Sie drückte ihren Kopf gegen die kühlende Scheibe, aber sie spürte immer noch das Pochen hinter ihrer Stirn. Wie in Trance begann sie ihre Sachen für die Schule zu packen. Julie war müde, sie fühlte sich kraftlos, denn sie hatte schlecht geschlafen. In letzter Zeit kam sie abends einfach nicht mehr zur Ruhe, sie lag da und dachte einfach nur nach und so war es auch gestern gewesen. Langsam schleppte sie sich zum Frühstückstisch. Ihre Mutter deckte gerade den Tisch während ihr Vater an der Kaffeemaschine stand. „Morgen“, murmelte Julie. „Na du hast ja auch schon wieder glänzende Laune!“, seufzte ihre Mutter theatralisch. Lustlos stocherte Julie in ihrem Müsli herum. Ihre kleine Schwester Kimberly kam freudestrahlend zum Tisch. Sie war sechs und war gerade erst in die Grundschule eingeschult worden. Kimberly lief zu ihrer Mutter umarmte sie, und gab ihr einen Kuss. „Guten Morgen mein Schatz.“, der enttäuschte Klang von vorhin war einer sanften, und liebevollen Stimme gewichen und in den Augen ihrer Mutter sah Julie ganz deutlich einen warmen, stolzen Glanz. Ja, Kimberly war Mamas kleiner Sonnenschein. Die perfekte Vorzeigetochter. Julie beneidete ihre Schwester, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Kimberly war all das, was einen liebenswürdigen Menschen ausmachte: sie war immer gut gelaunt, wunderschön, lustig, hatte ein gutes Herz und genauso gute Manieren. Julie hatte keinen Appetit. Ohne ein Wort stand sie auf. Niemand sagte etwas als sie den Tisch verließ, niemand würdigte ihr auch nur einen Blick. Es war für sie nichts neues mehr, warum sollten sie sich auch um sie kümmern, sie war ihnen doch eh egal, und das schlimmste daran war, dass Julie das verstand schließlich hatten sie ja immer noch Kim. Julie nahm ihre Schultasche und verließ stumm das Haus. Sie verspürte das Verlangen laut zu schreien. Doch warum? Wer würde sie schon hören? Wen würde das schon interessieren? Der Bus hielt an und Julie setzte sich still an ihren Stammplatz. Draußen begann es sachte zu regnen. Julie richtete ihren Blick stur auf die Regentropfen draußen vor dem Fenster. Sie sah die anderen Kinder aus ihrer Klasse im Bus, sie lachten und alberten herum. Julie setzte sich nicht zu ihnen, dass hätte sie sich nie getraut, und selbst wenn, wer wollte denn schon etwas mit ihr zu tun haben? Sie war das allerletzte für die anderen, sie wusste es.
Heute war Freitag, morgen begann das von allen heiß ersehnte Wochenende und eifrig wurden Pläne gemacht. Emilia, eines der beliebtesten Mädchen aus der Klasse hatte Samstag Sturm frei und schmiss eine Mega Party, alle waren eingeladen die halbe Stufe – nur Julie nicht. Die ganze Woche schon war es DAS Gesprächsthema in Julies Klasse. In der ersten Stunde hatte Julie Mathe. Sie war eigentlich immer gut gewesen, aber in letzter Zeit… Es war ihr egal. Außerdem konnte sie sich einfach nicht mehr konzentrieren. Wenn sie sich zuhause hinsetzte um die Hausaufgaben zu machen, schweiften ihre Gedanken nach ein paar Minuten wieder ab und in der Schule war es genauso. So bekam sie auch heute nichts vom Unterricht mit. Nach der Stunde hielt ihr Mathelehrer sie auf: „Julie, warte doch mal kurz, ja?“ widerwillig drehte Julie sich um. Herr Meyer setzte sich aufs Pult und sah sie ernst an: „Julie, was ist bloß in letzter Zeit mit dir los?“ Julie blickte zu Boden. Er würde sie doch eh nicht verstehen, niemand verstand sie. Ihre Eltern nicht, ihre ehemaligen Freunde nicht und ihre Lehrer erst recht nicht.
Nachmittags ging Julie ohne ein weiteres Wort sofort in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür hinter sich ab und legte sich auf ihr Bett. in letzter Zeit hatte sie immer öfter daran gedacht, wie es wohl wäre wenn sie nicht mehr Dasein würde. Ob ihre Eltern wohl an ihrem Grab weinen würden? Wie würde es ihre Klasse aufnehmen? Ob es ihnen egal wäre? Sie wusste noch nicht wie, aber sie wusste sie würde alleine sterben. Ja, alleine und einsam. Das war das passende Ende für ihr menschliches Leben. Sie hatte allein auf dieser Welt verweilt und so wollte sie sie auch wieder verlassen. Seit längerem dachte sie schon darüber nach wie sie es wohl am besten hinter sich bringen könnte. Sie musste es bald tun, denn lange würde sie es nicht mehr aushalten. Es musste etwas ausführbares sein. An Medikamente kam sie nicht ran, Auto fahren konnte sie noch nicht. Vor eine Bahn schmeißen war zu riskant, die ganzen Leute Tag und Nacht. Felsen oder Klippen gab es hier in der Nähe nicht. Und um sich zu erhängen musste man so viel vorbereiten. Julie fiel in einen Unruhigen Schlaf. Doch am nächsten Morgen hatte sie einen Einfall gehabt! Sie wartete bis ihre Mutter aus dem Haus war, und auch sonst keiner sich mehr hier aufhielt. Dann holte sie ihren sorgsam geschriebenen Abschiedsbrief aus seinem Versteck und legte ihn mit einer kindlichen Vorfreude auf den Küchentisch. Sie war fest entschlossen, das durchzuziehen. Sie betrachtete sich ein letztes Mal im Badezimmerspiegel, und wie jedes Mal gefiel ihr gar nicht was sie sah. Ihre Nase war viel zu spitz und lang, ihre Haare hatten einen hässlichen Braun Ton und waren viel zu dünn, und sie war viel zu fett. Außerdem hatte sie die meisten Pickel von allen die sie kannte. Nein, ihren Körper würde sie ganz bestimmt nicht vermissen! Julie setzte sich mit dem Skalpell ihre Mutter in die Badewanne und setzte die Schneide zitternd an ihrer Pulsader an.
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Tag der Veröffentlichung: 30.11.2011
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