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Kapitel 1

 


In wenigen Minuten sollte sich entscheiden wie ihr zukünftiges Leben aussehen würde. Entweder konnte sie den Weg einschlagen für den sie so lange gearbeitet und gekämpft hatte, oder sie musste umkehren und bei Null anfangen.
Nicole Biedermann stand vor einem über die Maßen modern wirkendes Haus, dessen Fassade beinahe nur aus Glas zu bestehen stand. Mit einem mulmigen Gefühl und einem Stoßgebet in den Himmel betrat sie das Gebäude und ging in Richtung der Fahrstühle.
So weit hätte es gar nicht erst kommen sollen. Nicole hatte einen festen Plan für die nächsten Jahre vor Augen gehabt. Zunächst hatte es auch allen Anschein gemacht, dass es so laufen würde, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ende Juli hatte sie nach endlosen Wochen endlich die Bestätigung erhalten, dass sie and er Hamburger Universität angenommen wurde. Nicht nur ihr war damit ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, sondern ihrer ganzen Familie. Noch am selben Tag hatte sie sich für einen Wohnheimsplatz angemeldet und auch hier gehofft, so viel Glück zu haben. Das Studium war eine enorme finanzielle Belastung, sodass zumindest die Unterbringung nicht so viel Geld verschlingen sollte. Allerdings hatte hier ihr schöner Lebensplan einen Kratzer abgekommen. Nicole musste persönlich zur Universität kommen, um an der Vergabe der Wohnheimsplatze teilzunehmen. Als sie ankam, stand schon eine Meterweite Schlange vor dem Eingang und wartete darauf endlich rein gelassen zu werden. Mit der Immatrikulationsbescheinigung und dem festen Glauben, dass sie schon einen Platz bekommen würde, setzte sich Nicole auf einen der noch freien Stühle und wartete darauf, dass es endlich losging. Doch es kamen immer mehr angehende Studenten in den großen Saal und schauten sich genauso hoffnungsvoll wie Nicole um.
Mit einer halben Stunde Verspätung begann endlich das Theater und allein der erste Satz der Sprecherin von der Wohnheimsplatzvergabe, nahm vielen die Hoffnung mit der sie in Hamburg angekommen waren. „Wir freuen uns, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Bevor wir mit der Vergabe beginnen, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass bei weiten mehr Studenten hierher gekommen sind, als wir Plätze haben. Da es in den letzten Jahren noch nie dazugekommen war, dass eine so große Nachfrage ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Vergabe der Plätze durch das Los zu entscheiden.“
Im ganzen Saal erhoben sich Stimmen, und ungläubig schauten sich die jungen Leute fragend an. Keiner wollte so recht glauben, was er da gerade gehört hatte. „Wir haben insgesamt 143 Plätze. Jeder von Ihnen zieht nun einen der Umschläge aus den Körben, die nun durchgereicht werden. Alle die eine Nummer unter 200 haben, bleiben bitte hier, für den Fall, dass ein anderer seinen Platz abgibt. Alle die eine Nummer über 200 haben, muss ich leider bitten zu gehen, da die Wahrscheinlichkeit einen Platz zu bekommen für Sie gegen Null geht.“
Na super, dachte Nicole, im Lose ziehen, war sie schon immer eine Niete gewesen, sodass sie sich jetzt schon keine großen Chancen mehr ausrechnete. Langsam kam der Korb auf sie zu und nach und nach zog jeder einen der Umschläge. Die, die um Nicole herum saßen, hatten alle eine Nummer unter 200 gezogen und hatten somit noch die Möglichkeit, auch wenn sie nur gering war, einen Wohnheimsplatz zu bekommen.
Mit wild klopfenden Herzen öffnete Nicole ihren Umschlag. Die Augen hielt sie dabei geschlossen und betete stumm vor sich hin, dass sie doch auch einmal Glück bei diesem Spiel haben möchte. Nur sehr zaghaft öffnete sie wieder die Augen, nachdem sie den Zetteln aus dem Umschlag gezogen hatte. Schlagartig war ihre gesamte Freude auf das Studium verrauscht. Fast schadenfroh lächelte ihr die Nummer 218 entgehen. Mit einem leisen „Auf Wiedersehen und viel Glück“, verabschiedete sich Nicole warf sich ihre Tasche über die Schulter und ging völlig betäubt aus dem Saal.
Sie brauchte einige Minuten um zu verstehen was das nun für ihre Zukunft bedeutete. Wenn sie keinen Platz fand, wo sie wohnen konnte, und noch viel wichtiger den sie bezahlen konnte, musste sie ihr Studium abbrechen noch bevor es wirklich angefangen hatte. Das Herz wurde ihr schwer und ungewollt stiegen ihr Tränen in die Augen, die über ihre Wangen auf den dreckigen Kiesboden fielen. Mit zitternden Händen zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihrer Eltern. Mit erstickter Stimme und hemmungslos fließenden Tränen berichtete sie ihnen von der Verlosung.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich beruhigt hatte und wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Ihr blieb jetzt nichts anderes übrig, als auf eigenen Faust eine passende Bleibe zu finden. In einem Internet-Cafe begann sie mit ihrer Suche. Allerdings war das Ergebnis mehr als mau. Die meisten Wohnungen waren einfach so teuer, dass sie sich Nicole unmöglich leisten konnten. Auch Plätze in einer WG waren meistens schon vergeben und so gut wie.
Sie war kurz vorm verzweifeln. Mit einen Becker Kaffee in der Hand, den sie sich von ihrem letzten Geld gekauft hatte, ging Nicole zurück zum Campus und hoffte hier noch etwas zu finden. Die Ampel war gerade auf rot gesprungen, wodurch der sich stetig bewegende Fluss der Menschen gestoppt wurde. Schwer seufzend blickte Nicole umher und entdeckte an dem Ampelpfeiler einen schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Zettel in einer Folie. Es stand nicht viel drauf, doch es war ein Lichtblick am Ende des Tunnels. Jemand suchte einen Mitbewohner. Es war nicht viel weiter angegeben außer eine Telefonnummer unter der mach sich melden sollte.
Hastig tippte Nicole die Nummer in ihr Handy und entfernte sich aus der Menschenmenge. Als sich nach dem dritten Tuten immer noch keiner meldete, wollte sie schon wieder auflegen und auch diese Möglichkeit als Sackgasse abtun, als sie plötzlich eine männliche Stimme höre.
„Stark was kann ich für Sie tun?“
„Hallo. Ich habe Ihren Ausgang für das Zimmer gelesen und wollte fragen, ob es noch frei ist und ich es mir ansehen könnte?“, antwortete Nicole und spürte wie ihre Hand schwitzig wurde vor Nervosität. Ein längeres Schweigen setzte am Ende der Leitung ein, was Nicole schon befürchten ließ, dass der Empfang abgebrochen war.
„Hallo sind Sie noch dran? Können Sie mich hören?“
„Ja das Zimmer ist noch frei.“
„Das ist großartig. Wann könnte ich es mir ansehen? Und wie lautet eigentlich die genaue Adresse?“ Nicole hätte am liebsten einen Freudensprung gemacht, doch sie hatte gelernt sich nicht zu früh zu freuen. Noch war der Vertrag nicht unterschieben und wer wusste, ob sie überhaupt das Zimmer haben wollte.
„Wie wäre es in zwei Stunden? Die Adresse schicke ich Ihnen per SMS zu.“
„Ja das passt mir. Dann in zwei Stunden. Ich freu mich.“
„Okay, bye“. Damit war die Verbindung unterbrochen und irgendwie bekam Nicole ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.
Nun stand sie aber bereits im Fahrstuhl und für in die fünfte Etage. Als die Türen sich mit einem Pling öffneten, wäre sie am liebsten gestorben. Jetzt war aber nicht die Zeit für Nervosität. Dies hier war ihre letzte Möglichkeit, das Studium doch noch aufnehmen zu können. Mit geschlossenen Augen atmete sie noch einmal tief durch, bevor sie die Klingel zur Wohnung 5b drückte.

Nicole war auf alles vorbereitet gewesen, aber nicht auf den Mann, der ihr die Tür öffnete. In der halb geöffneten Tür lehnte mit der Schulter am Türrahmen ein junger Mann, der sie innehalten ließ.
Diese stechend blauen Augen, die auf sie gerichtete waren, verunsicherten sie nur noch mehr. So unauffällig wie möglich ließ sie ihren Blick von oben nach unten wandern. Seine schwarzen Haare waren aufwendig getylt und ließen ihn noch verwegener aussehen, als es seine Augen schon machten. Er war durchtrainiert, das war leicht zu erkennen, da sein weißes Hemd nur sporadisch zugeknöpft war und somit einen Blick auf seinen muskulösen Bauch gewährte. Die dunkelblaue Jeans hing locker auf seiner Hüfte, sodass man den Bund seiner Hugo Boss Unterhose sehen konnte.
Schwer schluckend ergriff Nicole nach diesen peinlichen Sekunden des Schweigens das Wort.
„Hey ich bin Nicole Biedermann. Wir haben vorhin telefoniert. Ich bin hier, um mit das Zimmer anzusehen“, brachte sie mit aller Mühe ohne Stolpere heraus. Sie hielt ihn zur Begrüßung die Hand hin, die er aber nicht ergriff. Stattdessen musterte er sie ebenfalls von oben bis unten, bis er die Tür ganz öffnete.
„Na dann komm mal reinspaziert.“
Wenn sie der Bewohner schon überrascht hatte, dann tat es die Wohnung erst recht. Sie stand in einem groß geschnittenen Loft, das sonnendurchflutet war. Der großen Raum war nur spärlich bemöbelt, dabei handelte es sich aber ohne Zweifel um die Designermöbel, die genau zu dieser Art von Wohnung passte.
Nicole gab den Gedanken endlich eine Wohnung gefunden zu haben, sofort auf. Das konnte sie sich niemals leisten.
„Okay machen wir es kurz“, ergriff der Besitzer das Wort und holte Nicole aus ihren Gedanken zurück. „Das Zimmer das ich zu vermieten habe, ist dieses da.“ Er zeigte mit der Hand auf die Tür, die sich direkt gegenüber dem Eingang befand. Er ging voraus und öffnete die Zimmertür. „Es ist das einzige Zimmer, das vom Badezimmer abgesehen eine Tür hat, sodass du sie jederzeit schließen kannst wenn du das willst. Zudem ist es vollständig möbeliert. Badezimmer und Küche müssen wir uns teilen. Da ich habe eh viel unterwegs bin, sollte das auch kein größeres Problem darstellen.“
Anschließend zeigte er ihr noch das Bad und die Küche und wo sich sein Zimmer befand, dass er allerdings nicht in seine Führung mit einbaute. „Also was meinst du?“ Dass er sie sofort duzte, gefiel Nicole nicht wirklich, doch sie wollte keinen schlechten Eindruck hinterlassen, nur wegen so einer Kleinigkeit.
„Die Wohnung ist der Hammer. Meine Entscheidung ist vom Preis abhängig. Und ich schätze Mal, dass die Wohnung weit über meiner Höchstgrenze liegt“, gestand sie und schaute noch einmal durch die große Panoramaglaswand, die auf eine Terrasse führte, die einmal um die gesamte Wohnung führte, sodass sie von allen Zimmern aus betreten werden konnte, mit Ausnahme des Badezimmers.
„Was wäre denn deine Höchstgrenze?“
„Ich bin angehende Studentin, da können Sie sich sicherlich denken, was sie nicht gerade hoch ist.“
„Okay, dann machen wir 200 Euro im Monat und alles ist inklusive; Internet, Telefon und die Benutzung von Bad und Küche.“
Nicole blieb der Mund offen stehen. Als sie es bemerkte, schloss sie ihn augenblicklich. Das konnte nur ein Irrtum sein, oder er machte sich einen Spaß aus ihrer Bedürftigkeit, denn nichts anderes war es in diesem Moment.
„Machen Sie keine Witze, nennen sie mir den richtigen Preis.“
„Das war kein Witz. Entweder du nimmst jetzt sofort an, oder du kannst gehen und wer anderes bekommt das Zimmer.“
„Ähm ja ich nehme das Zimmer …“, stammelte Nicole und konnte ihr Glück kaum fassen.
„Dann mach ich den Vertrag fertig. Nenn mir deine jetzige Adresse und ich schick ihn dir zu. Wann ziehst du ein?“
„In der ersten Oktoberwoche ist die Einführung für Neustudenten, also würde ich gerne in der letzten Septemberwoche einziehen, wenn das okay ist“, erklärte sie und ging in Gedanken ihren Kalender durch.
„Mir solls recht sein. Dann freue ich mich auf unser Zusammenleben. Mein Name ist übrigens Tyler.“ Jetzt reichte er ihr endlich die Hand und lächelte sie freundlich an. Das war ihr ganz entgangen, dass sie bis zu diesem Moment nur seinen Nachnamen gekannt hatte. Die Wohnung hatte Nicole komplett vergessen lassen nach seinem Namen zu fragen.
Überglücklich und erleichtert ergriff Nicole seine Hand und schüttelte sie leicht. Weniger Minuten später verabschiedete sie sich von Tyler und begann jetzt schon im Kopf an zu planen.

Eigentlich hatte der die Geschichte mit dem Mitbewohner schon lange aufgegeben, wie es schien hatte er aber einend er Aushänge vergessen, die er in der Stadt verteilt hatte. Als ihn Nicole angerufen hatte, war er überrumpelt gewesen und nicht sicher, ob es überhaupt noch einen Mitbewohner wollte. Ihre Stimme hatte ihn aber interessiert und er wollte die dazugehörige Frau sehen.
Und was dann vor seiner Tür stand, war mehr als er gehofft hatte. Schon in diesem Moment war er sich sicher gewesen, dass er ihr das Zimmer gibt, egal zu welchem Preis. Sie hatte honigblonde Haare, die im Licht der Sonne golden schimmerten. Ihre Augen waren dunkel, aufgeweckt und neugierig. Als sie vor ihm gestanden hatte, war sie ihm gerade Mal bis zur Schulter gegangen.
Er freute sich wirklich auf diese Wohngemeinschaft, das versprach wirklich interessant zu werden. Besonders für ihn, der immer wieder auf der Suche nach neuer Inspiration war. Vielleicht würde sie ihm die nötigen Ideen liefern, die er ununterbrochen brauchte.
Sie hatte ihm einen Zettel mit ihren Kontaktdaten gegeben, damit er ihr den Vertrag schicken und sie erreichen konnte, falls es noch Fragen gab. Sie hatte eine sehr schöne geschwungene Schrift, die typische Handschrift einer Frau und trotzdem sprach sie ihm mehr an, als die seiner Mitarbeiterinnen und Bekannten.
Als er an seinem Schreibtisch stand übertrug er die Daten in sein Adressbuch und in sein Smartphone, für den Fall, dass eines von beiden verloren gehen könnte. In etwas mehr als einen Monat, würde es also neues Leben in diesen vier Wänden geben.

Kapitel 2

 



Die Einführungswoche für die Uni hatte angefangen. Nicole war total aufgeregt und in ihrem Bauch schienen die Ameisen Samba zu tanzen, da sie ein permanentes Kribbeln darin verspürte. Sie hatte sich im Hörsaal zu der einführenden Vorlesung an den Rand gesetzt, da sie noch zwei große Taschen mit sich führte. Darin hatte sie alle ihre Sachen verstaut, die sie vorläufig in Hamburg benötigte.
Sobald das ganze Prozedere hier zu Ende war, würde sie sich auf direkten Weg zu ihrer neuen Wohnung machen. Nicole hatte in den letzten Tagen nur kurz mit Tyler telefonier, um ihm Bescheid zu geben, dass sie heute im Laufe des Tages auftauchen würde. Zwar hatte er ihr wie versprochen den Mietvertrag geschickt, leider aber noch keinen Schlüssel für die Wohnung.
Ihre Eltern und besonders ihre Mutter waren nicht sonderlich begeistert gewesen, als Nicole ihnen von ihrem Mitbewohner erzählt hatte. Sie musste den beiden das Versprechen geben, sich auch weiterhin nach einer alternativen Wohnmöglichkeit umzuschauen.
Mit dem Block auf dem kleinen Pult vor ihr und einem Kuli in der Hand lauschte sie den Worten des Professors, der die neuen Studenten willkommen hieß und ihnen viel Glück und Freude an ihrem Studium wünschte.
Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter: „Tut mir Leid ist der Platz neben dir noch frei? Ich bin leider etwas spät dran“; fragte die junge Frau mit den leuchtend roten Locken, die neben Nicole hockte. „Ja klar“, flüsterte sie kurz als Antwort und stand auf, um die Frau durchzulassen.
„Mein Name ist Tamara. Danke, dass du mich durchgelassen hast. Ausgerechnet heute muss die U-Bahn auch Verspätung haben“, schimpfte die Frau und stellte ihren Kaffeebecher auf dem Rand des Pults ab.
„Ich bin Nicole, freu mich. So wies aussieht werden wir uns wohl öfter sehen in nächster Zukunft“, meinte Nicole. Tamara machte einen netten Eindruck und warum sollte sie nicht schon erste Kontakte knüpfen. „Das wäre schön, denn ich kenne hier ansonsten keinen.“ „Geht mir genauso.“ Die beiden jungen Frauen lächelten sich an und wandten ihre Aufmerksamkeit anschließend wieder den Geschehnissen vor ihnen zu und machten sich allerhand Notizen.
„Also ich hoffe wir sehen uns wirklich in den nächsten Tagen und Veranstaltungen.“ „Ich denke schon. Für mich ist es ja leichter. Ich muss nur Ausschau nach roten Haaren halten. Leider muss ich jetzt aber los. Mein Mitbewohner wartet sicher schon auf mich. Dann hab noch einen schönen Tag“, antwortete Nicole und umarmte ihre neue Freundin kurz bevor sie sich auf den Weg zur nächsten U-Bahnstation machte. Ihre Taschen waren ihr jetzt schon viel zu schwer.

Eine halbe Stunde später hielt die S1 an der Haltestelle Blankenese. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur Wohnung. Nicoles Schultern schrieen bereits vor Schmer wegen des enormen Gewichtes der Taschen.
Als das verglaste Gebäude endlich in Nicoles Blickfeld kam, erschien es ihr wie der schönste Ort, den sie je gesehen hatte. Im Fahrstuhl ließ sie die Taschen krachend auf den Boden fallen, bevor sie die fünfte Etage drückte.
Oben angekommen klingelte Nicole und hoffe, dass Tyler zu Hause war. Sie war fix und fertig und wollte einfach nur noch sich auf ihr Bett legen können. Das Auspacken würde sie auf später verschieben.
Doch leider wurde ihr der Gefallen nicht getan. Selbst nach mehrfachen Klingeln und Klopfen öffnete niemand die Tür. Das hieß also warten. Damit sich die Wartezeit nicht allzu lang hinzog, schickte sie Tyler eine SMS. Aber auch darauf erhielt sie keine Antwort.
Das waren ja schon super Voraussetzungen für ihren Start in einen neuen Lebensabschnitt. Jetzt hatte sie endlich eine Wohnung gefunden und nun konnte sie nicht hinein, weil sie ihren Mitbewohner nicht erreichen konnte.
Nicole wartete über eine Stunde, als sich plötzlich die Wohnungstür öffnete. Nicole hatte sich auf den Boden gesetzt und etwas in ihrem Block geschrieben. Sie traute ihren Augen nicht. In der Tür stand Tyler und küsste offenbar zum Abschied eine Frau, der locker als Model durchgegangen wäre, bei den Beinen.
Als er sich endlich von den Lippen seiner Freundin lösen konnte, entdeckte Tyler Nicole am Boden sitzend vor seiner Tür.
„Hey, warum hast du nicht geklingelt? Oder macht es dir Spaß vor der Tür zu campieren?“, fragte Tyler und trug dabei ein süffisantes Lächeln zur Schau,
„Ich habe geklingelt, mehrfach. Ich habe dir auch eine SMS geschrieben und angerufen, aber du hast ja auf nichts davon reagiert.“ Nicole hatte keine Lust sich länger zu erklären und stand vom Boden auf.
„Dürfte ich jetzt dann bitte rein?“ Tyler zog die Frau an sich und seiner Mitbewohnerin so den Weg frei. Ein letztes Mal für diesen Tag hob Nicole ihre Taschen hoch und schleifte sie mehr oder weniger direkt in ihr Zimmer.
Aus dem Hintergrund höre sie wie sich Tyler endgültig verabschiedete und die Haustür schloss. Im Anschluss folgte er Nicole direkt in ihr Zimmer. „Tut mir Leid. Ich war beschäftigt und hatte die Klingel wirklich nicht gehört.“ „Das habe ich gemerkt und gesehen. Hör zu, gib mir einfach den Schlüssel für die Wohnung, dann wird so was nicht mehr passieren“, meinte Nicole und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Ich muss erstmal kurt ins Bad. Danach könne wir uns gerne noch unterhalten.“ Ohne auf eine Reaktion von Tyler zuwarten, ging sie an ihm vorbei und verschwand im Badezimmer.

Das hatte er wirklich etwas versäumt. Aber dieses bezaubernde Model hatte ihn einfach um den Finger gewickelt. Und Dinge die man einmal angefangen hat, sollte man doch wirklich zu Ende führen. Außerdem hatte es sich gelohnt.
Mit einen zufriedenen Lächeln ging Tyler in sein Zimmer und schnappte sich den Zweitschlüssel von seinem Schreibtisch. Gerade als er zurückkehrte, kam Nicole aus dem Badezimmer. An ihrer Augenbraue hing noch ein Tropfen Wasser, der jetzt sachte ihre Schläfe hinab lief, bis sie ihn wegwischte.
„Hier ist er.“ Tyler ließ den Schlüssel an seinem Finger baumeln und streckte seiner neuen Mitbewohnerin den Arm entgegen. Ohne zu zögern kam sie auf ihn zu und griff nach dem Schlüssel, den er im letzten Moment zurückzog. Tyler erlaubte sich einen kleinen Spaß mit Nicole, um zu sehen wie weit er bei ihr gehen konnte.
Sie legte den Kopf leicht schief und schaute ihn ungeduldig an. Beim zweiten Mal gab Tyler ihr den Schlüssel wirklich.
„Danke“
„Lust auf einen Kaffee? Du siehst aus als könntest du einen gebrauchen.“
„Ja gerne. Mit viel Milch bitte“; nahm Nicole das Angebot an und setzte sich auf einen der Barhocker, die vor dem Tresen in der Küche standen. Der Tresen war etwas höher gesetzt als die Arbeitsplatte der Kochinsel, aber genau so breit. Meistens nutzte Tyler ihn als Esstisch, wenn Freunde zu Besuch waren.
„Als was arbeitest du eigentlich, wenn du dir so eine Wohnung leisten kannst?“, erkundigte sich Nicole und ließ dabei ihren Blick durch das großflächige und helle Loft schweifen. Tyler setzte in der Zeit den Kaffee auf und beobachtete sie dabei.
Sie hatte etwas an sich, das er sehr interessant fand, doch was genau es war, konnte er nicht sagen.
„Ich arbeite als Creativ Director in einer Werbeagentur. Ich mache meinen Job ziemlich gut, sodass ich mir dieses Loft leisten kann. Außerdem habe ich die nötigen Kontakte in Hamburg.“
„Klingt interessant. Werbebranche, dann bist du also für all diese nervigen Werbespots verantwortlich die einem aus dem Fernseher anschreien“, scherzte Nicole und stützte ihren Kopf mit dem linken Arm ab. „Nein nicht für alle. Nur für die wirklich guten“, antwortete Tyler und stellte zwei Tassen auf den Tresen.
„Du hältst ja wirklich viel von dir“, murmelte Nicole und bereute es schon in diesem Moment es gesagt zu haben. „Das stimmt. Ich habe genug Zuspruch für meine Arbeit bekommen, um dies zu tun. Außerdem was weißt du schon von meiner Arbeit. Schließlich bist du nur eine kleine Studentin.“
Er ließ sich nicht gerne beleidigen und schon gar nicht von seiner neuen Mitbewohnerin. Außerdem, wenn sie ihn so provokant antwortete, ist es ihm ein Vergnügen es auf gleiche Weise zurückzugeben. Offenbar hatte er sie damit in ihre Schranken gewiesen, denn nun sagte sie gar nichts mehr.
Als der Kaffee fertig war, setzte er sich zu Nicole an den Tresen. „Du musst sagen, wenn es reicht und wie viel Milch du willst.“ Vorsichtig goss er das heiße Getränk in ihre Tassen und füllte anschließen die Milch hinzu. Nicole trank ihren Kaffee anscheint mit soviel Milch das er nur noch die Farbe von beigen Leinen hatte.
„Und wie war dein erster Tag an der Uni?“ „Eigentlich ganz gut. Die Seminare und Vorlesungen gehen ja erst nächste Woche richtig los. Diese ist nur die Einführung. Da fällt mir ein ich muss mich nachher noch dazu einschreiben. Kann ich dann mal dein Internet nutzen, bis ich meinen Laptop darauf eingestellt habe?“
Nicole stellte ihre Frage nicht mehr so offensiv wie vorher. Sie wirkte beinahe verschüchtert und klammerte sich an ihrer Tasse fest, an der sie zaghaft nippte. „Sicher. Der Computer steht in meinem Schlafzimmer. Er ist an, also kannst du jederzeit ran gehen“; antwortete Tyler und schenkte sich noch eine zweite Tasse Kaffee ein.
„Da mach ich es lieber gleich.“
Aus ihrer Tasche holte Nicole einen Block und ein kleines Heft, das das Wappen der Universität Hamburg trug. Damit und ihrer halbvollen Tasse durchquerte sie den Raum und verschwand um die Ecke, wo sich sein Schlafzimmer befand.

Die Unterhaltung war ihr so unangenehm geworden, nachdem Tyler sie als kleine Studentin bezeichnet hatte, dass sie krampfhaft nach einen Grund gesucht hatte, diese zu beenden.
Als sie in sein Zimmer trat, entdeckte sie sofort seinen Schreibtisch, der überraschend ordentlich aussah. Ganz im Gegensatz zu seinem Bett, das ihr als nächstes ins Auge stach.
Die Lacken waren völlig zerwühlt und eines der Kissen lag in der Ecke auf dem Boden.
Somit war also geklärt mit was Tyler so beschäftigt gewesen war. Nicole konnte spüren wie ihr die Röte in Wangen schoss und wendete sich schnell von diesem Anblick ab. Sie kaute verlegen auf ihrer Unterlippe herum und setzte sich an den Schreibtisch.
Das hier war wichtig, also sollte sie sich konzentrieren und vergessen was sich hinter ihr befand. Nicole atmete einmal tief durch und schlug dann das kleine Heft auf in dem alle Veranstaltungen genannt wurden.
Es dauerte eine Weile bis sie alles zusammen hatte und es auch zu keinen Überschneidungen kam. Das System für die Einschreibung war vollkommen überlastet und hängte sich ständig auf, sodass Nicole die ganze Vorgang drei Mal wiederholen musste, bis sie endlich für alles eingeschrieben war.
Danach hatte sie wirklich genug für diesen Tag. Es war zwar erst sieben Uhr abends, aber das war ihr egal. Schnell bezog sie noch ihr Bett und suchte ihr Nachthemd heraus.
Tyler hatte es sich vor dem Fernseher bequem gemacht. Ohne viel Theater wünschte sie ihm eine gute Nacht und zog sich dann in ihr Zimmer zurück.
Den Wecker stellte sie noch. Das sie nicht genau wusste wie lange sie früh brauchte und wie lange der Weg zur Universität am Morgen war, stellte Nicole den Wecker eine halbe Stunde früher, um auf Nummer Sicher zu gehen.
Kaum hatte sie sich hingelegt, übermannte sie auch schon eine angenehme Schwere, die sie nach nur wenigen Minuten ins Land der Träume führte.

Kapitel 3



Die Einführungswoche war so voll gestopft, dass Nicole am Freitagabend nicht mehr wusste wo ihr der Kopf stand. Vor ihr auf dem für sie noch neuen Schreibtisch lag ein Berg an Infoblattern, Unterlagen, Mitschriften und Vorlesungsbroschüren.
Jeden Tag war sie von einer Veranstaltung zur nächsten gehetzt, hatte versucht sich schon mal einen Überblick über das Unigelände zu verschaffen und dann festgestellt, dass dies kaum möglich war, weil die Universität in ganz Hamburg verteilt lag. Das einig gute war, dass in der Nähe des Philosophenturmes, wo sie hauptsächlich ihre Veranstaltungen hatte, sich eine Mensa und die große Unibibliothek befanden.
Jetzt fand Nicole die ersten Stunden, in denen sie mal zur Ruhe kam. Tyler hatte sie in der Woche auch kaum zu Gesicht bekommen. Entweder war er erst spät in der Nacht gekommen, was Nicole gehört hatte, da sie einen ziemlich leichten Schlaf hatte und das Gekicher seiner Begleiterinnen wirklich jeden aufgeweckt hätte, oder Tyler war schon wieder unterwegs. So oder so, war seit ihrem letzten gemeinsamen Kaffee kein richtiges Gespräch mehr zwischen ihnen zustande gekommen.
Das erste was sie am nächsten Tag nach dem Frühstück in angriff nehmen wollte, war ihr Zimmer endlich etwas einzurichten. Der Großteil ihrer Kleider war immer noch in ihren Koffer und den Taschen verstaut. Die letzten Tage hatte Nicole, das was sie brauchte schnell rausgesucht und den Rest liegen lassen.
Sie war sonst nicht der Typ, der alles dort liegen ließ wo er gerade stand. Doch extreme Situationen erforderten nun einmal extreme Maßnahmen. Nicole musste auch dringend noch ihre Eltern anrufen. Die Woche über hatte sie ihnen nur kurze Nachrichten geschrieben, damit sie sich keine Sorgen machte. Aber sie kannte ihre Eltern gut. Sie würden sich mit diesen Nachrichten nicht zufrieden geben, sondern alles ganz genau wissen wollen. Die Frage war nur, sollte sie es jetzt hinter sich bringen oder dies auch auf den nächsten Tag verschieben?
Nicole entschied sich lieber fürs erstere. Je länger man ungeliebte vor sich her schob desto schlimmer wurde es am Ende.
Mit ausgestrecktem Arm tastete Nicole blind nach ihrem Handy, das sie irgendwo auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. Zum Aufstehen fehlte ihr jetzt die Kraft. Nach mehreren Fehlversuchen schlossen sich auch endlich ihre Finger um das alte Ding. Für sie musste ein Handy nur SMS verschicken können und zum telefonieren geeignet sein. Beide Aufgaben erfüllte das also Nokia, das einige wohl schon als retro bezeichnen würden.
„Hallo mein Liebling. Ich dachte schon du meldest dich gar nicht mehr. Ich habe mir schon das schlimmste ausgemalt, was mit dir passiert sein könnte“, erklang die etwas schrille Stimme ihrer überbesorgten Mutter. Frau Biedermann ging immer gleich vom Schlimmsten aus, wenn sie nicht über alles genausten Bescheid wusste. Darum war es für Nicole auch ein ziemlicher Akt gewesen sie davon zu überzeugen ihre Tochter nach Hamburg gehen zu lassen.
„Hallo Mama, mir geht es bestens. Ich hatte nur viel zu tun und somit kaum Zeit, um mich zu melden. Also mach dir bitte keine unnötigen Sorgen um mich“, versuchte Nicole zu beruhigen, schien damit allerdings nicht viel Glück zu haben.
„Geht es dir auch wirklich gut? Benimmt sich dein Mitbewohner? Du weist ich bin nicht begeistert davon, dass du dir diese Wohnung mit einem Mann teilst. Wer weiß was das für einer ist.“
Immer die gleiche Leiher. Genervt verdrehte Nicole die Augen, was ihre Mutter zum Glück nicht sehen konnte. Sie mochte es gar nicht wenn ihre Tochter dies tat.
„Tyler ist wirklich in Ordnung. Er ist so wie so nicht viel zu Hause, da er so viel arbeitet. Und außerdem ist das hier seine Wohnung und ich bin froh, dass ich überhaupt noch eine Unterkunft gefunden habe.“ Wenn ihre Mutter wüsste, wie Tyler wirklich ist, würde sie sie sofort aus diesen vier Wänden holen. Aber Nicole wusste ja selbst noch nicht besonders viel über ihrer Mitbewohner, weshalb sie sich lieber kein voreiliges Urteil bildete.
„Mama wirklich. Die Uni hat mich diese Woche ziemlich in Beschlag genommen und wenn es dann nächste Woche richtig losgeht, werde ich auch nicht öfter Zeit haben mich bei euch zu melden. Also hab nicht immer solch eine Angst um mich. Ich bin ein großes Mädchen und kann mich durchsetzten“, erzählte Nicole weiter in der Hoffnung ihre Mutter zu beruhigen. „Da bin ich mir noch nicht so sicher meine Kleine. Du bist jetzt so weit weg, da können wir nicht einfach mal so vorbeikommen, wenn dir was fehlt.“
„Das braucht ihr auch nicht. Ich hab schon eine meiner Mitstudentinnen kennen gelernt, die sehr nett erscheint. Ich bin hier also nicht allein. Ich werde mich in Hamburg schon einleben. Außerdem habe ich es mir so ausgesucht. Bitte respektiert das, Mama“, schon vor ihrer Zusage und erst recht nachdem sie den Vertrag mit Tyler unterschrieben hatte, hatte ihre Mutter alles versucht, um Nicole doch noch umzustimmen. Alles Betteln und Flehen hatte aber nichts gebracht.
„Ich versuchs“, klang es kleinlaut durch die Leitung.
„Das freut mich Mama. Du wirst schon sehen es wird alles gut werden. Ich meld mich dann wieder nächstes Wochenende. In der Woche werde ich es wohl kaum schaffen. Bestell Papa einen schönen Gruß von mir. Ich hab euch lieb.“
Nachdem sich auch Frau Biedermann verabschiedet hatte, legte Nicole auf und ließ da Handy neben ihren Kopf aus Bett fallen. Das Telefonat war besser gelaufen, als sie vermutete hatte, obwohl ihre Mutter erneut versucht hatte Nicole nach Hause zurück zu holen.

Heute hatte er es mal früher aus dem Büro geschafft. Als Tyler die Tür hinter sich schloss, massierte er sich den verspannten Nacken. Eines seiner Projekte war kurz vor der Fertigstellung. Jetzt brauchte er nur noch das Okay der Auftraggeber und die Werbung konnte in den Druck gehen. Weil er bis dahin nichts weiter tun konnte, hatte er das Büro früher als sonst verlassen.
Ein entspannter Abend zum Ende der Arbeitswoche war schon was Feines. Als er im Flur seine Jacke in der Garderobe verstaute, drang leise die Stimme von Nicole an sein Ohr. Sie schien wohl mit ihren Eltern zu telefonieren. Zumindest vermutete Tyler dies, aus dem was er von dem Gespräch aufschnappte.
Es war schon irgendwie komisch nach Hause zu kommen und zu wissen, da ist nun jemand. Vorher hatte er allein hier gewohnt und war gekommen und gegangen, wie ihm der Sinn danach stand ohne dabei Rücksicht auf jemanden nehmen zu müssen.
Den Sport würde er heute auch ausfallen lassen. Stattdessen ging er zur Küche und öffnete den Kühlschrank. Viel war nicht darin zu finden. Glücklicherweise befand sich aber noch ein Bier darin, dass Tyler nun mit einem breiten Grinsen öffnete. Während er sich einen großen Schluck genehmigte, steuerte er das Sofa an und schaltete den Flachbildschirm ein. Wäre er nicht so auf sein Äußeres bedacht, würde er dies viel öfter tun. Aber sein Job erforderte nun einmal ein makelloses Aussehen.
Wirklich etwas Interessantes hatte das Fernsehprogramm an diesen Abend nicht zu bieten. Und das an einem Freitagabend, ging es Tyler durch den Kopf und leerte die Flasche mit einem Zug.
Na ja es war erst am frühen Abend, vielleicht würde sich ja noch was tun. An der großen Kochinsel stellte er die leere Flasche in den Korb mit den Pfandflaschen. Knurrend meldete sich Tylers Magen zu Wort. Am Tag war er nicht wirklich dazu gekommen sich einen Happen zu besorgen. Die Folgen bekam er nun überdeutlich zu spüren.
Am Kühlschrank ging zum Glück eine große Auswahl an Lieferdiensten in der Nähe. Da das Innere des Kühlschranks beinahe so leer war, wie sein Magen würde einmal mehr das Essen von außerhalb zu ihm kommen.
„Nicole kannst du mal kurz kommen?“, rief Tyler und schwankte zwischen Indisch und Chinesisch. Er wollte zumindest versuchen ein netter Mitbewohner zu sein. Wenn er sich schon etwas bestellte, wollte er Nicole die Möglichkeit geben, die Gelegenheit ebenfalls zu nutzen.
Zu seiner Überraschung erhielt Tyler aber keine Antwort. Komisch, er hatte sie doch gerade noch telefonieren gehört. Sie musste also da sein. Es war schließlich unmöglich sich unbemerkt aus der Wohnung zu schleichen, wenn sie jemand im Wohnzimmer oder in der Küche aufhielt. Selbst von seinem Schlafzimmer aus bekam er jede Bewegung in diesen vier Wänden mit.
Vielleicht hatte er ja nicht laut genug gerufen, also versuchte Tyler es noch ein zweites Mal.
„Nicole ich will was zu Essen bestellen. Komm und such dir auch was aus.“ Wieder keine Reaktion, nicht einmal der kleinste Laut, der deutlich machte, dass sie ihn Beachtung schenkte. Er war es nicht gewohnt so missachtet zu werden und es brachte ihn ungemein auf die Palme, wenn man ihm nicht zuhörte. Er meinte es schließlich nur gut und hatte gehofft so das Eis zwischen ihnen etwas zu brechen. Bisher hatte Nicole einen sehr schüchternen Eindruck auf ihn gemacht. Vielleicht brauchte sie auch einfach nur etwas Zeit, um sich an neue Personen in ihrer Umgebung zu gewöhnen.
Jetzt hatte er aber eher das Gefühl, dass sie gar nichts mit ihm zu tun haben wollte und ihn absichtlich keine Antwort gab. Wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, würde die Geschichte hier aber kein gutes Ende nehmen und schon bald vorbei sein.
Mit strammem Schritt und innerlich schon auf hundertachtzig marschierte Tyler von der Küche direkt auf Nicoles Zimmer zu. Mit etwas zu viel Wucht drückte er die Türklinke und trat in das geräumige aber immer noch etwas kühl wirkende Zimmer.
Seine Mitbewohnerin saß im Schneidersitz an ihren Schreitisch und tippte wie eine Weltmeisterin auf ihren Laptop ein. Sie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass Tyler in ihr Zimmer gekommen war.
Etwas aus dem Konzept gebracht durch den unerwarteten Anblick verharrte Tyler an der Tür. Junge, Junge sie wäre eine hervorragende Assistentin, wenn sie immer so schnell ihre Texte auf dem PC tippte, schoss es dem Medienmenschen in ihm durch den Kopf.
Sein Unmut über ihre Missachtung war aber deswegen immer noch nicht ganz verrauscht. Erst bei einem zweiten genaueren Blick bemerkte Tyler die dünnen schwarzen Kabel, die zu ihren Ohren führten. Nicole hatte Kopfhörer im Ohr, weswegen sie ihn die ganze Zeit nicht gehört hatte.
Jetzt verrauschte auch das letzte bisschen brennende Wut. Vorsichtig trat der junge Mann hinter Nicole und schaute ihr über die Schulter, um zu sehen was sie da so versunken schrieb. Sein Schatten fiel auf die Tischplatte.
Sofort stoppte die dünnen flinken Finger ihre Arbeit. Ganz langsam und mit angespannten Schultern drehte sich Nicoles Kopf zu ihm um. Obwohl sie ihn schon bemerkt haben musste, erschrak sie und wäre beinahe vom Stuhl gekippt, wenn Tyler nicht so schnell reagiert hätte und sie an den Schultern packte. In ihrem Schneidersitz hätte Nicole sich selbst nicht abfangen können und wäre auf dem Boden gelandet.
Sachte zog Tyler einen der Ohrstöpsel aus Nicoles Ohr. „Sorry ich wollte dich nicht erschrecken, aber du hast nicht auf meine Rufe reagiert.“
„Äh ja … schon okay. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass du nach Hause gekommen bist“, antwortete Nicole. Der Schreck steckte ihr immer noch in den Knochen, sodass ihre Sätze etwas abgehackt klangen.
„Weswegen hast du mich denn gerufen?“
Mit ihren großen Rehaugen schaute sie verunsichert zu Tyler auf und löste endlich ihre verknoteten Beine und stellte ihre Füße auf festen Boden. Tyler konnte sich ein leichtes Schmunzeln über ihre Unsicherheit und Zurückhaltung nicht verkneifen.
„Ich wollte mir was zu essen bestellen und fragen, ob du vielleicht auch etwas willst.“
„Ja ich nehme gerne auch was. Ich bin nicht mehr zum Einkaufen gekommen, das wollte ich auf morgen verschieben. An was hattest du gedacht?“
„Die Auswahl ist groß. Such dir was aus, ich lad dich heute ein. Als eine Art Willkommensessen.“
Kaum war Tyler das Angebot über die Lippen gekommen, trat erneut ein Hauch von Angst in ihre Augen. Auf Tyler machte sie den Eindruck eines eingeschüchterten Kindes, das man in den Arm nehmen musste, damit es sag, dass nichts Schlimmes passieren konnte.
„Wenn du darauf bestehst.“
„Ja, das tu ich“, meinte er und lehnte sich an die Kochinsel, während Nicole die Speisekarten der verschiedenen Lieferdienste durchsah. Sein Hunger hatte mittlerweile beinahe unerträgliches Ausmaß angenommen, sodass er innerlich betete, dass sie sich schnell entschied.
„Ich nehme was vom Inder. Ich habe schon eine Ewigkeit kein Indisch mehr gegessen und dabei ist es so lecker“, entschied sich Nicole und zeigte auf die Nummer für die sie sich entschieden hatte. Keine fünf Minuten später hatte Tyler die Bestellung aufgegeben und wartete nun ungeduldig auf das Klingeln der Tür.
„Ich fahr nur schnell meinen Laptop runter. Bis das Essen kommt haben wir ja noch etwas Zeit, um eine Einkaufsliste zu machen mit dem … was … wir brauchen.“ Es war wirklich unglaublich wie leicht sich dieses Mädchen verunsichern ließ. Schon bei dem kleinsten Blick, der etwas von einem strahlendem Lächeln abwich, machte sie sich Sorgen etwas falls gemacht zu sein.
„Klar“

Sie hatte befürchtet, dass ihr gleich das Herz stehen bliebe, als sie den leichten Schatten auf ihrem Schreibtisch bemerkt hatte. Also sie dann auch noch festgestellt hatte, dass ihr Mitbewohner wirklich in direkt hinter ihr stand, hatte es sie vom Stuhl gehauen. Nur dank seines schnellen beherzten Griffes war ihr der überaus peinliche Sturz zu Boden erspart geblieben.
Nicole hatte gar nicht bemerkt wie er nach Hause bekommen war. Sie musste wirklich aufmerksamer sein. Dennoch fand sie es irgendwie nett, dass er an sie gedacht hatte. Das heute war die erste Gelegenheit ihn etwas besser kennen zu lernen. Der intensive Blick seiner blauen Augen schüchterte Nicole jedoch noch ziemlich ein. Und das schien ihm auch nicht verborgen zu bleiben. Sie musste unbedingt daran übern in ihrem Gesicht nicht gleich jede ihrer Regungen zu zeigen.
Bewaffnet mit Stift und Block kam Nicole zurück in die Küche und setzte sich auf einen der Barhocker die an dem erhöhten Teil der Kochinsel, der als Tresen diente stand.
„Also viel scheint ja wirklich nicht mehr in Haus zu sein“, bemerkte Nicole und tippte immer wieder mit dem Ende des Stiftes an ihre Lippe. Das tat sie fast immer wenn sie über etwas nachdachte.
„Eigentlich kannst du dir das Schreiben eines Zettels sparen, denn wir brauchen alles. Grundnahrungsmittel, Trinken und alles was sonst noch dazu gehört“, meinte Tyler und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Dazu gesellten sich Messer und Gabel sowie zwei Servietten. Er hatte vermutlich Recht, aber Nicole hatte keine Ahnung wie sie dass alles auf einmal hierher schaffen sollte.
„Vielleicht beschränken wir uns erst mal auf das Wichtigste, wenn ich krieg bei aller Liebe nicht mehr als zwei gut gefüllte Einkaufstüten hierher.“ „Wer sagt denn, dass du alleine einkaufen gehst? Das machen wir zusammen und auch nicht zu Fuß, sondern wir nehmen meinen Wagen.“ Tyler antwortete, als ob es das normalste auf der Welt wäre, dass sie zusammen einkaufen fahren würden.
„Ähm, wenn du meinst …“
Das Schweigen, das sich erneut zwischen ihnen ausbreitete, machte die Situation nicht gerade angenehmer und Nicole spürte wie sich der innere Drang in ihr verstärkte sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Es hätte zu keinen günstigeren Zeitpunkt an der Tür klingeln können, als in diesem Moment.
Während Tyler an der Tür die Essensbestellung entgegennahm, atmete Nicole erleichtert auf und füllte ihr Glas mit Mineralwasser.
„Möchtest du auch?“
„Schenk ein“, antwortete Tyler, der mit einem total lässigen Gang in die Küche zurückkam, wie ihn Nicole noch nie gesehen hatte. Er musste wirklich vollkommen zufrieden sein mit sich und der Welt. Anders konnte man nicht so eine Ausstrahlung an den Tag legen, ging es Nicole durch den Kopf, als sie die Flasche zurück in den Kühlschrank legte.
„Stört es dich direkt aus der Schachtel zu essen?“
„Nein überhaupt nicht. Damit sparen wir uns den Abwasch.“
„So wie es aussieht, haben wir doch etwas gemeinsam. Weder du noch ich spülen gerne das Geschirr“, stellte ihr gut aussehender Mitbewohner fest und schob sich einen großen Bissen in den Mund.
„Dass du häufig abwaschen musst, kann ich mir kaum vorstellen, so selten wie du zu Hause bist. Außerdem hast du da auch noch eine Spülmaschine, somit hätte sich das Problem schon von vorneherein erledigt.“
„Die Arbeit nimmt mich halt voll in Anspruch. Da bleibt nicht viel Zeit zum Kochen.“
Das Essen schmeckte köstlich. In den letzten Tagen hatte sich Nicole hauptsächlich von kleinen Snacks und belegten Brötchen ernährt, sodass ihr Curry ihr wie der Himmel auf Erde vorkam, so gut schmeckte es.
„Ich hab zu Hause öfters gekocht. Doch wenn ich mir meinen Stundenplan so ansehe, werde ich dazu auch nicht mehr allzu viel Zeit haben. Ab nächster Woche geht es richtig los. Ich bin schon ziemlich gespannt darauf, was da so alles auf mich zukommen wird.“
Während des Essens unterhielten sich die zwei kaum noch. Sie waren zu sehr mit ihrem Essen beschäftigt und Nicoles gute Erziehung verbot es ihr mit vollem Mund zu sprechen.
„Warum eigentlich ausgerechnet Germanistik? Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, dass man damit etwas anfangen kann.“ Nicole beförderte gerade die leeren Essenschachteln in den Mülleimer. Innerlich stöhnte sie genervt auf. Diese Frage war ihr in den letzten Wochen so oft gestellt wurden und würde sie sich wohl auch noch mehrere Male anhören müssen.
„Tja, ich habe mir mein Studium nach meinen Interessen ausgesucht. Ich liebe Bücher und möchte auch gerne später damit arbeiten. Vielleicht erhoffe ich mir auch viel zu viel davon, aber ich sehe nicht ein irgendetwas mit Wirtschaft zu studieren, nur weil damit meine Chancen größeren sind später eine gut bezahlte Arbeit zu bekommen. Wenn mich etwas nicht interessiert, fälle es mir auch ungemein schwer mich darauf einzulassen.“ Nicole hatte die Antwort schon so oft gegeben und hatte dafür skeptische bis belustigte Blicke erhalten. Die meisten hatten ihr darauf geantwortete, das sie dumm wäre darauf zu hoffen in ihren Traumberuf einen Job zu finden. Heute wäre das nahezu unmöglich. So leicht wollte Nicole sich aber nicht geschlagen geben und ihre Träume über Bord werfen.
„Das klingt ja alles gut und schön, aber wäre es da nicht besser gewesen Anglistik oder Romanistik zu studieren? Da hättest du wenigstens noch etwas mit Fremdsprachen gehabt.“
„Ich habs nicht so mit Fremdsprachen. Vielleicht hast du recht, wenn ja kann ich das später aber immer noch irgendwie in meinem Studium unterbringen.“
„Hmm du scheinst ja ziemlich optimistisch zu sein. Aber ich gib dir schon jetzt den Tipp dich auf nichts und niemanden zu verlassen. Wenn du wirklich etwas erreichen möchtest, schaffst du das nur wenn du dich richtig reinhängst und dir deinen Weg frei kämpft.“ Tyler sagte dies mir so einer Ernsthaftigkeit, dass sich Nicole fragte, ob er es selbst so gemacht hatte.
War er wirklich so ein Einzelgänger? Bisher hatte Nicole einen ganz anderen Eindruck vermittelt bekommen.
„Hast du es so zum Creativ Director geschafft?“
„Ja und ich lebe immer noch nach dieser Devise. Er mir im Weg steht oder mich behindert, der hast nichts zu lachen bei mir.“
Nicole wollte lieber nicht weiter nachfragen, was sie sich genau darunter vorzustellen hatte. Seine blauen Augen hatten einen dunkleren Ton angenommen und sprühten nur so vor Entschlossenheit.

 

Kapitel 4

 

Als Nicole in der Tiefgarage vor einer der zehn Parkbuchten stand in der ein nagelneuer silberner Mercedes geparkt war, frage sie sich zum wiederholten Male wie viel Tyler als Creativ Director im Monat wohl verdiente. Das erste Mal war ihr die Frage durch den Kopf geschossen, als sie in das Loft gezogen war und ihr Mitbewohner ihr erzählt hatte welchen Beruf er ausübte.

Sie behielt ihre Gedanken was das Materielle anging aber lieber noch für sich. Sie wusste nicht wie Tyler darauf reagieren würde und hatte auch nicht das Bedürfnis danach noch einmal seine boshafte Seite kennen zu lernen. Das eine Mal hatte vollkommen gereicht.

„Nun steig schon ein, oder willst du hier Wurzeln schlagen?“, holte Tyler Nicole aus ihren Gedanken in die Realität zurück.

Peinlich berührt nahm sie auf den Beifahrersitz platz und legte den Sicherheitsgurt an. „Du bis eine kleine Tagträumerin was?“, grinste Tyler und startete den Motor. Geschickt lenkte er den Wagen aus der Bucht und steuerte das Gittertor an, das sich automatisch öffnete.

„Ähm…“

„Du brauchst gar nicht versuchen es abzustreiten. Ich hab dich schon ein paar Mal dabei erwischt, dass du in den helllichten Tag hinein mit den Gedanken ganz woanders bist. Wenn du nicht aufpasst, kann das böse enden.“

Jetzt wusste Nicole gar nicht mehr was sie darauf antworten sollte. Er hatte schon Recht damit, dass sie manchmal mit den Gedanken abschweifte, aber immer nur, wenn sicher war, dass sie alles erledigt hatte und sie sich auf nichts anderes konzentrieren musste.

Nachdem sie Tyler am Abend zuvor erklärt hatte, warum sie sich die Germanistik als Studienfach ausgesucht hatte, war er ohne weiteren Kommentar in sein Schlafzimmer verschwunden und hatte sich an seinen Schreitisch gesetzt, um noch ein paar Dinge zu erledigen. Nicole war sich nicht sicher was sie davon halten sollte. Hielt er sie nun für naiv und leichtsinnig, da sie ihren Traum nicht aufgeben wollte oder hatte er Respekt vor ihren Mut diesen Weg einzuschlagen? Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Was er dachte, konnte sie auch nicht entschlüsseln. Bisher blieb Tyler Stark ein großes unlösbares Rätsel für sie.

Die Gegend, die nun ihr neues Zuhause war, kannte Nicole noch nicht wirklich gut. Um sich einen Überblick zu verschaffen, hatte ihr bisher einfach die nötige Zeit gefehlt. Darum genoss sie die Fahrt und schaute aus dem Fenster, während Tyler sie sicher, durch den dichten Verkehr der Stadt führte.

Während der Fahrt wechselten sie kein weiteres Wort. Es war noch schwierig zwischen ihnen. Sie wohnte zwar zusammen, hatten aber noch keine Richtige Verbindung zu einander aufgebaut. Zudem hatte Nicole noch ein paar Vorbehalte ihm gegenüber. Was sie bisher von Tylers Leben mitbekommen hat, entsprach sein Lebensstil ganz und gar nicht ihren Vorstellungen. Er ergriff jede Gelegenheit, die sich ihm bot und war auch sonst offensichtlich kein Kostverächter. Zumindest schlussfolgerte Nicole dies aus dem ständigen attraktiven Besuch, den ihr Mitbewohner mit nach Hause brachte.

Tyler hielt auf dem Parkplatz einen riesigen Lebensmittelladens. Nicole kannte Läden dieser Größenordnung nicht. In der eher ländlichen Gegend, aus der sie kam, war das größte was sie kannte real oder Kaufland. Im Vergleich, waren diese allerdings ein Witz.

„Ich hol einen Wagen, dann kannst losgehen.“

Nicole wartete bis Tyler zurück war und folgte ihm dann ins Innere. Ihr fielen beinahe die Augen heraus. Bei der Auswahl und Menge, wusste Nicole kaum wo sie zuerst hinschauen sollte. Damit Tyler ihre leichte Überforderung, aber nicht sofort bemerkte, tat  Nicole so, als würde sie sich nur interessiert umschauen, um sich zu orientieren.

„Pack alles in den Wagen was du brauchst. Über die Kosten können wir uns nachher den Kopf zerbrechen.“

„Bist du dir sicher? Ich meine, ich bin davon ausgegangen, dass jeder seinen Teil selbst bezahlt“, fragte Nicole noch einmal nach und konnte deutlich den leicht verzweifelten Ausdruck in Tylers Gesicht erkennen. Doch anstatt ihr zu antworten, schüttelte er nur den Kopf, sodass ihm die schwarzen Haare um den Kopf flogen.

 

Nach zwei Stunden, waren die beiden zurück. Der Kofferraum des Mercedes war gut gefüllt. Jetzt hieß es alles nach oben zu schaffen. Nicole griff sich zwei der Tüten und wollte gerade noch nach der Selter greifen, als ihr Tyler zuvor kam.

„Das wird doch viel zu schwer. Nimm du die Tüten. Ich übernehme die Getränke. Ich habe keine Lust fünf Mal hoch und runter zu müssen.“ Da war wieder dieser Ausdruck in seinen Augen, der keine Widerworte zuließ. Wenn er so auch mit seinen Mitarbeitern umsprang, hatten diese sicher nicht sehr oft etwas zu lachen.

Gleichzeitig unterstrich es aber auch Tylers eigene Worte. Jeder der ihm im Weg stand oder ihn behinderte, schaffe er weg.

Bisher war der Tag gut gelaufen, sodass sich Nicole das nicht verderben wollte. Mit einem kurzen Schulterzucken, schnappte sie sich noch die dritte Tüte und ging dann zum Aufzug. Um den Knopf zu drücken, musste Nicole die Einkäufe abstellen, da diese doch schwerer war, als sie gedacht hatte.

Gerade als sich die Türen öffneten, trat auch Tyler zu ihr und stellte die zwei Getränkekästen in den Fahrstuhl. Stumm musste Nicole zugeben, dass sie beeindruckt war. Natürlich war Tyler gut gebaut und durchtrainiert, aber er besaß auch die nötige Kraft in den Armen, um so locker die beiden schweren Kästen zu tragen.

Sie waren gerade zur Tür herein und dabei die ganzen Einkäufe auszupacken und zu verstauen, da klingelte Tylers Handy. Das war allerdings nach Nicole bisher eher spartanischer Erfahrung nichts Neues. Wenn Tyler nicht gerade einmal angerufen wurde, war er es, der jemanden anrief. Ständig war er mit seinem Handy beschäftigt, sogar am Wochenende, wie es schien.

Kaum hatte Tyler den Anruf angenommen, ließ er auch alles stehen und liegen und zog sich in sein Zimmer zurück. Da der Raum jedoch nicht von der Küche und dem Wohnbereich durch eine Tür angegrenzt war, konnte Nicole immer wieder vereinzelte Worte aus dem Gespräch mithören. Das war halt der Nachteil an einem Loft. Wirklich etwas geheim oder privat halten, konnte man nur sehr schwer.

In solchen Momenten war Nicole immer wieder froh darüber, dass sie das einzigen Zimmer, vom Bad einmal abgesehen, bekommen hat, das eine Tür hatte, die man jeder Zeit hinter sich schließen konnte. Dadurch hatte sie zumindest den Anschein ihrer eigenen kleinen Welt.

Das Telefonat zog sich hin, also machte sich Nicole allein an die Arbeit die Lebensmittel zu verstauen. Sie benötigte dafür viel länger, als sie gedacht hatte, denn Nicole musste selbst erst einmal schauen wohin alles gehörte. So viel Zeit hatte sie in der Küche noch nicht verbracht, um sie schon in- und auswendig zu kennen.

Als dann auch die zwei Kästen in einer Ecke der Küche verstaut waren, war Tyler immer noch nicht aus seinem Zimmer zurückgekommen. Von der ganzen Schlepperei war Nicole leicht außer Atem. Erschöpft nahm sie auf einen der Barhocker im Küchentresen Platz und atmete einmal tief durch. Sie musste unbedingt etwas für ihre Kondition tun. Allerdings war Sport noch nie etwas für sie gewesen.

Auf dem Tresen lag der Kassenzettel vom Einkauf. Tyler musste ihn vorhin dort abgelegt haben, denn er hatte gezahlt und sich auch nicht davon abhalten lassen. Um zu sehen wie viel sie ihm schuldete, warf Nicole einen genaueren Blick darauf und rechnete ihm Kopf die Einzelnbeträge zusammen. Während sie die Summer noch überschlug, griff sie mit der freien Hand in ihre Tasche und tastete nach ihrer Geldbörse.

Da Nicole diese mit ihrer ungenauen Wühlerei nicht findet, beugt sie sich zur ihrer Taschen. Just in diesem Moment zog Tyler ihr den Kassenbeleg aus der Hand. Nicole hatte gar nicht mitbekommen, dass er endlich fertig war mit dem Telefonieren.

„Ich hatte doch gesagt, wegen den Kosten brauchst du dir keine Gedanken zu machen“, meint Tyler und zerknüllt den Zettel in der Hand, bevor er ihn mit einen treffsicheren Wurf in den Mülleimer wirft.

„Ich will meine Rechnung aber begleichen“, protestiert Nicole, während sie sich wieder aufrecht auf den Stuhl setzt.

„Ich nehme dein Geld aber nicht an“, antwortete Tyler ihr und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Mit einem kurzen Blick über die Schulter, fragte er seine Mitbwohnerin, ob sie auch einen wollte, was sie ablehnte.

„Wenn du das Geld so nicht nimmst, dann bezahle ich das nächste Mal, wenn wir gemeinsam Einkaufen fahren.“ Nicole wollte Tyler nichts schuldig bleiben. Sie hatte es noch nie gemocht, wenn jemand für sie bezahlte. Darum hatte Nicole den Betrag immer so schnell wie möglich ausgeglichen.

Tyler schien sie nicht ernst zu nehmen. „Wenn du meinst…“, sagte er nur und zuckte nur mit den Schultern. Auch wenn er es nett zu meinen schien, Nicole musste selbst klar kommen. Deswegen war sie ja nach Hamburg gekommen, um selbstständig zu werden. Hätte sie auch weiterhin sich auf andere verlassen wollen, wäre sie in der Nähe ihrer Familie geblieben. Aber nein, Nicole wollte auf eignen Füßen stehen und dazu gehörte auch, mit dem Geld auszukommen, das ihr zur Verfügung stand.

„Ich mein es ernst Tyler.“

„Genauso wie ich.“

Er ließ ihr offenbar keine andere Wahl. Nicole holte ihr Handy aus der Tasche und machte sich eine Notiz über den offenen Betrag. Innerlich ärgerte sie die ganze Sache enorm. Sie wollte es sich aber nicht anmerken lassen. Außerdem wollte es sich Nicole nicht mit Tyler verscherzen. Im Moment war sie noch auf ihr Zimmer hier angewiesen. Also machte sie vorerst gute Miene zum in Ansätzen bösen Spiel.

 

Von der kleinen Diskussion mit Tyler abgesehen, war da Wochenende noch einmal richtig entspannend gewesen. Nicole hatte die Zeit genutzt, um endlich ihre ganzen Sachen aus den Taschen in den Schrank zu packen.

Auch hatte sie sich ein paar der ganzen Unterlagen angesehen, die ihr in der Einführungswoche der Uni gegeben wurden. Lange hatte Nicole sich aber nicht damit auseinander setzten können, da es einfach zu viel war. Sie würde es schon merken, was sie brauchte und tun musste, wenn es so weit war. Notfalls könnte sie dann immer noch einmal nachschauen.

Am Montagmorgen war Nicole so unruhig und nervös, wie sie es schon lange nicht mehr gewesen war. So richtig erklären konnte sie es sich nicht. Es war schließlich nur ihr erste richtiger Tag an der Uni. Das konnte sie doch nicht so sehr aus der Bahn werfen. Schließlich waren alle, denen sie heute begegnen würde, totale Frischlinge, genau wie sie.

In der Bahn wurde es schon etwas besser. Neben ihr waren nach zahlreiche andere Studenten auf den Weg zum Campusgelände. Die S-Bahn hielt am Dammtor und alle drängten sich aus der überfüllten Bahn.

Hoffentlich treffe ich zumindest in einer meiner Veranstaltungen auf Tamara, ging es Nicole durch den Kopf, als sie mit dem Strom an Menschen über die Straße ging. Der Philosophen-Turm war schon von weiten zu sehen, da es das höchste Gebäude in der näheren Umgebung war.

Als erstes stand heute eine Vorlesung in Literaturwissenschaft auf dem Plan. Die Hörsäle waren im Erdgeschoss, sodass Nicole dem Gedränge an den Fahrstühlen fürs erste entkam. Der Saal war schon gut gefüllt, sodass Nicole neben der Tür stehen blieb und sich aufmerksam umschaute. Leider erkannte sie keines der unzähligen Gesichter wieder.

„Nicole, hier oben.“ Überrascht und nicht sicher, ob auch wirklich sie gemeint war, schaute Nicole in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. In den oberen Sitzreihen stand eine junge Frau mit roten Locken. „Gott sie dank“, flüsterte Nicole und schritt die flachen Stufen hinauf.

„Morgen Tamara. Ich dachte schon ich würde hier gar keinen wieder erkennen“, begrüßte Nicole ihre neue Bekanntschaft. „Mir ging es genauso. Ich habe die ganze Zeit die Tür im Auge behalten und gehofft dich zu sehen, wenn du den Hörsaal betrittst. Offenbar habe ich Glück gehabt“, grinste Tamara und rückte einen Platz weiter in die Sitzreihe, damit auch Nicole platz nehmen konnte.

„Wie hast du noch die letzten Tage der letzten Woche erlebt?“, fragte Tamara und kramte nebenbei in ihrer großen bunten Tasche. „Ich fühlte mich erschlagen von den ganzen Informationen. Ganz ehrlich, das war viel zu viel auf einmal. Ich würde zu gern wissen, ob es auch nur einen unter den Studenten hier gibt, der auch nur die Hälfte von allem sich gemerkt hat“, seufzte Nicole und machte sich nun selber an ihrer Tasche zu schaffen.

„Das kannst du laut sagen. Ich habe irgendwann auf Durchzug gestellt, weil ich einfach nicht mehr mitkam.“

Beide jungen Frauen holten ihre Sachen für die in wenigen Minuten beginnende Vorlesung aus ihren Taschen. Der Unterschied zwischen den beiden bestand nur darin, dass Nicole sofort Block und Stift zur Hand hatten und den kleinen Klapptisch herunterklappen konnte, während Tamara immer noch suchte. Mittlerweile hatte sie bereits ihren Block gefunden, aber ihr Kuli wollte sich einfach nicht finden lassen. Tamara schien kurz davor zu sein, ihre ganze Tasche auszukippen und schimpfte leise vor sich hin. „Das kann doch nicht sein. Der musst doch hier drin sein. Ich habe ihn heute Morgen doch extra noch eingepackt.“

„Ich hätte auch noch einen zweiten Kugelschreiber dabei, falls du deinen wirklich nicht finden solltest“, bot Nicole ihrer Sitznachbarin an. Mit einem verzweifelten und leicht verärgerten Gesicht schaute Tamara auf und ließ die Hände resigniert auf ihre Tasche fallen. „Hmm ich glaube das Angebot kann ich nicht ablehnen. Es ist immer das Selbe, meine Tasche frisst meine Sachen. Und ich wette mit dir, sobald die Vorlesung vorbei ist, spuckt sie den Kuli aus.“

Mit einen amüsierten Lächeln reicht Nicole Tamara ihren zweiten Kuli, genau in dem Moment, als sich vorne am Leserpult ihr Dozent mit dem Mikro herumärgerte.

„Vielleicht solltest du dir dann eine neue Tasche zulegen“, erlaute sich Nicole ihrer Freundin noch zuzuflüstern, bevor es im Hörsaal ganz still wurde.

„Wollte ich schon so oft machen, aber ich liebe meine Tasche einfach zu sehr.“

Nur mit Müh und Not konnte die beiden ein lautes Auslachen unterdrücken, womit sie die gesamte Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.

 

Kapitel 5

 

Ein kurzer Blick auf den Stundenplan der jeweils anderen, hatte Nicole und Tamara verraten, dass sie neben den zwei Vorlesungen auch noch zwei von vier Seminaren zusammen hatten. Das war eine große Erleichterung für Nicole. Es fiel ihr schon immer schwer schnell Kontakte zu ihr völlig fremden Personen aufzubauen, wodurch sie meistens als schüchtern und unscheinbar wahrgenommen wurde.

Deswegen war Nicole überaus dankbar dafür, dass sie Tamara getroffen hatte. Die junge Frau mit den wilden roten Locken war das komplette Gegenteil von ihr, offen, direkt und schlagfertig.

Alles was Nicole fehlte oder schwer fiel, übernahm Tamara für sie. Die beiden Frauen ergänzten sich hervorragend.

Die ersten Veranstaltungen waren relativ entspannt. In jeder Stunde gab es eine kleine Vorstellungsrunde, um sich besser kennen zu lernen und um zu erfahren was jeder studierte. Es stellte sich heraus, dass ein Großteil der Anwesenden Germanistik auf Lehramt studierte und nur ein Bruchteil es als Kernfach belegt hatten.

Damit hatte Nicole wirklich nicht gerechnet, obwohl es im Nachhinein betrachtet, logisch war, dass zuallererst der Lehrerberuf mit ihrem Studiengang in Verbindung gebracht wurde. Allerdings war Lehrer zu werden, nie ein Wunsch von Nicole gewesen. Das hätte sie niemals gepackt. Stattdessen wäre sie vor jeder Stunde gestorben vor Nervosität.

Nachdem die Vorstellungsrunde beendet war, stellte sich noch kurz der Dozent vor, bevor er seinen Studenten erzählte was sie in diesem Semester alles erwartete.

Obwohl es den Anschein erweckte, dass es einfach wie in der Schulzeit weiter ging, gab es einen himmelweiten Unterschied zwischen Schule und Universität. Das war Nicole schon während der Vorlesung aufgefallen. Man saß beinahe fast zwei Stunden auf unbequemen Stühlen mit teilweise wackligen Klapptischen und schrieb sich die Hände wund. Zumindest wenn man die Absicht hatte das Studium ernst zu nehmen.

Im Seminar sah es nicht viel anderes aus. Bevor man überhaupt richtig wusste, was einen erwartete und worum es genau ging, musste schon die Entscheidung über das Referatsthema getroffen werden. Was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn nicht ein Teil der Note daraus hervorgegangen wäre.

Doch scheinbar ging es nicht nur Nicole und Tamara so, sondern auch allen anderen Studenten, die im Seminar saßen. Unsicher gingen Blicke durch den Raum, um abzuschätzen mit wem man zusammen das Referat ausarbeiten konnte.

Hatte man sich für ein Thema entschieden, ging der Kampf los, um es auch zu bekommen. Tamara stürzt sich waghalsig in den Kampf, hob ihren Arm und sagte einfach „Frau Biedermann und ich, Frau Sommer nehmen das Thema zu Schiller und Kabale und Liebe.“

Obwohl das Thema noch gar nicht an der Reihe gewesen war und augenblicklich ein missmutiges Raunen durch den Raum ging, zuckte der Dozent nur die Schultern und trug ihre beiden Namen in die Liste ein.

„Hab ich das nicht toll gemacht“, flüsterte Tamara überglücklich und konnte sie ein siegessicheres Grinsen nicht verkneifen.

„Du warst großartig. Danke, dass du mich gleich mit genannt hast“, flüsterte Nicole zurück und legte ihrer Freundin dankend die Hand auf die Schulter.

„Das ist doch Ehrensache. Ich weiß doch nicht wie die anderen drauf sind. Da gehe ich doch kein Risiko ein, sondern halte mich an die, die ich schon kenne.“

Der Unmut und die bösen Blicke waren während der restlichen noch verbliebenden Stunde immer wieder auf Nicole und Tamara gerichtet.

Das Mittagessen musste leider ausfallen, da beide direkt im Anschluss noch ein weiteres Seminar hatten. Leider dieses Mal nicht zusammen.

Drei Stunden später fiel Nicole erschöpft durch die Tür in das Loft. Ihre Tasche ließ sie einfach auf den Boden fallen und gab der Tür einen Stoß damit sie ins Schloss fiel. Die knapp drei Monate Pause zwischen Schule und Universität hatten sich heute deutlich bemerkbar gemacht.

Nicole fühlte sich, als hätte sie schwer gearbeitete, dabei hatte sie die ganze Zeit nur auf einen Stuhl gesessen und ihren Dozenten zugehört, während sie aufmerksam mitgeschrieben hatten. Anscheinend war geistige Arbeit genauso fordernd wie körperliche.

In der Küche schenkte sich Nicole ein großes Glas Wasser ein, das sie gierig austrank. Jetzt fühlte sie sich wieder dazu in der Lage ihre Tasche in ihr Zimmer zu bringen und die Post durchzugehen, die sie aus dem Briefkasten geholt hatte. Vielleicht war ja etwas für sie dabei.

Als hätte sie es geahnt, war zwischen all der anderen Post auch ein Brief, der ihren Namen trug.

Es war ein Brief vom BaföG-Amt, auf den sie schon ewig gewartet hatte. Bisher hatte Nicole noch keinen Bescheid erhalten, wie viel Geld sie im Monat vom Amt bekommen würde, was ihre Planung etwas erschwerte.

Jetzt schien die lange Warterei aber endlich ein Ende zu haben. In freudiger Erwartung schlenderte Nicole in die Küche, öffnete die Schublade und holte ein Messer hervor. Mit einem schnellen Schnitt war der Unschlag geöffnete und Nicole befreite das Schreiben.

Nicole überflog den Brief vom Amt schnell und ließ ihn dann resigniert sinken.

Es war nicht, wie gehofft, die Bestätigung, dass sie das BaföG in einer bestimmten Höhe endlich ausgezahlt bekommen würde. Stattdessen stand in dem Brief, dass noch bestimmte Unterlagen fehlen würden und sich somit die Berechnung des korrekten Satzes verzögerte. Die noch fehlenden Unterlagen sollten so schnell wie möglich nachgereicht werden.

Das konnte doch nicht wahr sein, schoss es Nicole durch den Kopf. Sie und ihre Eltern hatten den Antrag doch mindestens drei Mal gelesen und alle geforderten Unterlagen an das Amt geschickt. Warum fehlte denn jetzt immer noch was?

Obwohl Nicole gerade unheimlich frustriert war, weil sie fest mit dem Geld gerechnet hatte, schlürfte sie zurück in ihr Zimmer, um das Handy aus der Tasche zu wühlen. Sie mussten das so schnell wie möglich erledigen, damit sie mit etwas Glück vielleicht doch noch diesen Monat ihr Geld bekommen würde.

Bevor Nicole die Nummer von Zuhause wählte, blickte sie noch einmal auf die Uhr. „Mama müsste inzwischen zu Hause sein“, murmelte sie und drückte auf den Rufknopf. Es tutete einige Mal, sodass Nicole schon befürchtete niemanden Daheim zu erwischen.

In letzter Sekunde hob doch noch jemand ab.

„Hier bei Biedermann?“, meldete sich ihre Mutter leicht außer Atem.

„Hallo Mama, ich bin’s“.

„Hallo mein Schatz. Mit dir habe ich jetzt überhaupt nicht gerechnet. Ist etwas passiert? Hat sich dein Mitbewohner schlecht genommen?“

Nicole konnte nur resigniert den Kopf schütteln, als sie hörte, dass die schlimmste Befürchtung ihre Mutter war, dass Tyler sich nicht richtig ihr gegenüber benahm. Aber das war halt typisch für ihre Mama. Sie war immer in Sorge um ihre Kinder, auch wenn es meist vollkommen unbegründet war.

„Nein Mama, mit Tyler ist alles in Ordnung. Ich habe gerade einen Brief vom BaföG-Amt bekommen. Anscheinend fehlen noch Unterlagen, die wir so schnell wie möglich nachreichen müssen“, erklärte Nicole und setzte sich auf einen der Barhocker am Tresen und stützte den Kopf mit einer Hand ab.

„Aber wie kann das denn sein? Wir haben doch alles hingeschickt was sie verlangt haben“, empörte sich Frau Biedermann und ihre Stimme ging gleich eine Oktave höher.

„Anscheinend nicht. Hast du etwas zum Schreiben da, dann würde ich dir gleich sagen, was du mit zuschicken musst?“ Im Hintergrund konnte Nicole das leise Schimpfen ihrer Mutter hören, während sie nach Schreibutensilien suchte. Ihre Mutter ärgerte so ein Papierkram noch mehr als Nicole, doch hier war es nun einmal wichtig, dass alle Unterlagen so schnell wie möglich beim Amt landeten.

„Okay, ich bin dann so weit, lass hören.“

Nicole las sich den Brief noch einmal genau durch, damit sie dieses Mal auch wirklich die richtigen Formulare hinschickten und sich das ganze Prozedere nicht noch unnötig in die Länge zog.

„Also Sie wollte noch einmal deine Steuerbescheinigung von diesem Jahr und die genaue Gehaltshöhe von Papa“, erklärte Nicole und drehte das Schreiben auf die Rückseite, um zu sehen, ob da auch noch etwas stand.

„Aber ich muss doch keine Steuererklärung mehr machen, darum hab ich doch auch keinen Steuerbescheid von diesem Jahr. Wir hatten deswegen doch extra geschrieben, dass ich dazu nicht mehr verpflichtet bin.“

Selbst durchs Telefon war deutlich der Ärger ihrer Mutter zu hören. Nicole konnte sie ja auch verstehen. Die Anträge waren unglaublich umfangreich und unübersichtlich gewesen. Teilweise hatten sie das Gefühl gehabt alles doppelt und dreifach auszufüllen. Da grenzte es beinahe schon an ein Wunder, wenn man alles gleich beim ersten Mal richtig ausfüllte und hinschickte.

„Ich weiß Mama, dann musst du wohl zum Finanzamt gehen und dir von denen eine Bestätigung geben lassen, dass du keine Steuererklärung mehr machen musst. Die vom BaföG brauchen doch für alles eine Bescheinigung. Von Papa schick mir einfach den letzten Lohnbescheid, das sollte dann reichen.“

Frau Biedermann zeterte noch einige Minuten über dieses ganze Theater bei den Ämtern und dass sie doch mal selbst etwas nachdenken könnten, statt den Antragstellern immer das Leben so schwer zu machen.

Während Nicole mit ihrer Mutter telefonierte und sie zu beruhigen versuchte, hörte sie, wie sich die Wohnungstür öffnete. Augenblicklich erklang das vertraute Kichern, das meistens zu hören war, wenn Tyler nach Hause kam.

Nicole schenkte den Eintretenden kaum Beachtung, da sie immer noch damit beschäftigt war ihrer Mutter klar zu machen, welche Unterlagen sie so schnell wie möglich nach Hamburg schicken sollte.

Erst als Tyler, wie üblich in Begleitung einer schick zurecht gemachten Frau, in die Küche trat, hob Nicole den Kopf und grüßte ihn mit einem Nicken. Er hob nur kurz die Hand und rauschte an seiner Mitbewohnerin vorbei in sein Schlafzimmer.

Nicole schwante schon schlimmes, weswegen sie kurz davor war von ihrem Barhocker zu rutschen und sich in ihre Zimmer zurück zu ziehen. Doch zu ihrer Überraschung folge die Blondine Tyler nicht, sondern machte es sich auf der große Couch bequem.

Also blieb auch Nicole an ihrem Platz und telefonierte weiter mit ihrer Mama. Natürlich musste noch der erste richtige Unitag geschildert werden. Viel hatte Nicole jedoch noch nicht zu berichten. Und mit den ganzen Themen und Referaten konnte Frau Biedermann nicht so recht etwas anfangen.

„Also gut Mama, ich muss noch ein bisschen was machen. Denk bitte an die Unterlagen und schick sie mir so schnell wie möglich zu. Ich hab dich auch lieb und hab noch eine schöne Woche.“

Als Nicole ihr Handy auf den Tresen legte, glühte ihr Ohr von dem langen Gespräch. Jetzt hieß es für sie wieder warten und beten, dass dieses Mal dann alles Notwendige beim BaföG-Amt vorlag.

Sie war auf das Geld angewiesen und wollte nur sehr ungern an ihre Rücklagen gehen.

Zur Entspannung befühlte Nicole den Wasserkocher und holte aus dem Küchenschrank die Dose mit dem Tee. Eine Tasse würde ihr sicher gut tun.

 

Tyler hatte allmählich das Gefühl, dass jedes Mal wenn er nach Hause kam, Nicole am Telefonieren war. Dieses Mal schien es allerdings etwas Wichtiges gewesen zu sein, was er aus den wenigen Fetzen des Gespräch, die er aufgeschnappt hatte, schloss.

Er kam gerade aus einer wichtigen Besprechung für das morgige Shooting, in dem die letzten Absprachen getroffen wurden waren. Jetzt sollte eigentlich nichts mehr schief gehen. Es sei denn die Technik versagte oder die Models zickten rum. Weder das eine noch das andere war für ihn akzeptabel.

Wer mit ihm arbeiten wollte, musste Leistung bringen und den Arbeitsprozess nicht behindern.

Aus dem Schrank holte er sich ein frisches Hemd und ein lässiges Sakko. Ohne viel Zeit zu vergeuden, zog sich Tyler um. Ein prüfender Blick in den Spiegel versicherte ihm, dass die Haare noch lagen und sein Auftritt lässig oder geschäftsmäßig wirkte.

Als er in den großen Wohnraum zurücktrat, saß Lydia auf der Couch, während Nicole in der Küche hantierte. Der Unterschied zwischen diesen beiden Frauen hätte nicht größer sein können.

Lydia wusste wie sie sich richtig in Szene setzte. Eine Hand in ihren langen blonden Wellen, die Beine übereinander geschlagen, ihre ganze Körperhaltung sagte, dass sie wusste welche Wirkung sie auf Männer hatte.

Nicole hatte ihre Haare wie üblich zu einem Knoten am Hinterkopf gebunden, trug Jeans und Pullover, die ihre Figur andeuteten aber den Großteil sehr wahrscheinlich verdeckte.

Bisher hatte sie immer einen eher zurückhaltenden und schüchternen Eindruck auf ihn gemacht, sodass es Tyler reizte sie aus der Reserve zu locken und sie zu provozieren.

Das Gleiche hatte er auch jetzt vor. Mit einem locker lässigen Gang trat er hinter die Kochinsel an Nicoles Seite, die gerade damit beschäftigt war sich einen Tee aufzugießen.

„Lydia und ich wollten noch einen Happen essen gehen. Willst du uns nicht begleiten?“, fragte er und lehnte sich mit der Hüfte an die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wie er erwartet hatte, schaute Nicole überrascht auf. Auch die Reaktion seiner Begleiterin blieb Tyler nicht verborgen. Lydia setzte sich auf und schaute ihn warnend an. Sie wollte offensichtlich allein mit ihm Essen gehen.

Für die Reaktion der Frau hatte Tyler nur ein amüsiertes Lächeln übrig. Ihn interessierte Nicole Antwort viel mehr. Skeptisch schaute diese zwischen Lydia und Tyler hin und her und kniff dabei die Augen leicht zusammen.

„Ich glaube eher nicht. Ich wäre ohnehin nur das fünfte Rad am Wagen und will euch nur ungern bei was auch immer stören.“

Die Antwort seiner Mitbewohnerin war schlagfertiger, als Tyler es erwartete hatte. Offenbar würde das Zusammenleben mit Nicole Biedermann doch noch interessanter werden, als erwartete.

Zwischendurch hatte Tyler schon seine Entscheidung bereut, doch jemanden bei ihm hatte einziehen lassen. Aber dann gab es immer wieder diese Momente zwischen Nicole und ihm, die Tyler eines Besseren belehrten.

Vielleicht war es gerade, weil Nicole so anderes war, als die Frauen, mit denen er sich sonst umgab. Gleichzeitig macht es ihm einen riesigen Spaß ihre Grenzen auszutesten.

„Bist du dir sicher? Ich meine, das könnte doch mal eine gelungene Abwechslung sein. Und du hattest heute doch deinen ersten richtigen Unitag, das sollte doch gefeiert werden“, hackte Tyler nach, kam aber nicht weiter.

„Ich weiß nicht was es da zu feiern geben sollte. Wenn ich meinen Abschluss in der Tasche habe, dann gäbe es einen Grund. Heute ist nur ein ganz normaler Tag und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bei dem Essen nur stören würde.“

Der Tee war durchgezogen und Nicole entfernte die Teereste aus der Tasse, wobei sie ihm demonstrativ den Rücken zudrehte.

„Ich werd‘s mir merken. Solltest du irgendwann deinen Abschluss schaffen, lade ich dich zum Essen ein.“

Lydia war vom Sofa aufgestanden und wartete ungeduldig auf Tyler. Als er ihr den Arm bot und sie sich bei ihm unterhackte, drückte sie etwas feste zu und schaute ihn drohend an.

„Was fällt dir ein, einfach jemanden einzuladen, ohne mich zu fragen?“, nörgelte Lydia, im Fahrstuhl hinunter. „Außerdem dachte ich du wohnst allein. Eine Mitbewohnerin hast du nie erwähnt.“

„Ich lade dich immerhin zum Essen ein, also bleibt mir auch die Entscheidung überlassen, ob ich noch weitere Leute mit dazu bitte. Und davon einmal abgesehen, werde ich wohl kaum damit hausieren gegen, dass ich mit einer Studentin zusammenwohne. Die Leute könnten denken ich hätte das Geld nötig“, antwortete Tyler und wies Lydia damit zurecht. Doch seine Begleiterin fing schallend an zu lachen, was in der engen Fahrstuhlkabine widerhallte.

Solche Besitz ergreifenden Anfälle, wie der von Lydia eben, konnte Tyler bei Frauen nicht leiden. Besonders dann nicht, wenn zwischen ihm und der Frau nichts Ernstes bestand, sondern nur eine kurze Bekanntschaft.

Mit der Zeit hatte Tyler aber gelernt damit umzugehen. In jede Wahrung verpackte er gleich eine ironische Antwort, um nicht zu forsch zu wirken, obwohl es in ihm meist ganz anders aussah. Auch jetzt wieder.

 

Kapitel 6

 

Zu Nicoles Erleichterung entwickelte sie allmählich eine gewisse Routine in ihrem Alltag. Für sie begann die Uni zwar nicht jeden Tag zur selben Zeit, aber dennoch hatte sie das Gefühl sich allmählich einzuleben.

Im nächsten Semester würde sie bei der Wahl ihrer Seminare und Vorlesungen mehr darauf achten, dass sie möglichste jeden Tag zur gleichen Uhrzeit anfing. Einen richtigen Einfluss konnte sie zwar nicht drauf nehmen, aber die Auswahl würde sie nach diesen Kriterien treffen.

Auch entwickelte Nicole eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit Tyler. Sicher, so ganz geheuer war er ihr manchmal mit seiner direkten und unverblümten Art nicht. Trotzdem erstarrte sie nicht mehr jedes Mal, wenn er auf einmal hinter ihr auftauchte oder eine recht anzügliche Bemerkung fallen ließ.

Dass beinahe jede Nacht eine andere Frau hier übernachtete, versuchte Nicole so gut es ging zu ignorieren.

Der heutige Tag war einfach nur anstrengend gewesen und Nicole freute sich darauf, dass das Wochenende begann. Das Aufstehen war am Morgen schon nicht besonders einfach gewesen und durch die dunklen Wolken, die den ganzen Tag den Himmel bedeckten, hatte sich Nicoles Stimmung auch nicht sonderlich gehoben.

Also war der Tag mehr oder weniger schnell darin geflossen, doch wirklich viel gebracht hatte er nicht.

Nur der Gedanken an die Nudeln mit Bolognese, von denen noch eine Portion übrig waren, hatten der letzten Stunden in der Uni erträglich gemacht. Angeschlagen und mit leichten Kopfschmerzen schob Nicole den Schlüssel ins Schloss und stolperte ins Loft.

Die junge Frau schälte sich umständlich aus ihre Jacke, streifte  sich ihre Stiefel ab und warf ihre Tasche in ihr Zimmer. Erst als sie wieder in den Flur trat, nahm sie das leise Summen der Mikrowelle war.

Tyler war also zu Hause. Ihre Augen wanderten skeptisch zur Uhr. Eine ungewöhnliche Zeit für Tyler. Offensichtlich hatte er mal früher Schluss gemacht oder keine Begleiterin für den Abend gefunden, dachte Nicole etwas bissig.

Mit trägen Schritten ging Nicole zum Kühlschrank um die Nudeln warm zu machen.

„Wo sind die denn? Ich habe den Teller doch gestern Abend hier hinein gestellt“, überlegte Nicole, als sie ihr Abendbrot nicht an dem Platz fand, wo sie es hingestellt hatte.

Das Klingeln der Mikrowelle ertönte und Tyler kam aus seinem Zimmer in die Küche geschritten. In seinen Bewegungen lag so eine Selbstverständlichkeit, als wäre es das normalste auf der Welt mit einer tief sitzenden Jeans einem lässigen Shirt so einen Gang hinzulegen. Manchmal konnte Nicole doch verstehen, warum ihm so viele Frauen erlagen. Es lag nicht nur ein seinen tollen blauen Augen. Es war sein ganzes Auftreten, das elegant aggressiv war.

„NʼAbend“, grüßte Nicole und schloss den Kühlschrank wieder.

„Du siehst ziemlich geschafft aus“, antwortete Tyler trocken, öffnete die Mikrowelle und beförderte mit einem Handtuch einen vollen und dampfenden Teller Spagetti Bolognese daraus auf den Tresen.

Nicole blieb der Mund offen stehen, als sie das sah.

„Das ist eigentlich mein Abendbrot.“

„Es war sonst nichts mehr im Kühlschrank und der Lieferdienst hätte mir zu lange gedauert“, antwortete Tyler ungerührt und nahm einen Bissen.

Bei dem Duft lief Nicole das Wasser im Mund zusammen und ihr Bauch gab ein protestierendes Knurren von sich. Das Knurren wurde sogar noch lauter, als Nicole mit ansehen musste, wie gleich noch eine zweite volle Gabel in Tylers Mund verschwanden.

„Das ist besser als ich dachte. Ich muss schon sagen, kochen kannst du wirklich gut.“

„Danke für das Kompliment. Trotzdem wollte ich mir das gerade warm machen“, versuchte Nicole sich zu beschwerden, was Tyler jedoch vollkommen kalt ließ und er einfach weiter aß.

Verärgert kräuselten Nicole die Lippen, trat an die Besteckschublade, schnappte sich die erstbeste Gabel und trat an den Tresen.

Ohne Vorwarnung stach Nicole die Gabel in die Nudeln, drehte sich eine Portion auf und nahm sich selbst einen großen Bissen. Kaum hatte sie den Mund geschlossen, entschlüpfte ihr ein zufriedenes Seufzen. Das war genau das, was sie jetzt brauchte.

 Tyler hatte das Gesicht auf seine Faust abgestürzt und schaute seine Mitbewohnerin mit einem leichten Zucken im Mundwinkel beim genüsslichen Kauen zu.

„Was?“, fragte Nicole genervt und kaute weiter, während sie sich schnell eine zweite Gabel aufdrehte.

„Du nimmst dir einfach ungefragt etwas von meinem Essen.“

Beinahe hätte sich Nicole verschluckt, als sie das hörte. Sie hob den Finger und schluckte, so schnell es ging, den  Bissen hinunter.

„Also, erstens war das eigentlich mein Essen, schließlich habe ich es gekocht und etwas für heute aufgehoben. Und zweitens, hast du es dir auch einfach ohne zu fragen genommen.“

Herausgefordert aß jetzt auch Tyler weiter. Erst als der letzte Bissen vom Teller verschwunden war, wechselten die beiden wieder ein Wort.

„Wenn du unbedingt willst, dass ich nichts von deinem Essen nehme, dann musst du eben ein Namensschild dran machen.“

„Soll das hier jetzt etwas so wie in der Werbung für Bauer-Johgurt laufen? Ich bin mir sicher selbst, selbst wenn ich meinen Namen dran kleben würde, du würdest es einfach ignorieren.“

„Bestimmt“, grinste Tyler und fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare.

„Und dass der Kühlschrank leer ist, liegt daran, dass diese Woche noch keiner einkaufen war“, redete sich Nicole weiter in Rage.

„Ich habe viel zu tun, da bleibt für solche Nebensächlichkeiten keine Zeit.“

„Ach, und ich habe wohl nichts zu tun, sondern träume den lieben langen Tag nur vor mich hin.“

Eigentlich war Nicole nicht so angrifflustig und direkt. Doch der verkorkste Tag und der Hunger ließen sie ihre guten Manieren vergessen. Es passte ihr einfach nicht, dass sich Tyler einfach ungefragt überall bediente. Diesen Ärger und die ständige nächtliche Unruhe platzten jetzt förmlich aus ihr heraus.

„Wenn du es schon nicht für nötig hältst, mich vorher zu fragen, dann stell jetzt wenigstens den Teller und das Besteck in die Spülmaschine“, versuchte Nicole die Situation etwas zu entschärfen. Sie atmete ein paar Mal durch, um selbst wieder auf den Teppich zu kommen.

„Ich muss leider noch ganz dringend etwas fertig machen“, antwortete Tyler nur, rutschte vom Barhocker und ging in Richtung seines Zimmers.

„Das ist doch nun wirklich nicht viel“, rief Nicole ihrem Mitbewohner hinterher und blieb verdattert am Tresen stehen.

„Ich räum morgen ab“, war die nüchterne Antwort dieses überheblichen Kerls.

„Werʼs glaubt“, brummte Nicole, nahm Teller und Besteck, stellte alles in die Spülmaschine und verschwand selbst in ihrem Zimmer.

Das war wirklich der krönende Abschluss eines ziemlich beschissenen Tages. Sie sah gar nicht ein irgendwie Rücksicht auf Tyler zu nehmen, schließlich tat er es genauso wenig. Mit etwas mehr Schwung als nötig, schloss Nicole die Tür zu ihrem Zimmer.

Immer noch innerlich ringend mit sich schnappte sie sich ihre Tasche und kramte daraus ihr rotes Notizbuch hervor. Das kleine Büchlein hatte sie immer bei sich. Man konnte ja nie wissen, wann einen die zündende Idee kam oder sich etwas notieren musste, bevor man es vergaß.

Nicole versuchte sich zu beruhigen, doch kaum dachte sie wieder an das, was gerade in der Küche vorgefallen war, stieg die Wut wieder in ihr auf. Darum fiel ihr auch das Schreiben so schwer.

Obwohl Nicole dieses Abendessen wohl nie in ihrem ganzen Leben vergessen würde, schrieb sie es in ihr Notizbuch. Vielleicht konnte sie es irgendwann in einen ihrer Bücher verwenden. Es würde auf jeden Fall einen guten Wendepunkt der Handlung abgeben.

Eigentlich hatte sich Nicole so auf einen entspannten Abend mit Nudeln und ihrem Laptop gefreut. Von den Nudeln hatte sie gerade mal so die Hälfte abbekommen und aufs Schreiben hatte sie jetzt definitiv keine Lust mehr. Dafür war sie einfach nicht mehr kreativ genug. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um Tyler.

Wäre er nicht so ein Vollidiot, wie gerade, konnte er ziemlich nett sein. Allerdings ließ er diese Seite viel zu selten bei Nicole durchscheinen. Seinen unzähligen Begleiterinnen oder Freundinnen oder was auch immer sie waren, lächelte er jedenfalls viel öfter an und verwöhnte sie mit lieben Worten.

Offensichtlich fand der erfolgreiche Werbemann wohl, dass es bei ihr nicht nötig war, auch mal freundlich zu sein. Schließlich war sie ja auch nur seine Mitbewohnerin und nicht mehr. Warum hatte sie nur immer so ein Pech.

Es hatte keinen Sinn mehr, sich noch länger darüber den Kopf zu zerbrechen, ob es die richtige Entscheidung gewesen war hier einzuziehen. Nicole hatte es gemacht, um ihr Studium anzufangen. Das war der Hauptgrund und sie hatte keine Zeit sich jetzt nach etwas anderem umzuschauen. Da das neue Semester gerade erst von wenigen Wochen angefangen hatte, waren die meisten bezahlbaren Zimmer oder Studentenwohnheime belegt oder vergeben. Also würde sie weiterhin standhaft bleiben und über die Sticheleien von Tyler einfach drüber weg sehen. Auch wenn das manchmal wirklich nicht einfach war.

 

Die Kleine hatte wirklich Feuer. Sich einfach eine Gabel zu nehmen und vom gleichen Teller wie er zu essen, das würde sich nicht jeder trauen.

Klar, war es eigentlich ihr Essen gewesen, aber es stand im Kühlschrank, er war am Verhungern gewesen und hatte es sich einfach warm gemacht. Und Tyler musste zugeben, es hatte sich gelohnt. Er selbst war kein großer Koch und nutzte die Küche auch viel zu selten dazu. Da war es gerade ein Geschenk, dass Nicole sich darin zu schaffen machte. Die Soße war genau richtig gewürzt gewesen, etwas scharf aber trotzdem konnte er noch den Geschmack der Tomaten herausschmecken. Im Restaurante bekam er es selten besser.

Tyler hatte die halbe Nacht noch vor dem Computer gesessen um eine Werbeanzeige für heute fertig zu bekommen. Zwischendurch hatte er immer wieder mit den Grafikern und der Druckerei telefoniert, damit er sicher gehen konnte, dass die Plakate auch wirklich heute Morgen in seinem Büro sein würden.

Sein Spiegelbild sah angegriffen aus. Die paar Stunden Schlaf hatten leider nicht das erwünschte Ergebnis gebracht, das sich Tyler erhofft hatte. Den Bartschatten würde er heute stehen lassen. So sah er etwas verwegener aus. Doch seine Haare musste er noch in Form bringen.

Mit der Hand warf er sich Wasser ins Gesicht und über die Haare. Als er sich wieder aufrichtete, tropfte das Wasser von seinem markanten Kinn und aus den nassen Strähnen in seine Augen. Trotz der Müdigkeit strahlten seine blauen Augen förmlich, weil er zufrieden mit sich war. Er hatte es noch rechtzeitig geschafft den Auftrag zu beenden und das war immer ein Grund zur Freude.

In der Agentur war er der Mann mit den meisten pünktlich abgeschlossenen Aufträgen, was ihm einen hohen Status einbrachte, denn es kam viel zu selten in seiner Branche vor.

Wie mechanisch, da er dieselben Griffe jeden Morgen tätigte, nahm Tyler die Geltube und machte sich einen Klecks auf die Hand. Das Gel verrieb er gleichmäßig auf den Handflächen bevor er es in seinen Haaren verteilte. Mit ein paar geübten Handbewegungen standen seine Haare gewollt unordentlich ab. Es sah nicht so aus, wie gerade aufgestanden, sondern eher wie unglaublich viel Arbeit.

Doch Tyler liebte den Look. Es unterstrich seine unkonventionelle Art. Er befolgte die Regeln, doch machte vieles auf seine Weise. Nicht bei jedem kam das gut an, doch der Erfolg sprach für ihn.

Als er in seinem Zimmer zurück war, hörte Tyler erneut die Tür vom Bad zufallen und das Drehen des Schlosses. Offenbar war Nicole auch bereits auf den Beinen. Dann konnte er ihr wenigstens persönlich noch Bescheid geben, dass er heute nicht zum Einkaufen kommen würde.

Da es Samstag war, musste er heute nicht so sehr auf das korrekte Outfit achten. Einfache dunkle Jeans und T-shirt würden reichen.

Um die letzten Reste der Nacht von sich abzuschütteln, schaltete Tyler die Kaffeemaschine an, holte zwei Tassen aus dem Schrank und die Milch. Weil ihn das alles zu lange dauerte und er nicht gerade der geduldigste war, nutze er die Zeit, ging mit großen Schritten auf Nicoles Zimmer zu und riss die Tür aus.

Erschrocken schrie sie auf und schnappte sich ihr Nachthemd. So gut es ging versuchte Nicole ihre Blöße zu verdecken, was nur ziemlich schlecht gelang. Tyler konnte ohne Probleme sehen, dass seine Mitbewohnerin nur in Unterwäsche dastand.

„Kannst du nicht anklopfen“, schimpfte Nicole und klammerte sich krampfhaft an dem Nachthemd fest.

Für einen kurzen Moment vergaß Tyler warum er überhaupt in ihr Zimmer geplatzt war. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie lang Nicoles Haare wirklich waren. Sie reichten ihr beinahe bis zur Taille und im Sonnenlicht schimmerten sie in den verschiedensten Goldnuancen. Für gewöhnlich trug sie ihre Haare immer zu einem Knoten gebunden oder hatte sie auf andere Weise weggesteckt.

Was seine ganze Aufmerksamkeit auf sich zog war aber ihr Körper. Sicher, Nicole hatte keine Modellmaße, dafür war sie auch viel zu klein. Aber sie hatte genau an den richtigen Stellen die Kurven, die den Modells in aller Regel fehlten.

Tyler hatte sie nie für dick gehalten, allerdings hatte er auch nicht ahnen können, dass sich unter ihren Kleidern so eine Figur versteckte. Ob er es wollte oder nicht, aber Nicole gefiel ihm immer besser.

„Was ist denn nun? Oder hattest du nur Langweile und dachtest dir du erschreckst mich mal zu Tode“, holte Nicole Tyler in die Gegenwart zurück. Er stand immer noch im Türrahmen und hielt sich an der Klinke fest, als er nach den richtigen Worten suchte.

„Ich wollt nur Bescheid sagen, dass ich heute noch mal ins Büro muss und nicht einkaufen fahren kann. Hol du einfach das Nötigste. Was zu Trinken bring ich später noch mit. Das Geld hab ich auf den Tresen gelegt und ein Kaffee steht da auch für dich bereit.“

Bevor er Nicole wieder allein ließ, warf Tyler noch einen letzten prüfenden Blick auf sie. Wie unangenehm ihr die ganze Situation war, konnte er deutlich an ihrem Gesicht ablesen. Sie stand vollkommen steif da und ihre Finger hatten sich krampfhaft in dem Stoff gedrückt.

In Zukunft würde er seine Mitbewohnerin wohl mit etwas anderen Augen sehen.

Ein amüsiertes Grinsen umspielte Tylers Lippen, als er die Tür hinter sich schloss und zurück zu der Kaffeemaschine ging.

Er füllte beide Tassen und gab in Nicoles Tasse noch einen großen Schwapp Milch. Ihm war inzwischen aufgefallen, dass sie ihren Kaffee nie schwarz trank. Meistens bevorzugte sie eh Tee.

Den restlichen Kaffee aus der Kanne füllte Tyler in einen Termobecher, den er mit ins Auto nehmen würde. Der Kaffee im Büro war einfach nicht der Hit, sodass er darauf gerne verzichten konnte.

Solange er noch da war, kam Nicole nicht aus ihrem Zimmer. Anscheinend war das zu viel Aufregung am Morgen für sie gewesen.

„Ich mach dann los. Und vergiss deinen Kaffee nicht, wäre schaden, wenn er kalt werden würde.“

„Bis später“, erklang Nicoles Zimmer, was Tyler erneut amüsierte. Sie versuchte wirklich das Beste aus dieser Wohngemeinschaft zu machen. Das gleiche konnte man von ihm nicht gerade behaupten. Tyler gab sich ihr gegenüber so wie er sich jedem Neuling gegenüber verhielt. Es machte ihm Spaß sie auf den Arm zu nehmen und ihre Grenzen auszutesten. So erhielt er ein wesentlich besseres Bild vom Charakter eines Menschen, als in den sonstigen förmlichen Unterhaltungen. Er hatte jeden Tag genüg mit Schmeichlern, Arschkriechern und Lügnern zu tun, da brauchte er das in seinem Privatleben nicht auch noch.

Er machte es den Leuten in seiner Nähe nicht leicht. Schließlich hatte auch Tyler seine Prinzipien, die er knallhart durchsetzte. Das hieß aber nicht, dass er grundsätzlich allen Menschen gegenüber gleich eingestellt war. Man musste sich seinen Respekt und seine Anerkennung verdienen. Das hatte er Nicole schon an ihrem ersten gemeinsamen Abend klar zu verstehen gegeben.

Jetzt kam es darauf an, was sie daraus machte. Gestern hatte sie sich schon einmal gut geschlagen.

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Tag der Veröffentlichung: 03.09.2012

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