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Leseprobe Kapitel 1 - 5

Kapitel 1

 

Der Himmel schien mit Layla zu trauern. Statt der für Januar typischen dicken weißen Flocken, fielen große Regentropfen wie Bindfäden aus den schweren dunklen Wolken. Außer dem leisen Rauschen des Regens war nichts weiter zu hören.

Layla hatte endlich den Mut gefunden, an den Ort zu gehen, den sie bisher kein einziges Mal besucht hatte. Dabei hätte eigentlich nur ihr allein das Recht zugestanden, an diesem Ort zu trauern. Nur sie hatte ihre Freundin Ellen wirklich geliebt und verstanden.

Zu Laylas großer Erleichterung hatte sie den Weg hierher nicht alleine gehen müssen. Ohne Zögern hatte Van sie begleitet, als Layla den Wunsch geäußert hatte, das Grab ihrer Freundin zu besuchen.

Jetzt stand dieser Mann wie eine schützende und stützende Wand neben ihr, hielt den Schirm, der sie beide vor dem eisigen Regen schütze und gab Layla alle Zeit, die sie benötigte.

Die junge Frau hatten den Blick starr nach vorne gerichtet. Immer wieder tauchten die schrecklichen Bilder vor ihrem geistigen Auge auf. Layla fühlte die strahlende Sonne auf ihrer Haut. Das losgelöste Lachen von zwei Mädchen schallte in ihren Ohren und dann folgte ein lauter Knall. Sofort kniff Layla die Augen zusammen und schlang die Arme enger um sich. Sie zitterte am ganzen Leib, aber nicht vor Kälte, sondern aus tief empfundener Trauer, die sie jetzt nach all den Jahren immer mehr zuließ. Van gab ihr den notwendigen Halt, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Der Grabstein war inzwischen stark mitgenommen. Es machte den Anschein, als hätte sich in letzter Zeit niemand mehr um das kleine Grab im hinteren Bereich des großen Friedhofes gekümmert.

Laylas Blick war starr auf den eingemeißelten Namen von Ellen gerichtet. Ihre Gefühle überschlugen sich. Sie empfand immer noch Schuld, für das was Ellen passiert war. In ihrem Herzen war tiefe Trauer, die sie ihr Leben lang mit sich tragen würde, egal wie viel Zeit noch vergehen würde. Es breitete sich aber auch ein neues Gefühl in Brust der jungen Frau aus. Ein Gefühl, dass sie seit Ellens Tod verdrängt und nicht mehr zugelassen hatte. Nach und nach durchströmte Layla das warme Gefühl der Liebe. Die tief empfundene Liebe für eine Freundin, die sie viel zu früh verloren hatte. Eine Freundin, die ihr einen Sinn zu leben gegeben hatte.

Ohne Ellen wäre Layla nicht dort, wo sie heute war. Sie hätte vermutlich nie ihre Leidenschaft fürs Tanzen entdeckt. Nur dadurch war es der jungen Frau möglich gewesen, dem Heim zu entkommen und ein selbstständiges Leben zu führen.

Wenn Layla den Gedanken weiter sponn, hätte sie ohne Ellens Zuspruch vermutlich Van, Judith und die Krieger niemals kennen gelernt. Die Vampire, die inzwischen eine Familie für sie waren, die sie nie gehabt hatte.

Layla musste schwer schlucken. Sie strich sich mit den Fingern über die Wangen, um die Tränen wegzuwischen, die sich aus ihren Augenwinkeln gelöst hatten.

„Ich hätte viel früher hierherkommen müssen“, meinte Layla und ging in die Knie. Sie schob das vertrocknete Laub beiseite und machte Platz für die weißen Lilien, die sie mitgebracht hatte. Behutsam legte sie den großen Strauß auf die kalte feuchte Bodenplatte. Lange würden die Blumen dieses Wetter nicht überstehen. Aber das machte nichts. Layla hatte vor, in Zukunft regelmäßig ihre Freundin zu besuchen.

Liebevoll zeichnete Layla die Ränder von Ellens Namen auf dem Grabstein nach. Darunter waren die Daten von Ellens Geburts- und Todestag eingeschlagen. Ansonsten war der Stein schmucklos, wie das gesamte Grab.

Ein tiefer Seufzte stahl sich aus der Lungen der blonden Frau, bevor sie wieder aufstand.

„Ich kann mich an die Beerdigung gar nicht mehr erinnern. Aber ich muss dabei gewesen sein. Alle Heimkinder waren bei solchen Anlässen anwesend.“

Van legte Layla den Arm um die Schultern und zog sie zu sich heran. Seine Wärme spendete ihr den nötigen Trost, den sie im Moment brauchte.

„Du hattest deine Freundin verloren. Es ist ganz normal, dass man unangenehme Erinnerungen verdrängt.“

Layla konnte spüren, wie sich Vans Griff verstärkte. Mitfühlend küsste er ihren Scheitel. Erst der Krieger hatte Layla dazu gebracht, sich zu öffnen und überhaupt jemandem von Ellen zu erzählen.

„Ich muss damals noch unter Schock gestanden haben. Ich kann mich nur an diese ständige Taubheit erinnern, die ich lange Zeit nach Ellens Tod noch empfunden habe. Das meiste weiß ich nur aus Erzählungen der anderen Kinder.“

„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Van vorsichtig. Er ging sehr behutsam mit ihr um, nachdem Raphael sich in ihren Kopf eingeschlichen hatte. Layla hatte immer noch Erinnerungslücken und war sich bei einigen Dingen nicht sicher, ob sie sie wirklich getan hatte oder sie sich nur einbildete.

„Ich habe damals kaum geweint. Außer in de Nacht, wenn ich schreiend aus dem Schlaf hochgeschreckt bin und nach Ellen geschrien habe.“

„Du warst ein Kind, das man allein mit seiner Trauer gelassen hatte. Ich befürchte, du hast das ganze bis heute nicht richtig verarbeitet“, raunte Van in Laylas blonde Haare. Sie konnte seinen warmen Atem an ihre Schläfe spüren, der eine angenehm beruhigende Wirkung auf sie hatte.

Für einen Moment schloss sie die Augen und versank dankbar in der Wärme und dem Geruch von Leder und Moschus, der von diesem Mann ausgingen.

„Da hast du wahrscheinlich recht“, stimmte Layla zu und schaute zu Van auf. Seine ungewöhnlichen Augen waren fest auf ihr Gesicht gerichtet. Darin entdeckte sie Verständnis, Zuneigung und Liebe. Alles was sie bisher nie in ihrem Leben erhalten hatte.

Die Ereignisse im Penthouse hatten Layla zu dem Entschluss gebracht, sich intensiv mit ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunft auseinanderzusetzten. Sie war so leicht in Raphaels Netz aus Geheimnissen, Intrigen und Manipulationen hineingeraten, weil sie so verzweifelt etwas über ihre Familie erfahren wollte. Ihre, für sie typische, Verschlossenheit und Geheimnistuerei hatten ihr übriges dazu beigetragen. Den Preis hatte Layla, und zu ihrem großen Bedauern auch die Krieger, bezahlen müssen.

„Möchtest du noch etwas bleiben?“

Layla blickte noch einmal zu dem einfachen grauen Grabstein, bevor sie sachte den Kopf schüttelte.

„Nein, ich finde für heute ist es genug. Ich bin froh diesen Schritt endlich gewagt zu haben. Lass uns aufbrechen.“

Van hielt Layla weiterhin fest an sich gedrückt, als sie sich zum Gehen wandten und den verlassenen von Pfützen übersäten Weg zum Friedhofseingang entlangschritten.

Das Paar wurde vom Regen und dem leisen Rauschen eingehüllt, was jeden ihrer Schritte abdämpfte. Bei diesem Wetter verirrte sich sonst niemand auf den Friedhof. Es war noch nicht sonderlich spät und trotzdem waren Layla und Van die einzigen Besucher.

Als sie gemeinsam durch das schmiedeeiserne Tor auf den Parkplatz traten, befand sich dort lediglich Vans silberner Mercedes. Ohne Layla aus seiner schützenden und vor allem stützenden Umarmung zu entlassen, führte der Vampir die junge Frau auf die Beifahrerseite und öffnete ihr die Tür. Er hielt aufmerksam den Regenschirm über ihren Kopf, bis sie eingestiegen war und die Tür zuzog. Mit schnellen großen Schritten umrundete Van das Fahrzeug und ließ sich hinter das Steuer gleiten.

„Möchtest du zurück zum Anwesen?“, fragte der dunkelhaarige Krieger bevor er den Wagen startet.

„Brauchen dich die anderen nicht? Ich meine die Angriffe der Süchtigen sind seit Raphaels Verschwinden zwar zurückgegangen, dennoch sind genügend von diesen Bestien in der Stadt unterwegs.“, fragte Layla und blickte in Vans Richtung.

„Die Jungs kommen auch mal eine Nacht ohne mich aus. Ich habe mir heute frei genommen, um für dich da zu sein.“ Van streckte die Hand nach Layla aus und legte sie an ihre Wange. Sacht streich er mit den Daumen darüber und streifte dabei die Linie ihrer vollen Lippen. Ein leichter Schauer lief über Laylas Rücken und sie schloss für einen Moment die Augen.

„Vielleicht sind die anderen Krieger auch froh darüber, einmal Ruhe von dir zu haben.“, antwortete Layla mit einem leichten Schmunzeln, als sie die Augen wieder aufschlug. Van hob amüsiert die Augenbraue und ein Mundwinkel hob sich herausfordernd. „Du machst dich wohl über mich lustig“, konterte Van und packte Laylas Kinn. „Deine Schlagfertigkeit kommt allmählich zurück. Das ist ein gutes Zeichen.“

„Sieht ganz so aus.“

Endlich startete Van den Mercedes und setzte aus der Parklücke zurück. „Also, wohin möchtest du?“

Layla dachte einen Augenblick nach. Die Nacht war noch jung. Mit dem Besuch von Ellens Grab hatte sie gerade einmal einen Punkt auf ihrer ziemlich langen Liste erledigt. Jeder Anfang war schwer, aber Layla war fest entschlossen sich ihrer Vergangenheit zu stellen, egal wie schmerzhaft diese noch sein konnte.

„Ich denke für heute habe ich mich ganz gut geschlagen. Lass uns zu meiner Wohnung fahren. Ich war schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr dort.“

Van nickte, ohne ihre Entscheidung zu hinterfragen, legte den Gang ein und fuhr durch das nächtliche Berlin. Der Großteil der Weihnachtsbeleuchtung war längst wieder abgebaut worden. Trotzdem waren hier und da immer noch funkelnde Sterne und Lichter in den Fenstern zu sehen. Layla hatte den Blick nach vorne gerichtet und ließ die zahllösen Häuser an sich vorbeiziehen.

Sie brauchten etwa eine halbe Stunde, dann erreichten die beiden die Wohnung in der Nähe des Alexanderplatzes. Direkt vor dem Haus war kein Parkplatz frei, was nicht weiter überraschend war. In der Stadt gab es definitiv zu wenig Stellflächen. Layla hatte das jedoch nie gestört. Mit ihrem Motorrad hatte sie immer eine Lücke gefunden und nie lange einen Stellplatz suchen müssen.

Van hatte in dieser Nacht Glück. In einer der angrenzenden Straßen fuhr gerade ein Auto los. Van stellte seinen Mercedes sofort in die Lücke ab. Der Regen hatte etwas nachgelassen, dennoch stand der Krieger mit aufgespanntem Regenschirm bereit, als Layla die Tür öffnete.

„Aus dir wird noch ein richtiger Gentleman“, meinte sie mit einem glücklichen Lächeln und legte ihre zierliche Hand in Vans große. Seine kräftigen Finger schlossen sich augenblicklich um ihre Hand und zogen sie an seine Brust.

„Gefällt dir das etwa nicht?“

Layla musste lachen. „Es hat schon was. Trotzdem gefällt mir deine raue Kriegerseite auch sehr gut. Den Formvollendeten Gentleman kannst du gerne Andre überlassen.“

„Dann bin ich ja beruhigt. Ich dachte schon, ich müsste jetzt immer meine guten Manieren an den Tag legen.“ Vans Augen blitzen kurz stahlblau auf, als er sich zu Layla hinunter beugte und ihren einen Kuss auf die Lippen hauchte. Es war nur eine leichte Berührung, die ein Versprechen auf mehr enthielt.

Layla hakte sich bei Van unter, gemeinsam schritten sie zur Wohnung der jungen Frau. Während ihrer langen Abwesenheit hatten die Krieger weiterhin die Miete bezahlt, damit die Vampirin immer einen Rückzugsort hatte. Aus Andres anfänglicher Einmalzahlung der Miete war ein Dauerauftrag geworden. Nachdem Layla Berlin verlassen hatte, hatte sie weiterhin in Clubs getanzt und dadurch ein mehr oder weniger regelmäßiges Einkommen gehabt. Seit ihrer Rückkehr nach Berlin hatte sie dafür jedoch keine Zeit mehr gefunden. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie ihren Job im SHADOW überhaupt noch einmal aufnehmen konnte. Ein weiteres Problem auf Laylas Liste, dass sie in nächster Zeit angehen wollte.

An Stelle von Layla zückte Van den Schlüssel. Nachdem er das Schloss von ihrer Wohnungstür hatte erneuern lassen, befand sich der Schlüssel immer in seinem Wagen. Er hatte auch Layla einen Schlüssel gegeben, ohne, dass sie hatte fragen müssen.

Die Luft in Laylas Wohnung war abgestanden. Es waren nur noch die letzten Reste von Vans maskulinen Geruch wahrzunehmen. Von Laylas Duft war gar nichts mehr übrig.

„Was möchtest du hier?“, fragte Van und schloss die Tür hinter sich. Layla ging zielstrebig in ihr Wohnzimmer. „Ich möchte ein paar Sachen mitnehmen. Meine Räume im Anwesen sehen immer noch ziemlich unpersönlich aus. Ich habe vor etwas mehr von ihm hineinzubringen und dafür brauche ich ein paar meiner Sachen“, erklärte Layla und ging vor einem Regal in die Knie. Darin befand sich ihre gesamte Musiksammlung. Zahlreiche CDs reihten sich aneinander. In dem Fach daneben stand eine Anlage, die schon lange nicht mehr dem neusten Stand entsprach, trotzdem hatte sie Layla viel Trost gespendet.

Natürlich konnte Layla nicht ihre gesamte CD-Sammlung mitnehmen, deswegen suchte sie sich gezielt einige Alben heraus, die sie gerne gehört hatte und mit denen sie Erinnerungen verband. Der jungen Frau war bewusst, dass CDs nicht mehr zeitgemäß waren, trotzdem hin sie an ihnen. Mit einigen davon verband sie besondere Erinnerungen Den Stapel legte sie auf dem Beistelltisch ab und erhob sich geschmeidig. Von der Wand nahm sie einige Fotos ab und legte sie ebenfalls auf den Tisch.

Van hielt sich im Hintergrund. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ließ seinen wachsamen Blick auf Layla ruhen. Seit den Ereignissen mit Raphael tat er das immer. Layla hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Sie konnte Van verstehen. Er machte sich Sorgen um sie und wollte ihr weiteres Leid ersparen, soweit es ihm möglich war. Doch auch Van konnte sie nicht vor allem beschützen, besonders nicht vor ihren Träumen. Wenn sie schlief, hörte sie immer wieder die tiefe Stimme ihres Bruders, der ihr befahl, Van und die anderen Krieger zu töten. In ganz schlimmen Nächten folgte Laylas Raphaels Wunsch und stand in Mitten der Leichen ihrer Freunde.

Aber auch anderen Gefahren musste sich Layla stellen. Realen Gefahren, denen sie nicht aus dem Weg gehen konnte, wenn sie wieder ein normales Leben führen wollte. Zu ihrer großen Erleichterung verstand Van sie, auch wenn er nicht sonderlich begeistert von einigen ihrer Vorhaben war. Er respektierte sie und akzeptierte die Kriegerin in ihr voll und ganz. Etwas anderes blieb ihm auch nicht wirklich übrig, nachem er sie selbst dazu ausgebildet hatte.

Ein leichtes Grinsen erschien auf Laylas Gesicht, als sie sich umdrehte und in ihr Schlafzimmer ging.

„Verrätst du mir, was dich so zum Grinsen bringt?“, durchbrach Van die Stille, als er Layla folgte.

„Ich habe nur meinen Gedanken hinterhergehangen.“, antwortete Layla und öffnete ihren Schrank. „Kleider brauche ich nicht mitzunehmen. Ich habe es immer noch nicht geschafft, alle Kleidungsstücke, die Judith für mich bestellt hatte, mindestens einmal zu tragen.“

Dafür zog Layla eine große Reisetasche aus dem Schrank und schloss diesen anschließend wieder. Aus der Holztruhe am Ende ihres Bettes nahm Layla mehrere Gegenstände mit. Einer davon war eine kleine Schatulle, in der sie ihre wertvollsten Besitztümer aufbewahrte. Das silberne Armband, das jahrelang darin gelegen hatte, funkelte mittlerweile wieder an Laylas linkem Handgelenk. Der Krieger hatte es verlängern lassen und Layla nach ihrer Rückkehr aufs Bett gelegt. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Verhältnis mehr als angespannt gewesen und Layla hatte es als eine Art Friedensangebot betrachtet.

Die Schatulle und weitere Bilder verstaute Layla in der großen Tasche. Als auch die CDs darin verschwunden waren, trat Layla an ihr Bett und legte die grobgestrickte Tagesdecke zusammen.

Plötzlich spürte Layla Van hinter sich und seine Wärme strahlte auf sie über. Die Vampirin blieb einfach stehen und wartete gespannt darauf, was geschah.

„Ich habe gute Erinnerungen an diesen Ort“, raunte Van und schlang die Arme um Laylas Taille. Sie ließ sich nach hinten fallen und landete an seinem festen Oberkörper. Van vergrub sein Gesicht in den langen silberblonden Haaren und sog genüsslich ihren Duft in sich ein.

„Ich habe auch die ein oder andere gute Erinnerung“, murmelte Layla und schloss die Augen. Van hob sie überraschend hoch und legte sich sachte auf dem Bett ab. Der Vampir legte sich an Laylas Seite und schaute mit seinen ungwöhnlich hellen Augen auf die hinab. Sein Iriden waren von einem dunkelblauen Rand umgeben, sonst wären Vans Augen beinahe vollständig weis. Mit den Fingern zeichnete er Laylas Kinnlinie nach und legte anschließend seine Hand an ihre Wange.

„Der Gedanke, dich fast verloren zu haben, ist immer noch unerträglich für mich.“ Ein leichtes Kratzen lag in Vans Stimme, während er Layla weiterhin betrachtete. Erst nach mehreren Minuten senkte er sich endlich zu Layla hinab und küsste sie. Die Vampirin schlang die Arme um seinen Nacken und zog ihn enger zu sich hinan. Ein Prickeln wanderte über ihre Haut.

Vans Hand streichelt an Laylas Seite entlang, blieb an ihrer Taille liegen und schlang sich um ihre Körpermitte, während sein Kuss immer intensiver wurde und Layla bereitwillig ihre vollen Lippen öffnete, um ihn willkommen zu heißen. Ein leichtes Stöhnen entfuhr ihr, als sich ihre Zungen vereinten. Der Kuss war leidenschaftlich und intensiv, aber gleichzeitig sanft.

Ohne sich von Laylas Lippen zu lösen, drehte sich Van auf den Rücken, sodass Layla auf seiner Brust zum Liegen kam. Schwer atmend lösten sich die beiden voneinander und schauten sich tief in die Augen. In Vans Augen wahren kleine Sprenkel von Stahlblau zu erkennen, wie sicher auch in ihren grünen Augen. Laylas Herz schlug wild in ihrer Brust. Als sie ihren Kopf auf Vans muskulöser Brust bettete, lauschte sie glücklich dem schnellen Rhythmus seines Herzschlags, der sich nur allmählich zu beruhigen schien.

Mit der Fingerspitze zeichnete Layla die Linien von Vans Bauchmuskeln nach, die sie unter seinem schwarzen T-Shirt ertastete. Vans Finger strichen federleicht über Laylas Arme.

Die beiden lagen schweigend beieinander, froh und erleichtert darüber, dass sie den anderen nicht verloren hatten. Layla ließ sich von Vans sanften Berührungen und gleichmäßigen Herzschlag einlullen. Das sachte Heben und Senken seines Oberkörpers ließen sie in einen leichten Schlaf abdriften. Einen Schlaf ohne unangenehme Träume.

Erst durch die unzähligen Küsse, die sich von ihrem Haaransatz über ihr Gesicht verteilten und letztlich ihren Mund fanden, wachte Layla wieder auf. Unter Vans Küssen breitete sich ein glückliches Lächeln auf Laylas Lippen aus, das der Krieger sofort ausnutzte, um ihren Mund erneut zu erobern.

„So gerne ich einfach mit dir hier liegen bleiben würde, wir müssen langsam zurück.“, flüsterte Van Layla ins Ohr, als sie sich in seine Umarmung fallen ließ.

„Wie lange habe ich geschlafen?“

„Zwei Stunden in etwa“, antwortete Van und setzte sich auf. Er zog Layla mit sich, sodass sie auf seinem Schoß zum Sitzen kam. Ohne das geringste Anzeichen von Anstrengung warf Van seine Beine über die Bettkante und stand mit Layla in seinen Armen auf.

„Dann ist es bereits weit nach Mitternacht. Du hättest mich ruhig viel früher wecken können“, meinte Layla und schaute den Krieger vorwurfsvoll mit ihren großen grünen Augen an.

„Ein wenig Schlaf hat dir sicher gutgetan. In letzter Zeit hattest du davon nicht besonders viel, soweit ich das mitbekommen habe.“, antwortete Van und verstärkte seinen Griff etwas.

„Woran du nicht ganz unbeteiligt warst“, konterte Layla und befreite sich aus Vans Griff und hatte wieder festen Boden unter den Füßen. „Und versuch es gar nicht erst abzustreiten“, fügte Layla noch hinzu, als sie sah, wie Van zum Sprechen ansetzten wollte.

Stattdessen zuckte der große Krieger nur mit den breiten Schultern und schob sich an Layla vorbei. Er öffnete die Wohnungstür und warf einen prüfenden Blick auf den Flur, bevor er zusammen mit Layla die Wohnung verließ.

 

Kapitel 2

 

Als Van und Layla ins Anwesen zurückkehrten, wurden sie schon sehnsüchtig erwartet. Kaum war das Paar durch die geheime Tür, die vom Untergeschoss in die oberen Stockwerke des Anwesens führte, getreten, wurden sie von Judith empfangen.

Die schöne Vampirin mit den langen kastanienbraunen Haaren und dem herzförmigen Gesicht stand in der Nähe der großen Treppen und hatte die Hände ineinander verschränkt.

„Judith, ist irgendetwas passiert?“, fragt Layla besorgt und war mit wenigen Schritten bei ihrer Freundin. In den letzten Wochen hatte Layla die Bewohner des Anwesens noch mehr in ihr Herz geschlossen, wenn dies überhaupt möglich war. Sie machte sich Sorgen um jeden einzelnen und konnte inzwischen die tägliche Angst von Judith sehr gut nachvollziehen, wenn diese Andre in die Nacht verabschiedete.

Kaum schlossen sich Laylas Finger um die verschlungenen Hände von Judith, erschien ein beruhigendes Lächeln auf dem herzförmigen Gesicht der Vampirin.

„Nein, es ist alles in Ordnung.“

„Aber?“, hakte Layla nach, denn sie wusste, dass das noch nicht alles war.

„Du hast Besuch. Ich habe ihn zunächst in den Salon gebeten, den wir für Gewöhnlich für solche unerwarteten Gäste nutzen.“, erklärt Judith. Sorgenvoll schaute sich Layla nach Van um, der bereits an ihre Seite getreten war.

„Um was für einen Besuch handelt es sich?“, ergriff der Krieger das Wort und legte seinen Arm um Laylas Schultern.

„Es ist ein Anwalt. Er wollte mir nicht sagen, worum es geht und meinte er habe strenge Anweisung ausschließlich mit Layla Sakralion über die Absicht seines Besuches zu sprechen.“ Layla und Van tauschten skeptische Blicke aus, bevor Judith weitersprach. „Ich habe in der Zwischenzeit Andre gebeten, den Anwalt zu prüfen. Der Mann hat einen einwandfreien Ruf und in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Konflikte zwischen gehobenen Vampirfamilien betreut. Zumindest was diesem Punkt angeht, sind wir im Moment auf der sicheren Seite.“

„Aber was kann er von mir wollen? Ich hatte bisher kaum etwas mit der gehobenen Gesellschaft zu tun und bin auch in keine Familienstreitigkeiten verwickelt?“, überlegte Layla. Hatte es etwas damit zu tun, dass ihre Herkunft offenbart wurde? Drohte sie in die Machtkämpfe zwischen den einzelnen Familien hineingezogen zu werden?

„Eine klare Antwort werden wir erst erhalten, wenn du dich mit dem Anwalt unterhältst“, schlussfolgerte Van. Layla überlegte einen Augenblick und ließ ihren Blick zwischen Van und Judith hin und her schweifen.

„Ich möchte dieses Gespräch nicht alleine führen. Ich kenne mich immer noch viel zu wenig mit den Gepflogenheiten der Vampire aus, um die Fallstricke und Auswirkungen dieses Gespräches richtig abschätzen zu können.“

„Ich werde dich begleiten. Es interessiert mich selbst brennend, woher auf einmal das rege Interesse an deiner Person herrührt. Es kann nicht schaden, wenn ein Krieger an deiner Seite steht.“

„Falls ihr mich braucht, ich bin im Fernsehzimmer“, meinte Judith und lächelte Layla aufmunternd an. Nachdem Judith gegangen war, wandte sich Layla der Tür ganz in der Nähe des Haupteingangs zu. Sie wappnete sich innerlich auf das, was sie erwartete. Die blonde Vampirin atmete tief durch, strafte die Schultern und schritt, mit selbstsicherem Gang, durch die Eingangshalle zum Salon.

Die Tür öffnete sich geräuschlos. Layla und Van blieben zunächst in der Nähe der Tür stehen, ohne den kleinsten Laut von sich zu geben. Der Salon war einladend eingerichtet. Das Zentrum bildete eine Sitzgruppe aus grünem Samt und dunklem Holz. Ein Sofa und mehrere Stühle gruppierten sich um einen niedrigen ovalen Tisch. Der Großteil der Wände war mit Bücherregalen aus dem gleichen dunklen Holz bedeckt.

Laylas Blick blieb an dem Mann hängen, der es sich in einem der Sessel bequem gemacht hatte. Als er die beiden Vampire bemerkte, sprang er sofort auf und machte eine tiefe Verbeugung vor Layla und Van.

„Königliche Hoheit, es ist mir eine große Ehre Sie persönlich kennenzulernen. Es tut mir leid, dass ich Ihre wertvolle Zeit in Anspruch nehmen muss, doch ich habe strikte Anweisungen, nur Ihnen persönlich, diese vertraulichen Informationen zu übergeben.“ Der Anwalt verblieb die ganze Zeit über in dieser gebeugten Haltung und wagte es nicht, den Blick zu heben.

„Ich bitte Sie, nehmen Sie doch wieder Platz“, versuchte Layla diese ungewohnte Situation zu meistern. Zurückhaltend richtete sich der Vampir wieder zur vollen Größe auf. Zunächst schaute er zu Layla, bevor seine Augen skeptisch zu Van wanderten. „Ich hatte gehofft, mit Ihnen allein sprechen zu können.“, ergriff der Mann erneut das Wort. Er sah für Laylas Geschmack wie ein typischer Anwalt aus. Sein schwarzer Anzug saß perfekt und seine braunen Haare und sein Bart waren akkurat geschnitten.

„Wie wäre es, wenn Sie sich zunächst vorstellen, bevor wir dieses Gespräch überhaupt fortsetzen“, forderte Van, bevor Layla den Anwalt darum bitten konnte. Sie konnte deutlich die Strenge in Vans Stimme hören. Wenn sein Blick den Anwalt noch nicht eingeschüchtert hatte, dann definitiv sein bestimmtes Auftreten.

„Ich bitte vielmals um Verzeigung.“ Erneut deutete der Mann eine Verbeugung an. „Mein Name ist Christoph Klennt. Ich bin Anwalt und mein Hauptaugenmerk liegt auf Familienstreitigkeiten.“

Layla wollte die angespannte Atmosphäre auflockern und ging mit einem freundlichen Lächeln auf den Mann zu. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Klennt.“ Ohne Umwege reichte Layla ihm die Hand zur Begrüßung. Erst das überraschte Zucken des Mannes machte Layla deutlich, dass dies offensichtlich nicht die übliche Begrüßung unter Vampiren war.

„Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

Layla und Van setzen sich auf das Sofa, während der Anwalt wieder in dem Sessel Platz nahm. Auf dem Tisch lag eine dicke Lederkladde, die von einem Lederband zusammengehalten wurde.

„Herr Klennt, ich möchte, dass Van Westor ebenfalls bei diesem Gespräch anwesend ist. Ich bitte Sie deswegen, frei zu sprechen und keine Bedenken bezüglich der Anwesenheit des Kriegers zu haben. Er hat mein vollstes Vertrauen.“ Bevor der Anwalt antwortete, richtete sich noch einmal sein prüfender Blick auf Van. Er schien solche Konstellationen nicht oft zu erleben und versuchte vermutlich abzuschätzen, welche die nächsten richten Worte wären.

„Wenn dies Ihr Wunsch ist, werde ich mich diesem nicht widersetzten.“

„Was führt Sie zu uns?“

„Vor einigen Wochen verbreitete sich nach und nach ein Gerücht innerhalb der Vampirgesellschaft, dass es einen lebenden Nachkommen aus dem Hause Sakralion geben soll. Als mir dies zu Ohren gekommen ist, habe ich mit Nachforschungen begonnen, um die Richtigkeit dieses Gerüchts zu überprüfen.“

„Wie ist Ihnen dieses Gerücht zu Ohren gekommen?“, hakte Van nach. Der Krieger mit den ungewöhnlichen Augen hatte einen neutralen Ausdruck aufgesetzt und ließ sich nichts anmerken. Nur Layla fielen die kleinen Veränderungen in seiner Körperhaltung und das leichte Zucken seiner Augenbrauen auf.

„Durch meine Arbeit bin ich viel in den gehobenen Kreisen unterwegs. Ob man es will oder nicht, bekommt man oft Gespräche mit oder wird persönlich auf bestimmte Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft aufmerksam gemacht. Bei einem abendlichen Treffen wurde ich nach meiner Einschätzung gefragt bezüglich des plötzlichen Auftauchens eines königlichen Nachkommens. Man erzählte mir, dass es Gerüchte gäbe, eine junge Frau aus der Blutlinie der Sakralions hätte möglicherweise überlebt.“

Während seines Berichtes sprach der Anwalt die ganze Zeit über direkt mit Layla. Sie lauschte stumm seinen Schilderungen. Bisher war ihr immer noch nicht klar, weswegen der Anwalt überhaupt hier war.

„Warum haben Sie begonnen, Nachforschungen zu betreiben?“, fragte Van weiter. Offenbar wollte der Krieger so viele Informationen wie möglich aus dem Anwalt herauspressen. Zu Laylas Erleichterung tat Van dies bisher auf die nette Weise. Sollte der Vampir jedoch versuchen, Vans Fragen auszuweichen, konnten sich die Methoden des Kriegers sehr schnell ändern. Da war sich Layla mehr als sicher.

„Weil ich vor knapp zwanzig Jahren einen Brief bekommen habe, mit der Bitte, dass ich diesen nur persönlich an die leibliche Tochter von Alexandra und Ludwig Sakralion weiterreichen darf.“ Augenblicklich griff Christoph Klennt nach seiner Lederkladde und löste das Band. Als er die Kladde aufschlug, befanden sich darin zahlreiche Dokumente und ein großer, bereits vergilbter Briefumschlag.

„Wie können Sie sich so sicher sein, dass es sich bei Layla tatsächlich um die fragliche Tochter handelt?“ Layla schaute zu Van und sah die Skepsis in seinem Blick. Ihnen war beiden klar, dass Laylas Herkunft bei den Abendgesellschaften von Raphael offenbart worden war. Bisher hatten sie jedoch noch keine weiteren Hinweise darauf gefunden, dass diese Information bereits weitere bekannt geworden war. Es war zudem überaus fraglich, ob dieser Information überhaupt Glauben geschenkt wurde.

Layla und die Krieger hielten es zudem für klüger, diese Gerüchte zunächst nicht zu bestätigen, oder überhaupt auf sie zu reagieren. Layla wusste nicht, ob sie ihre Position, die ihr seit ihrer Geburt zustand, überhaupt einnehmen wollte. Dafür gab es noch zu viele ungeklärte Fragen. Ihr Hauptaugenmerk lag bisher auf der Suche nach Raphael, der nach wie vor spurlos verschwunden war.

„Herr Westor, ich kann Ihre Zweifel durchaus verstehen und nachvollziehen, schließlich geht es hier nicht um irgendeine gehobene Tochter. Es betrifft die rechtmäßige Herrscherin aller Vampire. In meiner Position als Anwalt habe ich Zugang zu Unterlagen und Dokumenten, die für gewöhnlich vertraulich und verschlossen sind.“ Als der Anwalt eine kleine Pause einlegte, um seinen Worten Gewicht zu verleihen, bat ihn Layla fortzufahren. „Unter anderem habe ich mir die Geburtsurkunde und alle vorhandenen Dokumente, in Bezug auf Layla Sakralion näher angesehen. Ich muss zugeben, die Ähnlichkeit zu Ihrer Mutter ist nicht zu übersehen. Anschließend habe ich mich mit mehreren Ärzten unterhalten. Ihnen beiden ist klar, dass nichts eindeutiger ist, als eine DNA-Analyse. Zu meiner großen Überraschung gab es bereits eine Untersuchung vom Blut dieser jungen Frau.“

Augenblicklich spannten sich Vans Schultern an und seine Hand ballte sich zur Faust. „Diese Informationen waren vertraulich und hätten nicht an Sie weitergegeben werden dürfen“, knurrte Van und lehnte sich leicht nach vorne. Beschwichtigend legte Layla ihre Hand auf den Oberschenkel des Kriegers und sah ihm in die Augen.

„Sie leben lange genug, um zu wissen, dass die richtige Summe Geld bei den entsprechenden Personen, einem den Zugang zu jeder gewünschten Information ermöglichen“, antwortete Christoph Klennt nüchtern.

„Früher oder später wäre jemand an die Ergebnisse der Blutuntersuchung gekommen. Wir können im Moment froh sein, dass es bisher nur Herr Klennt ist. Liege ich richtig mit meiner Annahme, dass Sie vertraulich mit diesen Informationen umgegangen sind?“, wandte sich Layla wieder dem Anwalt zu, als sich Van etwas entspannte.

„Natürlich. Sämtliche Unterlage befinden sich in dieser Kladde.“ Van griff danach und sah sich genaustens die verschiedenen Dokumente durch. Herr Klennt war schlau genug, nicht zu protestieren. Ihm schien durchaus bewusst zu sein, auf was für dünnen Eis er sich bewegte.

„Sie sprachen von einem Brief, den Sie vor knapp zwanzig Jahren erhalten haben. Worum ging es darin?“ Inzwischen war Laylas Neugierde geweckt und sie überlagerte ihre Skepsis. Jede Information über ihre Herkunft konnte Layla nützlich sein, um wichtige Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen. Christoph Klennt streckte sich über den Tisch und griff nach dem vergilbten Brief, den Van bisher nicht angeschaut hatte. „Es handelt sich dabei um diesen Brief. Er wurde von einer Esther Teuber geschrieben. Sie war das Kindermädchen im Hause Sakralion und hat sich um Sie gekümmert, königliche Hoheit. In dem Brief befand sich ein zweiter Brief, der mit einem Siegel verschlossen war.“

Augenblicklich zog der Anwalt einen zweiten Brief aus dem vergilbten Umschlag und reichte ihn Layla. Das Wachssiegel war unbeschädigt. Layla drehte den Brief in ihrer Hand und las, an wen der Brief gerichtet war. Die Handschrift war sehr verschlungen, sodass Layla zunächst Probleme hatte die einzelnen Wörter zu erkennen. „An die rechtmäßige Erbin des Throns“, las Layla laut vor und blickte irritiert zunächst zu Van und dann zu Herrn Klennt.

„Was hat das zu bedeuten?“

„In dem Brief an mich schildert Esther Teuber, dass sie sich an mich wendet, da sie nicht mehr in der Lage wäre die Wahrheit darzulegen. Des Weiteren bittet Fräulein Teuber, dass der beigelegte Brief nur persönlich an Layla Sakralion übergeben werden soll, wenn sie noch am Leben sein sollte.“

„Sie haben diese Briefe also all die Jahre aufbewahrt, ohne jemanden davon zu berichten. Warum?“ Van und Layla wollten die genauen Umstände erfahren. Nur so konnten sie sich sicher sein, dass ihnen keine neue Gefahr von Raphaels Seite drohte. Schließlich konnte dieser durchaus seine Finger im Spiel haben. Layla hatte am eigenen Leib erleben müssen, wie leicht er andere manipulieren und nach seinem Willen handeln lassen konnte.

„Zunächst einmal habe ich eine Schweigepflicht.“

„Die hatte der Arzt, der die Blutuntersuchung von Layla durchgeführt hat, auch“, entgegnete Van mit einem leichten Knurren in der Stimme. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass solche entscheidenden Informationen einfach an einen Anwalt weitergegeben wurden.

„Da haben Sie natürlich Recht“, lenkte Herr Klennt sofort ein. Ein leichtes Unbehagen war in seinem Gesicht zu erkennen. Trotzdem ließ sich der Vampir nicht einschüchtern und fuhr fort.

„Die Lebenspanne von Vampiren ist beträchtlich. Die vergangenen Jahrhunderte haben uns gezeigt, dass es immer wieder zu überraschenden Entwicklungen kommen kann. Besonders nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Familien, gab es immer wieder plötzlich zurückkehrende Familienmitglieder, die eigentlich für tot erklärt worden waren. Ich hielt es für das Beste, diesen Brief aufzubewahren. Wäre die Annahme von Fräulein Teuber falsch gewesen, wären diese Briefe irgendwann in Vergessenheit geraten.“

„Dann können wir uns glücklich schätzen, dass Sie mit ihren Unterlagen so sorgfältig umgehen“, meinte Layla und strich sachte mit den Fingern über das Wachssiegel.

„Ich stand in enger Beziehung zur Familie Teuber. Ich war in einigen Fällen ihr Anwalt und hielt es für einen Vertrauensbeweis, den ich Esther schuldig war, wenn sie mir einen so wichtigen Brief anvertraut.“

„Ich danke Ihnen.“ Laylas Stimme war leise geworden. In ihr überschlugen sich die Emotionen. Es waren Angst und Neugierde, die um die Vorherrschaft rangen.

Geschmeidig erhob sich Christoph Klennt aus seinem Sessel und zog seine Jacke zurecht. „Meine Aufgabe ist hiermit erledigt. Es liegt ganz allein bei Ihnen, was Sie mit dem Brief machen. Es war mir eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen und hoffe nur das Beste für Ihre Zukunft und die Zukunft der Vampirgesellschaft.“ Wie schon zu Beginn des Gespräches verbeugte sich der Anwalt vor Layla. Als er sich aufrichtete, streckte er die Hand nach der Lederkladde aus. Nur widerwillig gab Van diese zurück. Um seinen Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen, stand auch Van auf und band das Lederband sorgfältig um die Kladde. „Ihnen ist bewusst, dass diese Dokumente der Geheimhaltung unterliegen. Sollte mir zu Ohren kommen, dass auch nur ein einziges Detail hieraus an die Öffentlichkeit gelangt, werden Sie nicht mehr so freundlich behandelt werden.“

„Meine Treue gehört der Familie Sakralion. Sie können sich auf mich verlassen, dass diese Mappe niemand zu Gesicht bekommen wird“, gelobte der Anwalt und drückte die Lederkladde an seine Brust.

„Entscheidend ist, dass Sie dem richtigen Sakralion die Treue halten“, brummte Van. Layla schaute sofort besorgt zu dem Krieger auf. Bisher war nicht bekannt, dass auch Raphael ein lebender Nachkomme der Sakralions war. Nur wie lange würde dies noch geheim bleiben? „Van“ Layla war der überraschte Blick von Christoph Klennt nicht entgangen, weshalb sie Van zu verstehen gab, dass er vorsichtig mit dem sein sollte, was er sagt. Sie wusste selbst, wie schnell man etwas Falsches sagte, wenn man sich von seinen Gefühlen verleiten ließ.

„Ich danke Ihnen noch einmal, Herr Klennt. Ich würde mich freuen, wenn ich auch in Zukunft auf Sie zurückkommen kann, wenn ich in rechtlichen Fragen Bestand benötige.“ Layla trat um den ovalen Tisch herum und reichte dem Anwalt erneut die Hand. Dieses Mal ergriff der Vampir sie und senkte den Kopf. „Es wäre mir eine Ehre.“

Van begleitete den Anwalt hinaus und ließ Layla für einen Augenblick allein. Die Vampirin ließ sich zurück aufs Sofa fallen und drehte immer wieder den Brief in ihren Händen. Als Van kurze Zeit später zurück an ihre Seite kam, hatte Layla den Brief noch immer nicht geöffnet. „Was mag wohl hier drinstehen?“

„Das wirst du nur erfahren, wenn du ihn öffnest. Es ist allein deine Entscheidung, schließlich ist er ausschließlich an dich adressiert. Ich bezweifle, dass Esther Teuber solch einen Aufwand betrieben hätte, wenn es ihr nicht wichtig gewesen wäre, dass nur du allein diese Zeilen lesen solltest.“ Van hatte Recht mit dem was er sagte. Mit leicht zitternden Fingern löste Layla das rote Siegelwachs und öffnete den Briefumschlag. Darin befanden sich drei Blätter hochwertiges Briefpapier, die mit der gleichen geschwungenen Schrift beschrieben waren wie der Umschlag.

 

 

Kapitel 3

 

Meine über alles geliebte Prinzessin,

 

wenn euch diese Zeilen erreichen, haben sich meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet. Es tut mir in der Seele weh, nicht an Eurer Seite zu stehen und euch in den schweren Zeiten, die vor euch stehen, zu unterstützen.

Es ist von größter Wichtigkeit, dass Ihr die Wahrheit erfahrt und die Position einnehmt, die eure hochverehrten Eltern für Euch vorgesehen haben.

In den letzten Monaten haben sich merkwürdige Dinge im Anwesen eurer Familie zugetragen. Dinge, die scheinbar niemandem außer mir aufgefallen sind. Dinge die nicht rechtens sind und eine große Bedrohung darstellen können.

Um die Gefahr richtig einzuschätzen, müsst Ihr, Prinzessin, verstehen, was sich eure Eltern für die Zukunft der Familie und der Vampire gewünscht haben. Ihnen war bewusst, dass sie die Herrschaft innehaben, obwohl ihnen das Leben in dieser Gesellschaft immer schwerer viel. Spätestens nach eurer Geburt haben sich eure Eltern immer mehr zurückgezogen und nur noch sehr selten an wichtigen Veranstaltungen teilgenommen. Diese Entwicklung schien eurem Bruder Raphael nicht zu gefallen. Immer öfters kam es zum Streit zwischen eurem werten Vater und Raphael. Obwohl er der Erstgeborene war, wollten eure Eltern die Macht der Regentschaft in eure Hände legen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen wäre.

Doch von einen auf den anderen Tag waren die Streitigkeiten beendet. Euer Bruder ging im Anwesen ein und aus, ohne dass eure Eltern weiterhin Protest gegen sein Auftreten und Handeln erhoben. Auch die Tatsache, dass er sich immer öfters um euch kümmerte und mich fortschicke, schien niemanden in Besorgnis zu versetzten, außer mich.

Ich habe versucht, eure Eltern auf meine Bedenken aufmerksam zu machen, doch jedes Mal, wenn ich mich nach einen von Raphaels Besuchen an sie wandte, wirkten sie ungewöhnlich teilnahmslos und schienen meine Warnungen nicht ernst zu nehmen. Auch mein Versuch, die Leibwächter auf eine drohende Gefahr aufmerksam zu machen, verlief bisher erfolglos.

Meine liebe Prinzessin, möglicherweise liege ich mit meinen Befürchtungen, dass bald etwas schreckliches passieren wird, vollkommen falsch, doch ich kann nicht länger tatenlos mit anschauen, wie diese hochangesehene Familie einer drohenden Gefahr hilflos ausgeliefert ist.

 

Sollte ich mit meiner Annahme richtig liegen, ist es wichtig, dass Ihr euren Platz als Herrscherin einnehmt und das Erbe eurer werten Eltern fortsetzt. Eine liberale Herrschaft in dem die Klassenunterschiede immer weiter aufgeweicht werden, um die Machtkämpfe unter den Familien ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.

Eure Eltern haben darauf vertraut, dass Ihr diesen Weg fortsetzen werdet, ganz im Gegensatz zu ihrem Sohn, der viel zu viel Freude an seiner Macht und seiner Position zeigt und nicht darauf verzichten will. Ich vermute, dass er von den Absichten eurer Eltern erfahren hat und diese nicht akzeptieren wird. Er scheint eine besondere Gabe zu haben, wie sie nur wenige innerhalb der Vampirgesellschaft haben. Doch diese scheint keine Wirkung bei mir zu haben.

 

Eine letzte Bitte habe ich noch an euch, meine Prinzessin. Wenn Ihr diesen Brief lest, überbringt einen der Leibwächter eurer Familie, falls er noch am Leben ist, eine Nachricht von mir. Bitte teilt Tom Rieger mit, dass er keinerlei Schuld an dem trägt, was passiert ist. Er hat seine Aufgabe immer mit voller Hingabe erfüllt und wird es sich niemals verzeihen, versagt zu haben. Das Blut der Familie Sakralion klebt nicht an seinen Händen, genauso wenig wie mein eigenes Blut.

 

Meine Prinzessin, ich habe vollstes Vertrauen in Euch und weiß, dass Ihr die richtige Entscheidung treffen werdet, egal wie sie am Ende ausfallen wird.

 

Eure Euch treu ergebene Dienerin,

 

Esther Teuber

 

Layla ließ den Brief in ihren Schoß fallen und presste sich die Hände auf die Lippen. Obwohl sie sich nicht an ihr Kindermädchen erinnern konnte, hatten diese Zeilen sie tief im Herzen berührt. Der Vampirin war ohne jeden Zweifel klar, dass jedes Wort der Wahrheit entsprach.

Nach einigen Minuten griff Layla erneut nach dem Brief und las ihn ein zweites Mal. Aus ihrem Augenwinkel löste sich eine einsame Träne und rollte langsam ihre Wange hinunter. Sachte strich Van die Träne weg und schlang die Arme um Laylas Körper. Sanft drückte er sie an sich und die Vampirin versank in seiner Wärme.

„Sie hat geahnt, dass etwas Schlimmes passieren wird“, flüsterte Layla mit starrem Blick auf Esters Zeilen. Vans Griff wurde fester und er legte seine Wange auf Laylas silberblonde Haare. „Sie hat versucht es zu verhindern, doch niemand hat auf ihre Warnungen gehört“, sprach Layla leise weiter.

Die Krieger griff vorsichtig nach dem Brief und warf ebenfalls einen sorgfältigen Blick darauf. „Schau dir das Datum an“, meinte Van und ließ Layla vorsichtig los. Er machte sich Sorgen um sie. Seit den Ereignissen in Raphaels Penthouse machte er sich immer Sorgen um sie und schien alles Leid der Welt von ihr fernhalten zu wollen, obwohl das nicht möglich war.

Layla richtete sich auf und nahm den Brief zurück. In der oberen rechten Ecke war in kleiner Schrift das Datum des Briefes geschrieben. Es war der zwanzigste Juli. Ruckartig richtete sich Laylas Blick zu Van, dessen Blick angespannt wirkte. „Sie hat den Brief einen Tag vor dem Unfall geschrieben“, raunte Van. „Es hätte alles verhindert werden können.“ Vans Hände ballten sich zu Fäusten. Seine Muskeln spannten sich an und sein Blick wurde immer finsterer.

„Wenn Esther mit ihrer Vermutung richtig liegt und Raphael seine Finger im Spiel hatte, hätte der Unfall nicht verhindert werden können. Ich weiß selber am Besten, wie stark seine Manipulationskünste sind“, versuchte Layla ihren Krieger zu beruhigen. Die neuen Informationen warfen ein vollkommen neues Bild auf die Geschehnisse. Alle hatten bisher angenommen, dass die Explosion ein technischer Fehler war, ein Unfall, der einer ganzen Familie, einschließlich Raphael und Layla das Leben gekostet hatte. Doch scheinbar war es kein Unfall gewesen, sondern ein geplanter Anschlag.

„Du hättest ein vollkommen anderes Leben führen können, wenn nur einer den Warnungen deines Kindermädchens Glauben geschenkt hätte“, sprach Van immer noch aufs äußerste angespannt weiter.

„Dann wären wir uns möglicherweise nie begegnet.“

Van zuckte erschrocken zusammen und schaute Layla tief in ihre grünen Augen. Er legte seine raue Hand an ihre Wange und strich eine loste Strähne aus ihrem Gesicht. „Du hättest eine glückliche Kindheit gehabt und währest auf dein Leben als Vampirin und Prinzessin vorbereitet worden. Das klingt in meinen Ohren um einiges besser.“

Layla konnte die Zweifel deutlich in Vans fast weißen Augen sehen. Er hielt sich nicht für würdig. Seine Zweifel hatten sie schon einmal auseinandergebracht. Das würde Layla kein zweites Mal zulassen. „Ich bin mir nicht so sicher, ob es ein besseres Leben gewesen wäre. Das was mir passiert ist, hat mich zu der Frau gemacht, die ich heute bin. Es war nicht immer leicht, aber trotzdem bin ich stolz auf das, was ich heute bin. Und ich habe dich getroffen. Glaube mir, das möchte ich auf keinen Fall ändern.“

„Du weißt nicht, was du sagst“, protestierte Van. Um ihn endlich zum Schweigen zu bringen, legte Layla ihren Finger auf Vans Lippen. „Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Wichtig ist, was wir daraus für die Zukunft lernen.“ Die junge Vampirin wollte sich gar nicht vorstellen, was für ein Leben sie geführt hätte, wenn ihre Eltern nicht gestorben wären. Sie hätte vermutlich eine sehr viel schönere Kindheit erlebt. Doch wäre sie dann die gleiche Frau geworden, die sie heute war? Laylas Antwort war ein klares, nein.

Layla nahm ihren Finger weg und legte ihre vollen Lippen auf Vans verkniffenen Mund. Augenblicklich verschwand seine Anspannung. Die Krieger gab sich dem Kuss hin und zog Layla enger an sich. Er blieb vorsichtig und drängte sie nicht weiter, obwohl Layla nichts dagegen gehabt hätte. Seine Umarmung und seine Küsse spendeten ihr den Trost, den sie in letzter Zeit sehr häufig benötigte. Die zahlreichen Offenbarungen und damit einhergehenden Erwartungen und Verpflichtungen lasteten schwer auf der Vampirin und sie konnte diese Last teilweise nur sehr schwer ertragen, obwohl sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Die bedingungslose Unterstützung von Van und den anderen verhinderten, dass Layla aufgab.

Als sich Laylas Lippen von Vans lösten, legte sie ihre Stirn an die des Kriegers.

„Esther schreibt, dass sie scheinbar immun gegen Raphaels Gedankenmanipulation war. Kann das wirklich möglich sein?“

„Es gibt einige wenige in der Vampirgesellschaft, die bestimmte Fähigkeiten nach ihrer Erwachung entwickeln. Sie kommen recht selten vor, aber ja, es ist möglich. Das nächste was wir tun müssen, ist den Wahrheitsgehalt dieses Briefes zu prüfen. Auch wenn es niemanden direkt gibt, der die Angaben bestätigen kann, müssen wir schauen, dass wir die neuen Informationen für uns nutzen.“

Scheinbar würde Layla auch in nächster Zeit nicht zur Ruhe kommen. Sie hatte sich selbst vorgenommen, mehr über ihrer Vergangenheit zu erfahren und sich ihren Dämonen zu stellen, um die Antworten zu erhalten, die sie brauchte. Nach dem Besuch von Ellens Grab war der Brief von Esther schwer für Layla zu verdauen. Gleichzeitig brachte er sie auf ihrem Weg ein gutes Stück voran.

Widerwillig löste sich Layla von Van und lehnt sich zurück. Im Kopf des Kriegers schien es zu arbeiten. Van faltete seine Hände und legte sein Kinn darauf ab, während er vor sich hinblickte.

„Was geht dir durch den Kopf?“, fragte Layla

„Die Dokumente und Unterlagen in der Kladde des Anwalts waren recht interessant. Neben den Bluttestergebnissen waren darin auch eine Kopie deiner Geburtsurkunde, ein Familienstammbaum und eine Aufstellung aller Opfer und Angestellten des Haushalts deiner Eltern“, erklärte Van ohne seinen starren Blick abzuändern. „Es ist nicht wirklich viel Neues darunter. Trotzdem zeigt es mir, wie schwer es selbst für einen angesehenen Anwalt ist, an Informationen über die Sakralion heranzukommen. Der Stammbaum deiner Familie war kaum umfangreicher als unsere eigenen Nachforschungen. Das bedeutet, dass wir alle in etwa auf dem gleichen Informationsstand sind, was gut ist.“

Die Gerüchte würden also weiterhin Gerüchte bleiben, bis sich einer traute sie offen auszusprechen. Oder, wenn sich Raphael oder Layla dazu entschlossen ihren Platz an der Spitze der Vampirgesellschaft für sich zu beanspruchen.

„Wir sollten mit den anderen sprechen. Ich bin mir sicher, Judith wartet auf uns in der Eingangshalle oder im Fernsehzimmer. Es wäre nicht fair, sie länger warten zu lassen“, entschloss sich Layla und rieb sich über die Stirn. Ein leichter Druck baute sich hinter ihrer Schläfe auf und schien sich zu ernsthaften Kopfschmerzen entwickeln zu wollen.

„Wir müssen uns auf jeden Fall mit den anderen besprechen. Wir werden gemeinsam entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“, stimmte der schwarzhaarige Krieger zu und stand vom Sofa auf. Ein amüsiertes Lächeln erschien auf Laylas Gesicht, als er ihr seine Hand anbot. Fragend zog Van eine Augenbraue hoch, was Laylas Lächeln noch verstärkte.

„Gemeinsam entscheiden? Soll das heißen, es wird keine Alleingänge von dir mehr geben?“, neckte sie den Kriegern und legte ihre Hand in seine. Seine kräftigen Finger umschlossen augenblicklich ihre zierliche Hand und zogen sie zu sich.

„Zumindest werde ich es versuchen“, raunte Van und beugte sich herausfordernd zu Layla hinunter. Trotz ihrer hohen Absätze war Van immer noch gut einen Kopf größer als sie. „Ich lass mich überraschen. Bevor wir uns mit den anderen treffen, möchte ich noch mit Tom sprechen. In dem Brief steht etwas, das sehr wichtig für ihn sein könnte.“

Layla ging zur Tür und zog Van mit sich. Sie hatte mit ihrer Vermutung vollkommen richtig gelegen. Kaum war das Paar aus dem Salon getreten, schritt Judith ihnen mit federleichten Schritten und interessierten braunen Augen entgegen.

„Ich sterbe gleich vor Neugierde“, meinte die Vampirin und schloss zu den beiden anderen auf. „Der Blick des Anwalts ließ keine wirklichen Rückschlüsse zu. Außer, dass er vermutlich einen heiden Respekt vor euch beiden hatte.“

„Das Gespräch lief gut. Ich habe einen Brief erhalten, den mein Kindermädchen am Tag vor dem Unfall meiner Familie geschrieben hat. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Ich werde dir und den anderen Kriegern alles genau erzählen, wenn alle zurück im Anwesen sind“, erklärte Layla und legte den Kopf leicht schief. Sie konnte Judiths Interesse in ihren Augen funkeln sehen, trotzdem wollte Layla zunächst mit Tom sprechen.

„Ist denn Tom schon wieder da?“. Layla spritze zwar ihre Ohren und versuche die verschiedenen Düfte im Anwesen zu sondieren, doch da der Krieger zu den sehr schweigsamen Vampiren gehörte, konnte Layla nichts wahrnehmen.

„Ja, er ist vor wenigen Minuten angekommen. Er sah allerdings sehr mitgenommen aus und ist direkt nach oben in sein Zimmer verschwunden“, antwortete Judith. Laylas Blick wanderte sofort die große Treppe hinauf.

„Ich werde Steven anrufen und hierherbitten. Er sollte dabei sein, wenn du uns alle in die genauen Details des Briefes einweihst. Anschließend kann er wieder die Ohren für uns offenhalten und seine Kontakte nutzen, um die Glaubwürdigkeit der neuen Informationen zu überprüfen.“ Layla nickte nur und kaum, dass Van seinen Vorschlag geäußert hatte, hielt er sich schon das Handy ans Ohr und wartete darauf, den jungen Vampir zu sprechen.

Während Judith und Van auf die Rückkehr der anderen Krieger warteten und sich ins Fernsehzimmer zurückzogen, begab sich Layla in den ersten Stock. Vor Toms Zimmertür blieb sie stehen und klopfte kurz an. Als ein knappes „Ja“ in Toms tiefer rauer Stimme erklang, drückte Layla die Klinke und betrat Toms Räumlichkeiten.

Ein schneller Blick verschaffte Layla einen ersten Eindruck. Das Zimmer war akkurat aber spärlich eingerichtet. Es gab keinerlei Dekoration oder persönliche Gegenstände. Ein bisschen erinnerte es Layla an ihre eigenen Zimmer. Alles wirkte genauso unpersönlich wie bei ihr. Gleichzeitig passte diese Einrichtung zu Tom. Er machte sich nicht viel aus großen Worten und war darauf bedacht, seine Aufgaben gewissenhaft und sorgfältig zu erledigen. Es hatte einen militärischen Charm, der exakt dem Krieger entsprach.

„Layla“

Tom kam frisch geduscht auf die Vampirin zu. Der Blick seiner grauen Augen war fest auf sie gerichtet, während er überprüfte, ob mit ihr alles in Ordnung war.

„Tut mir leid, dass ich dich sofort nach deiner Rückkehr ins Anwesen stören muss. Ich habe gerade etwas erfahren, dass auch dich betrifft. Bevor ich die anderen einweihe, wollte ich aber zunächst mit dir sprechen.“

„Was ist passiert?“ Um Tom zu beruhigen, lächelte Layla den Krieger an, dessen Gesicht einen noch strengeren Ausdruck als ohnehin schon angenommen hatte. Scheinbar waren ihre Worte etwas schlecht gewählt und ließen den Krieger vom Schlimmsten ausgehen. „Ich habe diesen Brief überreicht bekommen. Er ist von Esther Teuber und darin ist auch eine Nachricht an dich enthalten.“ Layla hielt den vergilbten Brief hoch, sodass Tom die geschwungene Schrift darauf lesen konnte. Bei dem Namen zuckte ein Muskel in Wange des Kriegers und seine Augen nahmen einen Ausdruck an, den Layla bisher nicht von ihm kannte.

Vorsichtig holte Layla die Seiten aus dem Umschlag und reichte Tom das letzte Blatt, auf dem Esther Layla darum bat eine Nachricht an den ehemaligen Leibwächter der Familie Sakralion weiterzuleiten. Layla wartete geduldig, während der stille Krieger las. Erst als er die Hand mit dem Brief sinken ließ, ergriff Layla wieder das Wort.

„Kannst du dich an eine Esther Teuber erinnern?“ Alle Leibwächter hatte unter Raphaels Manipulation gestanden und die Ereignisse der Unfallnacht vergessen. Tom selbst konnte nicht sagen, wie umfangreich seine Gedächtnislücken waren und einen der anderen Leibwächter konnten sie nicht fragen. Jeder einzelne von ihnen war in den vergangenen Jahren ums Leben gekommen. Inzwischen vermuteten die Krieger, dass dies keine Unfälle gewesen waren, wie es in den Akten verzeichnet wurden war. Vielmehr hatten Raphael und seine Lakaien ihre Finger im Spiel und für das Verschwinden der Zeugen gesorgt.

Tom rieb sich mit der freien Hand über sein kurz geschorenes Haar und über das Gesicht. „Oh ja, ich kannte Esther“, raunte Tom.

„Erzähl mir von ihr.“

Die angespannte Linie von Toms Mund wurde weicher. Er schien sich an schönere Zeiten zu erinnern, bevor er Laylas Bitte folgte. „Esther war eine herzensgute Frau, freundlich, ehrlich und hat sich mit voller Hingabe um dich gekümmert. Sie kam in das Anwesen deiner Eltern, wenige Wochen vor deiner Geburt. Sie hatte kupferfarbenes Haar, dass sie versuchte unter einer Spitzenhaube, die zur Kleidung der Dienstboten gehörte, zu verbergen. Doch ständig lösten sich dünne Strähne aus ihrem Haarknoten und kringelten sich um ihr Gesicht.“

Layla bekam eine Vorstellung von der Vampirin, die versucht hatte, die schrecklichen Ereignisse zu verhindern. Was Layla allerdings viel mehr überraschte, war die Art und Weise, wie Tom von ihr sprach. Es hatte etwas Schwärmerisches an sich, etwas vollkommen Untypisches für den Krieger.

„Du hast sie gemocht“, hakte Layla erfreut nach.

„Ich war gerne in ihrer Nähe. Da es meine Aufgabe war dich zu beschützen, war dies öfter der Fall. Sie war jedem gegenüber nett und ließ sich auch von meiner zurückhaltenden kühlen Art nicht abschrecken.“

Tom streckte den Arm nach Layla aus und schob ihr eine Strähne hinters Ohr. „Du hast mich schon damals mit deinen großen grünen Augen so angesehen. Esther meinte immer, Kinder erkennen, wer es gut mit ihnen meint und wer nicht. Wenn die kleine Prinzessin mich jedes Mal mit einem strahlenden Lächeln erwartete, wie könnte sie mich dann nicht mögen?“

Layla strich sich etwas verlegen ebenfalls die Strähne zurück, obwohl dies gar nicht nötig war. Auch wenn Tom allen anderen gegenüber niemals seine mitfühlende Seite zeige, ließ er Layla immer wieder hinter seine harte Fassade blicken. Die junge Vampirin umschloss mit beiden Händen Toms Hand mitsamt der Briefseite.

„Du hast sie geliebt, nicht wahr?“

„Ich dachte, an diesem verdammten Morgen hätte ich zwei Leben verloren, die mir unsagbar wichtig waren. Zumindest eines davon habe ich seit kurzem wiedergefunden.“ Seine Worte rührten Laylas Herz. Nicht nur die fehlenden Erinnerungen und die Schuldgefühle hatten Tom zu dem Vampir werden lassen, der er heute war. Auch der Verlust einer Liebe hatte ihn verschlossen und dafür gesorgt, dass er keine tieferen Gefühle mehr zuließ.

„Ich weiß, es wird nicht leicht werden, aber du musst mir und den anderen alles über Esther erzählen. In dem Brief an mich waren weitere wichtige Details erhalten, die ich euch allen mitteilen möchte. Er kann uns dabei helfen, herauszufinden was genau damals geschehen ist.“

„Viel mehr werde ich euch nicht erzählen können. Ich hatte kaum die Gelegenheit, um mehr über sie zu erfahren“, meinte Tom resigniert. „Lass uns zu den anderen gehen und sehen was sich machen lässt. Je näher wir der Wahrheit kommen, desto besser.“

 

Kapitel 4

 

Tom und Layla gingen gemeinsam schnellen Schrittes die große Treppe hinunter. Anhand des Geräuschpegels war klar, dass in der Zwischenzeit die anderen Krieger den Weg zurück zum Anwesen gefunden hatten. Alle hatten sich im Fernsehzimmer eingefunden und hielten ein gut gefülltes Glas in der Hand.

„Dem Himmel sei Dank, endlich gibt es einen erfreulichen Anblick in dieser Runde“, ertönte Ricks amüsierte Stimme, als sich Layla und Tom zu den anderen gesellten.

„Kannst du nicht einmal die Klappe halten? Es ist ja kaum noch zu ertragen, wie du wirklich jede Frau anbaggerst, der du über den Weg läufst“, stöhnte Paul auf und ließ sich tiefer in den großen Sessel sinken, in dem er saß.

„Ich baggere nicht jede Frau an, die ich sehe. Nur die wirklich schönen sind mir diese Mühe wert“, konterte Rick mit einem gewissen Glänzen in seinen blauen Augen. „Oh Vorsicht, du begibst dich auf dünnes Eis. Denn wenn ich deine Worte richtig verstehe, findest du Judith nicht schön genug, um dich zu reizen“, bemerkte David, der sich neben Rick auf dem Sofa lümmelte.

Die Selbstsicherheit verschwand aus dem Gesicht des blonden Vampirs. An deren Stelle trat Verunsicherung. „So war das nicht gemeint. Judith ist seit Ewigkeiten mit Andre verheiratet, damit ist sie tabu für mich“, versuchte sich Rick zu erklären und schaute verständnissuchend in die Runde.

„Oh bitte Van, dann heirate Layla möglichst bald, damit wir endlich Ruhe haben“, meinte Paul und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.

„Wer sagt denn, dass ich überhaupt heiraten möchte?“, mischte sich Layla in das Gespräch der Krieger ein, während sie zu Steven ging und ihn herzlich mit einem Kuss auf die Wange begrüßte.

„Soll das heißen, ich habe doch noch eine Chance?“

„Diese Hoffnungen würde ich mir an deiner Stelle nicht machen“, warnte Van und fixierte Rick mit einem Blick, der jedes weitere Wort verbot.

„Ich denke, bevor wir über eine mögliche Hochzeit oder irgendetwas anderes nachdenken, sollten wir uns lieber unseren aktuellen Problemen zuwenden.“ Layla setzte sich auf die Armlehne von Vans Sessel. Der schwarzhaarige Krieger legte augenblicklich besitzergreifend den Arm um Laylas Mitte und zog sie ein bisschen näher an sich heran. Layla quittierte diese Geste mit einem schiefen Lächeln, bevor sie sich an die anderen wandte.

„Es gibt neue Entwicklungen. Vor etwa einer Stunde war ein Anwalt hier und hat mir einem Brief übergeben. Er befand sich seit fast zwanzig Jahren in seinem Besitz. Die jüngsten Gerüchte innerhalb der Vampirgesellschaft haben ihn dazu veranlasst, Nachforschungen anzustellen, die ihn letztendlich hierher geführt haben.“

Layla hielt es für das Einfachste, den Brief vorzulesen. Den letzten Abschnitt ließ sie dabei geflissentlich aus.

„Damit dürfte die Frage, ob es ein Unfall oder Anschlag war, endgültig geklärt sein“, beendete Andre das Schweigen. Die anderen Krieger nickten zustimmend und schienen alle ihre eigenen Schlüsse aus den vorgetragenen Zeilen zu ziehen.

„Besonders interessant finde ich, was sich deine Eltern für die Zukunft gewünscht haben. Es stimmt, dass sich deine Eltern stark zurückgezogen und nur noch selten an Veranstaltungen teilgenommen hatten. Jetzt haben wir auch eine Begründung dafür. Es lag nicht nur an der Schwangerschaft von Alexandra und deiner Geburt. Das Herrscherpaar wollte die alte Ordnung aufheben und eine liberale Herrschaft anstreben, in der die ständigen Machtkämpfe unter den Familien ein Ende hätten und alle Vampire gleichgestellt wären“, überlegte Judith. Sie hatte sich gedankenversunken einen Arm um die Taille geschlungen und umfasste mit der freien Hand nachdenklich ihr Kinn.

„Selbst wenn sie das wirklich geplant hatten, wäre es bei Weitem nicht so einfach gewesen, wie es sich anhört. Die hierarchischen Verhältnisse bestehen seit mehreren Jahrhunderten. Sie können nicht einfach abgeschafft werden. Das würde nur zu neuen Kriegen und zahlreichen Toten führen.“ Paul kannte die strengen Grenzen zwischen den einzelnen Vampirklassen nur zu gut. Wollte man aus diesem strengen Gebilde ausbrechen, musste man mit den Konsequenzen leben.

„Aus diesem Grund wollten die Sakralion die Herrschaft an Layla übertragen, nicht an Raphael. Sie wollte den Weg für ihre Tochter ebnen, damit sie ihn weiter bestreiten kann.“

Andre war der gleichen Meinung, wie seine Frau und stimmte ihr zu. „Sie waren sich im Klaren, dass sie diese Aufgabe nicht an ihren erstgeborenen Sohn übertragen konnte, wie es eigentlich Tradition ist. Wenn wir Esthers Worten Glauben schenken, war Ludwig und Alexandra Sakralion durchaus bewusst, dass ihr Sohn ganz andere Vorstellungen von der Zukunft der Vampirgesellschaft hatte.“

„Nur leider war es ihnen nicht möglich, ihre alles verändernden Absichten in die Tat umzusetzen“, raunte Paul, der angespannt in sein mittlerweile leeres Glas starrte. Die losen Strähnen seines roten Haares fielen ihm ins Gesicht und verhinderten, dass die anderen einen genauen Blick auf dieses werfen konnten.

„Ok, betrachten wir es einmal nüchtern. Was genau sagt uns dieser Brief? Erstens: Die Herrschaft sollte eindeutig an Layla übertragen werden“, begann David mit seiner Aufzählung und hielt dabei einen Finger in die Höhe. „Zweitens: Der Tod deiner Eltern und der der Leibwächter war kein Unfall, sondern ein gezielter Anschlag.“ Der zweite Finger schoss in die Höhe.

„Und drittens“, mischte sich nun auch Tom in die Überlegungen mit ein, „Ist sicher, dass Raphael für alles verantwortlich ist. Esther war immun gegen Raphaels Manipulationsversuche und hat versucht etwas Schlimmes zu verhindern. Leider ohne Erfolg.“

„Es gibt nur wenige Vampire mit derlei Fähigkeiten“, gab Andre zu bedenken, der immer noch Zweifel zu haben schien bezüglich Esthers Immunität.

„Vielleicht war sie sich selbst dessen gar nicht bewusst. Bei Judith sind wir uns nach all den Jahren immer noch nicht sicher, ob sie einfach nur ein wahnsinnig gutes Gespür für die Gefühle anderer hat, oder ob sie nicht doch Gedanken lesen kann“, merkte Tom an und schaute zwischen dem Paar hin und her. Judith blickte zu ihrem Mann auf und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Tom hatte mit seiner Argumentation nicht ganz unrecht. Judith hatte nie mit Bestimmtheit das eine oder andere bestätigen können.

„Auf jeden Fall sind das alles handfeste Beweise, die wir brauchen werden, wenn es zum Kampf um die Herrschaft kommt. Wenn wir ehrlich sind, wird es früher oder später unausweichlich sein. Es ist keine Frage ob, sondern wann.“

Van hatte mit seiner Behauptung recht, auch wenn Layla es nicht gefiel. Irgendwann wird sie vor die Wahl gestellt werden, ob sie ihren Platz an der Spitze der Vampirgesellschaft annehmen will, ob ihn ihren Bruder überlassen wird. In ihrem Bauch breitete sich ein ungutes Gefühl aus, das sich langsam in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Sie fühlte sich noch nicht bereit für diese Entscheidung. Doch würde sie das jemals wirklich sein?

„Was schlagt ihr vor, was wir als nächstes tun?“ Obwohl Steven nach wie vor kein offizielles Mitglied der Krieger war, wurde er von allen als solches angesehen. Er war ihr Verbindungsglied zur vornehmen Gesellschaft. Zunächst war Steven mit dieser Position nicht sonderlich zufrieden gewesen. Mittlerweile erkannte er aber die Vorteile darin und unterstütze Layla und die Krieger auf eine Art und Weise, wie es nur dem jungen Vampir möglich war. Selbst Judith konnte nicht so frei agieren wie Steven, obwohl sie immer noch durch ihre Familie ein Mitglied der gehobenen Gesellschaft war. Da die hübsche Vampirin mit einem Krieger verheiratet war, übertrugen sich die Vorurteile und Schmähungen der Krieger automatisch auf sie. Dadurch gelangte sie bei Weitem nicht so leicht an Informationen wie Steven.

„Ich schlage vor, wir nehmen Kontakt mit der Familie Teuber auf. Sie können uns mehr über Esther und ihre Arbeit bei den Sakralion erzählen. Ein Versuch ist es zumindest wert“, antwortete Van.

„Ich möchte mir sehr gerne noch einmal die genauen Umstände meiner Aufnahme ins Heim ansehen. Ich werde wohl kaum direkt aus einem brennenden Wagen ins Waisenheim gekommen sein. Und vielleicht kann uns Christph Klennt noch etwas über die genauen Umstände erzählen, wie er in den Besitz des Briefes gekommen ist“, überlegte Layla. Das ungute Gefühl in ihrem Bauch schien etwas nachzulassen aber nicht ganz zu verschwinden.

Steven erhob sich von seinem Stuhl und trat an die Seite seiner Freundin. „Ich werde mich über die Teubers erkundigen. Sobald ich eine Adresse habe, gebe ich sie euch. Ich denke, das sollte nicht allzu schwer sein.“ Layla lächelte Steven herzlich an und griff nach seiner Hand, die sie dankbar drückte. „In der Zwischenzeit werde ich mit Herrn Klennt Kontakt aufnehmen. Er hat mir seine Karte dagelassen und gemeint, ich könne mich jederzeit bei Ihm melden. Scheinbar wird das schneller der Fall sein, als gedacht.“

„Die Akte mit den Unterlagen zu allen Waisenhäusern liegt im Konferenzraum. Ich werde sie mir gleich noch einmal zu Gemüte ziehen. Scheinbar haben wir bisher etwas Wichtiges übersehen.“ Auf seine Worte ließ Van augenblicklich Taten folgen. Geschmeidig erhob er sich aus deinem Sessel und zog seinen Arm um Laylas Mitte weg.

An der Stelle, wo er sie bisher berührt hatte, hinterließ Van eine unangenehme Kälte, die Layla schmerzlich bewusst machte, wie sehr sie sich nach seiner Nähe sehnte. Doch ihre Gefühlt mussten für den Moment hintenanstehen. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Den Vorteil, den Esthers Brief den Kriegern verschaffte, mussten sie ausnutzen. Je mehr sie gegen Raphael in der Hand hatten, desto besser waren sie auf seine nächsten Schritte vorbereitet. Früher oder später würde er wieder auftauchen und die Macht an sich reißen wollen.

 

Nach ihrer kleinen Versammlung hatte sich Steven recht schnell verabschiedet. Er wollte keine unnötige Zeit verschwenden. Je schneller er die notwendige Adresse beschaffte, desto schneller konnten sie weiter voranschreiten.

Das Telefonat mit Christoph Klennt war leider nicht so erfolgsbringend gewesen, wie Layla es sich erhofft hatte. Layla war gemeinsam mit Van hinüber in den Konferenzraum gegangen. Während der Krieger sich in die Unterlagen vertieft hatte, war Layla mit Telefonieren beschäftigt gewesen. Der Anwalt hatte Layla noch einmal bestätigt, dass sich Esthers Brief an sie in einem größeren Umschlag mit den Anweisungen für dessen Verwahrung, befunden hatte. Auf dem großen Umschlag hatte sich zum Bedauern von Herrn Klennt keine Absenderadresse befunden. Um auf Nummer sicher zu gehen, hatte er Layla gebeten einen Moment zu warten, damit er dies noch einmal überprüfen konnte.

In der Zeit hatte Layla Van über die Schulter geschaut und mit den Augen die einzelnen Stationen ihrer Kindheit noch einmal durchgelesen. So auf einem Blatt Papier geschrieben, sah es ziemlich deprimierend aus, in wie vielen Waisenhäusern Layla untergebracht worden war.

„Sind Sie noch dran?“, unterbrach Christophs Stimme Laylas betrübte Gedanken.

„Ja, ich bin noch da“, antwortete Layla mit einem leichten Lächeln im Gesicht. Ihr war klar, wie bemüht der Anwalt war und wie gerne er ihr helfen wollte. „Es ist, wie ich sagte. Auf dem Umschlag ist nur die Adresse meiner Kanzlei zu lesen. Eine Adresse des Absenders ist auf der Rückseite nicht zu finden. Ich gehe davon aus, dass Fräulein Teuber den Brief bereits fertig frankiert hatte, um zu gewährleisten, dass er auch wirklich bei mir ankommt.“

Layla seufzte und ließ die Schultern leicht hängen. „So wird es wohl sein. Danke Herr Klennt, dass Sie sich die Umstände gemacht haben, noch einmal nachzusehen. Ich möchte Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten. Habe Sie noch eine angenehme Nacht.“

„Es ist mir eine Ehre Ihnen behilflich zu sein. Sollten Sie wieder einmal meine Dienste benötigen, scheuen Sie sich nicht, mich jederzeit zu kontaktieren.“

„Das werde ich. Vielen Dank.“

Nachdem Layla das Gespräch beendet hatte, schob sie das Handy in ihre Hosentasche und nahm sich einer der Übersichten aus der Mappe über ihre Familie. „Das war leider eine Sackgasse. Esther hatte den Brief selbst frankiert, um sicherzustellen, dass er auch wirklich in der Kanzlei ankommt.“

Van brummte nur als Antwort, während er weiter in der Mappe blätterte. Als er fertig war, lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dein Kindermädchen war schlau. Sie hatte alles so arrangiert, dass ihr Brief auf jeden Fall in deine Hände gelang, ohne dass jemand anderes etwas davon erfährt. Sie hat die Gefahr zum damaligen Zeitpunkt richtig eingeschätzt. Nur leider hatte ihr die Zeit gefehlt, um wirklich etwas dagegen unternehmen zu können.“

„Stimmt. Außerdem war sie auf sich allein gestellt, da niemand ihre Warnungen ernst genommen hat. Sie hatte keine Beweise und wusste wahrscheinlich nicht, wem sie vertrauen konnte oder wem nicht. Als Kindermädchen war sie nicht in der Position, wirklich etwas auszurichten.“, sponn Layla Vans Gedankengänge weiter. „Hattest du mehr Erfolg beim Durchschauen der Unterlagen?“

Der Krieger schien sich selbst nicht so sicher zu sein, ob er etwas brauchbares gefunden hatte. Van ließ resigniert die Arme sinken und zeigte auf den Namen und die Adresse des ersten Waisenhauses, in dem Layla untergebracht worden war.

„Es ist nicht wirklich ein Hinweis, aber ich denke, wir sollten hier anfangen. Wenn wir Glück haben, arbeitet noch heute jemand in diesem Haus, der schon vor zwanzig Jahren dort war und uns etwas über die näheren Umstände verraten kann. In der Akte des Heims steht dazu nichts.“

„Du meinst, ein persönliches Gespräch könnte uns da weiterhelfen? Ein Versuch ist es wert.“ Layla hatte an das Heim keinerlei Erinnerungen. Sie war noch ein Baby gewesen. Anhand der Liste konnte Layla ablesen, dass sie in den ersten Lebensjahre in drei verschiedenen Heimen untergebracht worden war.

Irgendwo mussten sie mit ihren Nachforschungen anfangen. Bevor sie tatenlos herumsaßen, war das Waisenheim ein guter Ausgangspunkt, von dem aus sie möglicherweise weiter in die Vergangenheit gehen konnten bis zum Autounfall der Sakralions. Vielleicht hatte Steven bis dahin auch schon die Adresse der Teubers für Layla und die Krieger.

Überraschenderweise schlug Van auf einmal die Mappe zu. Normalerweise war der Krieger sehr verbissen, sobald er einmal eine Spur aufgenommen hatte. Er ließ sich nur schwerlich von einem Vorhaben abhalten. Er hatte seine Prinzipien und war sehr gewissenhaft in seiner Arbeit. Darum erstaunte es Layla umso mehr, dass Van scheinbar aufgab.

„Heute kommen wir eh nicht weiter voran. In knapp einer Stunde geht die Sonne auf und zwingt uns dazu, im Haus zu bleiben. Wir haben alles getan, was im Moment möglich ist.“ Van schob seinen Stuhl zurück und verstaute die Mappe mit den Unterlagen wieder sicher im Schrank in der Ecke, wo auch die Technik untergebracht war.

Mit wenigen Schritten war er zurück bei Layla und blieb nur wenigen Zentimeter vor ihr stehen. Er griff nach ihren Händen und strich beruhigend mit den Daumen über die Handrücken. Für einen Moment schloss Layla die Augen und atmete tief durch, während sie einfach die Berührung genoss.

„Lass uns zu Bett gehen. Das war eine anstrengende Nacht für dich. Morgen können wir da weitermachen, wo uns im Moment die Hände gebunden sind.“

Layla schaute zu ihrem Krieger mit den ungewöhnlichen hellen Augen auf. Auf jeden anderen wirkten sie bedrohlich. Nur sie konnte die unausgesprochenen Worte in ihren lesen, die nur für sie bestimmt waren.

„Das klingt gut“, murmelte Layla und ließ sich von Van aus den Konferenzraum durch die Eingangshalle und in seine privaten Zimmer führen.

 

Markus stand auf der Charlottenbrücke und ließ seinen Blick über die ruhig fließende Havel schweifen. Ein eisiger Januarwind peitschte um den jungen Vampir herum und brachte seine pechschwarzen kurzen Haare durcheinander. Doch Markus ließ sich von der Kälte nicht beirren.

In den letzten Wochen war er dazu verdammt gewesen, still abzuwarten und auf ein Zeichen von Raphael so hoffen. Nach dem plötzlichen Verschwinden des Vampirs hatten sich alle in einer Ohnmacht befunden, die noch andauerte. Eine Ohnmacht, die Markus zum Nichtstun verdammte und seine eigenen Pläne ins Stocken brachte.

So wie Raphael von der Bildfläche verwunschen war, so war auch Layla aus Markus direkten Umfeld verschwunden. Was genau zu Raphaels Rückzug geführt hatte, konnte oder wollte niemand sagen. Selbst der treue Begleiter des Vampirs hüllte sich in bedächtiges Schweigen. Was Markus Ungemach gegen diesen hochnäsigen Kerl noch verstärkte.

Ohne die kleinste Regung von sich zu geben, bemerkte Markus, dass er nicht länger alleine war. Der Wind wehte den Geruch des Vampirs direkt in Markus Richtung. Er hatte gehofft, dass dieses Treffen zustande kam, ohne sich falschen Illusionen hinzugeben. Wenn Markus eines in den letzten Monaten gelernt hatte, dann war es, sich niemals seiner Sache zu sicher zu sein. Und schon gar nicht, sich anschließend seine Enttäuschung anmerken zu lassen.

„Hast du etwas von ihm gehört?“, fragte Markus weiterhin den Blick stur gerade aus auf die Havel gerichtet. Der Vampir hinter ihm trat an die Brücke und lehnte sich mit den Rücken an das Stahlgeländer. Die Hände hatte Will in den Taschen seines Mantels vergraben.

Die beiden Männer sahen sich nicht an, sondern blickten in die jeweils entgegengesetzte Richtung.

„Er beobachtet die aktuellen Entwicklungen und weißt uns an, abzuwarten. Es wird der passende Zeitpunkt kommen, um unsere Pläne wieder aufzunehmen“, antwortete Will sachlich wie immer. Dieser Mann trug sein für ihn typisches ausdruckloses Gesicht zur Schau. Ein Gesicht, das Vertrauen vortäuschte und die Personen, denen er sich näherte, in Sicherheit wog.

„Und wann soll dieser Zeitpunkt sein?“

„Es wird nicht mehr lange dauern. Raphael wird sich bei dir melden. Er weiß genau, was er tut.“

Markus stieß zweifelnd die Luft aus. Wusste der Vampir wirklich, was er tan? Markus hatte inzwischen so seine Zweifel. Mit der Offenbarung von Laylas Abstammung hatten Raphael und seine Untergebenen einen großen Schritt gewagt und damit den Stein ins Rollen gebracht. Wenn sie zu lange warteten, würde ihnen der dadurch entstandene Vorteil wohlmöglich abhandenkommen.

„Hast du etwa Zweifel?“ Nun wandte sich Will doch Markus zu und musterte den jungen Vampir prüfend. Statt sich dem wachsamen Blick von Raphaels rechter Hand zu stellen, zeigte sich Markus vollkommen unberührt.

„Natürlich zweifle ich nicht an Raphael oder unserem Vorhaben. Ich denke nur, dass die Zeit gegen uns spielen wird, je länger wir warten.“

Will blieb seinem Gegenüber eine Antwort schuldig. Stattdessen blieben die beiden Männer mehrere Minuten schweigend nebeneinander stehen und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

„Du bist noch jung. Mit den Jahren wirst du noch lernen, wie gut es ist, abzuwarten. Halte dich bereit.“

Ohne sich zu verabschieden, entfernte Will sich von der Brücke.

Der Wind erfasste erneut die Enden von Markus Kurzmantel und ließen diese um seine Oberschenkel peitschen. Mit der Hand schob sich der Vampir einige schwarze Strähnen aus den Augen. Seine grauen Augen verengten sich, während er darüber nachdachte, was er als nächstes tun sollte. Ihm standen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung.

Entweder er richtete sich nach Wills Anweisung und hielt sich weiterhin bedeckt und wartete ab, bis sich Raphael irgendwann dazu entschloss, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Oder er würde selbst aktiv werden. So sehr er Layla auch verabscheute und sie am liebsten auf dem Boden liegend vor seinen Füßen sehen wollte, wusste er doch sehr gut, dass sie sein Sprungbrett zum Erfolg sein konnte. Ihre Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, was es Markus erschwerte an sie heranzukommen. Trotzdem war sie bei den Abendgesellschaften an seiner Seite gesehen worden. Somit brachten die Vampire ihn in direkten Zusammenhang mit der Sakralionerbin. Ein Zustand, den Markus definitiv für sich nutzen wollte.

Der Einzige, der sehr wahrscheinlich auch jetzt mit Layla in Kontakt stand, war Steven Herada. Noch eine Person, die Markus für unwürdig erachtete und der er am liebsten keinerlei Beachtung schenken würde. Doch um an sein ganz persönliches Ziel zu gelangen, würde er seine Meinung überdenken und sich von seiner besseren Seite zeigen müssen.

Steven würde seine Verbindung zu Layla sein. Und Layla würde ihn in die Position bringen, die er für sich als selbstverständlich ansah. An der Spitze der gehobenen Gesellschaft, wo nur wenige Vampire ihren Platz hatten.

Natürlich könnte er diese Position auch über Raphael erreichen. Markus empfand es mittlerweile aber nicht mehr als sonderlich klug, sich allein darauf zu verlassen. Es war immer gut, seine Möglichkeiten abzuwägen und mehrere Trümpfe in der Hand zu haben. Er musste selbst dafür sorgen, dass er das bekam, was er wollte. Und von jetzt an, würde er dieses Ziel rigoros verfolgen.

 

Kapitel 5

 

Es hatte definitiv seine Vorzüge, dass in der kalten Jahreszeit die Sonne sehr viel früher unterging, als im Sommer. Besonders, wenn man jedem Sonnenstrahl unbedingt entgehen sollte, außer man wollte unsägliche Scherzen erleiden.

Van und Layla saßen im Mercedes des Kriegers und ließen Berlin in Richtung Potsdam hinter sich. Nachdem sie ausgeschlafen hatten, hatten sie die restlichen Sonnenstunden damit verbracht, zahlreiche Telefonate zu führen. Sie hatten die Heime aus Laylas ersten Lebensjahren kontaktiert und versucht, mit jemanden zu sprechen, der schon damals in den Kinderheimen tätig gewesen war. Die ersten Gespräche waren ziemlich ernüchternd gewesen. Vom alten Kollegium waren die meisten schon lange in Rente oder verstorben. Trotzdem hatten Layla und Van nicht aufgegeben. Selbst wenn die damaligen Erzieherinnen nicht mehr in ihrem Beruf tätig waren, bestand immer noch die Möglichkeit sich mit ihnen in Kontakt zu setzen.

Allerdings hatten die beiden Vampire nicht mit der Beharrlichkeit einiger Heimmitarbeiterinnen gerechnet, die größten Wert auf Datenschutz legten. Einer der Damen war in einem Nebensatz herausgerutscht, dass es nach einem Datendiebstahl verschärfte Sicherheitsmaßnahmen gab.

Layla hatte dafür natürlich Verständnis gezeigt und gleichzeitig einen Blick in Vans Richtung geworfen, der nur die Schultern hochgezogen hatte. Nachdem das Gespräch beendet war, hatte der Krieger sofort dagegen argumentiert, dass sie nicht dafür verantwortlich waren. „Andre geht viel zu vorsichtig mit sensiblen Daten um und riskiert nicht irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Ich tippe eher darauf, dass es sich dabei um die Untergebenen von Raphael handelt.“

„Das will ich gar nicht anzweifeln. Trotzdem stehen wir immer noch ohne eine Adresse da. Wäre es möglich, dass sich Andre damit beschäftigen könnte. Ich bin mir sicher, er findet sehr viel schneller die gesuchten Adressen der Heimmitarbeiterinnen heraus als wir.“

Van hatte sich sofort auf den Weg zu seinem Kameraden gemacht, als Layla die Nummer des letzten Kinderheims in ihr Handy tippt hatte. Es war das Heim, in dem sie als erstes untergebracht worden war. Eigentlich hätten sie gleich mit diesem Heim anfangen sollen, doch innerlich hatte Layla etwas davon abgehalten. Jetzt war ihr keine andere Wahl mehr geblieben. Mit einem tiefen Seufzer hatte Layla das Handy an ihr Ohr gelegt und dem Tuten gelauscht, als sich eine leicht kratzige Frauenstimme gemeldet hatte.

„Kinder- und Waisenheim Waldberg, Sie sprechen mit Frau Waldberg.“

Layla hatte nicht erwartet, dass die Heimleiterin persönlich abnehmen würde. Ein nervöses Kribbeln hatte sich in der Vampirin ausgebreitet. Als hätte ihr Körper etwas sagen wollen, dass ihr Verstand nicht hatte verstehen wollen.

„Schönen guten Tag, Frau Waldberg. Hier spricht Layla Kub.“ Ein bedrückendes Schweigen war am anderen Ende der Leitung entstanden, weshalb Layla schnell weitergesprochen hatte. „Ich rufe an, weil ich damals in ihrem Kinder- und Waisenheim untergebracht worden war. Ich möchte gerne mehr über meine Herkunft in der Fahrung bringen und wollte wissen, ob es möglich wäre Sie persönlich zu sprechen. Oder ob noch weitere Mitarbeiterinnen von damals in Ihrer Einrichtung tätig sind?“

Das Schweigen hattet weiter angehalten, bis sich ein Räuspern aus Frau Waldheims Hals gestohlen hat und sie scheinbar ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Es kommt selten vor, dass sich frühere Heimkinder bei uns melden. Besonders wenn sie in einem so zarten Alter zu uns kommen.“ Die Skepsis war der Frau deutlich anzuhören gewesen. Bevor sie es sich hatte anders überlegen konnten, hatte Layla weiter auf sie eingeredet.

„Wäre es möglich, dass ich heute am frühen Abend bei Ihnen vorbeikommen kann? Ich und mein Partner befinden uns derzeit in der Nähe von Potsdam. Ich möchte diese Gelegenheit ungern verstreichen lassen.“

„Heute Abend…“

„Würde Ihnen fünf Uhr passen?“

„Wenn ein anderer Termin nicht möglich ist.“, hatte die Heimleiterin zögerlich eingelenkt.

„Wunderbar. Wir werden pünktlich bei Ihnen sein.“

Genau auf diesem Weg befanden sich Layla und Van. Als kurz vor vier Uhr die letzten Sonnenstrahlen am Horizont von einer dicken Wolkenschicht verschluckt wurden waren, hatten die beiden Vampire das Anwesen verlassen.

Als sich Layla und Van dem Kinderheim näherten, baute sich von ihnen ein wenig einladendes graues Gebäude mit drei Stockwerken auf, das seine besten Zeiten schon sehr lange hinter sich hatte. Vermutlich hatte das Haus schon zu Laylas Zeiten so heruntergekommen ausgesehen. Wie sich ein Kind in solch einer Umgebung wohl und geborgen fühlen sollte, erschloss sich Layla nicht. Vielleicht schafften es aber die Mitarbeiterinnen des Heims den Kindern ein gewisses Gefühl von Zuhause zu vermitteln. Zumindest konnte die junge Frau es den Kindern nur wünschen.

Van schien einen ganz ähnlichen Eindruck von dem Kinderheim zu haben. Layla konnte es an seinen Augen ablesen. Dem Krieger missfiel eindeutig die Verstellung, dass Layla eine Zeitlang hier gelebt hatte.

„Die wenigstens Kinderheime machen auf den ersten Blick einen einladenden Eindruck“, meinte Layla und umrundete den Mercedes.

„Und du glaubst, dass es im Inneren wesentlich besser wird?“ Layla zuckte mit den Schultern und ging die drei Treppenstufen zum Eingang hinauf. Van war direkt hinter ihr. Die Gewissheit, dass er die ganze Zeit bei ihr sein würde, gab Layla die nötige Kraft, die sie für das kommende Gespräch brauchte.

Die Klingel schallte über das ganze Gelände. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, besonders für einen Vampir, bis sich die Tür öffnete und eine untersetzt wirkende Frau mittleren Alters hinaussah. „Die Besucherzeit ist bereits beendet“, säuselte sie und war bereits im Begriff die Tür wieder zu schließen. Sofort schob Layla ihren Fuß in die Tür. „Bitte verzeihen Sie. Wir haben einen Termin mit Frau Waldheim. Ich bin sicher, sie erwartet uns bereits. Mein Name ist Layla Kub.“

Die untersetzte Frau nickte schwach und öffnete die Tür wieder, damit Layla und Van eintreten konnten. „Normalerweise macht die Leiterin so spät keine Termine mehr. Bitte folgen sie mir.“ Mit schlürfenden Schritten ging die Mitarbeiterin den langen Flur entlang und wandte sich dann in eines der hinteren Zimmer auf der linken Seite.

Währenddessen schweifte Laylas Blick den tristen Flur entlang. Die Wände waren früher einmal in einem freundlichen zarten Gelb gestrichen gewesen. Doch die Zeit hatte ihm einen unschönen gräulichen Schleifer verpasst. Hier und da hingen gerahmte Bilder, die verschiedene Blumen zeigten. Aus den oberen Stockwerken waren die Stimmen der Kinder zu hören. Es waren Gespräche, vereinzeltes Lachen und das Hantieren mit Spielsachen zu hören. Trotzdem wollte sich kein wirklich einladendes Gefühl in Layla bemerkbar machen. Mit einem kurzen Blick über die Schulter erkannte Layla, dass sich Vans Meinung über das Heim kein bisschen gebessert hatte. Sein Blick war eher noch skeptischer und ablehnender geworden.

„Die zweite Tür dort ist das Büro von Frau Waldheim. Ich muss mich um die Kinder kümmern. Den Weg hinaus werden Sie sicher alleine finden.“ Bevor Layla etwas antworten konnte, schlürfte die Frau bereits wieder den Flur hinunter und verschwand die Treppe hinauf in den ersten Stock.

„Wenn du mich fragst, ist es gut, dass du dich hieran nicht mehr erinnern kannst. Kein Wunder, dass viele Heimkinder ihr Leben lang damit zu kämpfen haben, dass sie in so einer Umgebung aufgewachsen sind“, raunte Van und strich verächtlich mit den Fingern über die Wand. „Es gibt auch schönere Heime“, versuchte Layla Vans Meinung etwas abzumildern, obwohl sie ähnlich dachte. „Gibt es bei den Vampiren keine Waisenkinder oder Kinderheime?“ Die Frage hatte sich Layla nie gestellt. Doch Vans Reaktion machte sie neugierig.

„Entweder werden die Kinder von anderen Familienmitgliedern aufgenommen, oder…“, Van zögerte weiterzusprechen. Alarmiert drehte sich Layla zu ihm um. „Oder was?“

Van streckte die Hand aus und legte sie an Laylas Gesicht. Es bereitete ihm keine Freude ihr zu antworten, trotzdem tat er es, wenn auch widerwillig. „Es droht ihnen das gleiche Schicksal wie dir, wenn wir dich nicht durch Zufall gefunden hätten. Vampirkinder wirken vor ihrer Erwachung wie gewöhnliche Menschenkinder. Sie wachsen normal, essen normal und können sich ohne Folgen dem Sonnenlicht aussetzen, obwohl sie es meistens nicht unbedingt mögen. Wenn bei diesen verlassenen Vampirkindern die Erwachung einsetzt und niemand für sie da ist, der ihnen Blut gibt, dann sterben sie dabei. Ohne, dass jemand weiß, dass sie überhaupt zu unserer Gesellschaft gehört haben.“

Layla musste schwer schlucken. Sie hatte ebenfalls nicht gewusst, dass sie eine Vampirin war. Wäre sie nicht von einer Gruppe Süchtiger angegriffen worden und die Krieger hätte sie nicht mit sich genommen, wäre sie gestorben.

„Denk jetzt nicht daran. Wir sind aus einem anderen Grund hier.“ Layla legte ihre Hand auf Vans, schloss kurz die Augen und atmete tief durch, wobei sie Vans intensiven Duft nach Leder und Moschus inhalierte. Gestärkt ließ sie ihrer beide Hände fallen, wandte sich der Tür zu und klopfte an.

„Herein.“

Das Büro war klein. Die Wände waren zugestellt mit unzähligen Aktenschränken, auf denen sich Unterlagen türmten. Die hintere Wand nahm beinahe komplett ein großes Fenster ein, dass den Blick in den Garten ermöglichte. Im Moment gab dies keinen sonderlich schönen Anblick, doch wenn alles grün war, konnte es sehr einladend sein. Der Schreibtisch der Heimleiterin stand im hinteren Teil des Büros, sodass sie immer mal wieder einen Blick aus dem Fenster werfen konnte, vermutete Layla.

Als Layla und Van eintraten, erhob sich eine alte Frau mit kurzen mausgrauen Haaren und einer Hornbrille auf der Nase. Die Frau war noch kleiner als Layla und recht füllig. Sie streckte Layla die Hand entgehen und griff fest zu, als sich Layla ihr näherte. Ein prüfender Blick wanderte von oben nach unten und wieder zurück. Als sich Frau Waldheim Van zuwandte, wurden ihre kleinen Augen kurz etwas größer, bis sie auch ihm einer gründlichen Inspektion unterzog. Sie schien sich schnell ein Urteil über Van zu bilden und wandte sich wieder Layla zu. Die vergangenen Jahre hatten Spuren im Gesicht der Heimleiterin hinterlassen. Tiefe Falten zierten die Augen- und Mundpartie.

„Ich bin sehr froh, dass es mit dem Treffen geklappt hat. Wir möchten Ihre wertvolle Zeit nicht länger als nötig in Anspruch nehmen, darum möchte ich gerne gleich zur Sache kommen“; ergriff Layla das Wort.

„Dann sind wir uns, was das angeht, einig“, antwortete Frau Waldheim mit dem gleichen deutlichen Kratzen in der Stimme, dass Layla bereits am Telefon wahrgenommen hatte. Die Vampirin konnte den Gestank von kaltem Rausch wahrnehmen und entdeckte bei genauerer Betrachtung des Schreibtisches eine Schachtel Zigaretten unter den Unterlagen vor schauen.

„Nehmen Sie Platz.“ Mit der Hand deutete Frau Waldheim auf die zwei Stuhle vor ihrem Schreibtisch. Normalerweise saßen hier die möglichen Adoptiveltern. Als Kind hatte sich Layla so sehr gewünscht, auch einmal mit ihrer neuen Familie im Büro der Heimleitung zu sitzen. Einmal war es sogar fast soweit gewesen. Nach wenigen Tagen war Layla allerdings von ihren möglichen Adoptiveltern wieder zurück ins Heim gegeben worden. Eine der zahlreichen Erinnerungen aus ihrer Jugend, die Spuren auf ihrer Seele hinterlassen hatten.

Der Krieger wirkte auf dem Stuhl vollkommen deplatziert. Dieser war für seine Statur viel zu klein und gab ein gefährlich knacksendes Geräusch von sich. Van achtete nicht weiter darauf, sondern richtete seinen strengen Blick auf Frau Waldheim. Seine Unterarme legte er auf seinen kräftigen Beinen ab und verschränkte seine Finger ineinander. Er war hauptsächlich zu Laylas Unterstützung hier und wollte nur eingreifen, falls es für sie zu anstrengend und emotional wurde. Oder wenn sich die Heimleiterin weigern, sollte ihnen die notwendigen Informationen zu geben.

„Nach meiner bisherigen Recherche, war dies das erste Waisenheim, in das ich untergebracht worden war. Frau Waldheim, Sie müssen mir alles erzählen, woran Sie sich erinnern können. Ich muss die genauen Umstände meiner Ankunft hier erfahren. Wer hat mich hierhergebracht und gab es irgendwelche Angaben über meine Familie?“ Layla versuchte ruhig und sachlich zu bleiben, doch es fiel ihr nicht leicht. Sie spürte wie ihre Hände vor Nervosität feucht worden. Unruhig spielte sie mit ihren Fingern, um ihre innere Anspannung etwas Raum zu geben.

„Sie waren schon ein ungewöhnliches Kind. Die ganzen Umstände waren ungewöhnlich, obwohl wir hier täglich so einiges erleben.“

„Wie meinen Sie das?“, hakte Van nach, bevor Layla reagieren konnte. Die Heimleiterin warf dem Krieger einen kurzen Blick aus dem Augenwinkel zu, bevor sie sich wieder an Layla wandte. Gerade als die Heimleiterin zu einer Erklärung ansetzten wollten, erfasste sie ein kräftiges Husten, dass ihren gesamten Körper erschütterte. Layla erhob sich augenblicklich, vermutlich sogar viel zu schnell, von ihrem Stuhl und reichte der älteren Frau ein Glas mit Wasser, das auf dem überfüllten Schreibtisch stand. Dankbar ergriff Frau Waldheim das Glas und nahm mehrere kleine Schlucke, bis die Nachwehen des Hustenanfalls abebbten.

Ihren zweiten Versucht startete die Heimleiterin mit einem lauten Räuspern und richtete den Blick wieder auf Layla. „Ich erhielt in den frühen Morgenstunden einen ziemlich aufgeregten Anruf. Eine Frau Schreiber redete völlig mit den Nerven am Ende auf mich ein. Sie habe ein weinendes Baby auf der Türschwelle gefunden, das sich einfach nicht beruhigen lasse. Natürlich dachte ich zunächst an einen Scherz. Doch als ich nach den weiteren Umständen fragte, erwiesen sich ihre Angaben als richtig. Ich wies sie an, die Polizei zu verständigen und machte mich anschließend selbst auf den Weg zu der Frau.“

Layla und Van tauschten einen kurzen Blick. Dass die Polizei ebenfalls in der Geschichte involviert war, hatten die beiden bisher nicht gewusst.

„Als ich bei dem Haus ankam, fand ich eine Frau vor, die mit den Nerven am Ende war. Die Polizei war ebenfalls eingetroffen und bombardierte die arme Frau mit unzähligen Fragen, die sie alle nicht hatte beantworteten können. In meiner Funktion als Heimleiterin hatte ich schon einige Kinder, die im Zusammenhang mit polizeilichen Ermittlungen standen, aufgenommen und mich um sie gekümmert. Sowohl die Polizei, besonders aber Frau Schreiber, waren mehr als erleichtert gewesen, als ich eingetroffen ar und die Versorgung des Babys übernommen hatte.“

Layla hatte sich während Frau Waldheims Bericht immer weiter aufgesetzt und hockte inzwischen nur noch auf der Stuhlkante, begierig auf jede Information. Zum ersten Mal erhielt die junge Frau eine genaue Vorstellung von ihrem Auffinden. Bisher hatte sie nur immer zu hören bekommen, dass sie gefunden und in ein Kinderheim gegeben worden war. Über die näheren Umstände hatte sie nie jemand aufgeklärt.

Ein unruhiges Kribbeln breitete sich in Layla aus. Als würde sie bereits wissen, dass sie der eigentlichen Wahrheit immer näher kam. „Bitte erzählen Sie weiter. Was ist dann passiert?“, hakte Layla weiter.

Frau Waldheim seufzte und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie schien die damaligen Ereignisse noch einmal zu durchleben. Gedankenverloren griff sie nach der Zigarettenschachtel und zündete sich eine der dünnen Zigaretten aus. Als sie den Rauch ausstieß, erzählte sie weiter.

„Es war schon ein sehr spezieller Fall, weshalb ich mich so gut daran erinnere. Ich fand ein kleines Mädchen von nicht einmal einem Jahr vor. Es war in eine beige Kaschmirdecke gewickelt und trug das feinste Spitzenkleidchen, dass ich je gesehen hatte. Das Gesichtchen war ganz rot vom Weinen. Es hatte sich inzwischen etwas beruhig, weil es zu erschöpft war, um weiter zu weinen.“

„Was haben die polizeilichen Ermittlungen ergeben?“, erkundigte sich Van, als die Heimleiterin eine Pause machte, um einen weiteren Zug von ihrer Zigarette zu nehmen. Ob mit Absicht oder nicht, blies sie Van den Rauch direkt ins Gesicht, bevor sie ihm antwortete. „Die Polizei tappte im Dunkeln. Sie versuchten zwar herauszufinden, wer das Baby auf Frau Schreibers Schwelle abgelegt hatte, allerdings blieben sämtliche Ermittlungen ergebnislos.“

Kein Wunder, dass Layla und die Krieger bisher nichts Brauchbaren in den Polizeiakten gefunden hatten. Wie hätten sie auch etwas finden sollen, wenn die Sachlage damals so dünn gewesen war. Der Unfall der Sakralions hatte nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Auftauchen eines weinenden Babys zu tun gehabt. Zudem waren keine Leichen auffindbar gewesen, sondern nur die wenigen zurückgebliebenen Spuren der Explosion. Selbst innerhalb der Vampirgesellschaft hatte es nur Vermutungen und Gerüchte über die Geschehnisse gegeben, statt harter Fakten.

„Haben Sie die Adresse von Frau Schreiber noch?“, fragte der Krieger. Van ließ sich seine wahren Gefühle nicht anmerken. Selbst den Rauch, den er direkte ins Gesicht bekommen hatte, ignorierte er vollkommen.

„Die Adresse müsste in der Akte zu Frau Kub stehen.“

„Woher stammt eigentlich mein Nachname?“ Layla hatte ihren bisherigen Namen nie hinterfragt. Ihren Vornamen kannte sie von dem silbernen Armband, das dank Van wieder ihr linkes Handgelenk schmückte. Doch ihren recht ungewöhnlichen Nachnamen hatte sie akzeptiert, wie so vieles andere.

„Den Namen habe ich Ihnen gegeben. Ihre genaue Herkunft war und blieb unbekannt, daher blieben Sie auch nach Abschluss der Ermittlungen in der Obhut dieses Heimes“, dabei machte Frau Waldheim eine ausladende Handbewegung, die das ganze Büro und den Garten umfasste. Layla bedauerte es beinahe, dass sie keinerlei Erinnerungen an dieses Kinderheim hatte. Möglicherweise wäre es ganz schön gewesen, hier aufzuwachsen. Aber es war anders für sie gekommen.

„Vor wenigen Tagen habe ich einen Brief übergeben bekommen, der persönlich an mich adressiert war. Dieser Brief war in einen größeren Umschlag verpackt gewesen. Können Sie uns etwas dazu sagen?“, setzte Layla das Gespräch fort.

Nickend zog die Heimleiterin ein letztes Mal an ihrer Zigarette, bevor sie diese in einem Aschenbecher, der versteckt unter der Tischplatte stand, ausdrückte. „Frau Schreiber kam zwei Tage nach unserem ersten Aufeinandertreffen in ihrem Haus zu mir. Sie hatten einen großen Umschlag dabei, der bei dem Baby, also Ihnen, gelegen haben soll, als sie sie gefunden hatte. Die arme Frau wusste nichts damit anzufangen und überließ mir den Brief. Da er an eine Anwaltskanzlei gerichtet und bereits frankiert war, hielt ich es für das Klügste ihn in den Briefkasten zu werfen. Schaden konnte es nicht, dachte ich mir damals.“

„Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Der Inhalt des Briefes hat mir sehr geholfen.“ Layla rutschte auf ihren Stuhl zurück, bis sie mit dem Rücken die Lehne berührte. Sie hatte sich die Hand auf die Brust gelegt und lächelte Frau Waldheim dankbar an, die es ebenfalls mit einem Lächeln erwiderte.

„Eins würde mich noch interessieren“, unterbrach der Krieger die stille Übereinkunft der beiden Frauen. Sofort richteten sich deren Blick auf Van. „Sie meinten zu Beginn unseres Gesprächs, Layla wäre ein ungewöhnliches Kind gewesen. Was genau haben Sie damit gemeint?“

Daran hatte Layla gar nicht mehr gedacht. Sie war so von ihren Gefühlen übermannt worden, dass sie dankbar für Vans Anwesenheit und seinen kühlen Kopf war.

„Layla weinte viel, besonders wenn sie in der Sonne lag. Wir konnten uns das nicht erklären und legten sie irgendwann nur noch in den Schatten, wenn sich die Kinder und ihre Betreuer im Garten aufhielten. Sie nahm auch nur sehr wenig Milch zu sich, weshalb wir uns große Sorgen machten, sie zu verlieren.“

„Warum wurde ich dann in ein anderes Heim gegeben?“

„Sie sind noch jung und werden vielleicht irgendwann selbst die Erfahrung machen, dass Kinder manchmal gemein sein können und spüren, wenn etwas anders ist.“

„Diese Erfahrung habe ich schon vor vielen Jahren gemacht“, murmelte Layla und ließ kurz den Kopf hängen, bevor sie innerlich gestärkt wieder den Blick hob. Ein wissender Ausdruck schlich sich in das Gesicht der älteren Frau.

„Ich hielt es für das Beste, Sie in einer anderen Einrichtung unterzubringen. Einem Kinderheim, dass sich auf besondere Kinder spezialisiert hatte.“ Die Bezeichnung besondere Kinder war nett gemeint. Darunter konnte jedoch alles Mögliche fallen.

Layla nickte und ging in Gedanken noch einmal all ihre Fragen durch, die sie der Heimleiterin hatte stellen wollen. „Ich denke, Sie haben uns alles gesagt was wir wissen wollten. Wären Sie so freundlich, uns noch die Adresse von Frau Schreiber zu geben.“, beendete Layla ihren Besuch im Kinderheim. Etwas ungelenk erhob sich Frau Waldheim aus ihrem Stuhl und trat an einen der Aktenschränke. Bevor sie einen Blick auf die vielen Akten warf, schob sie ihre Hornbrille die Nase hoch. Die zweite Akte vom Stapel trug Laylas Namen. Nach einigen Blättern war der gewünschte Vermerk gefunden und Van tippte die Adresse in sein Handy.

„Nach einmal vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.“ Zum Abschied reichte Layla der Heimleiterin ihre Hand, die die alte Frau mit beiden Händen ergriff. Ihre warmen Finder schlossen sich fest um Laylas Hand.

„Ich habe immer nur das Beste für jedes meiner Kinder gewollt und ihm versucht, die beste Zukunft zu ermöglichen. Es freut mich zu sehen, dass es Ihnen offensichtlich gelungen ist Ihren Weg im Leben zu finden. Wenn Sie mich so anschauen, blicke ich wieder in die großen grünen Augen des kleinen Mädchens, das ich damals aufgenommen habe.“ Die kleinen Augen hinter der Hornbrille bekamen einen feuchten Glanz. Gerührt legte Layla ihre andere Hand auf die von Frau Waldheim und beugte sich leicht zu der Frau hinunter.

„Ich habe zwar lange gebraucht, um meinen Platz im Leben zu finden. Aber ich denke, ich habe ihn gefunden oder bin auf dem Weg dahin. Vielen Dank für alles.“

Als Layla und Van den langen Flur entlang gingen, spürten sie den Blick der kleinen rundlichen Frau in ihren Rücken. In dem Gespräch hatte das Paar viel Neues erfahren und einen neuen Anhaltspunkt für ihre Suche erhalten. Ihr Abstecher in die Nähe von Potsdam war noch nicht zu Ende.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2020

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