuten vergangen. Ich blickte zum Himmel, der von dicke Rauchschwaden verschmutzt wurde. Man würde sie ohne Zweifel Meilen weit sehen. Schlagartig begriff ich was das bedeutete. Die Feuerwehr und Polizei war sicher schon auf den Weg. Sie würden fragen stellen. Fragen die ich nicht beantworten konnte. Sollte ich einfach hier sitzen und auf sie warten? Und dann streifte plötzlich ein anderer Gedanke mein benebeltes Gehirn.
Derjenige der die Sprengfalle gebaut hatte, würde sichergehen wollen, dass sie ihre Aufgabe sachgemäß erfüllt hatte.
Ich musste auf der Stelle hier weg!
Zähne zusammenbeißend stand ich mit wackligen Beinen auf und blickte mich verloren um.
Wo sollte ich hin?Am besten erstmal da, wo man mich nicht entdecken konnte. Zum Wald!
Ich schleppte mich zum Waldrand, der auf der anderen Seite der Straße lag. Ich konnte von Glück reden, dass ich mir nichts gebrochen hatte. Ich erstellte eine neue Liste „Dinge für die ich in diesem Moment dankbar war“ und fügte „keine Gebrochenen Knochen“ hinzu. Mehr Dinge für die ich hätte Dankbar sein können, fielen mir leider nicht ein.
Ich erreichte den Waldrand ohne umzukippen. Das konnte auch noch mit drauf. Nach ein paar Metern ließ ich mich an einem Baum, dessen Stamm dreimal so breit war wie ich, ins Laub fallen. Er würde mich genug verdecken. Vorsichtig schielte ich zum Haus. Waren da bereits Sirenen zu hören oder bildete ich mir das ein? Erschöpft lehnte ich meinen Kopf gegen den Stamm.
Was passiert hier gerade? Wann würde ich endlich aufwachen und erleichtert festellen, dass alles nur ein schlimmer Albtraum war? Warum war mein Vater… Nein! Darüber konnte und wollte ich jetzt nicht nachdenken. Ich konnte es mir jetzt einfach nicht leisten Gefühle zuzulassen. Ich musste mir überlegen was ich als nächsten tun soll. Sowie beim Messerwerfen, mein Ziel ins Visier nehmen und alles andere ausblenden. Unvermittelt spürte ich wie mir fast die Augen zu fielen und mein Kopf anfing zur Seite zu kippen. Ruckartig schreckte ich wieder hoch und kniff kurz die Augen zusammen.
Konzerntrier dich Alex! Aber meine Augenlider fühlten sich an als hingen Bleigewichte an ihnen. Ok, ich schließe nur ganz kurz die Augen, danach überlege ich mir einen Plan... Sofort war ich auch schon eingenickt.

Das Bild von toten grauen Augen, die in meine starrten, ließ mich hochschrecken. Mit rasendem Puls sah ich mich gehetzt um. Es war bereits dunkel. Man konnte gerade so, noch die eigene Hand vor Augen erkennen. Wie lange war ich weggetreten? Schnell warf ich einen Blick zum Haus. Das Feuer war bereits gelöscht, aber es standen immer noch Leute am Haus. Zwei…Nein, drei Gestalten konnte ich erkennen.  Sie untersuchten wahrscheinlich gerade die Unfallursache. Aber wieso trugen sie keine Uniformen? Waren das überhaupt Polizisten?
Ich entschied, dass es besser war, so schnell wie möglich hier weg zu kommen und kein Risiko einzugehen.
Prüfend sah ich an mir herunter. Ja, ich war schmutzig, hatte hier und da Schürfwunden, meine Haare waren angesenkt, aber im großen und ganzen sah ich noch ganz passabel aus. Außerdem war es dunkel. Was hieß, dass nicht all zu viele Leute unterwegs sein würden. Noch länger konnte ich hier nicht sitzen. Meine Kehle fühlte sich an wie Sandpapier, weshalb ich dringend etwas zu trinken brauchte.
Ich griff in meine Tasche und zählte mein Kleingeld.
Es war nicht viel, aber wenigstens für eine Flasche Wasser sollte es reichen. Langsam, und darauf bedacht möglichst wenig Geräusche zu verursachen, stemmte ich mich hoch. Es fühlte sich an als hätte ich am ganzem Körper Muskelkater, aber es war auszuhalten. In den Schatten der Bäume lief ich Richtung Stadt.

Die Geschäfte waren, wie erwartet, bereits geschlossen. So gut wie niemand, war mehr Unterwegs, und die die es waren, schenkten mir keinerlei Beachtung. Noch ein gutes Stück musste ich gehen, dann entdeckte ich auch schon mein Ziel. Ein Getränkeautomat. Eilig schritt ich auf ihn zu und krammte gleichzeitig mein Kleingeld hervor. Angekommen betrachtet ich die Angebote. Oh, wow. Ich konnte mir sogar eine Cola leisten!
Letztenendes entschied ich mich, aber für ein stilles Wasser, denn ich wusste nicht, ob ich mit der Kohlensäure klarkommen würde. Halb am verdursten warf ich die Münzen ein und drückte auf den Knopf. Wie hipnotiesiert starrte ich auf die sich drehende Spirale. Die Flasche kam immer näher. Kippte und...
Blieb stecken.
WAS?!
Ungläubig starrte ich auf die Flasche.
Der Mensch ist wie ein Eimer mit Wasser. Er kann nur ein Maximum an Emotionen aufnehmen. Und wenn er zu voll wird...
Läuft er über.
Wie betäubt sank ich auf die Knie.
Diese Flasche brachte meinen Eimer zum überlaufen.
Ich bekam erst mit, dass ich weinte, als ich mein Spiegelbild in der Scheibe des Getränkeautomaten sah. Eilig wischte ich sie mit dem Ärmel weg.
Verdammt.
Meine Faust knallte kraftlos gegen den Getränkeautomat.
Ich wollte nicht weinen.
Ich weinte nie.
Erschöpf lehnte ich meinen Kopf gegen das kühle Glas und starrte vor mich hin.
Womit hatte ich all dies nur Verdient? Was sollte ich jetzt tun? Wo sollte ich hin?
Ich hatte nichts mehr. Nichts und niemanden. Das einzige was ich noch besaß, waren das was ich am Leib trug, mein Klappmesser, ein Handy, mein Ausweis und etwas Kleingeld. Nichtmal genug um damit noch irgendetwas zu kaufen. Es gab sicher irgendeine Organisation, die einem in so einer Situation half. Doch wo hin ging man? Das plötzliche Gefühl beobachtet zu werden ließ mich aufblicken.
Mein Blick blieb an zwei Gestalten, die einige Meter von mir entfernt im Schatten standen, hängen. Sahen sie in meine Richtung? Sie kamen weder auf mich zu, noch schien es so, dass sie anstalten machten sich vom Fleck zu bewegen. Wieso also stellten sich plötzlich meine Nackenhaare auf und wieso schrie alles in mir, meine Beine in die Hand zu nehmen und schleunigst hier weg zu kommen?
Würde es mich umbringen meinem Bauchgefühl zu folgen?
Wahrscheinlich nicht.
Würde es mich umbringen mein Bauchgefühl zu ignorieren?
Wahrscheinlich schon.
Meine Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte einen klaren Sieger.
Ich entschied mich dazu aufzustehen und erstmal geradeaus zu gehen. Geradeaus war die beste Richtung, wenn man die Orientierung verloren hatte. Oder wie in meinem Fall, sie nie besessen hatte.
Ich war einige Schritte gegangen und auch wenn ich wusste, dass es ziemlich paranoid war, konnte ich nicht anderes, als einen Blick über meine Schulter zu werfen.
Die Gestalten folgten mir im gleichem Schritttempo.
Sei nicht albern Alex. Sie müssen einfach nur in die gleiche Richtung.
Trotzallem verschnellerte ich mein Tempo, und um meine Paranoia im Keim zu ersticken, bog ich die nächste Straße rechts ab.
Dann verlangsamte ich meinen Gang wieder.
Unruhig schielte ich über meine Schulter und zählte innerlich die Sekunden.
Eins.
Zwei.
Drei.
Vier.
Und da waren sie auch schon.
Sie mussten gerannt sein um mich in der kurzen Zeit einzuholen.
Und nun war ich es die rannte.
Natürlich folgten sie mir.
Verdammt. Verdammt. Verdammt.
Ich rannte so schnell ich konnte. Adrenalin rauschte durch meinen Körper.
Ich bog so oft ab wie ich konnte. Versuchte sie abzuhängen. Immer wieder warf ich einen Blick über die Schulter.
Doch sie waren immer noch hinter mir her. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie gar nicht näher kamen. Hätten sie mich nicht schon längst einholen müssen? Auch wenn ich sonst immer eine gute Läuferin war, war ich dank meiner Verletzungen ziemlich langsam. Ich sah mir meine Umgebung genauer an . Ich hatte gar nicht darauf geachtet wohin ich rannte. Im diesen Stadtteil war ich noch nie zuvor gewesen. Er sah noch verlassener aus als der Rest der Stadt. Manche der Straßenbeleuchtungen flimmerten unruhig oder funktionierten erst gar nicht. Alles sah wie die Kulisse eines schlechten Hororfilm aus.
Und dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Sie versuchten gar nicht mich einzuholen. Sie trieben mich vor sich her. Hier her. Wo ich keine Hilfe finden konnte. Wo mich niemand hören würde. Ich musste auf der Stelle zurück! Eilig bog ich in die nächsten Seitenstraße ein um zu wenden.
Es war eine Sackgasse.
Schnell fuhr ich herum. Doch es war zu spät.
Dort standen sie. Meine Verfolger. Und flankierten meinen einzigen Fluchtweg.
Während ich schwer atmete, schienen sie in keinster weise außer Atem.
Nun konnte ich sie auch genauer betrachten. Es waren ein Mann und eine Frau. Beide schätzungsweise nicht älter als Mitte/Ende 20. Beide wunderschön. Und beide wirkten sie so fehl am Platz, dass ich es schon fast für ein Missverständnis gehalten hätte. Fast wäre mir ein:"Das Modelshooting fällt leider heute aus", rausgerutscht. Wäre da nicht das raubtierhafte Lächeln auf dem Gesicht der Frau, was besagte, dass sie mich genau da hatte wo sie mich wollte.
„Überlass sie mir“, sagte sie ohne mich aus den Augen zu lassen.
Der Mann rührte sich nicht vom Fleck, während sie langsam auf mich zu Schritt.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich konnte keine Waffen an ihnen ausmachen.
„Was wollt ihr von mir?“, rief ich, während ich gleichzeitig rückwärts ging.
„Das weißt du nicht?", ungläubig hob sie eine ihrer perfekt gestylten Augenbrauen, "Dein Daddy war zu nah am Feuer. Und wenn man zu nah am Feuer ist, dann verbrennt man sich eben.“
Ich bleib ruckartig stehen. Was sollte das bedeuten?
„Keine Sorge, es wird schnell vorbei sein.“, sagte sie in einem gespielt mitfühlendem Ton.
Bevor ich noch irgendwie reagieren konnte, packte sie mein Handgelenk. Mit ganzer Kraft versuchte ich mich aus ihrem Griff zu befreien, doch es war Zwecklos. Ihre Hand rührte sich keinen Millimeter. Ich hatte erwartet, dass sie jeden Moment ein Messer oder eine andere Waffe hervor ziehen würde, doch sie stand einfach nur da und hielt mein Handgelenk umklammert, mit diesem kaltem Lächeln im Gesicht. Immer noch versuchte ich verzweifelt mich loszureisen.
Und dann spürte ich es.
Erst hielt ich es für eine ganz normale Erschöpftheit, doch es fühlte sich anders an. Plötzlich fiel es mir immer schwerer richtig zu denken. Es war als würde mir alle Kraft aus dem Körper gesogen.
„Gleich ist es vorbei“, seuselte sie.
Kurz erhaschte ich ein blaues aufblitzen in ihren Augen. So schnell, dass ich dachte ich hätte es mir nur eingebildet.
Ich musste sie irgendwie von meiner Hand losbekommen! Nur wie? Sie war einfach zu Stark.
Mein Messer! Vorsichtig schob ich meine freie Hand in meine Hosentasche. Das kühle Metall berührte beruhigend meine Fingerspitzen. So schnell ich konnte riss ich es aus meiner Tasche, ließ es aufschnappen und stieß es ihr, ohne nachzudenken, in den Bauch.
Sofort ließ sie mein Handgelenk los, als hätte sie sich verbrannt.
„Au“, sagte sie überrascht. Ich starrte sie entsetzt an, zum einen darüber was ich gerade getan hatte, zum anderen, weil sie nicht klang wie jemand der gerade ein Messer in den Bauch gerammt bekommen hat, sondern wie jemand den man auf den Fuß getreten war.
Kurz musterte sie das Messer in ihrem Bauch, bis sie es schließlich mit einer Hand umfasste und in einem Ruck heraus zog, als wäre es bloß ein lästiger Splitter. Achtlos warf sie es zur Seite.
„Das war mein Lieblingsshirt“, jammerte sie und betrachtete genervt das blutbefleckte Loch, dass das Messer hinterlassen hatte. Ich stand bloß wie versteinert da und sah ungläubig auf die sich, vor meinen Augen, schließende Wunde.
Mein vernebelter Verstand setzte die Puzzelteile schließlich zusammen.
Sie war das was mein Vater jagte. Ein Monster.
Ein Monster in Menschengestalt.
Ihr Blick lies mir das Blut in den Adern gefrieren. Sie lächelte nicht mehr.
„Ich wollte ja wirklich nett sein und so dankst du es mir? Du wärst friedlich eingeschlafen, aber nun werde ich dafür sorgen, dass es weh tut!“
Bevor sie nach mir greifen konnte, wich ich zur Seite aus, was sie noch wütender machte.
Den zweiten Angriff konnte ich nicht ausweichen. Bevor ich überhaupt reagieren konnte, wurde ich gegen die Mauer geschleudert, prallte schmerzhaft an ihr ab und fiel zu Boden. Gerade so konnte ich noch ihrem Tritt ausweichen in dem ich mich wegrollte. Stattdessen traf sie die Mauer und hinterließ ein tiefes Loch. Ein Wütender Aufschrei entrang ihrer Kehle. Mühsam versuchte ich mich aufzurichten, wurde aber gleich wieder auf den Boden zurück gestoßen . Mein Kopf prallte so heftig auf dem Asphalt auf, dass mir kurz schwarz vor Augen wurde.
„Genug gespielt. Nun ist es Zeit zu sterben!“, zischte sie, während sie sich rittlings auf mich draufsetze. Ihre Hände umklammerten meinen Hals. Panisch versuchte ich sie von mir runter zu bekommen. Doch sie schnürte mir nicht nur die Luft ab, sie entzog mir auch gleichzeitig meine Kraft. Mein Hände tasteten Hilfesuchend den Asphalt ab, während ich vergeblich nach Luft rang. Ihr Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Ich sah nur noch dieses grauenhafte Lächeln.
Und dann berührten meine Finger etwas vertrautes.
Ich nahm all meine letzte Kraft zusammen, umschloss es mit einer Faust und rammte es ihr in die Brust. Genau an die Stelle, an der ich ihr Herz vermutete.
Ihre Hände ließen ruckartig von meinem Hals ab. Ungläubig starrte sie auf das Messer in ihrer Brust und zog es wie auch zuvor einfach heraus. Es rutsche ihr aus den Händen und fiel klimmpernd zu Boden. Ihr Mund öffnete sich, doch dieses Mal sagte sie nichts.
„Kassia!“, schrie jemand erschrocken.
Ihre Augen wurden glasig.
Dann kippte sie zur Seite.
Ich blickte zur Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Mit wutverzertem Gesicht kam der Mann auf mich zu. Doch ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich hatte meine letzten Kraftreserven bereits aufgebraucht. Wie als hätte jemand die Luft rausgelassen, spürte ich meine Erschöpfung mit voller Intensität. Meine Sicht verschwamm und ein Piepton ertönte in meinem Kopf. Feuchtigkeit berührte mein Kopfhaut. Ich roch Metall. Blut. An meinem Kopf befand sich sehr wahrscheinlich eine Wunde aus der stetig Blut floss. Ein erneuter Blick zur Seite bestätigte meine Vermutung. Unter mir hatte sich bereits ein rote Pfütze gebildet. Das war also wie ich sterben würde. Alleine in einer dreckigen Gasse. Und also ob das nicht schon schlimm genug wäre, fing es tatsächlich auch noch an zu Regen. Ich hätte am liebsten geschrien, wenn ich noch die Kraft dazu hätte. So viel Pech konnte ein Mensch einfach nicht haben. Aber ich war der Lebende Beweis, dass dies doch möglich war. Oder zumindest war ich der fast tote Beweis.
Ich blickte in die Richtung aus der eigentlich mein Todesstoß hätte kommen sollen. Zuerst erkannte ich es nicht genau. Mein Blick war verschwommen und es fiel mir schwer mich zu konzentrieren.
Dann war mein Blick plötzlich wieder klar. Ein zweiter Typ erschien plötzlich auf der Bildfläche. War Verstärkung gekommen? Nein. Sie kämpften gegeneinander.  Der andere versuchte die Angriffe mit einem Messer abzuwären. Man sah das er im Nachteil war. Er hatte keine Chance. Der andere war viel zu schnell und jeder seiner Angriffe schien gut durchdacht. Und dann war es auch schon vorbei. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung, steiß der Angreifer etwas in die Kehle des Anderen. Wie auf Knopfdruck wurde meine Sicht wieder unscharf. Ich erkannte nur noch einen Schemen der auf mich zukam. War das jetzt das Ende? Wo blieb der Film, der einem vor den Augen vorbei lief? Oder das Licht am Ende des Tunnels. Die Brücke die man überqueren musste. Oder was es sonst noch alles gab. Doch es passierte nichts.
„Dich hat man ja ganz schön zugerichtet.“
Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang jung. Ja, sie klang sogar freundlich.
Würde er mir helfen? Konnte man mir überhaupt noch helfen?
„Hast dich wohl mit den falschen Leuten angelegt.“
Der verschwommene Schemen hockte nun vor mir.
„Was mach ich jetzt mit dir?“, er klang nachdenklich, so als würde er zu sich selbst reden anstatt zu mir. Er würde mir nicht helfen. Und diese Erkenntnis, schmerzte mehr als mein geschundener Körper. Bevor ich es bemerkte entfuhr mir ein schluchzen.
Plötzlich kam er näher und sein Gesicht war nun direkt über mir. Durch den verschwommenen Schleier hindurch strahlten mich eisblaueAugen an.
„Sag mir. Willst du leben oder willst du sterben?“, fragte er ruhig.
Es dauerte einen Moment bis ich verstand, was er mich gerade gefragt hatte.
Auch wenn ich wusste, dass ich keine Wahl mehr hatte.
Auch wenn ich wusste, dass es nur noch eine Frage von Sekunden war.
Ich wollte es aussprechen.
Dies sollten meine letzten Worte sein.
„Ich...“, krätze ich schwach.
Meine letzte Kraft zusammen nehmend sprach ich es schließlich aus.
„Ich will...nicht sterben“, schluchzte ich, ohne es verhindern zu können.
Als hätte jemand eine schwere Last von mir genommen, schlossen sich meine Augen und alles wurde still.
Er beugte sich näher zu mir. Sein Atem streifte mein Ohr.
„Dann Lebe“, hauchte er.
Bevor ich noch einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, berührte etwas die Stelle an der meine Herz saß, ein glühender Schmerz verbrannte jeden Faser meines Köper, dann verschlang mich die Dunkelheit.

 

Kapitel 4

 

Ein knurren, am Fußende meines Bettes, riss mich mitten in der Nacht aus meinen Schlaf.
„Coby, was ist los?“, murrmelte ich und rieb mir verschlafen die Augen. Plötzlich winselte er, sprang vom Bett und kroch blitzschnell darunter.
Überrascht schlug ich die Decke zur Seite und spähte unters Bett.
„Coby, was hast du denn?“
Vergeblich versuchte ich ihn wieder hervor zu locken, doch er starrte bloß sichtlich beunruhigt zur Tür. Ich folgte seinem Blick und lauschte.
Es war nichts zu hören.
Ein Gewitter gab es auch nicht, dass ihn hätte verschrecken können. Mit Teddy in der Hand, ging ich langsam auf die Tür zu. Vorsichtig öffnete ich sie und lugte hinaus.
Alles war ruhig.
Und es war dunkel...
Ich umklammerte Teddy noch fester. Ob Daddy schon Zuhause ist? Leise schlich ich den Flur entlang. Die Schlafzimmertür stand einen Spalt breit offen.
Was war das für ein Geräusch?
Ganz langsam öffnete ich sie.
Und blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Eine Gestalt, die mir den Rücken zuwendete, stand mitten im Raum. Sie hielt etwas in den Armen.
Nein, nicht etwas.
Jemanden.
Mommy.
Aber die Gestalt war nicht Daddy. Der Unbekannte hielt sie, wie in einer Umarmung, doch Mommy erwiderte sie nicht. Ihre Arme hingen bloß schlaff herunter. Ich blickte zum Teppich auf dem sich lauter rote Flecken tummelten.
„Mommy?“, wimmerte ich, als sich der Fremde mir plötzlich zuwandte. Mit glühend roten Augen und blutverschmiertem Gesicht lächelte er mich an.
„Was haben wir denn da?“, sagte er und entblößte seine spitzen, blutbefleckten Zähne. Achtlos, als wäre sie bloß ein Spielzeug, ließ er von Mommy ab und sie fiel wie eine Puppe zu Boden. Raubtierhaft kam er langsam auf mich zu, doch ich starrte nur wie versteinert zu Mommy.
Wieso bewegt sich Mommy nicht? Wo ist Daddy?
Meine Aufmerksamkeit fiel erst wieder auf das Monster, als es direkt vor mir stand.
Ich sah stumm dabei zu, wie er seine blutige Hand nach mir ausstreckte.
Und kurz bevor er mich berühren konnte, kam wie aus dem Nichts, Coby knurrend herein gestürmt und verbiss sich in das Bein des Monsters.
„Verdammter Köter!“, fluchte er und versuchte fieberhaft Coby von seinem Bein loszubekommen.
Das riss mich aus meiner Erstarrung. Sofort flüchtete ich zurück in mein Zimmer. Noch bevor ich meine Tür erreicht hatte, konnte ich hinter mir ein schreckliches aufjaulen hören. Ich rasste durch meine Zimmertür und kroch unter mein Bett. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch Teddy umklammert hielt und drückte ihn fest an mich.
Mommy.
Daddy.
Coby.
Mir entfuhr ein schluchzen, schnell presste ich eine Hand auf den Mund um es zu unterdrückten.
Er darf mich nicht hören!
So gut ich konnte, machte ich mich noch kleiner und lauschte.
Es war alles still.
Dann erklangen auf einmal langsame Schritte. Mit jedem Schritt wurden sie lauter und lauter, bis sie mit einen Mal verstummten. Ich schielte zur Tür und musste mich zusammenreißen nicht aufzuschreien, als plötzlich schwarze Stiefel im Türrahmen erschienen.
Er wird mich finden! 
Mein Atem ging schneller und mein Puls begann zu rasen.
Es schien als würde er sich im Zimmer umsehen, ich konnte jedoch nur seine Stiefel sehen, die sich nicht von der Stelle rührten, dann betrat er mit langsamen gleichmäßigen Schritten mein Zimmer.
Er kam auf mein Bett zu.
Zu mir!
Uns trennten nur noch wenige Meter. Mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren.
Und dann standen seine schwarzen Stiefel genau vor mir.  Ich konnte das frische Blut auf ihnen erkennen. Urplötzlich wurde das Bett über mir zur Seite gerissen. Es flog gegen die Wand, als würde es nichts wiegen und krachte scheppernd zu Boden. Ich blickte nach oben. Genau in die Augen des Monsters, das erneut lächelte.
„Gefunden.“
Seine blutverschmierte Hand streckte sich nach mir aus, während ich Teddy noch fester umklammerte. Ich war vor Angst erstarrt.
Dann ging alles so schnell, dass ich es erst gar nicht richtig registrierte.
Ein lauter Knall ertönte. Auf der Brust des Monsters klaffte ein Loch. Überrascht drehte er sich um. Erneut ertönte ein Knall. Blut spritzte mir ins Gesicht und nahm mir kurz die Sicht. Als ich wieder nach oben blickte, drehte sich das Monster gerade wieder zu mir um. Kurz dachte ich, er würde erneut versuchen nach mir zu greifen. Dann sah ich das Loch in seinem Kopf, genau da wo vorher sein rechtes Auge saß. Wie als hätte jemand unsichtbare Fäden durchtrennt, fiel er zu Boden, direkt vor meine Füße. Sein vorhandenes Auge war noch geöffnet und starrte mich mit glasigem Blick an.
Ich konnte nicht wegsehen.
Ich konnte mich nicht bewegen.
Dann bemerkte ich die Gestalt, die nun vor mir stand.
Daddy.
„Schließ deine Augen, Alexandria“, befahl er.
Doch ich schloss sie nicht. Der Schock lähmte jeden meiner Muskeln.
Ich sah dabei zu, wie mein Vater sich hinkniete, ein Messer hervorzog und genau in die Mitte des Monsters stieß.

 

Nach Luft japsend schreckte ich hoch. Es dauerte ein paar Sekunden bis ich merkte, dass ich in einem Bett saß. Eine Hand auf der Brust, versuchte ich mein rasendes Herz zu beruhigen. Es war nur ein Albtraum. Nein. Eine Erinnerung. Eine Erinnerung, die mich im Alter von Fünf prägte, und die ich seitdem immer und immer wieder durchleben musste. Das letzte mal war schon Monate her, sie nun erneut zu durchleben, fühlte sich an als würde eine frische Wunde von neuem wieder aufreißen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, bevor ich schließlich aufblickte.
Was!?
Verwirrt sah ich mich um. Das war nicht mein Zimmer.
Wo bin ich? Darauf bedacht kein Geräusch zu verursachen, stand ich auf und ließ meinen Blick im Raum umher schweifen. Ich befand mich in einem weißen lichtdurchfluteten Schlafzimmer. Die Ausstattung wirkte sehr modern. Alles war in grau und brauntönen gehalten.
Als ich an mir herunter sah erkannte ich, dass ich noch nicht einmal meine eigenen Klamotten an hatte.
Stattdessen trug ich ein übergroßes schwarzes T-Shirt, dass gerade so meinen Hintern bedeckte. Ich kramte in meinen Erinnerungen, doch mein Kopf fühlte sich seltsam dumpf an, als wäre er in Watte gepackt.
Das Geräusch einer Tür, die hinter mir geöffnet wurde, ließ mich zusammenzucken. Blitzschnell fuhr ich herum und entdeckte einen, nur mit einem Handtuch um den Hüften, halbnackten Typen, der gerade dabei war sich mit einem weiterem Handtuch die Haare trocken zu reiben.
Er blickte auf und schien mich erst jetzt bemerkt zu haben.
„Du bist wach“, stellte er überrascht fest.
„Du bist nackt“, entfuhr es mir, bevor mein Hirn reagieren konnte.
„Ich weiß ja nicht wie es bei dir ist, aber so duscht man für gewöhnlich“, erwiderte er mit einem schmunzeln auf den Lippen.
Kannte ich ihn? Ich betrachtete ihn genauer. Widerwillig musste ich zugeben, dass er verdammt gut aussah. Er hatte kurzes braunes Haar,  welche ihm in nassen Stähnen ins Gesicht fielen. Ein markantes Kinn, eine gerade Nase und Haselnussbraune Augen. Ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass ich diese Augen von irgendwoher kannte. Aber bloß woher? Mein Blick blieb schließlich an seiner nackten Brust hängen. Er war äußerst gut gebaut und muskulös. Aber nicht zu viel, sondern genau richtig.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ihn die ganze Zeit mit offenen Mund angestarrt hatte. Schnell wand ich den Blick ab, erhaschte aber noch den amüsierten Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Wo bin ich?“, fragte ich schnell und unterdrückte den drang mich zu räuspern.
„In meinem Zimmer."
Ich sah mich um und wartete darauf, dass er weiter reden würde.
Stattdessen ging er an mir vorbei, holte etwas aus einem Schrank und ging wieder zurück ins Badezimmer.
„He“, rief ich überrümpelt und eilte ihm nach, was ihn dazu brachte im Türrahmen zu stoppen und sich umzudrehen.
„Ich würde mich gerne anziehen, bevor wir uns weiter unterhalten."
Eine kurze Pause.
“Außer natürlich du hast etwas dagegen“, fügte er, eine Augenbraue hochziehend, hinzu.
Rückartig machte ich auf der Stelle kehrt und hörte wie sich die Tür hinter mir schloss.
Ich sah zum Bett. Sollte ich mich setzten?  Irgendwie konnte ich mich einfach nicht dazu durchringen. Also stand ich einfach weiter mitten im Zimmer, wie bestellt und nicht abgeholt und wippte unruhig von einem Bein auf das andere.
Ich sah zur Deckenlampe, und ohne Vorwarnung blitzte plötzlich eine Erinnerung in meinem Kopf auf.
>Vor mir explodierte die Welt.<
Ich muss auf der Stelle hier raus!
So schnell ich konnte stürmte ich aus dem Zimmer.
>Gehetzt rannte ich durch dunkle Gassen.<
Ich raste einen großen Flur entlang und schließlich eine Treppe herunter.  Zu meiner Rechten war eine offene Küche und ein Esszimmer, während sich zu meiner Linken ein großes Wohnzimmer befand.
Genau vor mir entdeckte ich die Haustür und eilte auf sie zu.
Meine Hand legte sich auf den Türknauf, drückte ihn herunter und...
Die Tür bewegte sich keinen Zentimeter.
Sie war verschlossen.
Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Ich rüttelte wie eine Verrückte am Türknauf, als würde sie sich dadurch, plötzlich auf magische Weise öffnen. Erst ein klimmpern hinter mir, ließ mich inne halten und erinnerte mich daran, dass ich nicht alleine war.
Ich versuchte meinen rasenden Puls zu beruhigen, bevor ich mich betont langsam umdrehte.
Er lehnte mit überkreuzten Armen, entspannt an der Wand neben der Treppe. In seiner rechten Hand baumelte ein Schlüsselbund.
„Wieso ist die Tür abgeschlossen?“, fragte ich unschuldig, als wäre es nur so eine Frage.
„Oh, die schließe ich immer ab. So lässt sie sich nicht so leicht eintreten“, antwortete er genau so unschuldig.
Aha. Warum er sich darauf vorbereitete, dass jemand seine Tür eintrat, fragte ich nicht, denn es war für mich im Augenblick belanglos.
„Lässt man dann nicht den Schlüssel, für gewöhnlich in der Tür stecken?“
„Für gewöhnlich schon“, der sarkastische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Aber?“
„Aber irgendwie dachte ich mir schon, dass du versuchen würdest, die Flucht zu ergreifen. Ich hab nur nicht damit gerechnet, dass dies direkt nach unserem ersten Treffen passiert.“
Er schloss die Faust um den Schlüsselbund und schob ihn in seine Hosentasche.
"Reden wir. Als erstes, an was erinnerst du dich?"
Ich betrachtete ihn Argwöhnisch.
War er Freund oder Feind?
Aber welche andere Möglichkeit gab es, es herauszufinden, außer mit ihm zu sprechen?
"Da war eine Explosion…und ich bin gerannt…", fing ich schließlich an, woraufhin neue Bilder auftauchten, >jemand verfolgte mich<,"…ich bin vor jemanden weggerannt…."
"Du wurdest angegriffen", setzte er fort, als er sah wie schwer es mir fiel mich zu erinnern.
"Ich wurde angegriffen….", wiederholte ich und musterte ihn misstrauisch.
War er der Angreifer?
"Als ich kam warst du bereits schwer verletzt", sagte er als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ein weiterer Erinnerungsfetzen blitzte plötzlich in meinen Kopf auf.
>Jemand neues tauchte auf der Bildfläche auf und sie kämpften.<
Das war er! Er hat mich gerettet?
>Strahlend blaue Augen blickten in meine.<
Ich legte irritiert den Kopf schief und starrte ihn stumm an. Es waren die selben Augen, aber…
"Was ist?"
"Ich hätte schwören können, dass deine Augen Blau waren…"
Kurzes schweigen, dann als hätte er endlich verstanden was ich meine, antwortete er.
"Sind sie", meinte er knapp, was mich nur verwirrter drein blicken ließ.
Bis ich geschockt die Augen aufriss, als seine Augen plötzlich strahlend Blau aufglühten.
"Hin und wieder."
Monster!, schrie es in meinem Kopf.
Ohne zu zögern, rannte ich zur Küche und riss ein Messer aus dem Messerblock, der auf der Küchentheke stand.
„Denkst du nicht, das ist ein bisschen überzogen? Leg das Messer weg“, sagte er ruhig, doch ich hörte nur noch mit einem Ohr hin.
Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, fuhr ich herum und visierte ihn an.
"Hör mir…"
Mein Messer zischte durch die Luft.
Ich hatte auf seine Stirn gezielt.
Und hätte ihn getroffen.
Stattdessen hing es wenige Zentimeter vor seiner Stirn, zwischen zwei seiner Finger.
„Guter Wurf“, sagte er anerkennend, während er das Messer betrachtete, "Du solltest aber echt lernen zu zuhören, bevor du mit einem Messer nach jemanden wirfst.“
Doch ich hörte nicht weiter zu und zog ein weiteres Messer aus dem Messerblock.
„Ernsthaft?!“
Ich hörte wie er direkt hinter mir kurz seufzte und näher kam.
Mit dem Messer schwingend fuhr ich herum, da er nun zu nah für einen Wurf war. Problemlos wich er zur Seite aus. Woraufhin ich versuchte nach ihm zu stechen. Mitten in der Bewegung, packte er mein Handgelenk und wirbelte mich herum, in einen Griff der aussah, als würde er mich von hinten umarmen.
Blitzschnell entwendete er mir das Messer, warf es aus meiner Reichweite und packte auch noch mein anderes Handgelenk.
„Lass mich los!“, schrie ich wütend und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, aber meine überkreutzten Arme und seine Stärke, machten es mir unmöglich.
„Das mache ich, wenn du mir endlich mal zuhörst und aufhörst zu versuchen mich umzubringen.“
„Du bist ein Monster“,schrie ich zur Antwort und kämpfe weiter erfolglos gegen seinen Griff an.
„Autsch“, sagte er gespielt getroffen,“Das ist nicht gerade nett über jemanden zu sagen, den man nicht kennt.“
„Du tötest Menschen!"
„Ich habe noch nie einen Menschen getötet.“
Dann hielt er inne.
“Ok, wenn man von dir mal absieht, aber das gilt nur so halb“, murmelte er leise.
Ich erstarrte. Mein Körper fühlte sich plötzlich taub an.
Eine Erinnerung blitze auf. >Finger die die Stelle berührten, an der mein Herz saß. Ein glühender Schmerz.<
„D..du“, stotterte ich panisch," Du hast mir das Herz aus der Brust gerissen.“
„Das war leider der einzige Weg.“
Geschockt von der Erkenntnis was dies bedeutete, riss ich die Augen auf.
Nein! Nein! Nein!
„Ich bin tot?“, keuchte ich.
Langsam löste er seinen Griff und trat einen Schritt zurück.
„Ich bin tot“, wiederholte ich und schlang die Arme um meinen Körper.
„Nein“, sagte er beruhigend und ich drehte mich verwirrt zu ihm um.
„Du WARST tot und auch nur für höchstens 20 Sekunden“, erklärte er, als wäre es keine große Sache.
„Also bin ich noch ein Mensch!"
Hoffnung keimte in mir auf...
Er zögerte.
„Nicht ganz.“
...und wurde sofort im Keim erstickt.
Nein!
Ich stürmte an ihm vorbei zur Tür, die sich nach dem Öffnen, wie vermutet, als Gäste-WC herausstellte.
Ich wollte kein Monster sein. Ich durfte kein Monster sein!
Vor dem Spiegel angekommen, betrachtet ich fieberhaft mein Gesicht.
Ich sah aus wie immer. Nicht schöner oder stahlender, wie es in den Büchern und Filmen immer der Fall war. Mein Haar hatte noch den selben dunklen Braunton und meine Augen waren noch genauso Hellgrau wie vorher.
Ich sah aus wie ich.
Ich fühlte mich wie ich.
Mein Puls begann sich zu beruhigen.
„Ok, du musst eindeutig lernen zu zuhören, wenn man mit dir redet", er tauchte im Türrahmen auf, "Was machst du da?“, fragte er, während ich meine Zähne untersuchte.
„Du bist kein Vampir, falls du das denkst“, bemerkte er sichtlich amüsiert.
„Bin ich…nicht?"
Ich hielt inne und sah ihn fragend an.
„Nein, tut mir Leid ich bin nicht Edward. Wenn du mir endlich zuhören würdest, dann hätte ich dir schon alles erzählt“, meinte er leicht gereizt.
Er hatte recht.
Ich musste wohl oder übel kooperieren. Nur so würde ich Antworten auf all das Chaos erhalten, dass nun in meinem Kopf herrschte.
Demonstierend drehte ich mich zu ihm um, woraufhin er seufzend den Kopf schüttelte.
„Du hast meinen ganzen Plan zunichte gemacht.“
„Plan?“
„Ich wollte mich mit dir gemütlich auf die Couch setzen, dir einen Tee oder Kaffee anbieten, je nachdem was du lieber magst, und einen auf "Harry, du bist ein Zauberer" machen.“
Letzteres sagte er, in einer der schlechtesten Imitationen von Hagrid, die ich je gehört hatte.
Ich bedachte ihn mit dem verstörtestem Gesicht an das ich konnte.
Was stimmte mit ihm bitte nicht?!
„Harry Potter“, sagte er, weil er wahrscheinlich dachte, ich würde deshalb so gucken.
„Ich kenne Harry Potter!“
„Ohhh, du hättest nicht gedacht, dass ein "Monster" Harry Potter kennt.“
Ich schwieg. Aber mein schweigen war Antwort genug, denn genau das dachte ich.
„Also was…. bin ich?“, fragte ich zögernd, auch wenn sich alles in mir, bei diesen Worten, sträubte.
„Ein Sukkubus“,antwortet er knapp.
„Ein Sukkubus“, wiederholte ich.
Wo hatte ich das Wort schon mal gelesen?
„Warte, ein Sexdämon?“, platze es ungeniert aus mir heraus.
Er konnte sich ein auflachen nicht verkneifen.
„Du liest eindeutig zu viel Fiktion. Nein, kein Sexdämon. Sukkuben, oder in meinen Fall Inkuben, so nennt man den männlichen Gegenpart, ernähren sich von den Lebensenergien der Menschen. Es schadet ihnen nicht. Es macht sie höchstens etwas müde",erklärte er, und legte den Kopf schief, als würde er überlegen, "Also so lange man nicht zu viel nimmt."
Misstrausch verengte ich die Augen.
„Und du hast nie zu viel genommen?“
„Nein. Es verstößt gegen den Kodex.“
„Kodex?“
Das ließ mich innerlich aufhorchen und ich sah ihn mit großen Augen an.
„Ein Leben für ein Leben. Nimmst du vorsätzlich ein Leben, so bezahlst du mit deinem eigenem“, zittierte er.
„Ihr habt Gesetze?“
Das hatte ich nicht erwartet. Die Welt wie ich sie kannte, begann plötzlich aus dem Gleichgewicht zu kippen.
„Natürlich. Was glaubst du denn?", er schüttelte ungläubig den Kopf, "Dass wir wie wilde Tiere rumlaufen und wahllos Leute töten?“
Wieder schwieg ich als Antwort.
Er strich sich mit einer Hand durchs Haar und sah mich plötzlich ernster an.
„Wir sind nicht alle so wie die, die du bis jetzt kennengelernt hast."
Schnell wand ich den Blick ab, damit er nicht sah was sich in meinem Kopf abspielte.
Ich sah wieder den Angriff vor mir. Ihr kaltblütiges Lächeln. Finger die sich um meinen Hals schlangen und mir die Luft abdrückten. Die blutige Hand, des Monsters das meine Mutter getötet hat, die sich nach mir ausstreckte.
„Wieso offenbart ihr dann eure Existenz nicht den Menschen?“
>Wenn ihr angeblich so lieb und nett seid< , fügte ich in Gedanken hinzu.
„Glaubst du wirklich sie würden uns akzeptieren? Wenn sie noch nicht mal bereit sind andere Kulturen oder Religionen zu akzeptieren?“
Er lehnte sich mit überkreuzten Armen an den Türrahmen und sah aus dem Fenster.
„Angst ist eine ziemlich unberechenbare Emotion. Jedes Lebewesen reagiert ähnlich darauf. Entweder mit Flucht oder Angriff. Doch Angst kann auch sehr schnell in Hass umschwenken. Der Grad zwischen Angst und Hass ist dünner, als man denkt“, er drehte den Kopf und sah mir direkt in die Augen, "Du weißt sicher aus der Geschichte, was Hass alles verursachen kann.“
Ohne eine Vorwarnung setzte er sich in Bewegung und verschwand aus meinen Blickfeld.
Völlig überrumpelt eilte ich ihm nach und blieb abrupt einige Meter vor der Küche stehen.
„Du wirst Claire mögen“, sagte er plötzlich, während er in den Küchenschränken herumwühlte.
„Wer?“
Verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel, beobachtete ich ihn, aus sicherer Entfernung, misstrauisch.
Wieso misstraust du ihn?, fragte eine leise Stimme in meinen Kopf, Er hat dich gerettet.
Sie hatte recht. Ich sollte versuchen ihm zu vertrauen. Er hat mir schließlich das Leben gerettet.
Aber zu welchem Preis?, flüsterte eine andere.
Argh, entscheidet euch doch endlich!
„Sie wohnt auch hier, genau wie ihr Bruder Elias, und sie sind gerade hierher unterwegs, um mir eine Standpauke zu halten. Wegen“, er fuchtelte mit der Hand in meine Richtung, "dem hier."
Nett….
"Ihr seit euch wirklich total ähnlich“, fuhr er fort,"Sie lacht auch nie über meine Witze."
Vielleicht bist du einfach nicht lustig!, hätte ich am liebsten geschrien.
„Aha“,erwiderte ich stattdessen knapp, bis ein andere Gedanke auftauchte, "Warte! Sind sie auch…?"
"…Sukkubus und Inkubus", bestätigte er meine Vermutung.
Klasse… Noch mehr von seiner Sorte…
Plötzlich überkam mich das seltsam Gefühl, dass ich irgendetwas wichtiges vergessen hatte.
Es war als wäre in meinem Kopf eine Wand aus Milchglas, man konnte bloß undeutliche Schemen erkennen, doch trotzdem wusste man, dass sich etwas dahinter befand.
Ich musste irgendwo hin…, doch wohin? 
Mein Blick ging wie von selbst zur Haustür.
"Also bin ich jetzt deine Gefangene?“, bemerkte ich und wies mit einem Blick zur Tür.
Er schien kurz zu überlegen.
„Nein, du bist nicht meine Gefangene“, sagte er mit spott in der Stimme.
„Also steht es mir frei zu gehen?“
„Im Moment nicht.“
„Also bin ich deine Gefangene!“, erwiderte ich, mit einen mal wütend.
Was ihn zu amüsieren schien, und was mich nur noch wütender machte.
„"Gefangene" ist ein ziemlich hartes Wort.“
„Wie würdest du es denn nennen, wenn du gegen deinen Willen eingesperrt bist?“
„Stubenarrest“, antwortete er ginsend.
Am liebsten hätte ich ihm das Grinsen aus seiner Visage geschlagen.
Was war bloß mit mir los?
Normalerweise neigte ich nicht zu so extremen wutausbrüchen. Ich fühlte mich als würde unter meiner Haut etwas brodeln, dass nur darauf wartete hervor zuschießen.
Ich nahm einem tiefen Atemzug durch die Nase und ließ die Luft langsam wieder durch den Mund aus.
Beruhig die Alex.
Als ich ihn wieder ansah bemerkte ich, dass er mich musterte.
„Und wie lange geht dieser "Stubenarrest"“, fragte ich betont ruhig.
„Das steht noch nicht fest.“
Darauf wartend, dass er noch weiter redete, schwieg ich.
Stattdessen machte er wieder weiter, in der Küche mit irgendetwas herumzuhantieren.
„Du hast sicher Hunger“, merkte er an und öffnete den Kühlschrank.
Ich konnte einfach das Gefühl nicht loswerden, dass er mich bewusst zu reizen versuchte.
Die Frage war nur, wieso?
Widerwillig ging ich zum Küchentresen und blieb vor ihm stehen, weil ich es nicht über mich brachte  mich auf den Hocker zu setzten.
Das würde nämlich bedeuten, dass ich mich mit der Situation abgefunden hatte und das hatte ich allemal nicht.
Er war gerade dabei etwas Öl in eine Pfanne zu geben.
„Magst du lieber Rühr- oder Spiegeleier?“, fragte er ohne aufzusehen und stellte die Temperatur ein.
Als ich nicht antwortete, sah er kurz auf.
„Oh, das hätte ich fast vergessen.“
Gespielt geschockt griff er nach dem Messerblock, der nur knapp 30 cm von mir entfernt stand.
„Den stellen wir mal lieber Weg.“
Er öffnete einen Hängeschrank und stellte ihn ins oberste Fach.
„Also wie lange muss ich noch mit dir hier eingesperrt sein“, nahm ich den Faden wieder auf und ignorierte das eben Geschehene.
„Das hängt von ein paar Faktoren ab.“
„Und die wären?“
Kurz hielt er die Hand über die Pfanne um die Temperatur zu prüfen.
„Zum einen ob du mir sagst ob du lieber Rühr- oder Spiegeleier möchtest", sagte er, nahm drei Eier aus dem Eierkarton neben der Herdplatte und sah mich abwartend an.
Wie sehr ich mir gerade wünschte, dass der Messerblock direkt neben mir stand.
„Danke, aber ich habe gerade keinen Appetite“, erwiderte ich betont freundlich.
„Also Rührei“, entschied er und schlug die Eier nacheinander in die heiße Pfanne, dann öffnete er eine Schublade und holte einen Pfannenwender heraus.
„Kannst du mir verdammt nochmal, einfach meine verdammten Fragen beantworten!“, platze ich wütend heraus.
Mein Gedultsfaden war gerissen. Ich stand kurz davor, über die Theke zu springen und ihn mit seiner verdammten Pfanne, mitsamt seines verdammten Pfannenwenders, zu erschlagen.
Meinen Wutausbruch ignorierend rührte er in aller Seelenruhe die Eier in der Pfanne.
Dann sah er auf.
„Zum anderen hängt es davon ab, ob du eine Gefahr für deine Umwelt oder dich selbst darstellst.“
„Ich soll eine...!“
Er wies mit einem Blick auf meine Hände, die auf der Theke ruhten, was mich dazu brachte ebenfall dort hinzusehen.
Ich hatte garnicht gemerkt, dass ich sie zu Fäusten geballt hatte. Erst jetzt bemerkte ich auch den Schmerz in meinen Handflächen.
Langsam öffnete ich meine verkrampften Fäuste, und was ich sah ließ mich stocken.
An meinen Handflächen waren jeweils vier blutige Furchen, die ich mir mit meinen Fingernägeln selbst zugefügt hatte, ohne es zu merken.
Mit einem Mal fingen meine Handflächen an zu kribbeln.
„Was zum..?!“
Die Wunden schlossen sich vor meinen Augen und hinterließen eine makellose Haut.
Einzig das Blut, das noch an den Stellen und unter meinen Fingernägeln klebte, bewies, dass ich es mir nicht eingebildet hatte.
Auch wenn ich wusste, dass ich kein Mensch mehr war, war der direkte Beweis dafür, wie ein Schlag ins Gesicht. Ein großer Teil von mir hatte die Wahrheit verdrängt und gehofft es wäre alles bloß ein schlechter Traum. Ich hatte gehofft jederzeit aufzuwachen und alles wäre wieder normal.
„Nein.“
Ich starrte immer noch auf meine, in übermenschlicher Geschwindigkeit, geheilten Hände.
„Nein“, sagte ich wieder und wich einen Schritt zurück.
Plötzlich fühlte sich der Raum sehr viel kleiner an und ich fing unkontrolliert zu zittern an. Ich fühlte mich wie ein Tier in einem engen Käfig.
„Ich... ich muss hier raus.“
Ohne aufzusehen stürmte ich zur Haustür.
Ernergisch rüttelte ich wieder an ihr, als würde sie sich so auf magische Weise öffnen.
„Mach die verdammte Tür auf!“, schrie ich verzweifelt, ohne mich umzudrehen und fing an gegen die Tür zu hämmern.
„Alexandria, hör auf damit“, sagte er ruhig, direkt hinter mir.
Doch ich ignorierte ihn und machte in meinem zwecklosen Versuch, die Tür auf zu bekommen, weiter.
„Mach einfach diese verdammte Tür auf. Ich muss hier raus! Ich muss zu...“, meine Stimme brach und ich fasste mir mit einer Hand an den Kopf.
Wieso erinnerte ich mich nicht?!
Ich hämmerte gegen die Glaswand, die mich daran hinderte mich zu erinnern.
Stöhnend presste ich die Hände gegen meinen jetzt schmerzenden Kopf.
Ich muss mich erinnern!
"Hör auf damit. Sonst tut es noch mehr weh", sagte er, während er mit besorgter Miene auf mich zu kam.
"Wieso kann ich mich nicht erinnern?", fragte ich gepresst, während die Schmerzen nur noch mehr zunahmen.
Und dann traf mich die Erkenntnis.
"Was hast du mit mir gemacht!?", schrie ich ihm entgegen und sein Blick bestätigte meine Vermutung.
Er war für die Wand in meinem Kopf verantwortlich.
"Ich dachte, dass es so besser ist. Ich wollte dir nicht zu viel auf einmal zumuten."
Was ist vor dem Angriff passiert? Ich bin nach Hause gegangen. Und dann…
Das Glas bekam einen Riss und ich presste beide Hände gegen meinen Kopf, weil die Schmerzen kaum auszuhalten waren.
"Bleib wo du bist!", zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen, als ich sah, dass er näher kommen wollte.
Warum wurde ich angegriffen?
Der Riss breitete sich aus, bis plötzlich ein Stück heraus brach.
>„Keine Sorge. Ich komme auch ganz gut ohne dich Zurecht.“ <
Ich hatte mit meinem Vater gestritten.
Mein Vater!
Die Glaswand zersplitterte in Tausend Einzelteile und die Erinnerungen prasselten als schmerzhafte Glasscherben auf mich ein.
>Ich näherte mich dem Wohnzimmerfenster und späte vorsichtig hinein.<
Nein!
>Überall lagen Trümmer. Es sah aus als hätte ein Kampf stattgefunden.<
Aufhören!
>Als ich mich genauer umsah, blieb mein Blick plötzlich an etwas hängen.<
Ich will es nicht sehen!
Ich schüttelte den Kopf um die Bilder fortzutreiben, doch sie wollten nicht verschwinden.
Es war zu spät. Es gab nichts mehr, was sie hätte zurückhalten können.
> Ein Kopf dessen Körper einige Meter weiter lag.<
Nein, bitte nicht!
>Tote Augen die in meine blicken.<
Stop!
Plötzlich wurde ich am Arm gepackt und herum gewirbelt. Verwirrt, weil alles so schnell gegangen war, sah ich auf die Brust vor mir. Mit festem Griff hatte er die Arme um mich geschlungen.
„Lass mich los“, schrie ich und wollte ihn von mir stoßen, doch er rührte sich keinen Zentimeter.
Wie wild trommelte ich auf seine Brust ein.
Ich muss mich nur auf die Wut konzentrieren! Wenn ich mich auf meine Wut konzentriere, dann ist alles gut.
Dann kann ich den Schmerz, der mit jeder Sekunde wuchs, überstehen.
„Es ist in Ordnung. Ich weiß wie du dich fühlst.“
„Du hast keine Ahnung wie ich mich fühle!“, brüllte ich ihm entgegen und kämpfte gegen seinen Griff an.
„Ich muss zurück. Mein Vater...“.
Weiter kam ich nicht. Ich konnte es einfach nicht aussprechen. Tränen rannen mir über die Wange, ohne dass ich es hätte verhindern können.
Ich kämpfte mit jeder Faser meines Körper, gegen die sich anbahnenden Gefühle.
„Ich weiß“, sagte er leise.
Und dann brach alles aus mir heraus.
Unkontrollierte Schlurzer schüttelten mich und meine Finger verkrallte sich in sein Hemd.
Ich weinte bis keine Tränen mehr übrig waren, die es zu weinen gab.
Bis der Schmerz langsam abebbte.
Bis nur noch eine Leere zurückblieb, und eine vom Salz meiner Tränen brennende Haut.

Kapitel 5

 

Ich weiß nicht wie lange wir so dastanden. Es hatte sich gleichzeitig, wie eine Ewigkeit und Sekunden angefühlt.
Langsam löste ich meine verkrampften Finger von seinem Hemd und sah beschämt wie zerknittert und nass es war.
Nichtwissend wie ich mit der Situation umgehen sollte, sah ich im ersten Moment überall hin, nur nicht in sein Gesicht.
"Weißt du wieso mein Vater…?", fragte ich schließlich, weil die unangenehme Stille mit jeder Sekunde erdrückender wurde.
"Nein, leider weiß ich nicht mehr als du."
Es war seltsam ihn nicht länger mit einem Witz auf den Lippen zusehen.
"Woher willst du wissen wieviel ich weiß?", hagte ich nach und brachte etwas Abstand zwischen uns, weil ich den besorgten Blick in seinen Augen einfach nicht länger ertragen konnte. Er sah mich an als wäre ich aus Glas, das kurz davor war zu zerspringen.
Und irgendwie irritierte mich das mehr, als seine vergeblichen Versuche witzig zu sein.
"Weil ich in deinem Kopf nachgesehen habe."
"Und eine Wand errichtet hast", fügte ich hinzu.
"Ich dachte wirklich, dass sie etwas länger halten würde. Ich dachte es ist besser, wenn du erstmal mit deinem neuen ich zurechtkommst und lernst deine Gefühle zu kontrollieren."
Er ging zur Wand neben der Eingangstür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
"Tja,", seufzend fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar, "da habe ich wohl falsch gedacht."
"Also hast du mich deswegen die ganze Zeit gereizt…", stellte ich anklagend fest.
Er lachte kurz schnaubend.
"Unter anderem. Ich bin aber auch für gewöhnlich ziemlich reizend."
Auf seinem Gesicht erschien ein schalkhaftes Lächeln.
Ohne Vorwarnung wurde auf einmal die Tür aufgeschlossen und zwei Personen traten ein.
"Hallo Claire", begrüßte er sie und nickte dem anderen kurz zu, “Elias.“
Beide hatten etwas Elfenhaftes an sich und glichen sich wie ein Ei dem anderem.
Eineiige Zwillinge, stellte ich überrascht fest.
Ihr langes weißblondes Haar hing in einem geflochtenem Zopf über ihre Schulter und ihre strahlend blauen Augen funkelten ihn angriffslustig an. Ihr Bruder hatte das gleiche elfenhafte Aussehen. Nur eben die männliche Version. Sein kurzes Haar war perfekt zu einer lässigen Frisur gestylt.
In seinem Blick spiegelte sich allerdings Mitleid für sein Gegenüber.
Feuer und Eis, schoß es mir durch den Kopf.
"Dein "Hallo Claire" kannst du dir sparen", zischte sie und schob sich an ihm vorbei in die Wohnung.
Jap, sie war eindeutig das Feuer.
Vor mir bleib sie kurz stehen. Mein verheultes Gesicht musste bestimmt einiges an Fragen aufwerfen. Dann sah sie zu seinem Hemd. Man sah förmlich wie die Zahnräder in ihrem Kopf zu rattern begannen.
"Was hat er gemacht?", platze es aus ihr heraus und sie sah mich abwartend an.
Völlig überrumpelt starrte ich sie einfach nur stirnrunzelnt an.
"He! Wieso denkst du, dass ich irgendwas gemacht haben soll", rief er empört.
"Hmm keine Ahnung Lucas. Vielleicht weil ich dich so gut kenne."
Tadelnd schüttelte sie den Kopf und sah mich mitfühlend an.
"Ist schon gut du kannst es mir ruhig sagen."
"Ich...Also er...", stotterte ich, unschlüssig darüber was ich sagen sollte.
Man sah mir mein unbehagen deutlich an. Als sie kurz zu Lucas sah, warf er ihr einen Blick zu, den ich nicht recht deuten konnte, was sie aber dazu brachte das Thema fallen zu lassen.
"Also ich bin übrigens Claire und das ist mein Bruder Elias", stellte sie sich freundlich vor. Elias nickte mir zum Gruß kurz zu.
"Alex", erwiderte ich knapp.
"Oh", sagte Lucas als wäre ihm etwas eingefallen, "Ich hatte mich noch gar nicht bei dir vorgestellt."
Claire warf ihm einen Blick zu der deutlich sagte, dass sie das nicht überraschte.
"Tut mir Leid, aber nachdem sie ein Messer nach mir geworfen hat, habe ich leider vergessen mich vorzustellen", verteidigte er sich sarkastisch.
Ernsthaft überrascht blickte sie mich mit großen Augen an.
"Hast du wenigstens getroffen?"
Reflexartig schüttelte ich schnell den Kopf.
"Schade", meinte sie und ging ohne ein weiteres Wort in Richtung Esstisch.
Lucas hatte recht. Sie war mir auf anhieb sympathisch.
Auf einmal musste ich stutzen.
"Warte", sagte ich und sah Lucas an.
"Woher wusstes du meinen Namen?"
"Drei mal darfst du raten."
Ich überlegte kurz.
"Ist das so ein Inkubus/Sukkubus Ding?", fragte ich zögernd.
Die Zwillinge musterten mich mit verdutzen Mienen und Lucas musste kurz auflachen.
"Nein", antwortete er gedehnt, "Es ist so ein "Ich hab deinen Ausweis bei deinen Sachen gefunden" Ding."
"Meine Sachen", sagte ich mehr zu mir selbst.
Ich sah an mir herunter und stellte beschämt fest, dass ich immer noch nur ein T-Shirt trug, das nur knapp meinen Hintern bedeckte. Plötzlich fühlte ich mich Nackt.
"Wo sind meine Sachen?!"
"Die habe ich weggeworfen", erwiderte Lucas knapp.
"Wärst du lieber in blutigen Klamotten aufgewacht?", unterbrach er mich mit einer hochgezogenen Augenbraue, als ich gerade zum Protest ansetzen wollte.
Wortlos schloss ich meinen Mund wieder.
Punkt für ihn.
"Ah und keine Sorge, ich war diejenige die dich umgezogen und so gut es ging sauber gemacht hat", sagte Claire schnell, "Du solltest aber am besten trotzdem nochmal kurz unter die Dusche."
Wie von selbst ging meine Hand zu meinem Hinterkopf, und ich fühlte, dass einige Haarsträhnen verklebt waren. Verklebt von meinem getrocknetem Blut.
"Und weil ich so nett bin, habe ich deine persönlichen Gegenstände sicher verstaut", riss Lucas mich aus meinen Gedanken, ging zu einer Kommode in der linken Ecke und öffnete eine Schublade.
Als er auf mich zu kam, öffnete ich wortlos meine Hände und nahm entgegen was er mir hinein legte.
Einige Sekunden sah ich die Gegenstände in meinen Händen einfach nur stumm an.
Mein Ausweis, mein Handy und etwas Kleingeld. Das waren meine Sachen. Alles was mir gebleiben war. Halt! Ich hob den Blick.
"Hast du zufällig auch ein Klappmesser gefunden?"
"Hmm mal überlegen."
Er legte den Kopf schief und tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn.
"Hab ich auch ein Klappmesser gefunden?"
Meine Augen verengten sich zu schlitzen.
Und wie er es hatte!
Ungeduldig starrte ich ihn an, woraufhin er wieder zur Schublade ging und etwas herausholte.
Bevor er es mir gab, bedachte er mich mit einem Blick der sagte: Komm bloß nicht auf dumme Ideen.
Ich quittierte ihn mit einem: Keine Sorge. Solange du mich nicht dazu bringst.
Meine Finger schlossen sich um das vertraute kühle Metall. Es spendete mir Trost und Trauer zugleich.
"Danke", sprach ich leise und meinte es auch.
"Es bedeutet dir wohl einiges", stellte Claire fest.
"Mein Vater hat es mir geschenkt", antwortete ich, ohne den Blick zu heben.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter, was mich dazu brachte aufzusehen. Claires Augen waren voller Mitgefühl.
„Das mit deinem Vater tut mir wirklich Leid. Mir ist bewusst, dass die ganze Situation ziemlich schwer für dich sein muss. Wir wollen dir helfen, aber du musst versuchen uns zu vertrauen.“
Vertrauen.
Ich wusste nicht ob ich dies konnte.
Doch was blieb mir anderes übrig. Ich hatte sowieso nichts mehr zu verlieren.
Sie bemerkte wahrscheinlich meinen Innerlichen Zwiespalt, ging wieder zum Esstisch und stellte den Rucksack, den sie auf ihrem Rücken getragen hatte, darauf.
"Ich hab dir ein paar Klamotten besorgt."
Abschätzig ließ sie ihren Blick über mich wandern, während sie gleichzeitig den Rucksack öffnete.
"Sie müssten eigentlich passen, da wir ungefähr die gleiche Größe haben."
Dankend nahm ich den Bündel an, den sie mir entgegen hielt und verschwand mit samt meinen eigenen Sachen wieder hoch ins Schlafzimmer.
Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, lehnte ich mich kurz degegen. Gemurmel drang durch sie zu mir hoch, doch es war zu leise um irgendetwas zu verstehen.
Worüber sie redeten konnte man sich aber denken.
Über mich.
Ich stieß mich von der Tür ab, ging ins Badezimmer und legte alle Sachen auf dem Waschtisch ab.
Ohne einen Blick in den riesigen Spiegel, zog ich T-Shirt und Unterwäsche aus, und stieg in die Dusche. Es war eine geräumige Regendusche, wie man sie aus Zeitschriften oder Werbespots kannte. Unter anderen Umständen hätte ich mich über diesen Luxus, wie ein kleines Kind an Weihnachten gefreut. Den größten Luxus den ich bis jetzt gehabt hatte, war ein eigenes Zimmer mit eigenem Bad. Wobei die Dusche nicht mal halb so groß gewesen war.
Doch dies spielte für mich im Moment keine Rolle. Ich hätte diesen Luxus ohne zu zögern gegen mein altes Leben eingetauscht.
Ohne darauf zu achten welchen Schalter ich gedrückt hatte, stellte ich mich unter den riesigen Duschkopf. Angenehm warmes Wasser regnete auf mich hinab. Mechanisch schnappte ich mir wahllos irgendeine Tube und schäumte mich damit ein.
Es roch leicht nach Kokosnuss und noch einem künstlichen Duft, den ich nicht einordnen konnte.
Ich erhöhte die Temperatur. So heiß dass es schon fast schmerzte, doch registrierte es kaum. Benommen rutschte ich an der Wand herunter und schlang die Arme um meine Knie.
Plötzlich fühlte sich diese riesige Duschkabine noch viel viel größer und gleichzeitig erdrückend an. Es waren die einsamen Momente an denen man am meisten nachdachte und genau das tat ich nun.
Nachdenken.
Auch wenn ich mir wünschte einfach an nichts denken zu können, gelang es mir nicht. Eine Frage hallte immer wieder wie ein Echo in meinem Kopf.
Warum? Warum? Warum?
Warum musste mein Vater sterben?
Warum passiert das alles?
Warum mir?
Was soll ich nun tun? Wie soll ich es schaffen einfach weiterzumachen?
Mein Blick glitt zu meinem Klappmesser, das neben den Klammoten auf dem Waschtisch lag.
Es wäre alles so viel leichter, wenn man über all das nicht mehr nachdenken müsste.
Mich nicht dem stellen, dass ich nun geworden war.
Es würde nur kurz wehtun und dann wäre alles vorbei. Vielleicht würde ich meinen Vater wieder sehen. Und meine Mutter.
Auch wenn ich nicht wirklich gläubig war, glaubte ich an ein Leben nach dem Tod.
Ich hoffte es zumindest.
Doch war das die richtige Lösung für all meine Probleme? Eine einfache wäre es alle Mal.
Es war so Verlockend.
Ich erhob mich, stellte das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Meine Hand ging wie von selbst zu meinem Messer und ließ es aufschnappen. Nüchtern betrachtet ich die scharfe Klinge.
So Verlockend.
Und doch würde es meine Fragen nicht beantworten.
Und was viel wichtiger war.
Derjenige der für all das Chaos in meinem Leben verantwortlich war, wandelte vielleicht noch auf Erden und mordete einfach weiter.
Und das würde ich verdammt nochmal nicht zulassen!
Entschlossen blickte ich meinem Spiegelbild in die Augen.
Die menschliche Alex war bereits in der einsamen Gasse gestorben.
Ich schloß die Augen und hochte in mich. Auch wenn ich mich nicht anders fühlte, wusste ich, dass ich mich verändert hatte. Da war ein schwaches pulsieren tief in meinen inneren. So schwach, dass ich es erst garnicht wahrgenommen hatte.
Langsam schlug ich die Augen wieder auf.
Ja, ich war kein Mensch mehr. Doch war dies wirklich so schlimm? Mir war eine zweite Chance geschenkt worden, und auch wenn ich jetzt vielleicht ein Monster war, würde ich sie nutzen.

 

 

Frisch geduscht und mit trocken geföhnten Haaren ging ich nach unten, wo mir direkt ein lautes Stimmengewirr entgegen kam.

"Du kannst vergessen, dass ich... Ah wie ich vermuttet hatte. Es passt wie angegossen", sagte Claire schnell, die noch vor einer Sekunde Lucas wütend angefunkelt hatte.
"Ja, Danke nochmal dafür", erwiderte ich und tat so als hätte ich den plötzlichen Themenwechsel nicht mitbekommen.
"Ich habe Claire gerade über euren geteilten, fehlenden Sinn für Humor in Kenntnis gesetzt", behauptete Lucas neckend.
"Ich glaub es liegt eher an dir. Weil du einfach nicht witzig bist", konterte Claire trocken.
"Also Elias findet mich witzig."
Besagter schüttelte entschuldigend den Kopf.
"Waaas?!", rief Lucas gespielt empört, "Aber du hast doch immer über meine Witze gelacht."
"Ja, aber nur aus Mitleid."
Es war seltsam zu sehen wie normal sie waren.
Wie menschlich.
Sie verhielten sich wie ganz gewöhnliche Menschen.
Automatisch glitt mein Blick zu Lucas.
Außer Lucas, schoß es mir durch den Kopf.
Der wäre selbst als Mensch seltsam.
Plötzlich schob sich Claire wieder in mein Blickfeld.
"Es mag sicher alles ein bisschen viel für dich sein, aber wir müssen zusammen zum Hauptquatier. Die Leiterin würde dich gerne persönlich treffen."
"Leiterin?", fragte ich verwirrt.
Claire sah kurz anklagend zu Lucas bevor sie antwortete.
"Miranda ist die Leiterin unserer Einheit. Wir sind...", kurz zögerte sie und blickte zu den anderen beiden.
"Kopfgeldjäger", beendete Lucas ihren Satz.
Bevor ich zu fragen ansetzten konnte, unterbrach sie mich schnell.
"Miranda wird dir alles weitere erklären und deine Fragen beantworten."
Was so viel bedeutete wie: Mehr dürfen wir dir leider nicht erzählen.
Mir blieb also leider nichts anderes übrig, als Miranda zu treffen.
„Bereit?“
Lucas hielt mir meine Sneakers hin.
Die hatte er also nicht weggeworfen.
Kopfgeldjäger...
Bei den Menschen waren sie sowas wie das Einfangkomando der Polizei.
Dann blitze eine Erinnerung vor meinem geistigen Auge auf.
Lucas wie er einem Mann etwas in den Unterkiefer rammte.
Es sind keine Menschen…
Und du nun auch nicht mehr, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf.
„Bereit.“

 

Kapitel 6

 

Wir fuhren in einem unscheinbarem grauen Honda Accord. Ich teilte mir mit Claire die Rückbank, Lucas fuhr und Elias saß neben ihm auf dem Beifahrersitz.
Nachdem ich vergeblich versucht hatte, Informationen aus ihnen heraus zubekommen, wie "Also wer ist diese Miranda eigentlich genau" oder "Was macht man als Kopfgeldjäger sonst noch, außer Köpfe zu jagen", gab ich es schließlich auf. Wenigstens die Frage wie lange wir fahren würden, wurde mir beantwortet. Circa eine Stunde.
Als ich aber nach einer Stunde erneut fragte, erhielt ich die gleiche Antwort.
Erschöpft lehnte ich meinen Kopf gegen die kühle Scheibe. Wir fuhren einen Highway entlang. Alles sah gleich aus, hier und da tauchten Ortschilder auf von Orten die ich nicht kannte, und aus dem Radio tönte Highway to Hell.
Wie passend.
Ich wusste nicht was mich erwartete.
Doch wenn sie mich hätten töten wollen, dann hatten sie doch jede Gelegenheit dazu gehabt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Entweder fuhr ich gerade in mein verderben oder ich würde Antworten erhalten.
Aber hey, wie viel schlimmer konnte es schon werden?
Mit einem Mal merkte ich, wie mir die Augen immer wieder zu fielen. Den ganzen Tag schon, fühlte ich mich kraftlos und schlapp. Ok, ich hatte auch noch nicht besonders viel gegessen. Aber irgendwie fühlte es sich anders an. Seltsam. Bevor ich noch weiter darüber nachgrübeln konnte, war ich auch schon eingeschlafen.

 

Ich befand mich wieder in meinem Kinderzimmer. 

"Daddy?"
Er stand mitten im Raum und hatte mir den Rücken zugedreht.
Irgendwas war anders.
Ich sah an mir herunter. Ich war kein Kind, sondern meine jetztige Version.
Wieder blickte ich zu meinen Vater, der sich immer noch nicht gerührt hatte.
"Dad?"
Zögernd näherte ich mich ihm, auch wenn alles in mir schrie es nicht zu tun.
"Dad", sagte ich erneut und hob meine Hand.
Genau in dem Moment wo meine Hand seinen Rücken berührte, kippte er einfach zur Seite weg.
Wie versteinert sah ich dabei zu, wie sein Körper wie eine leblose Puppe zu Boden fiel und sein Kopf von seinem Torso wegrollte.
Mit dem Gesicht zu mir, kam der Kopf schließlich zum Stillstand.
Nein!
Wach auf Alex!
Blindlings stolperte ich Rückwärts, als mir plötzlich etwas aus den Händen fiel.
Vor meinen Füßen lag eine blutverschmierte Sichelklinge.
Automatisch wanderte mein Blick zu meinen Händen.
Auch an ihnen klebte frisches Blut.
Nein! Das konnte nicht sein!
Panisch wischte ich mit den Händen über meine Kleidung, doch das Blut wollte einfach nicht verschwinden.
"Alexandria."
Ohne dass ich es verhindern konnte, ging mein Blick wieder zu den Überresten meines Vaters.
Tote Augen starrten mich an, als würden sich mich verurteilen.
"Wieso hast du es getan?", fragte mich sein körperloser Kopf.
Nein!

 

"Alex, wach auf."
Jemand rüttelte an mir und ich fuhr erschrocken hoch.
Haselnussbraune Augen blickten mich besorgt an.
"Wir sind da", erklärte Lucas knapp.
Immer noch leicht orientierungslos sah ich mich um.
"Wo ist Claire?", fragte ich verwirrt, als ich ihr verschwinden bemerkte.
Ich saß alleine auf der Rückbank und Lucas hatte sich zur anderen Seite reingelehnt um mich zu wecken.
"Hat sich abgesetzt, sofort als wir angekommen sind."
"Wie lange sind wir denn schon da?"
"So 10 Minuten."
"Was? Wieso hast du mich denn jetzt erst geweckt?!"
Genervt stieg ich aus dem Wagen,schloß ich die Tür hinter mir und schob mich an Lucas vorbei.
"Entschuldigung", seine Stimme triefte von Sarkasmus, "du hast Müde ausgesehen und da wollte ich dir noch ein paar Minuten schlaf gönnen.“
Plötzlich war da wieder dieser besorgte Blick in seinen Augen.
"Alles in Ordnung?", fragte Elias schließlich vom Beifahrersitz aus.
Ich zuckte kurz mit den Schultern und versuchte das Echo des Albtraums, das immer noch in meinem Kopf herrschte, zuvertreiben.
"Wahrscheinlich wolltest du mich nur als Ausrede nehmen, um nicht nach Miranda zu müssen."
Und wieder war da dieses schiefe Grinsen.
"Wahrscheinlich."
"Also wo lang?"
Abwartend sah ich an.
Lucas blickte zu Elias, der gerade dabei war es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich zu machen.
"Du kommst nicht mit rein?"
"Warum sollte ich mit rein kommen?", fragte er bloß, verschränkte die Hände hinter den Kopf und schloss die Augen.
"Dich kann sie besser leiden."
"Das ist aber auch nicht schwer, bei jemanden wie dir."
"Wozu braucht man Feinde, wenn man solche Freunde hat", seufzte Lucas und setzte sich in Bewegung.


Ich warf einen Blick auf das Gebäude, vor dem wir halt gemacht hatten.
"Das ist ein Witz, oder?"
Wir standen vor einem kleinem Asia Restaurant.
"Die haben wirklich gutes Essen. Sag nichts bevor du nicht die Teigtaschen probiert hast."
Er ging vorraus in den Laden. Ungläubig warf ich nochmal einen Blick auf den Ladennamen.
Lotus.
Der verarscht mich doch!
Eilig folgte ich ihm nach drinnen, um zu ihm aufzuschließen.
"Also Miranda arbeitet nebenbei als Geschäftsführerin bei einem Asiaten?"
"Mehr oder weniger. Sie ist eher der Sponsor, da unsere Arbeit schon genug Zeit in Anspruch nimmt."
"Also dient es zur Tarnung?"
"So wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf uns ziehen, lautet die Devise."
Schlau. Es gab unzählige Asia Imbisse. Wer würde vermuten, dass hinter einem ein Übernatürliches Kopfgeldjäger Unternehmen stand.
Der Laden war gut besucht. Kaum ein Tisch war noch frei. Immer mal wieder begrüßten Gäste Lucas beim vorbeigehen. Ein Kopfnicken hier, ein kurzer Wink dort.
Warte...
Ich trat näher an ihn heran.
"Sind das alle...",flüsterte ich.
"Nicht alle."
"Aber die meisten", fügte er hinzu. Mein erstaunter Blick schien ihn zu belustigen.
Nun wo ich mich darauf konzentrierte, meinte ich ein pulsieren in der Luft zu spüren. Als wäre sie aufgeladen.
Aufgeladen von... Macht?
Mein Blick schweifte über die Gäste.
Sie sahen alle aus wie ganz gewöhnliche Menschen.
Doch dann viel mir eine hübsche Blondine ins Auge. Sie strich zärtlich mit den Fingerspitzen über die Hand eines Mannes und lächelte ihn verführerisch an.
Eigentlich eine ganz normale Szene. Wäre da nicht das kurze flackern, wie bei einer kaputten Taschenlampe, in ihren Augen gewesen. Ich blinzelte kurz, weil ich erst dachte ich hätte es mir nur eingebildet, doch als ich diesen flackern auch in den Augen eines anderen Pärchen sah, wusste ich, dass ich es nicht hatte.
Ich war also in der Höhle der Löwen.
Unbehaglich sah ich mich nach einem Fluchtweg um und trat gleichzeitig instinktiv näher an Lucas heran.
Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit von einer Frau in Beschlag genommen, die uns in den Weg trat.
Mein erster Gedanke war: Verführung auf zwei Beinen.
"Camille. Ich würde lügen wenn ich sagen würde, dass ich mich freue dich zu sehen. Du weißt sicher schon, dass ich nicht ganz freiwillig hier bin."
Sie verzog ihre blutrot geschminkten Lippen zu einem Lächeln.
"Und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich überrascht, dass du schon wieder etwas getan hast was dein persönliches auftauchen erfordert."
Ihr Blick ging zu mir.
"Das ist also dein aktueller Fauxpas", sie legte den Kopf schief, " Sie riecht...Interessant."
Ich kam gar nicht erst dazu zurückzuweichen, als sie blitzschnell eine Hand nach mir ausstreckte, da hatte sich Lucas bereits vor mich gestellt und ihr Handgelenk gepackt.
"Sie steht nicht auf der Speisekarte", sagte er ruhig aber bestimmt.
"Sei nicht so ein Miesepeter. Ich wollte doch nur mal kosten."
Ihre Augen funkelten Raubtierhaft.
"Ich bin mir sicher, dass Claire darüber nicht so erfreut wäre."
Bei Claires Namen leuchteten ihre Augen plötzlich auf.
"Das hoffe ich auch für Sie. Nachdem sie mich so lange nicht besucht hat, soll sie ruhig ein bisschen eifersüchtig werden."
"Vielleicht ist sie ja mitgekommen um sich zu Entschuldigen."
Es war als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
"Sie ist hier?", fragte sie fast schon aufgeregt und blickte sich suchend um.
"Sie wollte dich in deiner Wohnung überraschen, aber das hast du nicht von mir."
Bevor ich mich versah, war sie auch schon ohne ein weiteres Wort davon geeilt.
"Also dann wollen wir es mal hinter uns bringen."
Er klang fast so als würde er sich genauso unwohl fühlen wie ich.
Kurzes Schulterstraffen, dann klopfte er an der Tür und öffnete ohne abzuwarten.
Wir traten in einen kleinen Raum der sehr nach einem Büro aussah. Hinter einem großen Schreibtisch erhob sich eine Frau, die aussah wie eine älter Version von Camille. Das selbe schwarze Haar, wenn auch doppelt so lang und gleiche spanische Aussehen.
"Hallo, du musst Alexandria sein", begrüßte sie mich freundlich.
"Alex", berichtigte ich.
"Ich bin Miranda. Setzt dich doch, Alex. Du hast sicher einge Fragen. Ich habe auch ein paar an dich, wenn das ok ist."
Ich setzte mich auf die schwarze Ledercouch in der Mitte des Raumes, die im Kreis um einen Glastisch angeordnet war. Lucas nahm mir gegenüber auf der andere Couch platz, während Miranda um den Schreibtisch herum kam und sich auf den Sessel zu meiner Rechten setzte.
"Zuerst einmal möchte ich dir mein aufrichtiges Beileid ausprechen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwer dieser Verlust für dich sein muss."
Ihre Augen waren voller Mitgefühl. Es ließ sie menschlicher wirken, als mir lieb war.
Schnell wandte ich den Blick ab.
"Sie reden von ihm, als würden sie ihn kennen."
"Kennen wäre übertrieben. Er war einmal hier, als er vor knapp drei Monaten in meinen Zuständigkeitsbereich zog."
"Was meinen sie mit: "er war hier"?", fragte ich stirnrunzelnt.
Die Räder in meinen Gehirn begannen zu arbeiten.
Es schien als wäre sie über meine Frage überrascht und zögerte kurz zu antworten.
"Ich nahm an, dass seine Tochter eingeweiht sei."
Sie sah kurz zu Lucas bevor sie fortfur.
"Du weißt nichts über seine Arbeit?"
"Er jagt...", Monster, hätte ich fast gesagt, "…böse Wesen."
Lucas runzelte sichtlich amüsiert über diesen Ausdruck die Stirn.
Miranda sah aus als würde sie Mitleid mit mir haben. Was mich nur noch mehr verwirrte.
"Du weißt es also wirklich nicht. Er hat für uns gearbeitet."
Schnell schüttelte ich ungläubig den Kopf. Der Raum fühlte sich plötzlich sehr viel kleiner an.
"Das muss eine Verwechslung sein. Mein Vater…."
Er hat sie immer als Monster bezeichnet. Monster mit keinem fünkchen Menschlichkeit. Nach allem was sie Mom angetan haben, muss er sie doch gehasst haben.
Und am Ende auch ihm.
Wieder schüttelte ich den Kopf. Diesmal um die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen.
Miranda war anscheind aufgestanden, denn nun stand sie vor mir und reichte mir einen dünnen Papierordner.
Zuerst sah ich ihn eknfach nur stumm an, als wäre er eine giftige Kobra.
Doch ich musste die Wahrheit erfahren.
Ich musste wissen was mein Vater, all die Jahre vor mir verheimlichte.
Deshalb nahm ich ihn schließlich entgegen und legte ihn auf meinen Schoß ab.
Ohne noch weiter zu überlegen, öffnete ich ihn schnell.
Das erste was mir ins Auge sprang, war ein Foto von ihm in der oberen Ecke.
Es war das gleiche Passbild, das auch auf seinen Ausweis war.
Ich strich kurz mit den Fingerspitzen darüber. Graue Augen, die meinen so glichen, blickten mir entgegen. Es schmerzte zu wissen, dass dies das einzige Foto von ihm war, das noch existierte.
Dann überflog ich die wenigen Informationen, die auf der Seite standen.
Es war ein Steckbrief. Sie enthielten die gewöhnlichen Informationen wie Größe und Geburtstag.
Mein Blick blieb kurz an der Stelle "Familie" hängen.
Frau Melissa Davis verstorben
Tochter Alexandria Davis
Schnell las ich weiter.
Mitglied seit 1993.
Ich rechnete schnell im Kopf.
"Das kann unmöglich Stimmen", sagte ich laut.
Miranda sah wo mein Finger stehen geblieben war.
"Er gehörte zu einer Familie von Jägern. Mit 14 fing man für gewöhnlich mit seiner Ausbildung an."
Ich hatte angenommen, dass er mit dem jagen angefangen hatte wegen Mom.
Doch er war bereits lange vorher ein Jäger.
Es sah damals nicht nur so aus, als wüsste er was er tat, sondern er wusste wirklich was er tat.
"Also waren meine Großeltern auch Jäger?", schlußfolgerte ich.
"Ja, es waren mehrere Generationen."
"Wieso hat er dies vor mir verheimlicht? Wenn es sowas wie eine Familientradition war, wäre es dann nicht richtig gewesen, wenn ich mit 14 meine Ausbildung begonnen hätte?"
Wieso hast du mich belogen?, hätte ich ihn am liebsten gefragt.
"Das weiß ich leider nicht. Dieser Job ist ziemlich gefährlich. Vielleicht hatte er Angst dich zu verlieren."
Ich wusste nicht wie ich mich fühlen sollte. Es waren einfach zu viele Informationen auf einmal.
Am liebsten hätte ich alles als Lüge abgetan.
Doch nun ergab alles Sinn.
Ich erinnerte mich an eine alte Erinnerung, als ich ungefähr Acht war.
Mein Vater hatte einen Schrank der stets verlossen war. Er hatte mir ausdrücklich verboten, auch nur in seine Nähe zu kommen, weil es angeblich streng geheime Informationen waren, die mit seinem Job als Polizist zu tun hatten.
Doch wie ich eben so war, spornte mich so ein Verbot nur noch mehr an, herauszufinden was sich in dem Schrank befand. Als ich den Schrank dann endlich mal unabgeschlossen vorfand, konnte ich nicht anders als hinein zu sehen. Mein Blick viel sofort auf die vielen Waffen. Vorallem vielen mir, neben den Schusswafen, die Messer und Dolche ins Auge.
Und das Schwert.
Ich strich ungläubig, aber auch fasziniert über das kalte Metall. Dann wanderte mein Blick zu den vielen gestapelten Ordnern. Auf allen befand sich ein Wappen mit zwei gekreuzten Schwertern.
Gerade als ich sie mir genauer ansehen wollte, kam mein Vater ins Zimmer. Ich hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Danach hatte ich kein zweites mal versucht, mir den Inhalt des Schrankes anzusehen. Die Fragen hatten dennoch nicht aufgehört.
Ich schloss den Ordner auf meinen Schoß und strich über das Wappen mit den zwei gekreuzten Schwertern.
Darunter stand etwas, dass nach Latein aus sah.
"Captator proscriptorum, was übersetzt soviel heißt wie, "Jäger der Geächteten"", beantwortete Lucas meine unausgesproche Frage.
Mein Vater war also ein Kopfgeldjäger.
"Was nun", fragte ich ohne aufzusehen.
"Darüber wird der Rat entscheiden. Dein Fall ist etwas besonderes, das so noch nicht vorgekommen ist."
Toll. Ich war also der Freak unter den Freaks.
"Solange wird Lucas sowas wie dein Tutor sein. Er wird dir alles beibringen was du über dieses Leben wissen musst."
"So gern ich auch Lehrer spiele, denke ich nicht, dass ich dafür die Zeit haben werde", wendete Lucas ein.
"Oh, du wirst genug Zeit haben. Du bist nämlich bis auf weiteres suspendiert", erwiderte sie fast schon zu freundlich.
Er versuchte sich seinen Aufruhr nicht anmerken zu lassen.
"Ich habe gegen keine Regel verstoßen."
"Ja, aber auch nur, weil niemand annahm, dass eine Regel dafür nötig wäre."
Man konnte förmlich hören, wie schwer es ihr fiel sich zu beherrschen.
"Außerdem", fuhr sie fort, "solltest du einen der Angreifer zum Verhör am Leben lassen."
"Zu meiner Verteidigung. Ich habe nur einen von ihnen getötet."
Mit einem Blick deutete er auf mich, was Miranda dazu brachte mich fragend anzusehen.
"Dein Vater hat dir das kämpfen beigebracht?"
"Größtenteil Selbstverteidigung und ich bin ziemlich gut mit Messern", antwortete ich zögerlich.
Lucas hob eine Augenbraue.
"Ziemlich gut, wäre eine Untertreibung. Ich kenne nicht viele, die so gut ein Messer werfen können."
Ich sollte mich geschmeichelt fühlen, doch das Gegenteil war der Fall. Ich fühlte mich als ob er ein Geheimnis, das eigentlich keines war, laut ausplauderte.
Miranda schien einige Sekunden lang zu überlegen, dann ging sie kurz zum Schreibtisch.
Sie kam mit einem Dolchähnlichen Brieföffner wieder.
"Hast du etwas dagegen, mir deine Fähigkeiten vorzuführen?"
Stirnrunzelnt sah ich erst den Dolch, dann wieder sie an.
"Wozu sollte das gut sein", fragte ich skeptisch.
Ihr schien meine Frage zu gefallen.
"Lucas hat nicht oft ein gutes Wort für andere übrig. Ich glaube du könntest eine Bereicherung für unser Team sein. Die Frage ist natürlich, ob du das auch willst."
Wollte ich das? Seit ich heraus gefunden hatte was mein Vater wirklich tat, zumindest was ich annahm, wollte ich ein Teil davon sein.
Monster jagen. Menschen vor ihnen beschützen.
Nun würde ich die Chance dazubekommen, wenn auch nicht ganz so wie ich zuvor dachte.
Ich nahm den Dolch aus Mirandas Hand und wog ihn in der Hand. Er hatte ein gutes Gewicht zum werfen.
Doch eine Frage kratzte an meinem Bewusstsein.
"Weiß man wer meinen Vater getötet hat?"
Sie zögerte kurz bevor sie antwortete.
"Beiden Angreifer hatten keine Waffe, die zu dem Tod deines Vaters passte. Man nimmt also an, dass mindestens noch jemand involviert war."
Es fühlte sich an, als würde sich eine Faust um mein Herz schließen.
Er war also immer noch da draußen.
"Wenn ich zustimme", ich umschloß den Griff des Dolches, "Möchte ich helfen den Mörder meines Vaters zu finden."
Miranda nickte stumm.
"Worauf soll ich zielen?"
Ich nahm den Dolch zwischen die Fingerspitzen und stand auf.
"Wie wäre es mit dem Astloch in der Tür?"
Mein Blick folgte ihrem Finger.
Das Astloch befand fast in der Mitte und war etwa 1cm groß.
War ich bereit den Mörder meines Vaters zu finden?
War ich überhaupt bereit zu allem, was noch kommen würde?
Ich würde es herausfinden.
Meine Hand schoß vor und der Dolch flog, schneller als ich es für möglich gehalten hatte, nach vorn.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich Begriff, dass der Dolch mitten im Astloch steckte.
"Beeindruckend", bemerkte Miranda.
Lucas schien nicht besonders überrascht.
"Ich nehme an ich soll sie ausbilden. Aber ich werde dies nur unter der Bedingung tun, dass die Suspendierung aufgehoben wird.“
Ich musterte ihn mit zusammengekniffen Augen.
Das war also die ganze Zeit sein Plan. Mich nutzen um sich selbst aus der Miesere zu ziehen.
Miranda schien es ebenfalls gemerkt zu haben, denn sie bedachte ihn mit einem wissenden Blick.
"Einverstanden. Sobald sie bereit für ihren ersten Job ist, ist deine Suspendierung aufgehoben."
Einen besseren Deal würde er nicht bekommen. Lucas nickte stumm und sah zu mir.
"Ich hoffe du lernst schnell."
"Kommt ganz darauf an, wie gut der Lehrer ist."

Kapitel 7

 

Wir waren wieder auf dem Rückweg.
Diesmal hatte ich die Rückbank ganz für mich, und wie auch zuvor saß Elias neben Lucas auf dem Beifahrersitz.
Ich war in Gedanken und versuchte alles zu verarbeiten was ich heute erfahren habe.
Doch trotz all der lebensveränderten Informationen, konnte ich besonders eine nicht vergessen.
Der Mörder meines Vater lebte noch.
Neben all den Gefühlen, die ich momentan empfand, stach eins besonders heraus.
Wut.
Meine Finger krallten sich in das Polster des Sitzes.
Das Monster war noch da draußen, genießte sein Leben und tötete einfach weiter!
Ich fühlte mich als würde ich jeden Moment die Kontrolle verlieren.
"Alles in Ordnung?"
Überrascht blickte ich auf und sah, dass Lucas mich über den Frontspiegel musterte.
Als Antwort, und gleichzeitig auch um den Kopf wieder klar zu bekommen, schüttelte ich den Kopf.
"Ich muss zurück zum Haus. Vielleicht finde ich Hinweise."
Elias sah fragend von mir zu Lucas.
Der sah genauso verwirrt aus, doch dann schien er verstanden zu haben wovon ich sprach.
"Unser Team war bereits dort. Alle brauchbaren Hinweise wurden von dem Feuer zerstört."
Wieder verkrampften sich meine Finger um das Polster.
"Vielleicht finde ich ja trotzdem was. Ich muss es wenigstens versuchen", sagte ich hoffnungsvoll.
Ich muss zu dem Haus! Dieser Gedanke saugte sich an mir, wie ein hungriger Bluteckel.
"Das geht leider nicht. Du wirst warten müssen bis du ausgebildet wurdest. Aber unsere Leute sind schon dabei, herauszufinden für wen die Angreifer gearbeitet haben."
Ich würde unmöglich Wochen, wenn nicht gar, Monate warten können und nur dumm rumsitzen, während das Monster noch frei herumläuft. Ich musste einfach etwas haben, dass mir Hoffnung gab. Etwas woran ich mich festhalten konnte. Was wenn sie einen wichtigen Hinweis übersehen hatten? Was wenn er sich durch Umwelteinflüsse einfach in Luft auflöste?
Das konnte ich nicht riskieren!
Doch ich wusste das diskutieren nichts bringen würde, also gab ich es schließlich auf. Ich würde schon einen Weg finden, wie ich vorher zum Haus kommen könnte.
Schweigend saß ich einige Zeit auf dem Rücksitz und blickte auf als ich sah, dass wir langsamer wurden. Er nahm eine Ausfahr und fuhr auf eine Tankstelle zu.
"Der Tank ist fast leer", beantwortet Lucas die unausgesprochene Frage.
Wir hielten an einer der Zapfsäulen. Elias stieg aus und drehte sich zu mir um.
"Möchtest du was zu trinken oder zu essen?"
Ich schüttelte stumm den Kopf, er nickte und ging zum Eingang.
"Danke, dass du fragst. Ich möchte eine Cola und ein Sandwich", rief ihm Lucas hinterher.
Elias hob kurz, ohne sich umzudrehen, die Hand und betrat die Tankstelle.
Unruhig rutschte ich auf dem Sitz herum, als sich mit einem Mal meine Blase bemerkbar machte.
"Ähm...Ich müsste mal die Toilette benutzen."
Lucas sah mich kurz an als würde er überlegen.
Was gab es da bitte zu überlegen?!
"Ich kann mich auch gerne auf deinem Rücksitz erleichtern, wenn das dir lieber ist."
Er verdrehte die Augen und öffnete meine Tür.
"In Ordung, aber beil dich. Wir haben noch einen langen Weg vor uns."
Schnell eilte ich die Treppe hinunter, die sich auf der hinteren rechten Seite des Gebäude befand, die zur Toilette führte.
Es war nur ein Raum mit einem kleinem Fenster, aber die Toilette war überraschend sauber für eine Tankstelle. Trotzdem verteilte ich mehrer Lagen Klopapier auf dem Sitz, bevor ich mich draufsetzte.
Man kann ja nie wissen. Sauber aussehen und tatsächlich sauber sein, waren leider zwei völlig verschiedene Dinge.
Nachdem ich mich endlich erleichtert hatte, wusch ich mir ordnungsgemäß die Hände, als ich aufblickte sah mich mein Spiegelbild an. Ich sah erstaunlicherweise nicht ganz so fertig aus, wie ich mich fühlte. Wieder echote ein Gedanke in meinem Kopf. Ich muss zu dem Haus!
Ich konnte nicht einfach rumsitzen und nichts tun.
Doch wie sollte ich unbemerkt durch die Tür schlüpfen? Man konnte sie vom Auto aus perfekt im Auge behalten.
Sollte ich mich darauf verlassen, dass Lucas gerade abgelenkt war?
Nein, so viel Glück würde ich mit Sicherheit nicht haben…
Mein Blick ging zu dem kleinen Fenster. Es war groß genug um hindurch zu klettern und es befand sich auf der Rückseite des Gebäudes. Ohne weiter zu überlegen, öffnete ich es und kletterte aufs Waschbecken. Da ich mich im Untergeschoß befand war das Fenster auf einer Höhe mit dem Erdboden. Das erleichterte das ganze um einiges. Schnell schlüpfte ich hindurch. Bevor ich mich aufrichtet, blickte ich mich vorsichtig um.
Vor mir war ein kleiner Wald. Durch die Bäume konnte ich die Straße auf der anderen Seite erkennen. Ein anderer Fluchtweg blieb mir nicht, also richtete ich mich auf, klopfte mir den Staub ab und sprintete los. Nach knapp zwei Minuten kam ich atemlos an der Straße an. Sie war nicht so stark befahren wie ich gehofft hatte. Bis jetzt waren mir erst drei Autos begegnet. Um noch mehr Abstand zwischen mir und der Tankstelle zu bringen, und meine Chancen für meine "Flucht" zu steigern, joggte ich weiter die Straße runter. Nervös blickte ich zurück und hielt meinen Daumen in die Höhe, so wie ich es oft in Filmen gesehen hatte. Größtenteils Horrorfilme.
Einige Autos waren bereits an mir vorbei gefahren und ich wurde immer unruhiger.
Immer wieder warf ich einen Blick über die Schulter, in der Angst aufgeflogen zu sein. Wieviel Zeit war schon vergangen? Vielleicht fünf Minuten. Auch wenn es sich wie Stunden anfühlte.
Plötzlich wurde ein Auto langsamer.
Bitte sei kein Psychopath.
Es war ein silberner Truck, der genauso gut in einem Horrorfilm mitspielen konnte.
Bitte sei kein Psychopath.
Er fuhr an den Rand und kam neben mir zum stehen.
Bitte sei kein Psychopath.
Der Fahrer beugte sich vor und öffnete mir die Tür.
"Hey kleine. Kann ich dich mitnehmen?"
Es war ein Mann mittleren Alters mit braunen Haaren durch die sich graue Strähen zogen.
Er hatte freundliche braune Augen und lächelte mir abwartend zu.
Genauso wie es ein Psychopath tun würde.
Was hatte ich ein Glück...
Ich blickte nochmal über die Schulter.
Lange würde es nicht mehr dauern, bis jemand mein verschwinden bemerken würde.
Sollte ich es wirklich riskieren und darauf hoffen, dass beim nächsten mal eine freundliche Alte Dame anhielt?
Naja, alte Damen konnten, auch Psychopathen sein…
"Vielen Dank. Gerne."
Freundlich lächelte ich zurück und stieg ein.
Es wird schon nichts passieren.
Außerdem kann ich mich verteidigen.
Was aber bestimmt nicht nötig sein wird, versicherte ich mir, griff aber probehalber, trotzdem nochmal in meine Hosentasche und tastete nach meinem Klappmesser.
Der Wagen fuhr los. Nun gab es kein zurück mehr.
Ich wusste nicht so recht, ob ich darüber beruhigt oder beunruhigt sein sollte.
Als wir an der Tankstelle vorbei fuhren, beugte ich mich schnell nach vor und tat so als würde ich meine Schuhe zubinden, die wie ich dann bemerkte keine Schnürsenkel hatten, sondern dämliche Gummibänder.
Praktisch, weil man ganz schnell in sie reinschlüpfen konnte.
Unpraktisch, wenn man das Improvisationstalent einer Dreijährigen besaß.
Schnell tat ich so als würde ich den, wohlbemerkt nicht vorhanden, Schmutz von ihnen wischen, so wie es normale Menschen eben so tun.
Der Fahrer beäugte mich mit einem irritierten Blick, und fragte sich wahrscheinlich was mit mir nicht stimmte.
Was ich ihm leider nicht verübeln konnte…
Als wir weit genug entfernt waren, setzte ich mich wieder aufrecht hin und warf nochmal einen Blick durch den Rückspiegel.
"Also was macht so ein junges Ding wie du, alleine auf der Straße?"
"Ähm...also", ich tat so als wäre es mir unangenehm es zu erzählen, obwohl ich in Wahrheit mein Gehirn nach einer plausiblen Lüge durchsuchte.
"Ich hatte Streit mit meinem Freund."
Als er verständnisvoll nickte, klopfte ich mir imaginär selbst auf die Schulter.
Ich war also doch so keine schlechte Lügnerin.
Plötzlich bemerkte ich ein Summen in der Luft. Fast so wie zuvor im Lotus.
Mit dem Unterschied, dass es diesmal um einiges stärker war.
Ich versuchte es zu ignorieren und sah aus dem Fenster um mich abzulenken.
Mit jeder Sekunde die verstrich, schien es stärker zu werden und plötzlich fühlte ich etwas das ich noch nie zuvor gefühlt hatte. So etwas wie Durst und Hunger zugleich und doch etwas ganz anderes.
Mit einem Mal war es kaum auszuhalten.
Mein Herz begann zu rasen und ich bekam kaum noch Luft. Als es dann auch noch zu schmerzen anfing, schlang ich reflexartig die Arme um meinen Körper und beugte mich vor, um mich zu beruhigen.
Was zum Teufel war mit mir los?!
"Alles in Ordnung Kleine?", fragte der Fahrer sichtlich besorgt.
"Fahren sie rechts ran!", keuchte ich angestrengt und biss sofort wieder die Zähne zusammen, als die Schmerzen intensiver wurden.
Ich muss auf der Stelle hier raus!
Noch bevor der Wagen hielt, hatte ich mich bereits abgeschnallt.
Endlich kam er zu stehen, schnell öffnete ich die Tür, doch bevor ich aussteigen konnte, überrollte mich eine weitere Schmerzwelle, die mich fast Ohnmächtig werden ließ.
"Hey Kleine...", setzte er an, während seine Hand meinen Arm berührte.
Weiter kam er nicht.
Ein Stromstoß schoß durch meinen Körper. Es war als wäre ein Schalter umgelegt worden. Der Schmerz war weg. Mein Kopf war wie leergefegt. Meine Instinkte übernahmen das Steuer.
"Ich bin so Hungrig", hörte ich mich sagen.
Ich sah wie ein violettes leuchten sein Gesicht erhellte und er mich mit weit aufgerissenen Augen entsetzt anstarrte. Doch ich verschwendete keinen Gedanken daran.
Alles war mir egal.
Nur eins zählte noch.
Blitzschnell schnellte ich vor.
Und wurde mit einem mal von hinten aus dem Wagen gerissen.
Wie ein wildes Tier schlug ich um mich.
"Alex beruhig dich!"
Doch ich versuchte nur weiter mich aus seinem Griff zu befreien.
Ich war so hungrig!
Hungrig!
Hungrig!
Plötzlich wurde ich mit dem Rücken gegen den Wagen gepresst und Hände umfingen mein Gesicht.
"Alex!"
Köstlich pulsierende Energie strömte durch seine Händen in meinen Körper.
Erleichtert schloß ich die Augen. Endlich. Ein wohliges stöhnen kam über meine Lippen, ohne das ich es verhindern konnte.
Dann brach der Fluß aprubt ab.
Ich war nichtmal annähernd satt. Doch so langsam klärte sich mein Bewusstsein.
"Besser?", hörte ich die Stimme vor mir fragen. Sie kam mir bekannt vor.
Blinzelnt und immer noch leicht benebelt öffnete ich langsam die Augen.
Es dauerte ein paar Sekunden bis ich ihn erkannte. Er musterte mich aus besorgten Augen.
Lucas!
Reflexartig stieß ich ihn von mir weg und schüttelte den Kopf um den Nebel zu vertreiben.
"Was zum Teufel ist passiert?", fragte ich, doch dann blitzen die Bilder wie ein Film in meinem Kopf auf, und ich riss entsetzt die Augen auf.
Mein Atem beschleunigte sich.
"Was habe ich...", meine Stimme brach.
"Hey beruhig dich."
Ich versuchte zurückzuweichen, als er auf mich zukam, doch der Wagen hinter mir verhinderte es.
Er hatte zum Glück verstanden und blieb auf Abstand.
"Wir kamen gerade Rechtzeitig."
Vorsichtig späte ich in den Wagen. Der Mann hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht.
Elias stand neben ihn und zog gerade seine Hand zurück.
"Ist er...", setzte ich an, doch er schüttelte sofort den Kopf.
"Nein, keine Sorge er ist bloß Bewusstlos, aber dafür bin ich verantwortlich."
Er sah meinen verwirrten Blick und fuhr fort.
"Ich habe seine Erinnerungen gelöscht. Er wird in ein paar Stunden wieder aufwachen und sich an nichts von alledem erinnern."
Erleichtert nahm ich einen tiefen Atemzug. Alles ist gut Alex. Es ist nichts schlimmes passiert. Doch was hatte ich eigentlich genau vor?
"Das was gerade passiert ist... Was war das?"
"Hunger. Du warst wohl halb am verhungern. Da hat der Sukkubus das Steuer in die Hand genommen. Deswegen ist es wichtig, dass du lernst damit umzugehen."
Er wies mit der Hand zu seinem Wagen,  der ein paar Meter hinter dem Van geparkt war und ging vorraus.
"Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?", fragte ich während ich ihm langsam folgte.
Ein schnauben ertönte, das wohl ein spöttisches Lachen sein sollte.
"Ist das eine ernst gemeinte Frage? Es ist unser Beruf Leute aufzuspüren. Außerdem hätte selbst ein Blinder deine Spur finden können."
Abrupt blieb ich stehen.
"Tut mir ja wirklich Leid, dass ich daran nicht gedacht habe. Ich werde es mir merken."
Lucas hatte die Tür von der Rückbank geöffnet und drehte sich nun zu mir um.
Wissend hob er eine Augenbraue.
"Du wirst nicht aufhören auszubücksen, oder?", fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
"Ich muss zu dem Haus."
"Ich sagte dir bereits, dass es Zeitverschwendung ist. Dort gibt es nichts mehr. Also steig in den Wagen."
Doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Er wusste wie ich zu dem Thema stand.
"Ich kann dich auch über die Schulter werfen und auf die Rückbank verfrachten, wenn dir das lieber ist.“ 
Elias sah zwischen uns hin und her, stieg dann aber auf der Beifahrerseite ein. Nach dem Motto: Regelt das mal unter euch.
Trotzig überkreuzte ich meine Arme vor der Brust und reckte herausfordernd mein Kinn raus.
Versuchs doch!
Einige Sekunden lieferten wir uns einen unerbittlichen Starrwettkampf.
Keiner schien nachgeben zu wollen.
Bis Lucas schließlich geschlagen seufzte.
"Wie kann man nur so verdammt sturr sein! Also gut, ich werde dich zu dem Haus begleiten. Unter der Bedingung, dass du vorher etwas isst."
Innerlich triumphierte ich, ließ mir aber nichts anmerken. Ohne weitere wiederworte ging ich zum Wagen.
"Also nach dem Essen gehen wir zum Haus?", fragte ich nochmal sicherhaltshalber, bevor ich mich setzte.
"Nach dem Essen gehen wir zum Haus", wiederholte er.
Nickend schlüpfte ich auf die Rückbank und Lucas schloß die Tür hinter mir.
Hätte ich doch nur daran gedacht, dass wir mit dem Wort "Essen" zwei völlig unterschiedliche Dinge meinten...

Kapitel 8

 

"Das ist nicht dein Ernst!", schrie ich, während ich vor der Tür stand, aus dessen Raum ich gerade gestürmt war.
"Was hast du denn gedacht was ich mit "Essen" meine?", fragte er sichtlich amüsiert.
Das wusste er ganz genau! Ok, eigentlich hätte ich es mir denken können…
Ich schob es auf mein noch menschlich denkendes Gehirn.
"Ich kann keinen Unschuldigen aussaugen. Ich könnte ihn verletzen oder im schlimmsten Fall sogar töten."
Er hatte wahrscheinlich die Verzweiflung in meiner Stimme gehört, denn sämmtlicher Sarkasmus war plötzlich verschwunden.
"Keine Sorge. Ich bin bei dir. Und Elias wird ebenfalls darauf achten, dass niemand verletzt wird. Du musst lernen es zu konntrolieren und das ist der Beste Weg dafür."
Obwohl ich wusste, dass er Recht hatte, sträubte sich alles in mir.
Noch immer wollte ich nicht wahrhaben, dass ich kein Mensch mehr war. Doch umso länger ich es verleugnete, umso größer wurde auch die Gefahr, dass ich erneut die Kontrolle verlor.
Ich konnte den Hunger bereits in jeder Pore meines Körpers spüren. Wie lange würde es dauern bis ich fast wahnsinnig vor Hunger wurde?
Ich ballte meine Hände zu Fäusten.
Wenn ich es hinter mich gebracht habe, dann komme ich endlich zum Haus, redete ich mir gut zu.
"Um ihn brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Er ist ein Jäger. Er kennt sich damit aus und ist sich dem Risiko bewusst."
Plötzlich kam Claire um die Ecke geschossen, gefolgt von Elias der ihr mit großem Abstand folgte.
"Bitte sag mir, dass ich mich verhört habe und dass da drin nicht Aiden ist", fauchte sie Lucas an.
Lucas sah vorwurfsvoll zu Elias, der so tat als würde er davon nichts mitbekommen.
Claire sollte also allen Anschein nach nichts hiervon wissen. Wow… Das machte mir noch mehr Mut…
"Er hat sich freiwillig gemeldet."
"Ach hat er das. Wie kann er sich denn freiwillig melden, wenn er gar nichts von der Sache weiß?"
"Hmm...Vielleicht ist es mir ja zufällig rausgerutsch?"
"Und da hat er sich einfach so angeboten?"
"Es kann auch sein, dass ich gesagt habe, dass er uns einen großen Gefallen damit tun würde."
"Weil er ja so gerne anderen einen Gefallen tut", spotte Claire.
"Vielleicht habe ich auch statt "uns" versehentlich deinen Namen benutzt.“
Einige Sekunden stand Claire einfach nur da und sah Lucas sichtlich fassungslos an. So als könnte sie gar nicht glauben, dass jemand wie Lucas überhaupt existieren konnte.
Ohne ein weiteres Wort betrat sie schließlich den Raum.
"Er ist ihr Ex", beantwortete Elias meinen fragenden Blick.
"Und er ist noch nicht ganz über die Trennung hinweg", fügte Lucas hinzu.
"Und das hast du ausgenutzt", bemerkte ich vorwurfsvoll.
Er hob demonstrierend seinen Zeigefinger in die Höhe.
"Zu meinen Vorteil genutz."
Mir gefiehl das ganz und gar nicht, doch ich musste widerwillig zugeben, dass es die beste Lösung war.
Lieber ein ausgebildeten Jäger, als irgendein hilfloser Mensch.
Also ging ich schließlich an Lucas vorbei und betrat ebenfalls den Raum.
Wieviel unangenehmer konnte die Situation schon werden?
"...wenn du denkst, dass das irgendwas ändert, dann..", schrie Claire gerade.
"Ich bin nicht wegen dir hier", unterbrach Aiden sie, doch seine Augen sagten etwas ganz anderes.
Die beiden beendeten sofort ihren Streit als sie sahen, dass sie Zuschauer hatten.
Als wäre die ganze Nahrungssache nicht schon schlimm genug, war wegen mir auch noch ein Streit ausgebrochen, auch wenn mich direkt keine Schuld trug, fühlte ich mich dennoch verantwortlich.
Unbehäglich wippte ich von einen Bein zum anderen, unschlüssig was ich nun tun sollte.
"Ich denke es ist das beste, wenn wir das ganze so schnell wie möglich hinter uns bringen“, sagte Claire schließlich sichtlich unzufrieden mit der Situation und sprach damit genau aus was ich dachte.
Der Raum sah aus wie ein typischer Verhörraum in Filmen. Klein und Kahl.
Mit nur einem Tisch in der Mitte an dem sich zwei Stühle gegenüber standen. Auf einem der Stühle saß bereits Aiden und ich setzte mich, wie es wohl von mir erwartet wurde, auf den anderen.
Kurz musterte ich ihn. Er war genau das, was man sich nicht vorstellte, wenn man an einen Kopfgeldjäger dachte. Er war eher mit einem Hundewelpen vergleichbar. Mit seinen großen braunen Augen und kurzen dunkelbraunen Locken. Ich konnte verstehen was Claire an ihm gefunden hatte. Er sah wirklich lecker aus. Halt! Hatte ich das gerade wirklich gedacht?!
"Hey, ich bin Aiden."
Er lächelte mich freundlich und verständnisvoll an, so als ob er wüsste wie unangenehm mir das ganze war.
"Alex", antwortete ich knapp, musste aber automatisch zurücklächeln.
"Keine Sorge, ich weiß Bescheid. Über die ganze Mischling Sache."
Mischling... Das war ich also jetzt.
"Auch, dass du als..."
"Mittagessen herhalten sollst", beendete er meinen Satz, "Ja, keine Sorge. Ich bin freiwillig hier."
Naja, eher weil Lucas gut im "Überreden" war. Ich warf besagtem kurz einen vorwurfsvollen Blick zu, der wiederum so tat als würde er ihn gar nicht bemerken.
"Ok, gut. Was mach ich jetzt. Also wie "esst" ihr?", fragte ich in den Raum.
Umso schneller ich das hinter mich brachte, umso schneller konnte ich zum Haus.
Und raus aus dieser unbehaglichen Situation…
"Lass dich einfach von deinem Instinkt anleiten. Es ist eigentlich wie Atmen. Wenn du ihn berührst wirst du schon wissen was zu tun ist", antwortete Lucas knapp.
Wow, sehr hilfreich. Elias bemerkte meine Situation und ergriff das Wort.
"Die Menschliche Lebensenergie ist wie ein Stromfluss. Wenn wir jemanden berühren, fließt sie fast von selbst in uns über. Deshalb ist es wichtig, dass du versuchst die Kontrolle über den Fluss zu behalten, wenn du nämlich zu viel auf einmal in dich aufnimmst, kann es passieren, dass du in einen Rausch gerätst, die Kontrolle verlierst und den von dem du dich nährst schadest.“
Ich wusste nicht so Recht, ob ich mich nicht doch lieber mit Lucas Hilfe zufrieden hätte geben sollen.
Nun wusste ich zwar um einiges besser Bescheid, doch ich war auch um ein vielfaches nervöser.
Alles gut. Nur nicht die Kontrolle verlieren. Wie schwer konnte das schon sein?
"Bist du immer noch sicher, dass du...", fing ich zaghaft an.
Stumm hielt er mir die Hand hin.
"Ok."
Ich versuchte meinen Atem zu beruhigen und ließ die Luft langsam durch meine Lungen ein und wieder aus.
Es ist wie atmen, hatte er gesagt. 
Langsam streckte ich meine Hand aus.
Kurz bevor ich seine Haut berührte hielt ich inne.
Ich konnte seine Energie schon als ein Knistern in der Luft spüren. Sie lockte mich näher zu kommen, doch ich widerstand den drang gierig zu zupacken.
Ganz vorsichtig schloss ich meine Finger um seine ausgestreckte Hand.
Der Moment als meine Haut seine berührte überwältigte mich fast.
Es war als würde ein Stromstoß durch meinen Körper fließen, nur ohne den Schmerz.
Noch nie zuvor hatte ich etwas vergleichbares gefühlt.
Noch nie hatte ich mich so euphorisch gefühlt.
Ich war plötzlich voller Energie. Als würde ich zum ersten mal richtig atmen.
Ein stöhnen kam über meine Lippen, doch ich bemerkte es kaum. Ich konnte nur noch fühlen und an eines denken.
Ich wollte mehr.
Nein.
Ich brauchte mehr.
Dann nahmen meine Instinkte vollends die Oberhand.
Ich sprang über den Tisch auf meine Beute zu und fiel mit ihm, samt Stuhl zu Boden. Rittlings saß ich auf ihm.
Mein Gewicht pressten ihn beim Aufprall die Luft aus den Lungen. Ihm blieb gerade noch genug Zeit für ein kurzes Luftholen, da presste ich auch schon meine Lippen auf seinen Mund.
Ich hörte wie jemand meinen Namen schrie und gleichzeitig meine Beute versuchte mich von sich wegzuschieben, doch das war mir egal.
Ich atmete ein.
Nie hätte ich mir vorstellen können, dass es sich noch besser anfühlen konnte.
Doch das tat es. Als wäre eine Barrikade, die ich vorher nicht bemerkt hatte, verschwunden.
"Alex hör auf!"
Jemand zerrte an mir.
Meins!
Wie eine lässtige Fliege stieß ich ihn weg. Den dumpfen Aufprall der darauf folgte registrierte ich kaum. Immer wieder versuchte jemand mich von meiner Beute zu trennen, doch ich wehrte sie ohne große Mühe ab.
Mit jeder Sekunde die verstrich, wurde die Energie die ich aufnahm intensiver.
Fast wie bei der Limonade die man aus Pulver anrührte, die zum Ende hin immer süßer wurde, weil sie sich nicht richtig aufgelöst hatte.
Mit jeder Sekunde wurde auch meine Beute schwächer, seine Gegenwehr ließ immer mehr nach bis sie schließlich ganz aufhörte. Irgendwo ganz hinten in meinem Gehirn schrillte eine Alarmglocke. Doch sie war zu leise und ich war zu gierig um jetzt aufzuhören.
"Sie bringt ihn um! Lucas tut doch was!", kreischte jemand verzweifelt.
Wieso ließen sie mich nicht einfach in Ruhe essen!
"Es tut mir Leid Alex, aber anders geht es leider nicht."
Mir blieb nicht mal genug Zeit über diese Worte nachzudenken, wenn ich es denn gewollt hätte.
Ich spürte nur noch wie plötzlich mein Kopf herumgedreht wurde, gefolgt von einem grässlichen Knacken, dann wurde alles Schwarz.

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Tag der Veröffentlichung: 02.06.2020

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