Hier würde ich also meine Sommerferien verbringen. Auf der Halbinsel Cap Cod, in dem kleinen Örtchen Princetown. Na super. Das würde sicher spannend werden. So ganz ohne Freunde und stattdessen mit den Eltern. Deshalb hatte ich mir auch vorgenommen also mit Unhöflichkeit zu bestrafen.
Gelangweilt saß ich am Fenster in unserem kleinen Ferienhaus, das direkt gegenüber vom Meer lag und starrte hinaus. Es war ziemlich stürmisches Wetter und zu kühl um raus zu gehen. Deshalb stand ich auf und machte den Fernseher in meinem Zimmer an. Er empfing nur zwei Sender. Und auf beiden lief Mist. Wütend warf ich die Fernbedienung aufs Bett. Was konnte ich stattdessen machen? Lesen? Nein, das ließ ich lieber bleiben. Außerdem hatte ich kein Buch dabei. Mit meinen Eltern Karten spielen? Nein, danke. Etwas malen? Bestimmt nicht. Ich war doch keine drei mehr.
Also entschloss ich einfach, auch bei diesem Wetter, einen Spaziergang zu machen. Ich zog mir meine blaue Regenjacke an und zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. An meinen Füßen klebten meine stabilen Wanderschuhe, die ich mir extra für meine letzte Klassenfahrt in die Berge gekauft hatte. Für den Strand waren sie sicher auch geeignet. Hoffte ich zumindest. Fertig gerüstet riss ich die Tür auf und stapfte den Strand entlang. Es war wirklich schwer bei diesem gewaltigen Sturm vorwärtszukommen. Ich kämpfte und kämpfte doch meine Kraft ließ schnell nach. Doch komischerweise wollte ich es unbedingt schaffen. Keine Ahnung wieso, jedenfalls achtete ich nur noch auf den Boden und nicht mehr auf das was sich um mich herum abspielte. Auf einmal spürte ich einen stechenden Schmerz an meiner rechten Schläfe. Ich zuckte zusammen und hielt mir reflexartig die schmerzende Stelle. Am Boden lag eine knallrote Frisbeescheibe. Die musste mich getroffen haben. Ich hob meinen Blick und sah wie ein Junge mit einem braun, weißen Mischling auf mich zugerannt kam. „Sag mal tickst du noch richtig?“, schnauzte ich ihn auf der Stelle an. Schwer atmend blieb er vor mir stehen. „Tut mir echt leid. Ich wollte dich nicht treffen.“, entschuldigte er sich.
„Das will ich ja auch hoffen.“, nuschelte ich. Besorgt sah er sich meine Stirn an. „Das tut mir echt wahnsinnig leid. Der Wind. Da fliegt die Scheibe nicht richtig.“, rechtfertigte er sich.
„Schon gut.“, sagte ich gnädig, doch noch immer mit kühlem Unterton. Der Junge streckte mir seine Hand entgegen. „Hey, ich bin Harvey.“, stellte er sich vor. Zögernd gab ich ihm auch meine Hand. „Anni…Goodwin.“, sagte ich. Mit runzelnder Stirn sah er mich an.
„Bist du zufällig die Tochter von Taylor und Millie Goodwin?“, wollte er wissen. Stumm nickte ich. „Wieso? Kennst du die?“, hakte ich doch ein wenig neugierig nach.
„Na klar, die sind jede Ferien hier. Scheint ihnen ja echt zu gefallen.“, erklärte er mir. Ach. Dann waren sie also nie bei Oma in Ohio zu Besuch sondern hatten mich einfach mal mir nichts dir nichts angelogen und waren hierher gefahren. Aber was soll´s. So waren mir viele öde Ferien erspart geblieben. „Ja, bin ich.“, antwortete ich. Harvey hob die Frisbeescheibe auf und drückte sie dem Mischling ins Maul. „Das ist übrigens Sparkey.“, stellte er mir seinen dämlichen Köter vor.
„Schön für dich.“, murrte ich mit verschränkten Armen. Ohne mich zu verabschieden, wandte ich mich von ihm ab und lief in die entgegengesetzte Richtung, doch ich konnte hören wie er mir hinterherrannte. „Warte mal!“, rief er. Ich blieb nicht stehen, sondern tat so als würde ich ihn nicht hören können. „Anni! Warte!“, versuchte er es erneut. Meine Schritte wurden schneller bis ich schließlich armselig wegrannte und er keine Chance mehr hatte mich einzuholen.
Normalerweise war es ja nicht meine Art wegzurennen, aber gestern Nachmittag hatte ich wirklich keine Lust mit diesem Harvey Smalltalk zu machen. Der dachte garantiert ich wäre durch geknallt. Sollte er nur. Dann würde er mich wenigstens in Ruhe lassen.
Dem Frühstückstisch leistete ich erst so spät es ging Gesellschaft, als meine Eltern schon unterwegs waren und bestimmt zum hundertsten Mal ihre geliebte, scheiß Insel besichtigten. Ich ließ mir sehr viel Zeit mit dem Essen bis es irgendwann doch zu lang wurde. Ich stand auf und zog mich in dem gleichen lahmen Tempo an. Dann beschloss ich, mich ebenfalls hier ein bisschen umzusehen. Heute war das Wetter wirklich gut. Die Sonne schien und am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Ich machte an jedem Shop am Pier einen kleinen Zwischenstopp. Ich aß Eis, kaufte mir ein Shirt und eine Sonnenbrille und las in einem Kiosk die Zeitung. Nach drei Stunden hatte ich schrecklichen Hunger und ich machte mich auf die Suche nach einem guten Lokal um einen Happen zu essen. Ich suchte mir ein kleines Fast Food Restaurant aus. Was ich jetzt benötigte war eine Tüte Pommes und einen Cheeseburger. Ungeduldig reihte ich mich in der kurzen Schlange ein. Es dauerte nicht lange bis ich dran war, aber genervt war ich trotzdem. „Herzlich Willkommen bei Frenchy Fries. Darf ich ihre Bestellung aufnehmen?“, begrüßte mich ein Junge, der etwas merkwürdig aussah. Nicht im negativen Sinne, aber einfach nicht wie alle anderen Jungen mit diesen langweiligen Skater Haarschnitten und den braun gebrannten Gesichtern und so. Er war ziemlich blass, hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar und durch seine rechte Augenbraue ging ein kleiner Stabpiercing. Der Junge war ziemlich hübsch und hatte etwas an sich, dass mich faszinierte. „Äh…ja, einmal Pommes und einen Cheeseburger.“, bestellte ich. Er setzte sich nicht in Bewegung, sondern sah mich weiterhin mit diesem freundlichen Blick an. „Is´ was?“, fragte ich schroff.
„Du hast das Zauberwort vergessen.“, meinte er. Entgeistert blickte ich ihn an.
„Wie bitte?“
„Das Zauberwort.“, wiederholte er sich, dabei wusste er genau, dass ich ihn verstanden hatte. Eigentlich hatte ich null Bock auf solche Spielchen, aber mein Hunger war mächtig, also tat ich was er verlangte. „Bitte.“, sagte ich so unhöflich es ging.
„Na geht doch.“, meinte er. Genervt rollte ich mit den Augen und sorgte auch dafür, dass er es mitbekam. Ich wartete, allerdings holte er mir noch immer nichts zum Essen. „Was denn noch?“, wollte ich wissen.
„Du musst mir noch einen Gefallen tun.“, sagte er. Höhnisch lachte ich auf. „Garantiert nicht.“ Er wandte sich zum Gehen. „Dann eben kein Essen.“, meinte er.
„Okay, okay. Was willst du?“ Hinterhältig lächelte er. „Geh mit mir aus.“, verlangte er.
„Was?“
„Ich will, dass du mit mir ausgehst.“ Entsetzt riss ich die Augen auf. „Ich glaub nicht was ich da höre. Ich meine…du kennst mich gar nicht.“ Er zuckte nur mit den Schultern. „Muss ich auch nicht. Verabredungen sind ja dazu da, um sich kennenzulernen.“, entgegnete er. Jetzt reichte es mir. Ich lehnte mich ein Stück vor, damit ich sein Namensschild lesen konnte. „Also…Nate…Danvers. Ich will den Geschäftsführer sprechen.“, sagte ich.
„Sorry, aber der ist nicht da.“ Wütend schlug ich mit der Hand auf den Tresen. „Verdammt, jetzt gib mir schon mein beschissenes Essen.“
„Tut mir leid.“, sagte er nur.
„Dir tut doch gar nichts leid.“, widersprach ich. Entschuldigend hob er die Schultern. „Kein Date, kein Essen.“ Ich raste vor Wut. „Du…bist doch…ach…grrr…“ Ich wirbelte herum und stapfte zornig aus dem Restaurant. Der war ja noch schlimmer als Doofkopf Harvey.
Wenn ich hier wieder mal so gelangweilt am Pier auf dem Boden rumsaß, dachte ich für einen kurzen Moment an Tod oder Ausriss nach Alaska. Hauptsache hier weg. Noch ganze vier Wochen. Das würde ich nicht schaffen.
Ich hörte Schritte hinter mir und jemand setzte sich neben mich. Ich schielte in die Richtung und da saß dieser dämliche Nate. „Was willst du?“, fragte ich unhöflich.
„Wie wäre es mit einer Unterhaltung?“, schlug er vor.
„Ich schweige lieber.“, meinte ich trotzig. Er lenkte seinen Blick aufs Meer. „Gut, dann schweige ich eben mit dir.“, sagte er. Genervt musste ich stöhnen. „Mensch, kannst du nicht jemand anderem auf die Nerven gehen?“, fuhr ich ihn an.
„Nein, tut mir leid. Ich habe mir für heute und die nächsten Wochen dich ausgesucht.“ Und mit einem Ruck stand ich und machte mich auf und davon. Hier musste man wirklich immer wegrennen, sonst hatte man keine Chance. Nate folgte mir. „Hau endlich ab.“, zischte ich ohne mich zu ihm umzudrehen. Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen marschierte er hinter mir her. „Tut mir leid. Geht nicht.“, sagte er nur. Ich wirbelte herum. „Verpiss dich endlich!“
„Sag mal bist du eigentlich immer so unfreundlich?“, wollte er wissen. Zornig verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Nein, nur zu Idioten wie dir.“, log ich. Regungslos blieb er da vor mir stehen. „Sag schon. Was muss ich machen, damit du mich in Ruhe lässt?“
„Das weißt du doch.“, meinte er. Höhnisch lachte ich. „Oh nein. Garantiert nicht.“
„Wieso nicht?“
„Das mache ich einfach nicht.“
„Nenn mir einen triftigen Grund wieso du das nicht machen solltest.“ Ich schwieg. „Na los. Ich warte.“, hetzte er mich. „Naja, ich könnte ja anfangen dich wirklich zu mögen...o-obwohl das ziemlich unwahrscheinlich ist.“ Verschwörerisch zog er die Augenbraue mit dem Piercing hoch. „Ah, ich gefalle dir also.“, sagte er. Da hatte ich sich wohl zu früh gefreut.
„Nein!“, sagte ich einen Tuck zu laut.
„Ach komm schon. Geh mit mir aus.“, bettelte er wieder.
„Du weißt doch nicht einmal meinen Namen.“, sagte ich.
„Klar, weiß ich den.“, meinte er.
„Okay, und wie lautet er?“ Er fasste sich mit einer Hand an den Nasenrücken und tat so als müsste er angestrengt nachdenken. „Äh…ich würde sagen. Dein Name ist…Anni.“ Fassungslos ließ ich die Arme sinken und starrte ihn an. „W-woher weißt du das?“, stotterte ich. Stolz grinste Nate mich an. „Es steht auf dem Anhänger deiner Kette.“ Peinlich berührt sah ich meine Kette an. Er hatte recht. Mist, daran hatte ich nicht gedacht. „Also was ist jetzt? Gehst du mit mir aus?“, ließ er nicht locker. Ich verzog den Mund. „Na gut. Ich gehe mit dir aus. Aber ich tu es nur damit du mich dann endlich in Frieden lässt.“, sagte ich.
„Alles klar. Ich hole dich dann heute Abend um acht ab, in Ordnung?“ Ich musste schwer seufzen. „In Ordnung.“ Worauf hatte ich mich da nur eingelassen?
Um punkt acht (sogar der Sekundenzeiger war auf der zwölf) stand Nate wirklich vor der Haustür. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so eine Pünktlichkeit erlebt. Unglaublich. Er war schlicht gekleidet. Mit alten Jeans und einem weinroten T-Shirt. Gut, denn ich war auch nicht gerade aufgebrezelt. Zu Begrüßung wollte er mir einen Kuss auf die Wange geben, doch ich drehte mein Gesicht weg. Man, war der vielleicht stürmisch. „Und? Was machen wir?“, erkundigte ich mich.
„Wirst du dann sehen.“ Ich trat zu ihm hinaus und schloss die Haustür. Auf dem Weg zu seiner Überraschung versuchte er auch, mir den Arm umzulegen, aber ich schlug ihn weg. Er ließ sich davon nicht beirren oder entmutigen, sondern probierte es immer weiter. Ich genehmigte es ihm nicht. Und so verlief das, bis wir am Strand angekommen waren. Er ging mit mir zum Bootshaus und kramte eine Weile darin rum, während ich draußen wieder mit vor der Brust verschränkten Armen im kühlen Wind auf ihn wartete. „Beeil dich mal. Ich frier mir hier den Arsch ab.“, maulte ich. „Habs schon gefunden.“, rief er aus dem Inneren des Hauses. Nate kam mit zwei Taucheranzügen in der Hand raus und lächelte. „Oh nein. Garantiert nicht.“, wehrte ich ab. Er ließ die Anzüge enttäuscht sinken. „Wieso nicht?“, fragte er. „Naja, äh…zum einen ist es dunkel…da sieht man nichts und zum anderen…öhm…ist es viel zu kalt. Ich hab keine Lust mir wegen dir eine Erkältung zu holen.“, wich ich seiner Frage aus. Den wahren Grund würde ich ihm niemals sagen. „Na, wenn du meinst. Schade, aber dann machen wir eben etwas anderes.“, meinte er. Erleichtert atmete ich auf und er brachte die Anzüge wieder weg. Als er rauskam, nahm er meine Hand. Ich wimmelte ihn jedoch wieder ab. „Lass das.“, zischte ich. Er sah mich stumm an. „Wieso bist du eigentlich andauernd so schlecht drauf?“, wollte er wissen.
„Bin ich doch gar nichts.“, entgegnete ich in dem gleichen, nöligen Ton.
„Bist du eben doch. Egal was ich sage oder mache. Du hast kein gutes Wort für mich übrig.“
„Das kannst du ja gar nicht wissen, weil wir uns erst seit gestern kennen.“ Er hatte noch immer diesen ernsten Gesichtsausdruck. „Glaub mir. Ich weiß auch jetzt, dass du in Zukunft noch so sein wirst.“, beharrte er.
„Hör auf solche Lügen zu erzählen!“, rief ich aufgebracht. Abwehrend hob er die Hände. „Hey, kein Grund laut zu werden.“ Wütend schubste ich ihn gegen die Brust, so dass er in den Sand fiel. Schockiert sah er zu mir auf. „Idiot.“, schrie ich ihn an. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Ich wollte nicht, dass er das sah, deshalb wandte ich mich ab und brachte mein Ritual zum Einsatz. Wegrennen.
Na toll. Jetzt würde ich wohl alleine nach Hause gehen müssen. Dabei war es stockfinster und man sah rein gar nichts. Nicht wirklich die besten Vorrausetzungen für ein Mädchen, das lebend nach Hause kommen wollte. Da es so windig war, verschränkte ich die Arme vor der Brust um meinen Körper wenigstens ein bisschen zu wärmen. Immerhin hatte ich nur ein Top an. Dicke Tränen liefen mir über die Wangen. Ich wischte sie weg und schon war meine Hand voll mit Wimperntusche. Verdammt. Das war wirklich nicht mein Tag.
Ich war schon ein ganz schönes Stückchen gelaufen, als auf einmal mein Schatten auf dem Boden zu sehen war. Wundernd drehte ich mich um und da leuchtete mir ein Scheinwerfer entgegen. Er blendete mich und ich musste meine zusammengekniffenen Augen mit der Hand abschirmen. Ein giftgrüner Ford Taunus kam auf mich zugefahren und hielt direkt neben mir. Die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet, die Fenster waren heruntergekurbelt und endlich konnte ich etwas im Inneren des Wagens erkennen. „Hallo junge Frau.“, begrüßte mich Harvey, welcher drinnen saß und mich angrinste.
„Hey.“, sagte ich schwach. Er machte mit dem Kopf eine einladende Geste. „Soll ich dich mitnehmen?“ Ich überlegte kurz. Eigentlich hatte ich keine Lust mit ihm zu fahren, aber so ganz alleine nach Hause laufen war auch gefährlich. Also entschied ich mich einfach dafür einzusteigen. „Ja, danke.“, sagte ich. Ich lief einmal um das Auto und nahm auf dem Nebensitz Platz. Er sah mich einen Augenblick schweigen an als er schließlich fragte: „Hast du geheult?“
„Nee, ich hatte nur was im Auge.“
„In beiden?“
„Ja…“ Achselzuckend schmiss Harvey den Motor an und fuhr los, während ich mir das Make Up etwas richtete. „Was hast du denn hier so allein gemacht?“, wollte er wissen.
„Ich…war einkaufen.“, log ich. Harvey belächelte mich mit einem kurzen Seitenblick. Er umklammerte das Lenkrad fester und setzte sich aufrecht hin. „Ohne Einkäufe?“ Erschrocken sah ich ihn an. „Nun ja, ich habe dann…doch nichts g-gefunden.“, stammelte ich. „Aha.“, machte er nur. „Wie gefällt es dir hier?“, wechselte er das Thema.
„Ich find´s bescheuert.“, sagte ich wahrheitsgemäß. Er musste lachen. „Wenigstens bist du ehrlich.“, bemerkte er. Naja, nicht wirklich. „Ja, mir hat es hier auch noch nie wirklich gefallen. Wenn ich volljährig bin, dann hau ich sowieso von hier ab. So weit weg wie es geht.“ Neugierig musterte ich ihn.
„Schon eine Vorstellung wohin genau ?“ Er blickte mich nicht an sondern schaute nur lächelnd geradeaus. „Nach Tennessee. Meine Großeltern haben dort eine Ranch.“ Ich konnte, auch wenn es dunkel war, erkennen wie er rot anlief. „Gibt es da zufällig noch einen anderen Grund?“, hakte ich grinsend nach. Von einer Sekunde auf die andere wurde er knallrot wie eine Tomate. „Nun ja, dort lebt auch eine alte Freundin von mir.“
„Nur eine Freundin?“
„Ja, nur eine Freundin.“
„Und du bist nicht zufällig in sie verknallt?“, neckte ich ihn ein bisschen. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her. „Nun ja, vielleicht ein bisschen.“, gab er zu. Ich klatschte freudig in die Hände. „Na also. Sag ich doch. Man sieht es dir doch an.“ Er boxte mir aus Spaß leicht gegen den Arm. Ich fing an mit meinem Haar zu spielen. Komischerweise tat ich das immer, wenn ich intime Gespräche führte. War wohl ein Tick von mir.
„Wie heißt sie?“, fragte ich. Er musste immer mehr grinsen und senkte lachend den Blick. „Caroline.“
„Und du musst immerzu an sie denken nicht?“, scherzte ich.
„Hör auf.“, lachte er.
„Nein, jetzt wirklich. Erzähl mir von ihr.“ Mir war schon längst bewusst, dass ich meinen Plan, unfreundlich zu sein, nicht mehr in die Tat umsetzte. Aber das war mir egal. Denn ich hatte keine Lust mich weiterhin zu verstellen. Außerdem konnte ich Harvey irgendwie doch leiden.
„Nun ja, wie gesagt. Sie lebt in Tennessee bei ihren Eltern. Ich habe dort jedes Jahr meine Ferien verbracht, da ich eigentlich aus New York stamme. Vor zwei Jahren ist ihr Bruder Bradley gestorben. Naja und ich war für sie da.“, erzählte er mir kurz und knapp.
„Wow.“, hauchte ich. „Das mit dem Bruder ist ja schrecklich. Wie alt war er als er gestorben ist?“
„Siebzehn. Es war Krebs.“ Harveys Gesichtsausdruck verfinsterte sich und ich hatte Angst, dass er gleich anfangen würde zu weinen. Doch er tat es nicht. Stattdessen verstummten wir und sahen nur noch auf die Straße. „Ist es für dich in Ordnung, wenn ich noch kurz einen Boxenstopp im Supermarkt mache? Ich muss noch was besorgen.“, sagte er nach einer Weile.
„Nein, kein Problem.“
Es waren nur noch fünf Minuten bis zum Supermarkt. Harvey hielt mitten auf dem Parkplatz. Es stand sowieso nur noch ein alter, verdreckter Chevrolet da. Einsam und verlassen. Harvey öffnete die Tür und schwang sich raus. Ich hinterher. Die Glastür ging automatisch auf, als wir den Laden betraten und das allseits bekannte Ding Dong ertönte. Harvey steuerte zielstrebig auf einige Regale zu und nahm sich eine Zahnbürste, einen Schokoriegel, einen Sechserpack Cola und anschließend noch Kondome. „Wofür brauchst du die denn?“, fragte ich ihn misstrauisch.
„Man weiß nie.“, sagte er schulterzuckend.
Vor uns an der Kasse stand ein Mann mit grauem, wirrem Haar. Er trug eine schwarze Baseballmütze, sowie Harvey eine rote von den Cincinnati Reds. Er war ziemlich groß und stand leicht gebeugt da. „Hey Alfie!“, rief Harvey sichtlich erfreut als er ihn bemerkte. Alfie drehte sich mit einem grimmigen Gesicht um, welches schon einige Falten hatte und zerknittert war. Seine eisblauen Augen ähnelten denen von Nate. Nein, sie ähnelten ihnen nicht nur, sie waren deren geradezu identisch. Beide hatten so etwas Eindringliches an sich. Nate´ s Augen allerdings strahlten noch eine gewisse Fröhlichkeit aus im Gegensatz zu denen von Alfie. Diese waren eher unheimlich. Wenn man Nate allerdings ganz genau ansah, erkannte man, dass ihn tief im Innern irgendetwas belastete. Nicht dass ich ihn je so genau angesehen hätte. Ich vermutete es bloß.
„Harvey.“, brummte Alfie zur Begrüßung.
„Wie geht es Ihnen?“
„Gut gut.“, antwortete er gelangweilt. Alfie steckte die Hände ihn die Taschen und betrachtete uns. „Danke, Alfie. Mir geht es auch sehr gut.“, meinte Harvey. Ich musste grinsen. „Das ist übrigens Anni. Sie ist hier die Ferien über.“, stellte Harvey mich ihm vor und drückte mich dabei mit der Hand ein Stück nach vorn. „H-hallo Sir.“, stotterte ich. Anscheinend war ich doch etwas von ihm eingeschüchtert. Alfie sagte nichts, sondern zeigte mit dem Daumen hinter sich. „Ich muss dann mal weiter. Meine Einkäufe.“, entschuldigte er sich bei uns. „Bis dann.“ Er drehte sich um, bezahlte und war verschwunden. Ein äußerst langes Gespräch.
„Scheint ja nett zu sein.“, sagte ich ironisch. Harvey hatte den Unterton aus meiner Stimme sofort herausgehört. „Ach, er wirkt nur so. Wenn da nicht diese eine Sache wäre, dann wäre er eigentlich ein durch und durch netter Kerl.“
„Welche Sache?“, hakte ich nach. Nun hatte er doch mein Interesse geweckt. Harvey zuckte bloß mit den Achseln und bezahlte ebenfalls seine Ware, welche von einem Angestellten in eine braune Papiertüte gepackt wurde. „Nicht so wichtig.“, nuschelte er. Ich hielt ihn am Arm fest. „Moment Freundchen. Jetzt hast du mir Honig um den Mund geschmiert und jetzt musst du mir auch sagen was los ist.“ Schwer seufzend ließ Harvey den Kopf sinken. „Na gut. Wie du willst. Aber posaun es bitte nicht so rum. Es wissen zwar schon einige hier, aber alle müssen es jetzt auch nicht wissen. Alfie hat es schon schwer genug.“
„Jetzt spann mich nicht so auf die Folter. Los, erzähl schon.“, jammerte ich ungeduldig. Er sah sich kurz um, ob wir auch nicht belauscht wurden und beugte sich dann zu mir vor. „Alfie…soll Nate´ s Eltern auf dem Gewissen haben.“, flüsterte er.
„Wie meinst du das? Er soll sie getötet haben?“ Stumm nickte Harvey. „Und wieso bist du dir da so sicher?“
„Bin ich ja gar nicht. Es ist nur so ein Gerücht. Nichts von Bedeutung. Also mach dir keine allzu großen Gedanken.“, sagte er.
„Aber lebt Nate denn nicht bei seinen Eltern?“, wollte ich wissen.
„Nein, bei seinen Großeltern. Seine Eltern sind wie gesagt tot. Aber schon seit er noch ein Baby war. Er kann sich an rein gar nichts erinnern, wie er immer sagt.“ Harvey wandte sich von mir ab und ging Richtung Tür. Ich folgte ihm nicht, sondern blieb nachdenklich stehen. „Nun komm schon Anni. Es fängt gleich an zu regnen.“, rief er mir zu. „Ich komme.“, sagte ich. Das mit Nate´ s Eltern hatte mich neugierig gemacht. Was genau war mit ihnen passiert? Aus Harvey würde ich vielleicht noch ein paar Informationen rausbekommen. Denn irgendwie glaubte ich diese simple Geschichte nicht. Nun ja, ich hatte ja noch ein paar Wochen um es rauszufinden. Und ich schwor mir bei Gott, ich würde es noch vor Ferienende wissen.
Diesen Morgen hatte meine Mutter mich zum Einkaufen geschickt. Sie sagte, sie könne das nicht erledigen, weil sie mit meinem Vater zu irgendeiner Ausstellung wollte. Als ob es hier Ausstellungen geben würde. Trotz einiger Widerworte machte ich mich doch noch auf den Weg. Es nahm ganze drei Stunden in Anspruch. Und das nur, weil die Leute an den Kassen riesige Schlangen standen. Müde und erschöpft kam ich schließlich zu Hause an, stellte die Einkäufe in der Küche ab und schlurfte die Treppe hoch, in mein Ferienzimmer. Als ich die Tür öffnete, erschrak ich beinahe zu Tode. Vor mir, auf meinem Bett saß Nate, die Hände ineinander gefaltet und seinen Blick direkt auf mich gerichtet. „Was machst du denn hier?“, sagte ich. Er blieb sitzen. „Deine Mutter hat mich rein gelassen.“, antwortete er seelenruhig. Ich warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Die ist gar nicht da.“
„Oh.“, machte er nur. „Okay. Also ich…ich hab dein Schloss aufgebrochen.“
„Du hast was?“ Lässig zuckte er mit den Schultern. „Naja, ich hab halt gedacht du seist wütend auf mich und machst deshalb nicht auf.“, meinte er.
„Und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass ich einfach nicht zu Hause bin?“, entgegnete ich. Kommentarlos stand er vom Bett auf und kam auf mich zu. „Ich wollte mich entschuldigen.“, sagte er.
„Wofür denn?“, fragte ich lautstark. Erschrocken sah er mich an. „Naja. Wofür genau weiß ich auch nicht.“
„Siehst du!“
„Was denn?“
„Du kannst dich nicht für etwas entschuldigen, wenn du nicht mal weißt was du verbrochen hast.“, fuhr ich ihn an.
„Vielleicht kannst du mir ja sagen weshalb du sauer bist.“, erwiderte Nate.
„Ich bin gar nicht sauer.“, zischte ich und wandte mich von ihm ab. Um etwas zu tun zu haben, ging ich zu meinem Nachttisch und blätterte im Stehen ein Buch durch. Nate stellte sich natürlich hinter mich. Wenigstens mit etwas Abstand. „Bist du eben doch.“, sagte er. Ich wirbelte herum. „Bin ich nicht.“, beharrte ich.
„Ist es wegen gestern?“ Stumm schüttelte ich den Kopf. „Nein.“
„Was ist es dann?“
„Mensch Nate. Ich bin nicht wütend. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe.“ Doch Nate blieb unnachgiebig. Obwohl ich ihn mit einer Handbewegung zum Gehen aufforderte, blieb er auf der gleichen Stelle stehen. Stöhnend verließ ich das Zimmer und ging runter in die Küche um etwas zu trinken. Als ich wieder hochkam, war er – wie nicht anders erwartet – immer noch da. Allerdings stand er nun vor der Kommode und hielt ein Bild in der Hand. Eines von mir und David Hackman. Ein…früherer Freund von mir. Ich hatte es auf der Kommode liegen lassen. „Kennst du ihn?“, fragte Nate ohne mich dabei anzusehen. Ich lief zu ihm und riss ihm das Foto aus der Hand. „Selbstverständlich kenn ich ihn.“, keifte ich. „Sonst hätte ich ja wohl kaum ein Bild von uns zweien.“ Beschämt senkte er den Kopf. „Ja, du hast recht.“ Nun tat er mir aus unerfindlichen Gründen doch leid. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen, doch ich ließ es. Man wusste ja nicht wie er darauf reagieren würde. „Sagst du mir jetzt weshalb du sauer auf mich bist?“, fragte er erneut. Er konnte es einfach nicht lassen. „Na gut. Hör zu. Ich bin gar nicht sauer. War ich nie und bin ich auch nicht jetzt. Es hat etwas mit meiner Vergangenheit zu tun.“, gestand ich. Neugierig fing er an mich zu mustern.
„Willst du es mir erzählen?“ Als Antwort verzog ich nur das Gesicht. „Nein.“
„Willst du es mir wann anders sagen?“
„Ja. Wenn ich so weit bin.“
Es kam mir so vor, als wäre hier jeden zweiten Tag schlechtes Wetter. Und heute war so einer. Wie immer, machte ich vor lauter Langeweile einen Spaziergang. Dabei bekam man den Kopf frei und ich hatte eh nie etwas Besseres zu tun. Wie denn auch, ohne richtige Freunde. Und Harvey und Nate zählten nicht.
Ich machte einen sehr langen Spaziergang. Dieser ging wie auch sonst bis runter zum Strand. Es war so stürmisch, dass mir fast meine Kapuze vom Kopf gefegt wurde. Mit starkem Griff hielt ich sie fest. Etwas Schwarzes auf dem Meer hatte meine Aufmerksamkeit bekommen. Das schwarze etwas war immer in Bewegung und wurde von den Wellen hin und her getrieben. Ich fragte mich, was das wohl war? Ein Tier konnte es nicht sein. Jedenfalls kein mir bekanntes, denn dafür war es zu groß. Nur was war es dann? Neugierig ging ich die Düne runter bis ich Sand unter den Füßen hatte. Mit starkem Gegenwind näherte ich mich dem Wasser und musste die Augen fest zusammenkneifen, um keine Sandkörner in hinein zu bekommen. Damit ich wenigstens etwas bessere Sicht hatte, schirmte ich zusätzlich noch mein Gesicht. Das führte dazu, dass meine Kapuze nun nicht mehr auf meinem Kopf saß, sondern wild im Wind umherflatterte. Doch es machte mir nichts aus. Ich widmete mich ganz und gar, dem Unbekannten da draußen.
Und plötzlich sah ich was es war. Ein Mensch. Ein Mensch der im Wasser trieb. Auf der Stelle wurde ich panisch und merkte wie ich nur wild hin und her lief. Oh Gott, ein Mensch. Was sollte ich nur tun? Lebte er überhaupt noch? Oder war er etwa schon tot? Ich konnte da nicht raus. Ich hatte viel zu sehr Angst. Weshalb kann ich euch in diesem Moment leider nicht erzählen. Ratlos lief ich nur ein Stückchen hinein ins Meer, sodass mir das Wasser nur knapp bis zu den Knien ging. Nun erkannte ich, dass es ein Junge war. Er war vermutlich bewusstlos und dabei unterzugehen. Wenn ich jetzt nicht eingriff, dann würde dieser Junge wegen mir sterben. Falls er noch nicht tot war. Mutig ging ich noch einige Schritte weiter rein, doch machte gleich darauf wieder kehrt, aus Angst von der Strömung mitgerissen zu werden. Ich fing sogar schlagartig an zu weinen. Aus Verzweiflung. „Annie, was machst du da?“, ertönte eine Stimme hinter mir. Mit nassen Augen drehte ich mich um und dort stand, viele Meter entfernt, Harvey mit seinem roten Baseballcap. „Du musst mir helfen!“, kreischte ich hysterisch. „Da draußen. Da ist ein Mensch!“ Sofort schlugen bei Harvey die Alarmglocken an. Er sprintete los, an mir vorbei und war mit einem Satz Wasser. Nicht einmal die Schuhe hatte er sich ausgezogen. Nur sein Baseballcap trieb nun im Wasser neben mir. Ich hob es auf und sah nach Harvey, der den Jungen nun fast erreicht hatte. Einige Male wurde Harvey von einer Welle überrollt, doch tauchte immer kurz darauf keuchend wieder auf. Er gab nicht auf und schwamm weiter bis er bei dem Jungen war und den Arm um ihn schlang, damit er nicht unterging. Er zog ihn mit sich und hatte dabei große Schwierigkeiten, seinen Kopf über Wasser zu halten. Ich war so verkrampft, dass ich mir mit den Fingernägeln schier die Hand zerquetschte. Als Harvey mich nach langem Kämpfen erreicht hatte, atmete ich erleichtert auf. Doch sofort traf mich der nächste Schlag, als ich erkannte, wem Harvey da aus dem Wasser gezogen hatte. Nate.
Nate zeigte keinerlei Lebenszeichen. Schwer atmend zerrte Harvey ihn an den Strand. Dort ließ er sich erst einmal neben ihn sinken und musste schwer keuchen. „Tu doch was!“, rief ich. Harvey fing bei Nate mit einer Herzdruckmassage an. Doch Nate reagierte nicht. Mit geschlossenen Augen und blasser Haut lag er da. Er trug einen schwarzen Surfanzug, der hoch zugeschlossen war und so aussah, als würde er ihm die Luft abschnüren. Sein dunkles Haar klebte wirr an seiner Stirn. Harvey bearbeitete immer wieder sein Herz, doch noch immer kein Anzeichen der Besserung. Verzweifelt raufte er sich die Haare, sah mich jedoch nicht an. „Verdammt!“, fluchte er. Mit geballter Faust schlug Harvey ihm einmal fest auf den Brustkorb und plötzlich zuckte Nate zusammen und spuckte eine Menge Wasser. Er hustete und hustete und konnte gar nicht mehr damit aufhören. „Nate!“, rief ich erleichtert. Ohne zu wissen was ich tat, hockte ich mich neben ihn und drückte ihn lächelnd an mich. „Gott sei Dank.“, sagte ich leise. Als ich wieder von ihm ließ, umspielte ein fettes Grinsen seine Lippen. „Bist du in Ordnung, Nate?“, fragte Harvey. Sein kurzes Haar war ebenfalls klitschnass und er hatte noch immer diesen erschrockenen Gesichtsausdruck. Vorsichtig rappelte Nate sich auf und wir halfen ihm dabei. „Ja, mir geht´s gut. Danke. Ich war surfen und dann kam da diese riesige Monsterwelle und hat mich vom Brett gefegt und dann konnte ich meinen Kopf nicht mehr über Wasser halten und habe eine Menge Wasser geschluckt. Ich kann von Glück reden, dass ihr gekommen seid und mir geholfen habt. Vielen Dank.“ Ich sah ihn an und konnte einfach nicht anders, als ihn erneut zu umarmen. Lachend erwiderte er diese Umarmung und zog auch den glotzenden Harvey an uns heran. Nun war es eine Gruppenumarmung und der Beginn einer vielleicht wunderbaren Freundschaft. Nun ja, wir werden sehen.
„Ich kann ihn nach Hause bringen.“, sagte ich zu Harvey, kurz nach seiner Rettung. Harvey bot zwar an uns zu fahren, aber Nate lehnte dankbar ab. Was denn auch sonst? Und so gingen wir zusammen, mit Abstand zwischen uns (ich wollte es so) zu ihm nach Hause. Ich weiß auch nicht genau, wieso ich vorgeschlagen hatte ihn zu begleiten, aber irgendwie fand ich war ich es ihm schuldig. Auch wenn ich gar nichts getan hatte und dass er fast abgesoffen war, auch nicht meine Schuld gewesen ist, aber ich empfand es einfach als richtig das für ihn zu tun. Er sah doch so hilflos aus.
Nate wohnte in einem bescheidenen, freundlichen Haus. Noch immer hatte er den Surfanzug an und schloss die Tür auf. Oder knackte eher das Schloss so wie bei mir. Er ließ mich eintreten, zog sich die Schwimmschuhe aus und warf sie in die Ecke. Auch ich entledigte mich meinen Schuhen und meiner Jacke. Da wo Nate langging, waren nun kleine Wasserpfützen entstanden, doch er ignorierte es und ging in die Küche. „Grandma?“, rief er durchs Haus. „Grandma?“ Diesmal lauter, doch keine Antwort. Er kam wieder in den Flur und winkte mich zu sich. „Komm ruhig her.“, sagte er. Ich sah noch einmal kurz hinter mich und folgte ihm. Nate sah sich nicht mehr in der Küche um, sondern hatte seinen Blick auf etwas im Garten gerichtet. „Oh nein.“, flüsterte er. Schlagartig lief er mit schnellen Schritten zur Terrassentür und schob die Glastür zur Seite. Ich ging hinter ihm her, blieb jedoch im Türrahmen stehen und beobachtete ihn dabei, wie er in den Garten hinaus zu einem alten Mann lief und ihn sanft am Arm packte. Nate redete auf den Mann ein, doch dieser blickte ihn nur und verständnislos an. Deshalb schleifte Nate den Herren mit sich ins Haus. Verwirrt starrte der Mann mich an und wurde von Nate an mir vorbei gezogen. „Grandpa, du kannst bei dem Wetter doch nicht rausgehen.“, mahnte er ihn. Grandpa, blickte ihn wieder nur stumm an. „Hast du gehört?“, fragte Nate erneut. Keine Antwort. Seufzend ging Nate zum Küchenschrank und kramte eine Medizin heraus. Er schüttete einen durchsichtigen Saft in einen kleinen Becher und reichte ihn Grandpa. „Schluck das.“, sagte er dabei. Grandpa nahm den Becher mit zittrigen Händen entgegen, würgte das Zeug runter und reichte es wieder Nate, welcher es in die Spüle legte. Er lehnte sich gegen die Anrichte und betrachtete seinen Großvater. Dieser stand da mit gesenktem Kopf, wie ein kleines Kind, das etwas angestellt hatte. „Grandpa, würdest du mir bitte sagen, weshalb du wieder einfach raus gegangen bist? Es stürmt, siehst du das nicht?“ Grandpa blieb stumm unter Nate und meinen Blicken. Irgendwie tat er mir leid. Wie er da so stand und Nate versuchte etwas aus ihm herauszuquetschen. „Das ist gefährlich.“, sagte Nate. In diesem Augenblick kam eine ebenso alte Frau mit einem Korb voll Wäsche in die Küche. „Nate, lass deinen Großvater in Ruhe. Du weißt doch dass er das nicht versteht.“, sagte sie. Die Frau musterte Nate von oben bis unten und zuckte mit den Mundwinkeln. „Du machst alles nass.“, meinte sie.
„Ich denke es wäre besser, wenn du mehr auf ihn Acht gäbest.“, warf er ihr vor, ohne auf ihre Worte einzugehen. Sie lächelte ich nur milde an und fing an die Wäsche auf ein Bügelbrett zu legen. Erst jetzt bemerkte sie mich. „Oh hallo.“ Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und kam auf mich zu. Sie nahm meine Hand in ihre und schenkte mir ein freundliches Lächeln. „Ich bin Ruby. Nate´ s Oma.“
„Hi, ich bin Anni.“ Stumm nickte sie und lächelte noch immer. Ich spürte Nate´ s Blick auf mir und drehte mich zu ihm um. „Mein Großvater…er ist krank.“, sagte er, als wüsste er was ich gerne wissen wollte. „Was hat er denn?“, fragte ich vorsichtig.
„Die Ärzte wissen es nicht. Wir vermuten eine Art Behinderung.“ Ich wende meinen Blick auf Nate´ s Opa, der schon in einem Sessel vorm Fernseher sitzt und lachend Cartoons guckt. „Naaaaaaaattttttttteeeeeeeee!“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Flur. Ein kleiner Junge kam hereingestürmt und sprang sofort Nate an, der ihn mit einem Ruck hochhob. „Hey Sam, wie geht´s?
„Super.“, antwortete der Junge freudig.
„Was hast du heute so gemacht?“, unterhielt sich Nate höflich mit ihm. Der Junge überlegte kurz. „Ich hab mit Henry Fußball gespielt und Grandma im Haus geholfen.“, antwortete er. Nate schenkte ihm das freundlichste Lächeln, das ich je bei ihm gesehen hatte. Behutsam und stolz wie ein Vater sah er den Jungen an.
„Nate, würdest du dich jetzt bitte umziehen. Du tropfst den ganzen Boden voll und ich will nicht, dass jemand da ausrutscht und sich wehtut.“, warf Ruby ein. Nate verdrehte die Augen und ließ Sam runter. Dann nahm er mich an der Hand und ging mit mir in den Flur. „Und nimm Sam mit!“, rief Ruby ihm noch zu. Stöhnend drehte sich Nate noch einmal um. „Sam!“ Augenblicklich war Sam an seiner Seite. Wir gingen gemeinsam die Holztreppe hoch in Nate´ s Zimmer. Zu meiner Überraschung herrschte hier große Ordnung. Sam sprang aufs Bett und beschäftigte sich mit einem Comic, währen ich dumm dastand. „Setz dich doch dahin, wenn du willst.“, bot Nate mir an. Er meinte einen Sessel, der in einer Zimmerecke stand und sehr gemütlich und einladend aussah. Nate ging zu seiner Kommode und kramte in ihr herum. Gerade als ich mich setzen wollte, nahm ich aus dem Augenwinkel war, dass er dabei war sich den Surfanzug auszuziehen. Bis jetzt hatte er nur den oberen Teil, bis zur Hüfte abgestreift. Ich sprang auf und verdeckte mein Gesicht mit den Händen. „Stopp!“, schrie ich schlagartig. Er und Sam sahen mich erschrocken an, wie ich da mit zusammengekniffenen Augen stand. „Was denn?“, wollte Nate wissen.
„Äh…naja. Du ziehst dich hier vor mir aus und ich will das nicht unbedingt sehen.“, verkündete ich ihm. Nate zuckte nur mit den Achseln. „Na dann dreh dich doch um.“, schlug er vor.
„Und Sam?“
„Der auch.“ Genervt drehte Sam sich ebenfalls wie ich weg. In dieser Zeit zog Nate sich noch den restlichen Anzug aus und als er mir Bescheid gab, ich könne mich wieder umdrehen, stand er in einer frischen Jeans und einem grau-schwarz gestreiften Pullover wieder vor mir. Lächelnd hatte er die Arme ausgebreitet, um sich zu präsentieren. Stumm hielt ich den Daumen hoch. Ein Zeichen, dass mir sein Outfit gefiel, auch wenn es sehr schlicht war. „Sam würdest du uns jetzt bitte alleine lassen?“, sagte Nate. Sam schüttelte nur den Kopf. „Bitte.“, presste er hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, doch Sam war nicht einverstanden. „Los!“
„Nein.“
„Hau ab.“, keifte Nate. Sam sprang sofort auf und stürmte schluchzend heraus. „Ich muss mich für meinen Bruder entschuldigen.“, sagte Nate.
„Dein Bruder?“ Erstaunen lag in Nate´ s Blick. „Ja, sieht man das etwa nicht?“, scherzte er.
„Oh doch. Natürlich. Ich meine…er…ist auch…so alt…wie…äh…du.“ Lachend hob Nate den Surfanzug auf. „Schon klar.“, meinte er. Okay, nun hatte ich die Gelegenheit ihn auf Alfie anzusprechen. Gott schenkte mir hier eine Möglichkeit der ganzen Sache, die Harvey mir erzählt hatte auf den Grund zu gehen. Langsam bewegte ich mich vor ging ein Stück am Bett vorbei und streifte sanft den Bezug. „Und du wohnst hier? Bei deinen Großeltern?“, startete ich einen Versuch. Nate sah mich nicht an sondern kramte nun in verschiedenen Schreibtischschubladen. Er erstarrte und drehte sich zeitlupenartig um. „Was soll mit ihnen sein?“
„Naja, ich weiß nicht. Es ist einfach…normalerweise leben Kinder bei ihren Eltern.“ Stille. Eine quälende Ewigkeit. „Sie sind tot.“, antwortete er schließlich. „Bei einem Autounfall gestorben.“
„Und was ist mit Alfie?“ Mit gerunzelter Stirn warf er mir einen Blick zu. „Was bitte hat Alfie damit zu tun?“ Schlagartig lief ich rot an. „Also…ich hab gehört…er hätte etwas mit dem Tod deiner Eltern zu tun.“, gestand ich. Wütend funkelte er mich an. „Wer hat dir das erzählt?“ Ich schwieg. „Wer hat dir das erzählt?“, zischte er.
„H-Harvey.“, stammelte ich verlegen. Nate zog nur die Augenbrauen hoch und wandte sich wieder den Schubladen zu. „Ach Harvey. Der hat einfach zu viel Fantasie. Ich meine, er ist ein prima Kerl, aber diese Fantasie hat ihm schon immer nur Probleme bereitet.“, meinte er.
„Also ist er nicht am Tod deiner Eltern schuld?“ Ich fand es war die beste Strategie, einfach alles geradeheraus zu fragen. Klappte doch eigentlich immer.
„Nein, Alfie hat nichts damit zu tun.“, fauchte er. „Jedenfalls wüsste ich ja wohl wenn davon. Betroffen ließ ich den Kopf sinken. „Wenn du meinst.“ Nun wurde er richtig sauer. Er knallte die Schublade zu und kam mit einem Satz auf mich zu. „Anni, das geht dich alles überhaupt nichts an. Und was dieser Dummkopf Harvey dir erzählt solltest du einfach ignorieren.“
„Aber ich dachte er sei ein prima Kerl.“
„Vergiss das einfach, okay?“ Stumm brachte ich nur ein Nicken zustande. „Wirklich Anni. Ich meins ernst. Halt dich da raus.“, sagte er. Es klang wie eine Drohung uns machte mir Angst. Ein Schauer durchfuhr mich. „Gut vergessen wir das Ganze.“, meinte er schließlich, schon wesentlich ruhiger. „Gut.“, flüsterte ich. Auf einmal war er wieder der alte Nate. Der Fröhliche Nate. „Nate, ich gehe mit deinem Großvater zum Arzt! Wir sind in einer Stunde wieder da!“, konnte man Ruby´ s Stimme von untern hoch rufen hören. „Ist gut!“, brüllte er runter und sah mich dabei immer noch an. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und er rieb sich freudig die Hände. „Sehr gut.“, sagte er leise. Nate wartete noch einige Sekunden bis er sein Zimmer verließ. Ich hechtete ihm hinterher. Komisch, sonst war er es doch immer, der mir hinterherrannte. Nate und ich landeten in Sam Zimmer, wo der Junge am Schreibtisch saß und malte. Nate ging zu ihm rüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sam nickte und schwang sich vom Stuhl. Dann nahm er Nate´ s Hand und die beiden gingen an mir vorbei. Im Gehen drehte Nate sich noch zu mir um. „Ich will dir etwas zeigen.“, sagte er. Gemeinsam ging es ins Wohnzimmer, wo hinter einer Zimmerwand versteckt, ein richtiges Piano stand. Es musste ein Vermögen gekostet haben. „Los zeig was du kannst, Junior.“, sagte Nate zu Sam. Sam ließ seine Hand los, lief zum Piano und setzte sich mit einem Ruck auf den Hocker. Er hob leicht die Hände und legte sie sanft auf die Tasten. Dann schloss Sam die Augen, hob ein wenig den Kopf und begann ein paar einzelne Noten zu spielen. Aus den einzelnen, einfachen Noten entstand eine wunderschöne Musik. Das Lied war mir nicht bekannt, doch es gefiel mir sehr. Sam ließ die Hände unheimlich schnell über die Tasten huschen, so dass man ihnen kaum folgen konnte. Lächelnd stand Nate neben mir, die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete seinen kleinen Bruder. „So was muss doch gefördert werden nicht wahr?“, flüsterte er mir zu. Ich nickte und war total von den Socken. „Wer hat ihm das beigebracht?“, fragte ich. „Ich.“, antwortete Nate und platzte fast vor Stolz. Obwohl Sam noch am Spielen war, setzte Nate sich neben ihn auf den Hocker und begann zusammen mit ihm das Stück zu musizieren. Jeder spielte eine eigene Strophe und es klang fabelhaft. Sam sah zu Nate hoch und lachte. Und auch Nate sah glücklich aus. Oh, und noch immer stolz. Auch er klang in Sam´ s Lachen ein. Ich weiß nicht wie ich mich fühlte aber es war eine Mischung aus Rührseligkeit und…Rührseligkeit. Ich war einfach nur gerührt. Anders konnte ich es nicht sagen.
Der gestrige Tag mit Nate, hatte mir eine ziemlich andere Sichtwiese von ihm eingebracht. Ich fand er war nicht mehr ein allzu großer Idiot. Und das war doch schon was. Vielleicht würden diese Ferien doch nicht so schlimm werden, wie ich anfangs dachte. Immerhin hatte ich mich bisher doch auch ganz gut mit Harvey verstanden. Und ich würde ihn auch in Zukunft sicher noch gebrauchen können, um das Geheimnis um Alfie zu lüften. Ansonsten hatte ich ja keine wirklich guten Quellen. Und da ich keine Zeit verplempern wollte, machte ich mich schon so früh wie es ging, auf zu Harveys Haus. Da ich ja nicht wusste wo genau er wohnte, musste ich mich zuerst unten am Pier ein wenig erkundigen. Es dauerte nicht lange und ich hatte seine Adresse. Er war hier ziemlich bekannt wie es aussah.
Harvey wohnte ein bisschen abseits der Kleinstadt und ich fand leicht zu ihm. Bevor ich klingelte überprüfte ich noch das Schild an der Haustür. Chatwyn. Ich war richtig. Ein kurzes Klingeln genügte und er öffnete die Tür. In Jogginghose und einem weißen T-Shirt. Verschlafen rieb er sich die Augen und fuhr sich einmal durch sein Haar. „Anni, was machst du denn so früh hier?“ Verwirrt blickte ich ihn an. „Es ist elf Uhr.“, sagte ich nur.
„Wie dem auch sei. Was gibt’s denn?“
„Ich wollte dich um einen Gefallen beten.“ Er zog eine Augenbraue hoch und musterte mich interessiert. „Um was geht’s?“
„Ich will dass du mir bei etwas hilfst. Nämlich dabei, herauszufinden was es mit Nate´ s Eltern und Alfie auf sich hat.“ Harvey bekam ganz große Augen und warf erschrocken einen Blick hinter sich, um sicher zu gehen dass auch niemand am Lauschen war. Dann kam er zu mir raus, lehnte er die Tür hinter sich an und kam noch einen Schritt näher. „Anni, das ist keine gute Idee.“, meinte er.
„Wieso nicht?“
„Weil es uns zum Beispiel nichts angeht.“
„Warum?“ Genervt stützte er die Arme in die Hüften. „Sag mir einen triftigen Grund und wir lassen es.“, verlangte ich. Harvey wusste keinen und es war mein Sieg. „Also gut. Ich weißes nicht. Aber trotzdem heiße ich das nicht gut, was wir hier abziehen.“, warf er ein.
„Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich alle Schuld auf mich nehmen werde.“ Als Antwort rollte er nur mit den Augen und drehte sich wieder Richtung Tür. „Na das hört sich doch schon mal gut an.“ Triumphierend grinste ich. „Und jetzt los. Zieh dir was an und wir können anfangen.“
„Womit genau, wenn ich fragen darf?“
„Ja, mit der Erforschung natürlich.“ Stumm nickte er, halb machte er sich lustig. Harvey ließ mich im Flur warten, während er sich oben Jeans und Sweatshirt anzog. Er hatte auch sein übliches rotes Capp aufgesetzt.
„Es kann losgehen.“, verkündete er, halb die Treppe unten. Wir entschlossen einfach sofort zu Alfie zu fahren, welcher im Wald in einer Hütte wohnte. Dazu nahmen wir Harveys grünen Ford Taunus. Er erzählte mir, dass Alfie hier der Leuchtturmwächter sei und tagsüber im Grunde nur in seiner schäbigen Holzhütte herumsitzen würde. Gelegentlich würde er rauskommen und ein paar Tiere abschießen, die er seinen nicht gerade alltäglichen Gästen servierte. Harvey riet mir egal was für eine Fleischsorten er mir anböte, ich solle keine annehmen. Die paar Leute, die bei ihm zu Besuch waren und die Kost probiert hatten, erlitten danach eine schreckliche Magen-Darm-Grippe. Wie reizend.
Harvey hielt mitten im Wald den Wagen an und schaltete den Motor aus. Als er den Schlüssel herausgezogen hatte, seufzte er einmal schwer und drehte sich zu mir um. „Okay, wir können hier nicht weiter, sondern müssen den Pfad da drüben nehmen, weil der Wagen da nicht durchpasst. Seine Holzhütte steht auf einer kleinen Lichtung. Bist du bereit?“
„Na klar.“ Noch immer etwas unsicher-das war er, nicht ich-stiegen wir aus und machten uns auf den Weg. Die Bäume, die seitlich am Pfad waren, standen wirklich ziemlich dicht beieinander und bedrängten uns ein wenig. Schweigend lief ich hinter Harvey her und behielt die ganze Zeit über den Boden in den Augen. Schließlich wollte ich nicht über eine Wurzel oder etwas dergleichen stolpern.
Der Weg bis zu Alfie´ s Heim war nicht sehr weit. Seine Hütte war winzig und wirklich nicht sehr ansehnlich. Wie lange die da wohl schon stand und wie viele Reparaturen sie schon hinter sich hatte? Wir hatten sie fast erreicht, als mich schier der Schlag traf. Was bitte war das am Fenster? Es war rot. Rot wie…Blut. Mit meiner Handfläche unterdrückte ich einen spitzen Schrei. Mein Mund gab nur noch einen dumpfen Laut von sich. Auch Harvey wirkte sehr beunruhigt und wich ein Stück zurück. Plötzlich spritzte noch mehr Blut gegen das Fenster und sofort darauf schrie jemand von innen laut auf. Es war ein Mann. Eindeutig. Ich presste meine Hand fester gegen meinen Mund. Was bitte war das drinnen los? „Oh, scheiße.“, flüsterte Harvey. Er packte mich am Arm und zog mich weg. Wir rannten und landeten versteckt hinter einem Baum. Schwer atmend lehnte er mit dem Rücken gegen ihn und ich stand ihm gegenüber, panisch und voller Angst. „Was war das?“, wisperte ich. Harvey warf einen vorsichtigen Blick über seine Schulter zum Haus. Kein Geräusch war mehr zu hören. „Ich…weiß es nicht.“, sagte er leise. Ich konnte sehen wie er am ganzen Körper zitterte. „Ich vermute Alfie, hat…es kann sein dass er…vielleicht ist das Gerücht ja doch war und er ist wirklich ein Mörder. Aber das kann ich einfach nicht glauben. Ich meine, er wirkt zwar grimmig und verbissen, aber doch nicht wie ein Killer. Das kann einfach nicht sein.“ Meine Augen wurden immer größer. „Wahrscheinlich gibt ihm die Ermordung von Nate´ s Eltern keine Genugtuung und jetzt setzt er sein Werk fort, entführt Leute, schleppt sie in seine Hütte und schlachtet sie da drinnen mit einer Axt ab.“ Nun zitterte Harvey nicht nur, sondern hatte auch noch eine schreckliche Gänsehaut und Schweiß über der Oberlippe. „Genau, wie in den Horrorfilmen. Das kann sogar sein, denn in diesem Jahr sind schon drei Leute verschwunden. Sicher wegen Alfie. Er hat sie umgebracht dieser Schweinehund.“, schimpfte er. Mir war klar, dass wir etwas fantasierten, aber es war doch möglich. Ich meine, wie würdet ihr das erklären, was da eben geschehen war? Eingebildet hatten wir uns das garantiert nicht. Doch nicht zwei Personen gleichzeitig. „Was machen wir denn jetzt?“, fragte ich leise. Er konnte nicht antworten denn just diesen Moment, konnte man das Quietschen der Hüttentür hören und wie Füße über die Holzterrasse schleiften. Die Panik stieg in mir auf und mein Atem wurde immer flacher. Erneut sah Harvey hinter sich, während ich nur starr vor ihm stand und ihn dumm und wie gebannt anglotzte. „Es ist Alfie.“, flüsterte er, den Blick immer noch auf die Lichtung gerichtet. „Oh Mist, er kommt hierher.“ Das einzige was ich in diesem Moment fühlte war Leere. Ich hatte einen Schock fürs Leben. Glaubte ich zumindest. Er kam hierher. Hierüber! Verdammt. „Ist da jemand?“, konnte ich Alfie rufen hören. Von Weitem ertönte sein schweres Keuchen. „Wer ist da?“, rief er erneut. Plötzlich ein lauter Knall und an dem Baum links von uns, war nun ein Einschussloch. Ungläubig starrten wir darauf. Er hatte wirklich geschossen. Mit einem bescheuerten Gewehr oder einer Knarre oder etwas sonstigem. Harvey blickte mich nur an, und es sah so aus als wüsste er nicht was er tun solle. Wenn wir jetzt versuchen würden wegzurennen, wäre das auch keine gute Idee. Alfie könnte uns zwischen den Bäumen sehen und uns mit einem bloßen Schuss erwischen. Falls er das vorhatte.
Starr blieben wir wo wir waren und warteten darauf, dass Alfie uns erreichen würde. Doch diese Spannung ertrug ich nicht. Harvey musste bemerkt haben, dass ich vorhatte mich von dem Baum zu entfernen, denn er hielt mich am Handgelenk fest und hinderte mich an meinem Plan. „Sei leise. Und beweg dich nicht.“, sagte er sanft und kaum hörbar. „Stell dich!“, schrie Alfie aufgebracht. Mein Gesicht versteckte ich an Harveys Brust. Ich wusste nicht wo sonst damit hin, denn unter gar keinen Umständen wollte ich sehen, wie Alfie zu uns lief. Doch wir konnten nichts tun. Wir saßen in der Falle. Nun musste Alfie nur noch wenige Zentimeter vom Baum entfernt sein, denn seine Stimme schien so nah. „Zeigt euch.“, knurrte er. Ein Kieksen drang aus meiner Kehle. „Pst.“, machte Harvey. Das war sehr dumm von uns. Ich wusste in diesem Augenblick, dass Alfie direkt neben uns stand, denn keiner sagte mehr etwas. Totenstille. Verkrampft hielt ich meine Augen geschlossen. „Hab ich euch.“, freute sich Alfie. Laut schrie ich los. Auch wenn es nichts mehr brachte drückte mir Harvey seine Hand auf den Mund. „Alfie, wir…wir wollten dich nur besuchen.“, stammelte Harvey.
„Ach ja? Und wieso versteckt ihr euch dann hinterm Baum, wenn ich fragen darf?“
„Nun ja.“ Erwartungsvoll blickte Harvey mich an, doch ich zuckte nur mit den Schultern. „Wir dachten, du…naja…da ist auf einmal Blut gegens Fenster gespritzt und dann haben wir jemanden schreien gehört und-„
„Und jetzt denkt ihr ich sei ein Mörder?“, unterbrach Alfie ihn. Stumm nickten wir und Alfie fing schallend an zu lachen. „Ihr Idioten . Ich hab doch niemanden umgebracht. Na gut, ganz korrekt ist das nicht, aber auf jeden Fall keinen Menschen. Das Blut stammt von einem Reh. Ich habe es geschlachtet und deshalb das Blut am Fenster. Ich habe es auf den Tisch gelegt, welcher direkt vor der Scheibe steht und der Schrei stammte von mir. Ich hab mich beim Innereien entfernen geschnitten.“, meinte er. Erst jetzt fiel mir das Stofftuch, das um seinen Daumen gewickelt war, auf. „Also..bist du gar kein Mörder?“, fragte ich, noch immer Harvey umklammert.
„Nein, natürlich nicht. Wie ihr darauf nur kommt.“ Lachend schüttelte Alfie den Kopf. „Die Jugend von heute. Zu viel Fantasie.“
„Es ist ein Gerücht Alfie.“, warf Harvey ein. Sofort verstummte Alfie und blickte ihn an. „Was für ein Gerücht?“
„Das Gerücht, dass du…Nate´ s Eltern umgebracht hast.“ Schockiert fiel Alfie die Kinnlade herunter. Er klappte sie wieder hoch und sah uns still an. „So so.“, machte er schließlich. „Ich kann euch nur eins sagen: nämlich dass ich sie nicht umgebracht habe. Ich habe gar keinen Grund dazu.“ Wütend spukte er uns vor die Füße und wir wichen einen Schritt zurück. „Und jetzt haut ab von hier.“ Samt dem Gewehr schlurfte Alfie wieder zu seiner Holzhütte zurück. Wir taten was er verlangte, denn im Moment konnte man bei ihm mit allem rechnen. Immerhin hatte er schon versucht uns zu erschießen. Und ich wollte ihn nicht erzürnen und zum Schluss seine im Haus versteckte Axt im Rücken stecken haben. Das war es mir nicht wert.
„Und? Glaubst du er hat es getan?“, fragte mich Harvey auf dem Nachhauseweg. Ich wusste keine Antwort. Ich meine das was wir gesehen hatten, könnte wirklich nur ein scheues Reh sein, aber wieso auch sollte Alfie uns die Wahrheit sagen? Er hätte uns genauso gut anlügen können. „Ich weiß es nicht.“, antwortete ich schließlich. Stumm nickte er, den Blick auf die Fahrbahn gerichtet. „Ich finde Nate sollte nichts von unserem Vorhaben wissen.“, meinte er.
„Ja, ich habe ihn mal darauf hingewiesen. Auf das mit Alfie und er hat ziemlich böse reagiert.“
„Siehst du und deshalb werden wir in seiner Gegenwart den Mund halten, okay?“
„Okay.“ Die restliche Fahrt über schwiegen wir und Harvey lenkte den Wagen Richtung Strand. „Was wollen wir hier?“, fragte ich. Als Antwort lächelte er nur. „Wirst du gleich sehen.“ Wir stiegen aus und liefen runter zum Wasser. Dort zog er sich erstmal die Turnschuhe aus krempelte sich seine Jeans bis zu den Knien hoch. Dann fing er an Muscheln zu sammeln. Verwirrt starrte ich ihn an. „Wieso machst du das? Hast du irgendwie´ n Faible für Muscheln?“ Grinsend sieht er zu mir hoch. „Die sind nicht für mich, sondern für Caroline. Jedes Jahr suche ich die schönsten Muscheln für sie zusammen und schicke sie ihr.“, sagte er. „Sie liebt sie.“, fügte er lächelnd hinzu. Ich sagte nichts und enttäuscht blickte er mich an. „Findest du das kitschig? Willst du gehen? Es ist nur, mein Brief ist schon überfällig. Ich wollte ihr eigentlich schon vor über einer Woche antworten, aber ich bin einfach nicht dazu gekommen.“
„Nein, nein. Das ist überhaupt nicht kitschig. Das ist…das Netteste das ich je gesehen habe.“ Verlegen musste er schmunzeln und widmete sich wieder seiner Aufgabe, während ich neben ihm stand und ihm dabei zusah. Nach einer halben Stunde hatte er die verschiedensten, tollsten Muscheln überhaupt. Er brachte sie in sein Auto und kam wieder zurück. Es war ziemlich kühl und windig und ich fragte mich ob er überhaupt nicht fror in seinem T-Shirt und der nun kürzeren Hose. Kommentarlos schützte er die Hände in die Hüften und legte sich danach einfach in den Sand. Die Arme hatte er unterm Kopf verschränkt und blickte hoch in den Himmel. Nach langem Zögern machte ich es ihm nach und legte mich neben ihn. Er rückte ein Stück näher an mich heran, so dass wir nun dicht nebeneinander waren.
Ich weiß nicht wie lange wir da schweigend lagen, aber inzwischen ist es schon stockfinster geworden und die Sterne am Himmel standen hoch oben. Bis jetzt hatten wir uns noch immer nicht von der Stelle bewegt. „Und? Kommt jetzt dieser typische Astrologie Scheiß den man aus dem Fernsehen kennt? Sterne anschauen und so? Du sagst mir jetzt was für ein Sternbild wo zu finden ist?“ Grinsend sah er mich an. „Nee, ich blick das ganze Zeug eh nicht mit dem kleinen und dem großen Wagen.“, meinte er.
„Kann ich mir denken.“
Als es uns zu kühl wurde, machten wir uns auf den Weg zu seinem Auto und nach Hause. Bei meinem Ferienhaus setzte er mich ab und wir verblieben bei einem: Bis bald. Zu Hause schlief ich die ganze Nacht nicht ein. Ich musste immerzu an Alfie denken. Hatte er uns da eine Lüge aufgetischt? Oder erzählte er die Wahrheit? Ich wusste es nicht.
Erst gegen Morgengrauen schlief ich ein, schreckte jedoch schon nach kurzen zwei Stunden wieder auf. Müde stierte ich auf den Wecker und stand schließlich auf. Ich schlurfte ins Bad, zog mir etwas an und frühstückte in paar Happen. Ich hatte das Gefühl, dass ich meine Eltern seit unserer Ankunft hier bisher höchstens zweimal zu Gesicht bekommen hatte. Deshalb wunderte es mich, weshalb sie unbedingt wollten dass ich mitkam wenn wir eh nie etwas gemeinsam unternahmen. Naja, ihre Entscheidungen waren mir sowieso egal. Es waren immerhin nur Eltern.
Nach dem Frühstück überlegte ich, was ich heute unternehmen könnte. Harvey besuchen? Unten am Pier spazieren gehen? Einkaufen? Ich entschied mich für ersteres. Also schnappte ich mir meine Jacke und trat hinaus vor die Tür. Doch als ich bemerkte, dass es doch nicht so frisch war wie ich anfangs dachte, brachte ich sie wieder zurück ins Haus. Nun, in T-Shirt und einer kurzen Hose streckte ich genießerisch das Gesicht in die Sonne. „Pass auf dass du dir keinen Sonnenbrand holst!“, ertönte eine Stimme. Ich sah um mich, doch nirgends war jemand zu entdecken. „Hier oben!“, rief derjenige wieder. Ich sah nach oben und dort saß auf einer alten Eiche, die ich jedesmal vom Bad aus sehen konnte, Nate. Grinsend blickte er zu mir runter. „Wie geht´s denn so?“ Ich ging nicht auf seine Frage ein. „Was machst du denn da oben?“, fragte ich stattdessen.
„Ach, nur abhängen.“
„Aha. Und das direkt vor unserem Haus.“ Noch immer hatte Nate dieses lässige Lächeln aufgesetzt. „Mir gefällt´ s hier.“, entgegnete er. „Komm doch auch hoch.“
„Nee, lass mal. Danke.“
„Ach komm schon. Bitte.“ Unentschlossen sah ich ihn an bis ich schließlich doch nachgab. Ich gab mir die größte Mühe eine gute Figur mein Klettern zu machen, doch es gelang mir nicht ganz. Wenigstens hatte Nate seinen Spaß und einen Grund mich auszulachen. Oben angekommen setzte ich mich so auf den Ast, dass ich Nate genau gegenüber saß. Meine Beine ließ ich seitlich runter baumeln und er tat es mir gleich. „Hi.“, sagte er lächelnd.
„Hi.“
„Was hast du gestern so gemacht?“, wollte er wissen. Ich schwieg und lief rot an. „Ach nichts Besonderes. Ich hab mit Harvey die Stadt besichtigt.“
„Ihr unternehmt viel zusammen, huh?“ Mein Blick wurde ganz starr und erschrocken. „Was?“
„Ich hab gesagt ihr unternehmt viel.“
„Nein, ich hab schon verstanden was du gesagt hast. Ich meine nur: was willst du damit andeuten?“
„Bist du in ihn verliebt?“ Wie immer sagte Nate einfach geradeheraus, was ihm in den Sinn kam. Nun lief ich noch röter an. Knallrot wie eine Tomate.
„Nein, natürlich nicht!“, platzte es mir heraus. Zufrieden nickte er. „Ach ja? Harvey aber anscheinend in dich.“
„Du spinnst ja.“, fuhr ich ihn an. „Er hat eine Freundin in Tennessee. Da interessiert er sich doch nicht für mich.“
„Wer weiß. Jungs sind ziemlich merkwürdig.“, meinte er.
„Da hast du allerdings recht.“
„Also bist du nicht in ihn verliebt?“, hakte er erneut nach.
„Nein!“
„Gut. Dann ist ja alles geklärt.“ Verdutzt sah ich ihn an. „Was ist geklärt?“
„Dass mir keiner im Weg steht.“
„Wieso sollte dir einer im Weg stehen?“, fragte ich. Ich verstand gar nichts mehr. Wovon sprach der Junge? Nate rutschte ein Stück näher an mich heran. „Kapierst du denn gar nichts?“ Stumm schüttelte ich den Kopf und sah ihn an.
„Naja, dann wirst du wohl selbst drauf kommen müssen.“
„Sag´ s mir doch einfach.“, forderte ich. Er schüttelte den Kopf. „Geht nicht. Tut mir leid, aber den Gefallen tu ich dir nicht.“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Du bist komisch.“, sagte ich.
„Das finden viele.“, lachte Nate.
„Nein, wirklich. Du bist komisch. Total.“ Sein Lachen wurde lauter und ich stimmte mit ein.
„Du bist das genaue Gegenteil von einem Jungen den ich kannte.“, sagte ich, den Blick auf den Ast gesenkt.
„Wieso kannte?“ Darauf wollte ich eigentlich nichts antworten und ich war wütend, dass ich überhaupt davon angefangen hatte. „Nun ja. Er ist vor einem Jahr gestorben. Bei einem Unfall.“
„Bei was für einem Unfall?“, wollte Nate wissen. Dumme Frage, fand ich. „Einem Tauchunfall.“, antwortete ich. Nate wurde kreidebleich. „Wie war sein Name?“
„David Hackman. Du hast schon ein Bild von uns gesehen.“ Seine Haut wurde noch bleicher und er sah aus, als müsste er sich gleich übergeben. „Oh.“, machte er nur.
„War er dein Freund?“ Eigentlich ging es mir gewaltsam gegen den Strich, dass Nate mich so ausquetschte. Aber ich war ja selbst schuld. Ich hatte ihm davon erzählt und nun war er eben neugierig. So wie alle normalen Menschen. Auch wenn er das nicht wirklich war. Also normal. „Ja, war er.“, sagte ich so leise, dass er es wahrscheinlich kaum verstehen konnte. Normalerweise sagten die Leute dann stets wie leid es ihnen täte, doch Nate nicht. Stumm saß er mir gegenüber und musterte mich. „Du vermisst ihn sehr, hm?“
„Jeden einzelnen Tag.“, antwortete ich. Ich wollte unter gar keinen Umständen, dass mir die Tränen in die Augen stiegen, doch es ließ sich nicht mehr vermeiden. Mitleidvoll sah Nate mich an. Dann legte er einen Arm um mich und zog mich an sich. Bedingungslos schluchzte ich an seiner Brust. Sein Shirt war schon tränendurchnässt, doch er sagte nichts. Sanft strich er mir übers Haar und ließ mich einfach weinen. Als ich fertig damit war, wandte ich mich aus seiner Umarmung und wischte mir die Tränen weg. „Danke.“, sagte ich.
„Nicht der Rede wert.“, meinte er. Wieder hatte er sein liebliches Lächeln aufgesetzt. Dann ohne Vorwarnung beugte er sich vor und küsste mich auf den Mund.
„Was machst du denn da?“ Ich schubste Nate schleunigst von mir und fuhr mir angewidert über den Mund. Schockiert blickte er mich an. „Na, ich hab dich geküsst.“
„Wie kannst du nur? Wer hat dir dazu die Erlaubnis gegeben?“
„Dumme Frage. Ich brauche keine Erlaubnis.“, erwiderte er mit seinem frechen Grinsen.
„Doch die benötigst du.“, zischte ich mit zusammengekniffenen Augen. Ich wollte nur noch weg von hier, weshalb ich auch sofort die Fliege machte und den Baum hinunter kletterte. Es fiel mir sehr schwer doch ich glaube Nate sah es mir nicht an. Während ich da so halb „runterfiel“, konnte ich seinen Blick spüren, der sich tief in meinen Rücken bohrte. Kurz bevor ich verschwand, warf ich ihm noch einen wütenden Blick hoch und lief schließlich weg, Richtung Harvey´ s Haus. Noch einige Male konnte ich hören wie Nate meinen Namen rief, aber ich hielt nicht einmal an bis ich bei Harvey angekommen war.
Harvey war gerade im Vorgarten und grub das Beet mit einer Schaufel um. Er war verschwitzt und sein Haar hätte er auch mal kämmen können, fand ich. Ich hob die Hand zum Gruß. „Hey!“, rief er mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wie geht´s?“ Ich merkte wie sich mein Mund zu einem merkwürdigen und gezwungenen Lächeln verformte. „Mhm.“, machte ich. Noch immer lächelnd runzelte er die Stirn. „Okay.“ Wie angewurzelt stand ich nun vor ihm. „Ist was passiert?“, fragte er schließlich.
„Nate hat mich geküsst!“, platzte es aus mir heraus. Er sah mich nur kurz an und fing dann wieder an zu schaufeln. „Herzlichen Glückwunsch.“, sagte er. Fassungslos blickte ich Harvey an. „Was?“, fragte ich. Er sah wieder zu mir hoch. Der Sonne halber musste er die Augen zusammenkneifen. „Das freut mich für dich.“, meinte er.
„Du verarschst mich doch.“
„Wieso sollte ich?“ Ich beließ es dabei und wechselte das Thema. „Wie sieht´ s mit Alfie aus?“, fragte ich stattdessen. „Was meinst du?“ Ich sah ihn vorwurfsvoll an. „Na unser Plan, du Depp.“
„Ach so. Keine Ahnung. Wie soll es deiner Meinung nach denn weitergehen?“ Stumm blickte ich ihn an. „Ich weiß es nicht.“, meinte ich schließlich.
„Na, also. Ich denke es ist besser wir sehen erst mal ab was passiert und handeln dann.“ Irgendetwas an seinem Ton gefiel mir nicht. Es war als würde ihn meine Anwesenheit stören. Wieder war er mit dem Gartenbeet beschäftigt anstatt mit mir.
„Wenn du meinst.“ Ich wartete darauf, dass er irgendetwas sagte. „Naja, ich denke ich geh dann mal. Ich muss noch etwas erledigen.“ Ich wartete auf eine Reaktion von ihm, doch es kam keine. „Mach´s gut.“ Mit schnellen Schritten ging ich über den Rasen. „Bis dann… Anni!“, rief er mir noch hinterher. Ich drehte mich noch einmal um und sah ihn an. Er schenkte mir ein Lächeln und nach kurzem Zögern lächelte auch ich zurück. Ich formte ebenfalls mit den Lippen ein leises Bis dann und setzte mich wieder in Bewegung bis ich um die Ecke und aus seinem Sichtfeld verschwunden war.
Nachts, als ich im Bett lag und die Decke anstarrte, dachte ich noch lange über Harvey nach. Weshalb er so komisch drauf gewesen war. War er etwa sauer auf mich? Aber was hatte ich verbrochen? Auf all meine Fragen wusste ich keine Antwort.
Ich war kurz davor einzuschlafen, da hörte ich ein leises Klopfen. Wenige Sekunden darauf ertönte dieses Geräusch erneut. Ich drehte mich auf die andere Seite und schloss die Augen, aber wieder dieses Klopfen. Es wollte nicht aufhören. Wütend riss ich die Decke zur Seite und setzte mich im Bett auf. Mein Blick fiel zum Fenster, von wo dieses Geräusch herzukommen schien. Ich stand auf und öffnete es. Als ich hinaussah, traf mich etwas an der Stirn. „Autsch.“ Ich beugte mich weiter vor und unten stand Nate und warf Kieselsteine an mein Fenster. Einer von den Steinen hatte mich an der Stirn getroffen. „Was machst du da, Idiot?“, flüsterte ich, damit meine Eltern nicht aufwachten. „Ich muss mit dir reden.“, erwiderte er.
„Kommt gar nicht infrage.“ Ich wollte gerade wieder das Fenster schließen, da warf er mir noch einen kleinen Stein gegen die Stirn. „Bist du bescheuert?“, rief ich.
„Nein, ich will nur reden.“, antwortete er seelenruhig. „Ich will aber nicht.“, fauchte ich. Wieder warf er mir einen Kieselstein gegen den Kopf. „Hör…auf.“
„Dann lass mich mit dir reden.“
„Nein.“ Er hob den Arm und machte Anzeichen, einen neuen Stein zu werfen, doch ich hob abwehrend die Hände. „Na gut. Sag was du willst.“
„Mit dieser Entfernung geht das nicht. Geh ein Stück zurück, damit ich hochkommen kann.“ Brav tat ich was er verlangte und Nate kletterte wie ein Profi den Baum vor meinem Zimmer hoch, der sich nur wenige Meter vom Fenster entfernt befand. Als er auf der Fensterbank saß, war sein Gesicht meinem ganz nah. „Hi.“, hauchte er. Still schweigend sah ich ihn an und wandte mich schließlich von ihm ab. Ich ging quer durch den Raum und setzte mich mit verschränkten Armen aufs Bett. „Was willst du?“ Er kletterte von der Fensterbank runter und setzte sich neben mich. „Mit dir über unsere Beziehung reden.“
„Wir haben keine Beziehung.“, zischte ich sofort. Genervt seufzte er. „Dann eben über unsere freundschaftliche Beziehung.“
„Na gut. Wenn du unbedingt willst.“ Er rückte ein Stück näher und zu meiner Verwunderung ließ ich es zu. „Mein Verhalten von vorhin-“, setzte er an, doch ich unterbrach ihn. „Tut dir leid?“
„Nein. Ich bereue mein ganzes Handeln in Bezug auf dich nicht im Geringsten.“ Enttäuscht verzog ich das Gesicht. „Es sollte dir aber leidtun.“, meinte ich.
„Warum?“ Fragend sah er mich an und mir fiel keine Antwort ein. „Na, weil…na…darum eben.“
„Das ist keine Antwort.“, fand er. Stille. „Anni, beantworte mir bitte eine Frage.“ Ich zögerte, tat mich jedoch einverstanden. „Wieso magst du mich nicht?“ Die Frage versetzte mir einen gewaltigen Stoß in die Magenhöhle. Eigentlich war ich mir nicht einmal sicher ob ich ihn nicht leiden konnte. „Nun ja…es ist nur…es ist ja nicht so dass ich dich nicht mag.“
„Ach und wieso bist du dann immer so komisch, wenn ich mich dir ein bisschen nähere?“
„Du bist mir doch gerade ganz nah. Immerhin erlaube ich dir, dich ganz dicht neben mich zu setzen.“, entgegnete ich. Lächeln strich er mir eine Haarsträhne hinters Ohr und verlegen starrte ich auf meine Hände, die auf meinen Knien ruhten. „Mag sein, aber du wendest dich ab, wenn ich das tue.“ Ich konnte nicht einmal reagieren, da waren seine Lippen schon auf meinen. Es war wie der Kuss von vorhin, nur diesmal…erwiderte ich ihn.
Tag der Veröffentlichung: 27.07.2010
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