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Götterschicksal

Der Hut saß um einiges schiefer auf seinem Kopf als gewollt. Die Krempe war geknickt und hielt nur notdürftig den stetig niederprasselnden Regen ab. Im Mundwinkel glühte immer wieder das Ende einer Zigarette auf. Vom der schwachen Straßenlaterne einmal abgesehen, war dies nahezu das einzige Licht in dieser dunklen Seitenstraße.

Wenn die Polizei nicht bald eintraf, würde der Regen auch die letzten noch brauchbaren Spuren davonspülen.

Detektiv Stone hatte sich bereits sein eigenes Bild von dem verübten Verbrechen gemacht. Die dunklen Augenbrauen kniff der Mann verärgert zusammen, während er versuchte herauszufinden, was wirklich in den letzten Stunden an diesem verlassenen Ort passiert war.

Auf den ersten Blick sah alles nach einem typischen Raubüberfall mit Todesfolge aus, wie er nahezu täglich in den Straßen von Chicago passierte. Nur wer einen genauen Blick auf die Leiche warf, konnte erkennen, dass an diesem Verbrechen nichts Normales war.

Mit seinem Bleistift hatte Stone die nasse Bluse der Toten etwas angehoben und einen dunklen Fleck auf ihrer linken Brust entdeckt. Dieser Fleck, wie er nur bei einer Verbrennung zurück blieb, war jedoch nur auf der Haut der Leiche zu finden. Auf der Bluse und der Jacke war keine Spur von einer Verletzung zu finden.

Außerdem ließ dem Detektiv, der verschreckte Blick, mit den bereits getrübten weit aufgerissenen Augen, keine wirkliche Ruhe. Auch wenn Stone im Moment nichts Ungewöhnliches daran auffiel, blieb dem Detektiv dieses Detail im Hinterkopf. Tote hatten oft einen verschreckten Gesichtsausdruck, besonders wenn es sich um Mord handelte. Der Blick der toten Frau vor ihm, war aber anders.

In seine Gedanken vertieft und mit einem angespannten Gesicht, wandte Detektiv Stone dem Szenario den Rücken zu. Unachtsam, da es ohnehin niemanden von der Polizei auffallen würde, schnippte er seine Zigarettenstummel weg, vergrub die Hände in den tiefen Taschen seines wehenden Mantels und machte sich auf den Weg in sein Büro.

Am Morgen war eine überaus attraktive junge Frau bei ihm gewesen und hatte ihm erzählt, dass in naher Zukunft ein überaus ungewöhnlicher Mord passieren würde.

Natürlich hatte er der Aussage der Frau nur wenig Glauben geschenkt, sich ihr gegenüber aber respektvoll verhalten, schließlich wollte kein Mann das Vertrauen einer schönen Frau verschenken.

Als er jetzt, trotz des miesen Wetters, durch die überfüllten Straßen von Chicago schritt, musste er zugeben, dass er falsch gelegen hatte. Dieser vermeintliche Raubmord war ungewöhnlich, in mehrfacher Hinsicht.

Seine Klientin hatte ihm die Wahrheit gesagt. Doch wie hatte sie von dem Mord wissen können? War sie vielleicht selbst darin verwickelt?

Stone musste diese Frau ausfindig machen. Sie war momentan sein einziger Anhaltspunkt, der zur Lösung dieses seltsamen Falls beitragen konnte. Zu seinem Bedauern wusste Stone jedoch kaum etwas von der Frau. Er hatte den Fall nicht ernst genommen und sich deswegen keine Notizen gemacht.

Ihm blieb nur die Möglichkeit, nach ihr Ausschau zu halten. So eine Frau lief einen schließlich auch nicht alle Tage über den Weg. Sie hatte dunkle gewellte Haare, die zu einem eleganten Knoten hochgesteckt wurden waren. Ihre Lippen hatten durch den roten Lippenstift voll und provozierend gewirkt. Ihr ganzes Auftreten war elegant aber zurückhaltend gewesen. Was Hole jedoch am deutlichsten in Erinnerung geblieben war, waren die Augen dieser Frau. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, welche Farbe sie hatten. Auf jeden Fall hatten sie eine Wirkung auf den Detektiv gehabt, die sich seinem Wissen entzogt.

Wahrscheinlich hatte er nur deswegen den Fall mehr oder weniger übernommen.

 

In seinem Büro angekommen hängte er seinen Hut und den Mantel an den Kleiderständer. Die Kleider waren so durchnässt, dass sie auf den abgenutzten Fußboden tropften. Auf dem Weg zu seinem Schreibtisch zündete er sich eine neue Zigarette an und zog einmal kräftig daran.

Sein Tisch war von Papieren überfüllt, sodass nur er überhaupt einen Überblick hatte. Der Stuhl protestierte lautstark, als sich Stone auf ihm niederließ.

Viele Anhaltspunkte gab es nicht, um der Aufklärung des Falls näher zu kommen. Als er den Tatort verlassen hatte, war die Polizei immer noch nicht vor Ort gewesen, was seine Hoffnungen, weitere Informationen von seinem Kontakt zu erhalten, nahezu in Rauch auflöste. Der Regen hatte den Beamten kaum etwas übrig gelassen, was sie oder ihn auf die Spur des Mörders bringe würde.

„Wollen wir mal sehen“, knurrte Stone und legte seine Zigarette im überfüllten Aschenbecher ab.

Der Tatort an sich hatte es keinen Hinweis auf den Täter gegeben. Stone hatte sich alles ganz genau angesehen und nicht das kleinste Indiz gefunden. Mögliche Schuhabdrücke im Deck der Seitenstraße hatte der Regen weggespült. Die zahllosen Zigarettenstummel und anderer Müll, der sich mit der Zeit angesammelt hatte, konnte unmöglich einer einzelnen Person zugeordnet werden. Eine Brieftasche oder anderen Gegenstände, die dem Mörder persönlich gehören könnten, hatten Stones scharfe Augen ebenso wenig entdecken können.

Frustiert drückte er seine Zigarette aus, wobei die überquellende Asche auf der Tischplatte landete.

Was für Spuren hatte die Leiche aufgewiesen, die ihn möglicherweise zum Täter führte?

Da war zum einen dieser merkwürdige Fleck auf der Brust der Frau gewesen. Es hatte keine weiteren Spuren von Verbrennungen an ihr gegeben. Wenn Stone jetzt genauer darüber nachdachte, war es auch keine wirkliche Verbrennung gewesen. Es waren eher die Überreste von etwas Verbrannten gewesen. Ein schwarzer Kreis der von etwas Verbrannten zurückbleibt.

Doch wir war dieser Fleck nur dahin gekommen? Die darüber liegende Kleidung hatte keinerlei Spuren von Verbrennungen, geschweige denn Ascherückständen aufgewiesen. Es war doch unmöglich Verbrennungen auf der Haut zu hinterlassen, ohne, dass die Kleidung ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen würde.

Angespannt fuhr sich Stone mit der Hand über die gekrauste Stirn und drückte sich die Nasenwurzel. Ihn entging irgendetwas Wichtiges, da war er sich sicher. Es wollte ihm nur einfach nicht einfallen was zum Teufel es genau war.

 

Da lag sie, kalt mit starrem Blick. Die Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. Es muss ein grauenvoller Tod gewesen sein. Der Himmel schien über das Schicksal der Frau zu weinen. Elias Finger verkrampften sich um den hölzernen Griff ihres Regenschirms.

Sie hatte nicht gewollte, dass so etwas passiert, Sie hatte sogar versucht es zu verhindern, doch dem Schicksal konnte man nicht entkommen. Sie musste jetzt selbst auf der Hut sein, damit ihr nicht das gleiche qualvolle Ende bevorstand.

War sie bereits zu weit gegangen, als sie am Morgen im Büro dieses Detektivs aufgetaucht war? Sie hatte ihre Angaben so wage wie möglich gehalten, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Doch vielleicht hatte sie das bereits getan.

Mit blutendem Herz wandte sich Elia von dem Schauplatz, der jetzt von Polizisten überfüllt war, ab und verließ mit schnellen Schritten die verlassenen Straßen. Immer wieder schaute sie sich nervös über die Schulter und zuckte bei nahezu jedem unerwartetem Geräusch zusammen.

So konnte es nicht weiter gehen. Sie wusste was sie und die tote Frau getan hatten und musste jetzt mit den Konsequenzen klar kommen. Das wichtigste war es jetzt einen vorerst sicheren Ort zu finden, an dem sie sich eine Zeit lang verstecken konnte.

Lange würde sie den allwissenden Blicken nicht verborgen bleiben können. Allerdings konnte jede Minute, die ihr länger blieb, von Nutzen sein, damit sie einen Weg fand ihrem Schicksal doch noch zu entgehen.

Elia entschied sich für einen Ort, wo man wahrscheinlich am wenigsten mit ihrer Anwesenheit rechnen würde. Zielsicher strebte die junge Frau das Vergnügungsviertel von Chicago an, wo sich Musiker, Schausteller, Wahrsager und zahlreiche andere angebliche Künstler präsentierte und zur Unterhaltung der Besucher beitrugen.

„Ah, Elia, du bist heute aber spät dran. Ich dachte schon du willst heute gar nicht mehr auftauchen.“ Mit einem gezwungen gelassenem Lächeln trat Elia in das kleine Theater, wo sich zahlreiche esoterische Frauen versammelte hatten, die ihren Besuchern einen Blick in die Zukunft versprachen.

„Du siehst ja selbst dieses grässliche Wetter da draußen, meine Liebe Mary. Auf den Straßen ist der Wahnsinn los und bei dem Regen machen die Herren noch nicht einmal einer schönen Frau Platz“, gab Elia als Antwort und legte ihren feuchten Mantel ab. Mit einer geübten Bewegung löste sie die Spange aus ihrem Haar und schwarze glänzende Wellen ergossen sich über ihren grazilen Rücken.

„Ich bin jedes Mal aufs Neue neidisch auf dich, wenn du das machst“, meinte Mary und stützte ihr Kinn auf ihre gefalteten Finger. „Was würde ich nicht alles für solche Haare machen“, seufzte die junge Frau mit ihren dünnen blonden Haaren weiter, als sich die Tür zum Theater öffnete und die Geräusche der Straße hinein drangen.

Ob sie es wollte oder nicht, Elia lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auch wenn sie nach außen hin ein gelassenen fröhliche Lächeln zur Schau stellte, innerlich plagte sie eine nicht enden wollene Angst.

„Kundschaft“, flüsterte Mary und setzte sich in ihrem kleinen Bereich aufrecht hin. Auch Elia nahm jetzt an ihrem Tisch platz und legte ihre Karten bereit. Während Mary das Händelesen anbot, legte Elia ihren wissenshungrigen Kunden die Karten.

Dass diese Ihr manchmal mehr sagten, als ihr lieb war, behielt Elia in der Regel für sich. In den Jahren hatte sie gelernt an der Fragen und den Gesichtern ihrer Kunden abzulesen, was diese sich versprachen und hören wollten. In der Regel war es immer das Gleiche; Erfolg, das Auffinden der großen Liebe und natürlich Glück.

Dass, das Leben auch seine Schattenseiten hatte, wollte niemand hier hören. Auch, dass das Schicksal eines jeden Menschen bereits zu seiner Geburt festgelegt war und man dieses nicht ändern konnte, wollte keiner hören.

Es dauerte keine fünf Minuten, da nahm eine vor Glück strahlende Frau gegenüber von Elia Platz. Ihr Leben schien gerade genau so zu verlaufen, wie sie es sich wünschte, was sie aber nicht davon abhielt mehr über ihre Zukunft wissen zu wollen.

Geduldig legte Elia ihr die Karten. Die Gegenwart ihrer Kundin sah wirklich rosig aus und versprach eine glückliche Zukunft. Doch Elia wusste schon bevor sie die entsprechende Karte umdrehte, dass dieses Glück nur noch von kurzer Dauer war. Vor ihren Augen blitzte kurz ein Bild auf, das ihr alles sagte, was sie wissen musste.

„Ihr Glück wird bald von einem dunklen Schatten verhüllt. Sie sollten den Augenblick genießen und ihr Möglichstes tun, um für die Zukunft zu sorgen. Aber machen Sie sich keine Sorge, diese Zeit wird auch irgendwann vorüber sein und die Sonne wird erneut strahlend für Sie aufgehen.“

Ihre Worte hinterließen einen fahlen Beigeschmack. Doch was sollte sie tun? Die Menschen wollten immer hören, dass alles Gut wird, also gab Elia die Aussicht darauf. Ob dies nun hundertprozentig der Wahrheit entsprach oder nicht. Ihr blieb lediglich die Möglichkeit, kleine Hinweise zu geben, ohne zu viel zu verraten.

Ein plötzliches Kribbeln im Nacken, ließ Elia ruckartig hinter sich schauen. Aber da war nichts, zumindest nichts, was sie sehen konnte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Ganz ruhig, da ist nichts und niemand“, flüsterte sich Elia zu und atmete ein paar Mal tief durch, bis der nächste Kunde vor ihr Platz nahm.

 

Wie Stone befürchtete hatte, waren seine Kollegen von der Polizei kein bisschen schlauer, als er. Gerade hatte er seinen Kontakt am Telefon und der konnte ihm auch nicht mehr Informationen geben, als er selbst bereits gesammelt oder am Tatort gefunden hatte.

„Das ist nun wirklich nicht viel. Was macht ihr Kerle von der Polizei eigentlich den lieben langen Tag“, knurrte Stone, während er sich eine Zigarette ansteckte.

„Wir machen unsere Arbeit“, schoss sein Kontakt zurück. „Vermutlich war es eh nur ein ganz gewöhnlicher Taschenraub mit Todesfolge. Das haben wir jeden Tag und meistens ist der Täter nicht zu ermitteln, weil er schon über alle Berge ist und niemand was gesehen haben will.“

Stone war da ganz anderer Meinung. Seine Klientin hatte etwas gewusst, was im Zusammenhang mit diesem Fall stand, sonst wäre sie wohl kaum zu ihm gekommen.

„Die Tote war noch im Besitz ihrer Tasche.“, raunte der Detektiv ins den Telefonhörer und stieß dabei eine Rauschwolke aus dem Mundwinkel. Als sein Kontakt nicht darauf einging, beschloss Stone seine Taktik zu ändern. Für irgendwas musste dieses Telfonat schließlich gut sein.

„Gut, vielleicht kannst du mir dann bei einer anderen Sache behilflich sein. Ich brauche Informationen zu einer gewissen Elia Atos“, meinte Stone und drehte sich mit dem Stuhl in Richtung Fenster.

„Wofür brauchst du diese Informationen?“

„Das geht dich einen Scheißdreck an“, knurrte Stone. Wenn die Polizei ihm nicht weiterhalf, würde er ihnen auch keine Hinweise geben.

„Oha, die Kleine muss ja einen bleibenden Eindruck bei dir hinterlassen haben, wenn du jetzt nach ihr suchst. Hat sie dir etwa die kalte Schulter gezeigt?“, scherzte sein Kontakt am anderen Ende der Leitung. Stone konnte sich sein vielsagendes Grinsen richtig vorstellen.

„Hör auf mit dem Scheiß. Kannst du mir jetzt die Informationen besorgen oder nicht?“

Der Geduldsfaden des Mannes wurde immer kürzen und er hatte heute absolut keinen Nerv für solche Spiele.

„Ich werd sehen was ich herausfinden kann. Ich meld mich bei dir, sobald ich was Brauchbares habe.“

Mit einem weiteren tiefen Knurren beendete Stone das Gespräch und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Er musste diese Frau finden, wenn er mehr über die näheren Umstände dieses Mordes herausfinden wollte.

„Wenn Sie mehr über mich wissen wollen, hätten Sie mich schon gestern danach fragen können“, erklang auf einmal eine sanfte Stimme hinter ihm. Geschmeidig erhob sich Stone aus seinem durchgesessenen Stuhl und drehte sich zu der Frau um, die in seiner Bürotür stand.

Da war sie, genau so schön wie gestern.

„Es tut mir Leid, was mit dieser jungen Frau vergangene Nacht passiert ist“, presste Hole hervor, um überhaupt etwas zu sagen. Wie hätte er damit rechnen sollen, dass er seine Klientin noch einmal sehen würde, nachdem er versagt hatte.

„Mir tut es auch Leid. Ich hatte gehofft uns bliebe noch etwas mehr Zeit“, seufzte Elia und ließ den Kopf leicht hängen. Stone bot ihr mit der Hand dem Platz an seinem Schreibtisch an und setzte sich selbst wieder auf seinen Stuhl. Dieser knackste protestierten unter dem Gewicht des Mannes. Doch das tat der Stuhl schon seit Jahren und hatte dennoch nie den Geist aufgegeben.

Elias Mundwinkel zuckte leicht, als sie auf den Detektiv zu schritt und es sich bequem machte. Die langen Beine schlug sie elegant übereinander und die Hände faltete sie bedächtig in ihrem Schoß. Heute trug sie ein schlichtes dunkelgraues Kostüm. Ihre Beine steckten in Hautfarbenen Strümpfen, die in schwarzen Pumps endeten. Ihre langen glänzenden Haare fielen ihr wie schwarze Wellen leicht über die Schultern.

„Ich hatte nicht erwartet Sie so schnell wieder hier zu sehen.“

„Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen gar nicht mehr hierher zu kommen, nachdem ich von dem Mord gehört hatte“; gestand ihm Elia und lächelte ihn scheu an. „Ich hätte gar nicht erst hierher kommen sollen, doch ich hatte das Gefühl etwas tun zu müssen. Leider war am Ende alles umsonst gewesen.“

Wie gestern schon drückte sich die junge Frau äußerst wage aus. Sie schien sich ihm anvertrauen zu wollen, doch nie mit der Sprache rauszurücken. Sie stellte ein Rätsel für Stone dar, das er nur zu gern lösen wollte.

„Um wen handelte es sich bei der Toten?“

„Sie war meine Schwester.“

Ein bedrückendes Schweigen legte sich über das kleine voll gestopfte Büro. Elia schaute ihn direkt an mit ihren ungewöhnlichen Augen. Beide schwiegen und schienen das eben Gehörte erst verarbeiten zu müssen.

„Ich bin Ihnen wirklich dankbar, für die Arbeit, die sie geleistet haben, Detektiv Stone. Ich fürchte nur ich habe Sie damit in eine Lage gebracht, die nicht sehr angenehm für Sie enden könnte“, ergriff Elia als erste das Wort. Sie seufzte herzerweichend und knetete ihre Hände.

„Wenn Sie damit meinen, dass ich Ärger mit der Polizei bekommen könnte, machen Sie sich deswegen keine Sorgen“, versuchte Stone die Frau zu beruhigen.

„Von der Polizei geht keine Gefahr für Sie aus.“ Versicherte Elia ihm. „Was haben Sie gesehen? Was ist ihnen an meiner toten Schwester aufgefallen, das Ihnen ungewöhnlich erschien?“

Sie wusste tatsächlich etwas, schoss es Stone durch den Kopf. Ganz der Detektiv, der er war, lehnte er sich nach vorne und stützte sich mit den Armen auf seinen Tisch ab. Er musterte Elia ganz genau und rief sich noch einmal den Tatort und die Leiche in Erinnerung, bevor er zu Sprechen begann.

„Auf den ersten Blick war das ein ganz normales Verbrechen für Chicagoverhältnisse.“ Stone stand auf und begann damit hinter seinem Schreibtisch auf und ab zu gehen, während er seine weiteren Erkenntnisse preisgab.

„Die Polizei geht von einem Raub mit anschließender Todesfolge durch einen Herzinfarkt oder ähnlichem aus. Zumindest wurden an Ihrer Schwester keine Spuren gefunden, die auf etwas anderes hinweisen. Außer…“, stockte der Detektiv mitten im Satz.

„Sie haben etwas gesehen, das Ihnen ganz offensichtlich Kopfzerbrechen bereitet“, schlussfolgerte Elia nüchtern. Sie behielt ihn die ganze Zeit fest im Blick und folgte jedem seiner Schritte.

„Ich habe Ascherückstände auf der linken Brust entdeckt, die unmöglich dorthin gekommen sein können, ohne, dass die darüber liegenden Stoffschichten den geringsten Schade genommen hätten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies die Todesursache gewesen ist. Ich weiß nur nicht was passiert ist.“

Es frustrierte Stone selbst, dass er einfach nicht weiter kam. Die Hände begrub er in seinen Hosentaschen und blieb stehen, während er Elia musterte.

„Und?“ Sie schien wirklich mehr zu wissen, als sie ihm sagte.

Wie schon am Tag zuvor blieb er unweigerlich an ihren unbeschreiblichen Augen hängen. Ihre genaue Farbgebung konnte er immer noch nicht benennen und sie schienen einen ganz besonderen Glanz zu haben.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Augen der Toten.

„Es waren ihre Augen. Ich wusste doch, dass mich die ganze Zeit noch etwas gestört hatte. Die Augen Ihrer Schwestern waren nicht einfach nur vor Schreck weit aufgerissen und bereits getrübt, wie es bei Toten üblich ist. Sie waren komplett milchig weiß, sodass man die Iriden und die Pupillen kaum noch erkennen konnte.“

Ein anerkennendes Zucken ihres rechten Mundwinkels zeigte Stone, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Doch anstatt etwas zu sagen, schwieg Elia weiter und wartete darauf, dass er mit seinen Schilderungen fortfuhr.

„Solche kleinen Details fallen der Polizei im ersten Moment nicht auf. Zudem hatte es gestern stark geregnet, sodass es ohnehin schwer war überhaupt noch etwas von den wenigen Spuren zu retten.“

Stone schwieg kurz und ließ sich auf seinen Stuhl nieder. Ein Interesse an dem Fall war jetzt deutlich geweckt. Er wollte herausfinden, was wirklich in dieser Nebenstraße passiert war und er war sicher, dass diese Frau ihm die Antworten liefern konnte, die er zur Aufklärung benötigte.

Er stützte die Ellenbögen auf der Tischplatte ab, verschränkte seine Finger ineinander und legte sein stoppeliges Kinn darauf ab. „Was genau wissen Sie über die Ermordung Ihrer Schwester, Miss Atos?“, fragte Stone ganz direkt. Seine verwaschenen blauen Augen schauten direkt in Elias ungewöhnliche Augen und hielten sie fest.

Als er ihr diese Frage stellte, verschwand das leichte Lächeln aus ihrem bezaubernden Gesicht. Sie schloss die Augen und seufzte herzerweichend. Sie legte ihre Stirn in Falten, als musste sie sich erst entscheiden, ob sie sich ihm anvertraute oder nicht.

„Glauben Sie an Schicksal Mr. Stone?“

„Eigentlich nicht“, antwortete der Detektiv ehrlich. Er wusste nicht was sie mit dieser Frage beabsichtigte.

„Nun, das sollten Sie aber, denn das Schicksal eines jeden Menschen ist bereits bei seiner Geburt vorbestimmt. Im alten Griechenland war das bekannt, doch mit den Jahrhunderten ist dies immer weiter in den Hintergrund gerückt und zusehends in Vergessenheit geraten“, erklärte Elia. „Naja, bis auf ein paar Menschen, die unbedingt etwas über ihre Zukunft erfahren wollen“, fügte sie noch hinzu und schmunzelte kurz mit traurigem Blick.

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Die Menschen der Antike wanderten nach Delphi, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Sie hofften, dass das Orakel ihnen helfen würde. Der Gott Apollon hatte den Menschen das Orakel gegeben, um ihnen seine Macht zu demonstrieren.“

„Was im Himmels Willen hat der Gott Apollen mit dem Mord an Ihrer Schwester zu tun?“, unterbrach Stone seine Klientin. Wollte Sie ihn auf den Arm nehmen mit dieser Geschichte? Das ergab doch alles keinen Sinn.

„Nun Detektiv, alles hat mit Apollon zu tun“, antwortete Elia nüchtern.

„Dann bin ich ja mal gespannt“, brummte er als Antwort. Er glaubte ihr kein Wort.

„Meine Schwester hat es gewagt das Schicksal auf die Probe zu stellen. Sie wollte etwas Schreckliches verhindern, doch was genau es war, wollte sie mir nicht sagen. Ich hab sie angefleht es nicht zu tun, aber meine Schwester konnte zeitweise sehr starrköpfig sein.“

Erneut seufzte Elia, woran Stone erkannte, dass es ihr nicht gerade leicht fiel, über die letzten Tage ihrer Schwester zu sprechen.

„Die Götter mögen es nicht, wenn man ihnen ins Handwerk pfuscht. Sie erlauben einem zwar einen kleinen Blick in ihre Pläne, doch sobald man es wagt ihnen in die Parade zu fahren, können sie gnadenlos werden. Sie halten sich für die mächtigsten Wesen und lassen nicht zu, dass ein Zweifel an ihnen oder ihre Macht aufkommen könnte.“

Die Geschichte schien immer abstruser zu werden, sodass Stone Elia kaum noch ernst nehmen konnte. Er hatte mir einer Verstrickung in Mafiakreisen gerechnet. Ein spannender Fall, fern ab von seinem täglichen Geschäft untreuen Ehemännern oder korrupten Geschäftspartner hinterher zu spionieren. Was diese bezaubernde Frau ihm erzählte, gehörte ins Reich der Ammenmärchen.

„Was genau wollen Sie mir damit sagen.“

„Meine Schwester hat es gewagt sich gegen den Willen von Apollon aufzulehnen. Sie wollte das Schicksal verändern.“ Elias Augen wurden glasig und füllten sich mit Tränen.

„Ich hatte einen Vision. Apollon hat zugelassen, dass ich sehe welches Schicksal meine Schwester erwartete. Ich musste etwas unternehmen, wusste aber nicht was ich tun sollte. Hätte ich versucht sie zu warnen, wäre ich jetzt genauso tot, wie sie.“ Die ersten Tränen lösten sich aus Elias Augenwinkeln und rollten ihre Wangen hinab.

„Ich sah nur die Möglichkeit, sie durch jemanden beobachten und gegebenenfalls beschützen zu lassen. Ich habe ja nicht ahnen können, dass ihr nur noch so wenig Zeit blieb.“

Die junge Frau kämpfte mit den Tränen und zog ein weißes Stofftaschentuch aus ihrer Handtasche. Sachte tupfte sie die Tränen weg und versuchte sich zu beruhigen.

„Wollen Sie mir allen Ernstes weiß machen, dass es Götter gibt und, wenn ich das richtig verstanden habe, Sie und ihre Schwester Orakel sind? So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört und glauben Sie mir, mir ist schon so einiges zu Ohren gekommen.“

Stone glaubte ihr kein Wort und lehnte sich in seinen Stuhl zurück, während er die Hände hinter seinem Kopf verschränkte.

„Es ist die Wahrheit, auch wenn ich weiß, dass es nur sehr schwer zu verstehen ist.“

„Und wie ist Ihre Schwester Ihrer Meinung nach umgekommen?“

„Apollon hat sie mit einen seiner goldenen Pfeile getroffen.“

Elia sagte dies mit vollem Ernst und zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. „Mir könnte das gleiche passieren, da ich indirekt versucht habe das Schicksal meiner Schwester zu verändern, indem ich Sie um Hilfe bat. Ob Sie mir nun glauben oder nicht, Mr. Stone, ich danke Ihnen und werde Sie nun nicht länger belästigen.“

„Deine Vermutung ist ganz richtig, meine kleine Seherin. Vielleicht hätte ich dir lieber die Vision über dein Ende, anstatt das deiner Schwester schicken sollen“, erklang auf einmal eine tiefe majestätische Stimme.

Überrascht und unvorbereitet setzte sich Stone wieder aufrecht hin. Dadurch hatte er die Eingangstür zu seinem Büro wieder im Blick und was er dort sah, machte diese ganze Geschichte kein bisschen besser.

In der Bürotür stand ein gut gebauter großer Mann mit schwarzen Locken und flammenden Augen. Auf dem Kopf trug er einen goldenen Ehrenkranz, um die muskulösen Oberarme goldene Reifen. Das einzige Kleidungsstück was er trug war eine Art Rock, der ebenfalls aus Gold bestand.

In den Händen hielt der Mann einen Langbogen dessen Sehne gespannt und bereit zum Schuss war.

„Apollon“, hauchte Elia und erhob sich ganz langsam.

„Deine Schwester hatte schon immer ihren eigenen Kopf und musste endlich zur Vernunft gebracht werden. Dass du es auch wagst dich gegen mich zu wenden, hat mich allerdings überrascht“, meinte Apollon und ein süffisantes Lachen umspielte seinen Mund.

„Und zur Vernunft brachtest du sie, indem du sie ermordet hast?“, schrie Elia und rang um Fassung.

„Sie ist jetzt da wo sie hingehört, bei den anderen vergangenen Orakeln. Und du wirst ihnen ebenfalls gleich Gesellschaft leisten.“

Die Spitze des goldenen Pfeils flammte auf. Stone versuchte unbemerkt an seine Pistole zu kommen, während sich dieser Gott auf Elia konzentrierte.

„Das sollten Sie besser nicht tun. Glauben Sie wirklich eine einfache Pistole könnte mich aufhalten? Ich bin ein Gott. Mich kann niemand aufhalten.“

„Es ist schon gut. Ich habe Ihnen ja gesagt, das Schicksal eines jeden ist von der Geburt an vorbestimmt. Wenn dies mein Schicksal ist, werde ich mich diesem fügen und wieder mit meiner Schwester vereint sein“, sagte Elia und wandte das Gesicht Stone zu. Die Spuren ihrer Tränen waren noch zu sehen, gleichzeitig schien sie sich mit dem was gleich passieren würde, abgefunden zu haben. Sie schenkte ihm ein letztes Lächeln, bevor sie sich Apollons Willen ergab.

„Braves Mädchen“, raunte der Gott, als er die Sehne losließ und der Pfeil auf Elia zusauste.

„Nein“, schrie Stone, packte Elia am Ellenbogen und zog sie zur Seite. Der Pfeil verfehlte sie und Stone nur um wenige Millimeter. Krachend landeten beide auf dem Boden, wobei der Detektiv versuchte die Frau mit seinem Körper abzuschirmen.

„Wie kannst du es wagen?“, knurrte Apollon und legte einen neuen Pfeil in die Sehne. „Glaubst du wirklich, du könntest sie schützen. Ein lächerlicher kleiner Mensch, der noch nicht einmal mehr an Götter glaubt.“

Bedrohlich schritt Apollon auf die beiden zu, als wollte er sicher gehen, dass der Pfeil sein Ziel dieses Mal nicht verfehlte.

Ein plötzliches grelles Licht, blendete sie alle. Stone hob die Hand und schirmte seine Augen ab, in der Hoffnung, dass er doch etwas erkennen konnte. Als sich das gleißende Licht auflöste, stand eine weitere Person in dem kleinen schäbigen Büro.

„Ich werde nicht zulassen, dass du auch dieses Orakel das Leben raubst“, erklang die melodische Stimme einer Frau. Sie stand mit dem Rücken zu Stone und Elia, sodass er kaum etwas von ihr erkennen konnte. Die fremde Frau trug wie Apollon einen goldenen Ehrenkranz in ihren hellen aufgesteckten Locken und goldenen Reifen um ihre zierlichen Oberarme. Das lange flatterhafte Gewand, das sie trug, schimmerte wie Perlen im schwachen Licht.

„Hera“, flüsterte Elia hinter Stone und faste den Detektiv am Oberarm, um sich aufzusetzen.

„Noch ein Gott?“, raunte Stone und erhob sich ebenfalls, wobei er die beiden Fremden nicht aus den Augen ließ.

„Ich finde du hast genug Schaden angerichtet. Es ist deine Aufgabe über die Orakel zu wachen, damit sie unseren Willen in die Welt hinaustragen. Es gibt nur noch wenige von ihnen, nachdem die Menschen angefangen haben uns zu vergessen. Ich werde es nicht erlauben, dass du auch Elia von dieser Welt verbannst“, sagte Hera mit fester Stimme, die keine Widerworte zuließ.

„Es ist immer noch meine Entscheidung, was ich mit den Orakeln mache. Sie haben es gewagt, sich gegen unseren Willen aufzulehnen. Das ist Hochverrat. Ich bin nur hier, um ihnen die entsprechende Strafe zu erteilen“, knurrte Apollon und spannte erneut die Sehne seines Bogens an.

„In erster Linie handelte Elia aus Liebe zu ihrer Schwester, somit fällt sie in meine Zuständigkeit und ich verbiete dir, ihr auch nur ein Haar zu krümmen“ konterte die schöne Göttin.

„Du hast mir gar nichts zu sagen.“

„Dann sollte diese Entscheidung vielleicht lieber dein Vater treffen, schließlich ist er der oberste Gott.“

Die Drohung schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Das leichte Zucken im Augenwinkel des Gottes verriet Stone, dass Hera einen wunden Punkt getroffen hatte.

Elias Griff um seinen Arm verstärkte sich. Ihre Finger gruben sich tief in sein Hemd. Offensichtlich schien auch sie neue Hoffnung zu schöpfen.

„Dieses eine Mal will ich dir den Sieg überlassen, aber glaube nicht, dass ich mir das ein weiteres Mal bieten lasse. Und du, kleine Seherin, wage es nicht noch einmal in das Schicksal einzugreifen. Ein weiteres Vergehen und niemand wird mehr verhindern können, dass mein Pfeil dich trifft“, raunte Apollon.

Mit einem letzten wutentbrannten Blick betrachtete er Hera, bevor er sich in Luft auflöste. Stone war gar nicht aufgefallen, dass er die Luft angehalten hatte, als er sie jetzt erleichtert von sich gab. Auch in Elia schien sich endlich wieder etwas zu rühren, denn sie stand mit wackligen Beinen auf.

„Ich danke dir vielmals, Hera.“

„Du brauchst mir nicht zu danken. Denke an Apollons Worte. Ein zweites Mal kann ich dich nicht beschützen.“ Die Göttin schenkte Elia ein herzliches Lächeln, bevor auch sie sich in Luft auflöste.

Was in den letzten Minuten geschehen war, wirkte so unwirklich, dass Stone es immer noch nicht glauben konnte.

„Ich glaub ich brauch erst einmal etwas frische Luft“, meinte er und schwankte zur Tür hinaus. Vor dem Gebäude zündete er sich eine Zigarette an und zog kräftig daran. Langsam stieß er den Rauch aus, der sich in den Abendhimmel erhob.

Elia kam hinter ihm aus dem Gebäude getreten. Sie war ebenfalls noch etwas mitgenommen, schien aber um einiges beruhigter.

„Mein Name ist übrigens John“, sagte Hole in das Schweigen hinein und reichte Elia die Hand.

„Ich weiß, schließlich habe ich Sie in meiner Vision gesehen“, antwortete Elia und legte ihre Hand in seine. Das Strahlen war in ihre Augen zurückgekehrt und sich lächelte ihn glücklich an.

„Haben sie diesen Ausgang der Geschichte nicht in ihren Visionen gesehen?“, fragte der Detektiv, bevor er Elias Hand frei gab. Die Frau schüttelte lächelnd den Kopf, wobei ihre schwarzen Locken um ihre Schultern flogen.

„Nein, unser eigenes Schicksal können wir nicht sehen. Möchten Sie vielleicht einen Blick in ihre Zukunft erhalten? Aber Vorsicht, die Zukunft hält nicht immer das für uns bereit, was wir uns wünschen.“, meinte Elia und hielt warnend den Zeigefinger hoch.

„Danke, ich verzichte. Hätte ich gewusst, welche Folgen Ihr Besuch bei mir hätte, hätte ich den Fall sicher nicht angenommen.“

„Oh doch, Sie hätten.“, schmunzelte Elia. Mit diesem unbeschreiblichen Lächeln verabschiedete sich die Seherin von Stone und schritt die Straße entlang in den Sonnenuntergang.

Vielleicht hatte sie ja auch noch mehr gesehen, dachte Stone und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er sie auf den Boden fallen ließ und austrat. Aus dem Büro erklang das Klingeln des Telefons, das der Detektiv ignorierte, bis Elia aus seinem Blickfeld verschwunden war.

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Tag der Veröffentlichung: 27.07.2019

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