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Einsam rollt er auf der Straße.
Mal nach links, mal nach rechts.
Der Wind zaust ihn etwas verspielt und streichelt seine Oberfläche.
Ein kleiner Sperling kommt angeflattert und pickt an ihm herum.
Hat wohl gedacht, dass er etwas Essbares birgt.
Morgentau klebt an ihm und
lässt ihn in der aufgehenden Sonne glänzen.

So rollt er hin und her.
Er hatte schon bessere Zeiten gesehen.
Da stand er inmitten von Brüdern und Schwestern,
eingelullt im Schoße eines Kaffeeautomaten,
dessen Wärme beständig beruhigend auf ihn wirkte.
Mit jedem 10 - Centstück, das am Rande der Geldstraße an ihm und seinesgleichen vorbeirollte, kam ihm die Außenwelt etwas näher.
Er ahnte die unermessliche Weite.

Es zog ihn hin und gleichzeitig fürchtete er sich davor.
Er sah seine Anverwandten unter sich verschwinden,
eins nach dem anderen und fragte sich,
wann wohl er an die Reihe käme.
So träumte der kleine Becher vor sich hin.
Doch bald würde die Reihe an ihm sein.
Hatte er sein großes Los gezogen?

Heute war es so weit.
Ein 50 - Centstück kündigte die frohe Botschaft und das Unheilvolle an.
Gepaart mit Lärm und mechanischen Bewegungen
entriss der Automat ihn seiner Träume und begann nach ihm zu greifen.
Dem kleinen Becher wurde angst und bange,
als er in die schwarze Kluft über ihm sah.

Was ihn von dort wohl erwarten täte?
Heiß und schwarz, bekränzt mit weißem Schaum,
floss es in ihn hinein und er schrie vor Begeisterung!
Nichts waren seine Sinnesreize inmitten der Geschwister
gegen diese Empfindung!
Er lebte förmlich auf und genoss das Gefühl des Gebrauchtwerdens.
Eine Hand eines großen Wesens umschmeichelte seine Außenhaut.
Es kribbelte in ihm und er kam in den Kontakt menschlicher Wärme,
in dem Moment, als das Wesen ihn zu seinem Mund führte.


Der kleine Becher sah seinen köstlichen Inhalt,
den er erst kürzlich empfangen hatte, in dem Schlund verströmen.
Nicht alles auf einmal, sondern Schluck für Schluck.
Was wohl passieren würde, wenn er nichts mehr in sich barg?
Dann kam dieses Gefühl der Leere.
Es überkam ihn plötzlich und ohne jede Vorwarnung.
Er hätte es kommen sehen müssen.
Aber vielleicht wollte er es gar nicht.
Nun war es zu spät. Oder nicht?

Die Hand fügte ihn behutsam an den Eingang des Kaffeeautomaten ein
und klemmte ihn dorthin, wo alles angefangen hatte.
Sollte es wahr sein? Noch einmal?
Und ja, wieder kündigte ein 10 – Centstück die frohe Botschaft an:
„Du wirst gebraucht!“

Wieder verströmte sich der Automat in ihn und hinterließ
eine süße, braunschimmernde Flüssigkeit,
deren angenehmes Aroma ihn umschmeichelte.
Der kleine Becher kostete das Gefühl mit dem Kontakt voll aus.
Leider war die Empfindung zu kurz,
denn wieder sah er seinen Besitz nach und nach in dem schwarzen Schlund des Wesens entschwinden, entrinnen, verströmen.

Aus!
Bis auf den letzten Tropfen leer.
Nur ein Hauch des Aromas erinnerte flüchtig an das letzte Getränk.
Und wieder umfuhr eine warme Hand seine Umrandung
und hielt den kleinen Becher in die weite Welt hinaus,
die ihn vor kurzem noch durch eine Fensterscheibe trennte.

Er jauchzte vor Vergnügen und ließ den Fahrtwind,
der ihm entgegenflog, vorbeirauschen.
Was war die Welt so schön!

Die Hand ließ ihn los und der kleine Becher flog und flog und flog...
Er fühlte sich so glücklich wie noch nie!
Bis...


Bis er auf dem Boden torkelnd aufschlug...
Noch betäubt ob der glücklichen Momente
nahm er seine Umgebung wie durch einen Schleier wahr.

Doch auch dieser verzog sich allzu bald und versetzte ihn in Schrecken.
Nichts blieb von dem schönen Empfinden.
Nichts als das blanke Erwachen.
Schrecklich und allein. Abgesondert und verlassen.

Einsam rollt er auf der Straße.
Mal nach links, mal nach rechts.
Der Wind zaust ihn etwas verspielt und streichelt seine Oberfläche.
Ein kleiner Spatz kommt angeflattert und pickt an ihm herum.
Seine kleinen Augen rollen begehrend hin und her.
Er ergreift den kleinen Becher mit seinem Schnäbelchen.
Der kleine Becher fürchtet, er würde dem Spätzlein herunter fallen.

Doch unversehrt landen beide hoch oben auf einem Baum,
wo sie in einem weichen Nest landen.
Der Spatz zerzaust ihn etwas und
baut ihn klebend in die Nestumrandung ein.
Welch eine Aussicht!

Der kleine Becher ist noch etwas benommen.
Aber glücklich!
Glücklicher als vorhin, wo er alleine auf der Straße lag.
Es sieht hinab und bemerkt einen kleinen Becher,
der, wie noch vor kurzem er, einsam auf der Straße liegt.

„Hallo, kleiner Becher!“, ruft der kleine Becher im Baum.
„Habe Mut und Hoffnung und du wirst dein Glück finden!“
Freudig und strahlend rief er es vom Baume herab.

Doch der kleine Becher auf der Straße schien es nicht zu hören.

Einsam rollt er auf der Straße.
Mal nach links, mal nach rechts.
Der Wind zaust ihn etwas verspielt und streichelt seine Oberfläche.
Was ihn wohl erwarten würde?

Impressum

Texte: Andyhank
Bildmaterialien: Andyhank
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012

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