Von Stättenhausen
Am Vorabend seines geplanten Selbstmordes entdeckte der arbeitslose Lyriker Wilfried von Stättenhausen, dass sich im Heizungskeller seines Hauses ein Waldschrat eingenistet hatte. Von Stättenhausen wollte lediglich überprüfen, ob der Strick, den er sich für den folgenden Tag zurecht gelegt hatte, noch da war, denn er fürchtete, die Illuminaten könnten ihn entwendet haben, um ihm, dem großen Dichter, einen Strich durch die Rechnung zu machen – da sah er im Spalt zwischen der Wand und dem vordersten Öltank, eingewickelt in einen Schuhabtreter, ein schlafendes Männlein von der Größe eines dreijährigen Kindes.
Von Stättenhausen schloss behutsam die Türe, begab sich nach oben ins Wohnzimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er legte sich Tinte und Feder zurecht, schlug eine Stelle im Goethe nach, drückte zwei Finger an Wange und Kinn und begann zu schreiben:
Ich ging in meinem Heizungskeller
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Spalt zwischen Wand und Öltank sah ich
Einen Waldschrat liegen,
Ich rannte hinaus
Und hinauf meine Stiegen.
Von Stättenhausen kratzte sich am Kopf. Er hätte gerne noch ein paar Strophen gedichtet, aber so sehr er sich anstrengte, es fiel ihm nichts mehr ein. Da legte er das Papier zur Seite, nahm ein neues aus der Schublade und versuchte sich in modernerem Stile:
man nimmt sich ja ganz schön was raus
wenn der tag lang ist
ich sage nur: birnenschnitz de luxe
und dann das spazieren gehen in den eigenen vier wänden
an einem verregneten herbstnachmittag
mit den rissen in der wand
die du schon als kind kanntest,
einer heißen tasse mandarinentee
und dem schlafenden waldschrat
in deinem heizungskeller
Von Stättenhausen war zunächst sehr mit sich zufrieden, dann aber, als er vor lauter Tatterigkeit das Tintenfässchen umstieß und damit das Gedicht für alle Zeiten ruinierte, packte ihn die Wut. Er ging in die Küche, zückte ein Messer aus dem Messerblock und überlegte, wie er sich des Störenfrieds entledigen könne.
Eine Ausräucherung kam nicht in Frage, genauso wenig eine Belagerung. Das eine war zu aufwendig, das andere zu langwierig, wer wusste schon, wie lange der kleine Mann ohne Essen auskam, vielleicht hatte er sich ein Fresspaket mitgebracht, womöglich ernährte er sich sogar von Kellerasseln.
Vielleicht war der kleine Drecksack ein Illuminat! Von Stättenhausen bemerkte, dass er gar nicht nach seinem Strick gesehen habe. Womöglich hatte der kleine Scheißer ihn schon irgendwo versteckt, ganz hinten hinter den Tanks vielleicht, an einer Stelle, an die er, von Stättenhausen, nie gelangen würde. Von Stättenhausen beschloss, sein brainstorming
über die möglichen Todesarten des Waldschrats zu verschieben und stattdessen noch einmal nach seinem Strick zu sehen.
Als der arbeitslose Lyriker die Stahltüre des Heizungsraumes geöffnet, die Stelle, wo er den schlafenden Waldschrat wähnte, anvisiert, und das Licht angeknipst hatte, runzelte er die Stirn, denn der Waldschrat lag nicht mehr da, dann aber, als er sich zur Mitte des Raumes wandte, traf ihn schier der Schlag, denn dort sah er den Waldschrat – offenbar inmitten morgendlicher Gymnastikübungen – beim Seilspringen mit seinem Strick
.
Von Stättenhausen bebte vor Zorn, er wünschte sich jetzt ein Jagdgewehr im Hause. Dann fragte er den kleinen Turner, was ihm einfalle, seinen Strick auf diese liederliche Weise zu entweihen.
Der Waldschrat ignorierte ihn und sprang weiter mit seinen kleinen, flinken Beinen über den Strick, der kaum hörbar am Boden aufpeitschte.
Wie und wann er überhaupt hereingekommen sei, und wieso und weswegen denn überhaupt zu ihm, der seine Ruhe brauche, und ob er ein Illuminat sei und ob er Anti-Materie
in seinem Heizungskeller versteckt habe.
Da konnte der Waldschrat von Stättenhausen nicht länger ignorieren, er brach in ein kreischendes Gelächter aus.
Von Stättenhausen wandte seinen Blick ab und untersuchte die Größe des Lüftungsschachts. Noch standen ihm sämtliche Türen offen, er konnte zwei Schritte rückwärts machen, die Stahltüre von außen abschließen, den Lüftungsschacht, der in den Garten ging, von außen her zubetonieren. Bevor im Frühjahr der Kaminfeger kam, würde er die Überreste des Waldschrats natürlich herausgeschafft haben – aber Moment mal, was machte er sich eigentlich Gedanken über den Frühling und den Schornsteinfeger!
Von Stättenhausen fragte den Waldschrat, wie er es wagen könne, den größten Dichter des Landes aus dem Konzept zu bringen.
Da zeigte das Männlein von Stättenhausen den Vogel und fragte, wie der so etwas sagen könne, er sei ja wohl nicht mehr ganz dicht im Kopf, auf der Nationalen Rangliste der Deutschen Dichter befinde er sich allerhöchstens auf Platz Neunhunderttausend.
Von Stättenhausen forderte sofort Satisfaktion, dann wollte er wissen, welche seiner Werke der Waldschrat denn gelesen habe.
An einzelne Gedichttitel könne er sich nicht erinnern, sagte der Waldschrat, er habe gestern Abend, nachdem der Hausherr schon schlafen gegangen sei, noch ein wenig gelustwandelt und sei dabei im Wohnzimmer auf einen Haufen Zettel gestoßen, die er als Manuskripte identifiziert und dann gelesen habe. Er habe bei seiner Wohnungswahl nicht gewusst, dass hier ein Dichter hause, es sei reiner Zufall, dass er bereits zum fünften mal in seinem Leben – er sei übrigens 277 Jahre jung – bei einem Dichter gelandet sei, was er gestern Abend so gesehen habe, sei jedenfalls der mit Abstand größte Scheißdreck, den er je gelesen habe, auch habe er danach schlecht geschlafen.
Von Stättenhausen war schockiert. Nie zuvor war er auf einen dermaßen unerbittlichen Kritiker seiner Dichtungen getroffen.
Vielleicht, sagte von Stättenhausen, liege es daran, dass der junge Mann die neuesten Entwicklungen und Strömungen auf dem Gebiet der lyrischen Dichtkunst nicht hinreichend verfolgt habe und daher keinen Zugang zu seinem Werk gefunden habe. Bei welchem Dichter er denn zuletzt logiert habe.
Der Waldschrat nannte eine Jahreszahl, einen Namen und eine Ortschaft, die von Stättenhausen als eine Nachbargemeinde wiedererkannte. Den Namen hatte er nie gehört. Von Stättenhausen fragte, in welchen Zeitschriften der Herr denn veröffentlicht habe und ob schon eine Straße nach ihm benannt worden sei.
Der Waldschrat musste wieder lachen, dann erklärte er, dass der Herr lediglich ein einziges Gedicht in einer ganz unbedeutenden Hochzeitszeitung veröffentlicht habe. Im übrigen könne er keine Satisfaktion geben, da er nach dem Waldschratgesetz seines Waldschratstaates minderjährig sei. Stattdessen biete er dem Hausherren aber an, die Rolle seines Literaturagenten einzunehmen, sofern man ihm jeden Morgen und Abend frisches Gras und etwas Wasser gönne, und er nach Lust und Laune das Haus verlassen und betreten dürfe.
Von Stättenhausen, noch immer gekränkt ob der Schmähung seiner Werke, überlegte einige Zeit, dann bückte er sich nach dem kleinen Mann hinunter und schlug in den Handel ein.
Am selben Abend, gegen Zweiundzwanzig Uhr, saßen von Stättenhausen und der Waldschrat im Wohnzimmer und wärmten sich am knisternden Feuer des Kamins. Von Stättenhausen sagte, nun nachdem man gespeist und es sich recht gemütlich gemacht habe, könne er nicht länger umhin, seinen Gast, den er im Übrigen noch einmal ganz offiziell im von Stättenhausenschen Geburtshaus Herzlich Willkommen heiße, zu fragen, wie denn seine Pläne bezüglich der Vermittlung der Werke des Hausherrn an Verlage im Einzelnen genau aussähen. Ob es dazu nicht nötig sei, dass er, der Dichter, ihm, dem Agenten, vorher noch einmal seine Gedichte laut vorlese, und danach in einem Podiumsgespräch, bei dem er, der Waldschrat, im Übrigen auf dem Sofa sitzen bleiben könne, da er, der Dichter, ebenfalls auf dem Sofa bleibend, ihn ja ohnehin schon ausreichend überrage – ob man dann nicht in einem Podiumsgespräch über die Gedichte und über das Gedichteschreiben in der Gegenwart im Allgemeinen diskutieren solle, ganz zwanglos, bei einem guten Glas Wein.
Der Waldschrat antwortete, er verbitte sich eine derartige Vorgehensweise, der Hausherr solle ganz unbesorgt sein, er wisse schon alleine, wie er vorzugehen habe. Den Wein müsse er genauso ablehnen, da dieser auf Waldschrate wirke wie Salzsäure auf Menschen, ein Geheimnis, das die Mauern dieses Hauses im Übrigen unter gar keinen Umständen verlassen dürfe.
Von Stättenhausen machte ein bedauerndes Gesicht. Dann entschuldigte er sich und holte eine Flasche Wein aus dem Keller. In der Küche entkorkte er die Flasche, dann schnappte er sich einen Notizzettel. Er konnte es sich unmöglich verkneifen, einen Gedichtentwurf zu Papier zu bringen.
Honorarschreiber aus deiner
Nachbarsgemeinde ziehen
Die Dichtkunst in den Dreck.
Waldschrate in deinem Sessel
Verbitten sich deinen Wein.
Was Goethe beflügelte
Ist ihnen flüssige
Anti-
Materie
Von Stättenhausen versteckte den Zettel im obersten Wandschrank und ging ins Wohnzimmer zurück, wo er verdutzt stehen blieb. Der Waldschrat nämlich hielt von Stättenhausens Telefonhörer am Ohr und notierte sich gerade eine Nummer auf einem Zettel, dann bedankte er sich recht herzlich und legte auf.
Von Stättenhausen traute der Sache nicht. Er richtete die Weinflasche auf den Waldschrat und fragte ihn, mit wem er da gerade ohne seine Erlaubnis telefoniert habe. Wenn er vielleicht doch ein Illuminat sei, so solle er dies jetzt bekennen, er würde dann als Geisel genommen, wobei er, der Dichter und Geiselnehmer von Stättenhausen, verspreche, sich überaus kooperativ zu verhalten.
Der Waldschrat sagte, von Stättenhausen solle endlich mit seinen Illuminaten-Geschichten aufhören, die hätten wahrhaftig Wichtigeres zu tun als sich mit fünftklassigen Lyrikern abzugeben, sofern sie irgendwelche geheimen Botschaften verstecken wollten, suchten sich dazu allgemein anerkannte Schreiberlinge aus – wie es auch Dan Brown am Beispiel von John Milton in Illuminati
völlig richtig dargestellt habe. Er habe gerade lediglich die Auskunft angerufen, sich ein wenig schlau gemacht, dort auf dem Zettel stünde die Nummer eines Cheflektors, die er sogleich zu wählen gedenke.
Von Stättenhausen ging das alles ein bisschen zu schnell. Er fragte, ob man diesem Cheflektor nicht lieber schreiben solle und ob es nicht viel zu spät in der Nacht sei und um welchen Cheflektor es sich denn überhaupt handele.
Der Waldschrat nannte den Namen eines Suhrkamp-Lektors, da verschluckte sich von Stättenhausen, dass ihm der Wein aus dem Maul spritzte.
Da fuhr der Waldschrat zornig auf und mahnte von Stättenhausen, sich zu benehmen, er sei nicht in dieses Haus gezogen, um sich umbringen zu lassen, dann wollte er wissen, was an dem Suhrkamp-Lektor so schlimm wäre.
Von Stättenhausen antwortete, er kenne diesen Lektor, der im Übrigen auf gar keinen Fall der Cheflektor sei, genau wie allen anderen Lektoren und Lektorinnen des Suhrkamp-Verlags und es sei keine
gute Idee, diesen anzurufen, da er den Suhrkamp Verlag im Laufe seiner dichterischen Laufbahn bereits siebenundzwanzig mal
angeschrieben habe und bereits siebenundzwanzig mal
von selbigem abgelehnt worden sei, nach seinem Tode werde man diese Absageschreiben übrigens sauber abgeheftet in seiner Schreibtischschublade auffinden, erst vor ein paar Stunden habe er diese Unterlagen noch einmal überprüft.
Da sprang der Waldschrat wiederum von der Couch seines Hausherren auf. Er nannte von Stättenhausen einen Jammerlappen und sagte, er solle sich nicht so hängen lassen, ihm stünden durchaus noch alle Tore in den Dichter-Olymp offen. Sofern von Stättenhausen seine Zustimmung gebe, leite er, wie angedeutet, sofort die ersten Schritte ein, von Stättenhausen müsse dabei bloß auf dem Sofa sitzen bleiben, er solle aber ja nicht im Hintergrund irgendwelches Illuminatengeschwätz verzapfen, sonst versaue er nämlich alles.
Von Stättenhausen erbat sich einige Minuten Bedenkzeit, trank die Hälfte der Flasche und gab schließlich Bescheid, der Waldschrat könne tun und lassen, was ihm recht dünke. Der Waldschrat lobte von Stättenhausens Vernünftigkeit und versprach, noch in dieser Nacht werde Wilfried von Stättenhausen in die Riege der Suhrkamp-Dichter aufgenommen.
Der Waldschrat lehnte sich zurück und wählte die Nummer vom Zettel. Von Stättenhausens Herz hämmerte wie verrückt. Da sein Telefongerät keine Lautsprechfunktion besaß, rückte er so nahe als irgend möglich an den Waldschrat heran, in der Hoffnung, die Antworten des Lektors gleich mitanhören zu können.
Der Suhrkamp-Lektor nahm ab und meldete sich mit seinem Namen. Der Waldschrat sagte, er sitze gerade auf der Couch des Lyrikers Wilfried von Stättenhausen, dessen Gedichte er seit langem kenne und schätze, wie übrigens alle Waldschrate, denn unter den Waldschraten – zumindest unter den deutschsprachigen – gelte von Stättenhausen schon seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten als der bedeutendste Lyriker der Gegenwart. Er selbst, der 277 Jahre alte Waldschrat Kunibert der Vierte, habe während der letzten drei Jahrhunderte schon bei vielen Dichtern gehaust, in Waschkellern, unter Treppen und auf Dachböden, aber nie sei er bei einem Dichter von solchem Genie und Range untergekommen, selbst der alte Goethe, den er, Kunibert der Vierte, noch persönlich gekannt habe, hätte den Hut gezogen ob dieses Mannes.
Das Schweigen seines Gesprächspartners könne er nur allzu gut nachvollziehen, das sei auch die einzig angemessene Reaktion, dies Weg-bleiben-der-Worte
ob des skandalösen Umstands, dass ein Dichter wie Wilbert, nein Wilfried von Stättenhausen sich noch immer mit so banalen Dingen wie einer Verlagssuche herumschlagen müsse, aber morgen schon führen er, der Waldschrat Kunibert der Vierte, Literaturagent des Wilfried und derselbige nach Frankfurt am Main um das Gesamtwerk von Stättenhausens persönlich in die Obhut des Suhrkamp-Verlags zu übergeben. Er danke sehr für die Aufmerksamkeit und verbleibe bis zum morgigen Tag mit freundlichen Gute-Nacht-Wünschen.
Der Waldschrat legte auf und zeigte mit dem Daumen nach oben. Von Stättenhausen nickte und trank den Rest der Flasche leer. Dann sagte er, er sei müde und gedenke, sich nun zur Ruhe zu legen, für heute sei genug getan. Der Waldschrat stimmte zu, nannte von Stättenhausen einen weisen Mann und wünschte auch ihm eine Gute Nacht. Von Stättenhausen erhob sich und stieg ins obere Stockwerk seines Hauses. Der Waldschrat ging die Treppe hinab, sprang an der Türklinke hinauf und stieß sich, dieselbe niederdrückend, in der Luft schwebend, mit seinen kleinen Beinen von der Wand ab. Dann ließ er sich zu Boden fallen und schlüpfte durch den Spalt ins Innere des Heizungskellers. Drinnen wickelte er sich in das Zeitungspapier, das ihm von Stättenhausen liebevoll hergerichtet hatte und schlief sofort ein.
Müller senior
Eines Nachmittags erkannte der Lyriker Karl-Heinz Müller, dass sein eigener Sohn, der dreijährige Etienne-Maria Müller, sich anschickte, der größte und bedeutendste Lyriker des Landes zu werden. Zurückgekehrt von einem Spielplatz war der kleine Mann an den Schreibtisch des Vaters gelaufen und hatte dem in Gedanken versunkenen Dichter die folgenden Sätze entgegengerufen.
«Papa, Papa! Wir haben eine Sandburg gebaut. Der Jürgen hat eine blaue Schaufel. Wir haben ein Loch gebuddelt. Papa, Etienne-Maria hat Durst!»
Der aufmerksame Vater erkannte sofort, dass diese Worte ein ganz tiefsinniges Gedicht ergaben, sofern man sie nur ein wenig arrangierte und einen Titel hinzufügte, was er sogleich tat.
Gezeiten
Wir haben
eine Sandburg
gebaut
Olivier hat eine blaue Schaufel
Wir haben
gebuddelt
Papa, ich habe Durst
Müller senior geriet außer sich vor Stolz. Zwar bedeutete seine Entdeckung, dass er selbst bald nur noch der zweitbeste deutsche Lyriker seit Hölderlin wäre, aber da er schon immer sich ein wenig davor fürchtete, dass es womöglich doch irgendwo einen Größeren als ihn selbst gäbe, überwog die Freude, dass es sich bei diesem nun immerhin um sein eigen Fleisch und Blut handelte. Anstatt den Kleinen zu töten oder entführen zu lassen, beschloss er, in einem Selbstgefühl unermesslicher Großzügigkeit, sich selbst um die künstlerische Erziehung des Sprosses zu kümmern, dessen Talent doch zweifelsohne erst einmal auf ordentliche Geleise gelenkt werden musste. Folgerichtig begab sich Müller senior zu seiner Frau und fragte sie, welche Lyriker sie dem Kleinen denn eigentlich schon vorgelesen habe und als sie sagte, sie lese dem Kleinen überhaupt keine Lyriker vor, sondern beinahe immer nur eine Bildergeschichte mit Namen Der kleine Honigbär
, da sagte Müller senior, sie habe ja gar keine Ahnung und von nun an werde er die allabendliche Vorlesestunde höchstpersönlich übernehmen.
Den Rest des Nachmittags saß Müller senior über der Ausarbeitung eines provisorischen Vorleseplans. Am Abend dann, nachdem Etienne-Maria gemeinsam mit seiner Mutter das Sandmännchen gesehen hatte, drängte der Vater den Sohn, endlich zu Bett zu gehen. Dort setzte sich der Vater auf den Bettrand und schlug eines der mitgebrachten Bücher auf. Heute standen an: Hölderlin, Rilke, Celan und Bachmann – eine halbe Stunde einfaches Vorlesen. Der Sohn gähnte, sobald er im Bett lag und sagte, er wolle die Geschichte vom Honigbären heute einmal nicht hören, denn er sei ganz arg müde, aber Müller senior sagte, er solle jetzt nicht dichten, sondern zuhören. Dann hob Müller senior mit pathetischer Stimme an
Schwarze Milch der Frühe
... –
doch sofort fuhr der große kleine Etienne-Maria dazwischen
«Papa, was ist das, schwarze Milch der Frühe?
»
Müller senior, hocherfreut ob der lebhaften Anteilnahme des Sohnemanns, sann einige Sekunden nach, dann als er zu einer Antwort anheben wollte, entdeckte er gerade noch rechtzeitig, dass der Junge bereits eingeschlafen war. Das war in Ordnung. Denn kleine Kinder und große Geister brauchen viel Schlaf
, dachte Müller senior, der selbst täglich 12 Stunden schlief.
Am nächsten Nachmittag fragte Müller senior seine Frau, ob sie mit dem Jungen nicht wieder auf den Spielplatz gehen wolle. Seine Frau entgegnete aber, es sehe doch sehr arg nach Regen aus, außerdem habe sich der Junge am Vortag eine leichte Erkältung zugezogen, sie wolle daher zuhause bleiben und ein Spiel mit ihm spielen. Kinderkram, dachte Müller, der eine innere Stimme sagen hörte, es gehöre doch zum Leben eines heranwachsenden Dichters unweigerlich dazu, auch einmal recht ordentlich zu leiden. So bestürmte er seine Frau solange bis sie nachgab, dem Kleinen einen Anorak anzog und einen Schal umband. Müller senior erklärte noch, sie bräuchten ja nicht so lange wegzubleiben wie am Vortag, wichtig sei in erster Linie, dass der Junge seine Mußestunde in der freien Natur habe, da waren die nichts ahnende Mutter und der Junglyriker aber schon verschwunden.
Die nächsten anderthalb Stunden verbrachte Müller senior in ständig wachsender Vorfreude, voll Ungeduld. Zunächst legte er sich Feder und Papier zurecht, dann stöberte er in seinem Arbeitszimmer nach seinem Diktiergerät, für den Fall, dass der Kleine gleich einen ganzen Zyklus mit nach Hause brachte. Schließlich versuchte er, selbst eine Kleinigkeit zu schreiben, aber es kam nichts dabei raus, da war es ihm mit einem Schlag klar, dass er es mit dem Kleinen schon jetzt nicht mehr und auch zukünftig nie mehr wieder aufnehmen konnte. Er ließ die Feder sinken und ging stattdessen, in der Nähe der Haustüre lauernd, in seinem Notizbüchlein die Adressen verschiedener Verlage durch. Draußen regnete es noch immer nicht, er hatte also doch recht behalten.
Endlich hörte er draußen Schritte. Müller senior setzte sich an den Schreibtisch und versuchte, sich ein gestrenges und beschäftigtes Aussehen zu geben. Aus den Augenwinkeln aber beobachtete er heimlich seinen Jungen, der jetzt erst einmal von seiner Mutter die Schuhe ausgezogen bekam. Dann glaubte er zu erkennen, wie der kleine Etienne-Maria ihn in Augenschein nahm, und sich, freudestrahlenden Gesichts in seine Richtung zu bewegen anschickte. Und tatsächlich, obwohl die Mutter ihn zurückzuhalten versuchte und ihn mahnte, er müsse jetzt sofort seine Kleider ausziehen, wenig später stand der kleine Dichter neben seinem Vater und verkündete mit hochwichtiger Miene:
«Papa, Papa! Ich habe eine Burg gebaut und bin dreimal gerutscht. Der Tobias war auch da. Es hat gar nicht geregnet. Ich bin ganz nass geworden.»
Müller senior stenographierte die Mitteilungen seines Sohnes, dann, während dieser ihn erwartungsvoll ansah, las er die Sätze noch einmal schweigend durch. Seine Stirn legte sich in Falten. Irgendetwas stimmte nicht.
Zweifelsohne war es ein Gedicht, aber ein völlig banales, ja ein regelrecht beschissenes! Einige der Motive vom Vortag tauchten zwar erneut auf, sie bestätigten dem Vater, dass er es hier zweifelsohne mit seinem eigenen Sohn, dem Dichter Etienne-Maria Müller zu tun hatte, auch die einzelnen Worte waren soweit ganz in Ordnung, aber Logik und symbolische Stringenz ließen doch sehr zu wünschen übrig – ohne freilich andererseits eine mystische Aura heraufzubeschwören, die durchaus ihren Reiz hätte haben können. Müller senior hörte seine Frau in mürrischem Tone etwas murmeln, das er nicht im Ansatz verstand. Er fragte den Kleinen, ob er das Gesagte noch einmal wiederholen könne, wobei er insgeheim hoffte, der Kleine möge sich nicht an den genauen Wortlaut erinnern und stattdessen etwas Besseres von sich geben.
«Der Tobias und ich», erklärte Etienne-Maria daraufhin noch einmal,«haben eine Sandburg gebaut. Es hat gar nicht geregnet. Ich bin aber ganz nass geworden.»
Müller senior überlegte, wie seine Frau es nur geschafft haben konnte, die Muße des Kleinen derart zu stören, dass dieser nur noch ein Schatten seiner selbst war. Als die Mutter auf die beiden zukam, fragte er sie in giftigem Tone, was für einen Schund und Scheißdreck sie dem Kleinen schon wieder heimlich vorgelesen habe. Wenn das so weitergehe, komme ihm der Junge überhaupt nicht mehr auf den Spielplatz. Müllers Frau aber kümmerte sich nicht um die Worte ihres Gatten, stattdessen packte sie Etienne-Maria am Schlafittchen und zog ihn in Richtung Badezimmer. In nüchternem Tone erklärte sie über ihren Rücken hinweg, der Kleine habe sich auf dem Nachhauseweg in die Hose gepinkelt, womöglich habe er sich am Vortag doch eine Blasenentzündung zugezogen.
Müller senior seufzte auf. Seine Frau war eine Nulpe, sein Sohn ein verzärtelter Hosenscheißer, bedürftig einer jahrelangen, väterlichen Leitung und Fürsorge wie kein Zweiter, falls er tatsächlich einmal die Konstanz und Ausdauer eines großen Dichters (des Größten des Landes!) erlangen wollte. Aber Müller senior war kein Jammerlappen und so begann er, während der kleine Etienne-Maria von seiner Mutter entkleidet und gebadet wurde, mit der Anordnung des an sich missratenen Gedichts, das zweifelsohne aber einmal zeigen würde, wie ungeschliffen der kleine Etienne-Maria mit seinen drei Jahren teilweise noch dichtete. Nach langem hin und her stand da:
Sommertag ohne Aristoteles
Charles und ich
haben eine Sandburg
gebaut
Es hat gar nicht
geregnet
Ich bin ganz
nass geworden
Ein Busch am Rande des Spielplatzes fiel ihm ein, den er einmal gesehen hatte, als er mitten in einer wichtigen Arbeit von seiner Frau gezwungen worden war, die beiden dorthin zu begleiten. Morgen würde er den Wagen nehmen und sich hinter diesem Busch verbergen, einen Notizblock in den Händen (für den Fall, dass Etienne-Maria etwas Bedeutendes sagte) und eine Spiritusflasche samt Feuerzeug in der Manteltasche, für den Fall, dass seine Frau heimlich eine neue Ausgabe des Kleinen Honigbären
besorgt hatte und dem Jungen daraus vorlas. Fürs erste aber schnappte sich Müller senior den Benn, den Rimbaud, einen Band der Domin, die Geschichte der griechischen Philosophie
, ein Taschenbuch namens Kant für Dummies
, sowie Wittgensteins Tractatus
. Am Bett des Sohnemanns zündete er sich eine Zigarette an und wartete auf den Beginn der heutigen Doppelstunde.
Bachstub
Es ist ein Samstag im Frühling, früher Abend. Der Dichter Bachstub sitzt an seinem Schreibtisch in seinem Schreibzimmer und träumt vor sich hin.
Neun mal ein E, sechs mal ein T, KEIN MAL ein D - und dennoch habe ich es geschafft! Nicht irgendwie
wohlgemerkt, sondern auf die bestmögliche Art und Weise überhaupt, möchte ich doch meinen. Dieses Gedicht wird ohne jeden Zweifel mein Durchbruch sein!
Bachstubs Gedanken werden durch ein altvertrautes Geräusch unterbrochen. Seine Verlobte schließt die Wohnungstüre auf – Was für ein Fehler, ihr einen Schlüssel auszuhändigen!
«Herrgott, da hockt er nun wieder! Habe ich dir nicht ausdrücklichbefohlen
, dich mal n bisschen zu entspannen? Den ganzen Tag sitzt du vor dem Computer und kritzelst an deinen Buchstabensuppen rum. Sag mal gleich Bescheid, wie lange planst du heute zu arbeiten
?»
«Es ist beinahe fertig, vielleicht noch ein, zwei Zeilen. Ich hatte kein einziges D, weißt du, das war ein sehr harter Tag. Es ist aber mein Meisterwerk, zweifelsohne. Nimm und lies!»
Bachstub reicht seiner Frau ein Blatt Papier folgenden Inhalts.
SELBSTREFERENTIELLE AUTOPOETISCHE ANAGRAMMKONSTRUKTE
MENETEKEL SCHREIBEN STATT FAULER KOLPRTAGEROMANE, TUSSI!
GELTEN: REBELLISCHER POE-M-TASTER – KAFKAS MINOTAURUS TOETEN.
O, ICH ARRANGIERE METASTASEN! STELLE UM, PRUEFE: BETT; KONTO, SKL.
FLAUSEN: BEAME TROLLIGE SAROTTIMOHREN, US-TESTRAKETEN (PECK!)
SPRACHSKELETT MINUTIOES ABTASTEN; REGE FOLKLORE TRAEUMEN.
AERA: HIRNBLOCKER! AUSSEN: E.T.! SEMPER: ITEM! FALLS GOTT TOT: KAEUEN!
MATERIAL KALT HALTEN. KERNFUSION TO GO. MESSERCUT PER SE. BETE!
AM PRUNNEN FOR TEM TORE – SCHUESSE, BALLEREI! TELGTE, TOAST, KIKA.
AM SCHLUSS ABER EINE SONNE FEUERT POETIK. KARTELLAMT GROTTE.
Während sie das Gedicht überfliegt, runzelt Bachstubs Verlobte die Stirn. Schließlich schüttelt sie den Kopf.
«Was macht überhaupt deine Erzählung
? Ich hoffe ja stark für dich beziehungsweise
uns beide, dass diese Erzählung – nennen wir die Dinge ruhig einmal beim Namen – von einem richtigen
Verlag
gedruckt
wird und Geld
abwirft. So langsam könntest du mir übrigens einen Wink geben, worum es da eigentlich geht, einen guten Monat schreibst du schon an dem Ding rum. Dass es eine Liebesgeschichte wird, hast du mir ja fest versprochen, aber glauben werde ich dir das auch erst sobald ich es mit eigenen Augen sehe.»
Jetzt schüttelt Bachstub den Kopf. Die Stimmung ist leicht gereizt. Mit einem mal aber verengen sich Bachstubs Augen zu zwei blitzenden Schlitzen. Seine Stirnrunzeln weichen, ein breites Grinsen bemächtigt sich seines Gesichts.
«Diese Erzählung», beginnt er in ernsthaftem Tone, «ist ein sehr ernsthaftes Projekt und ich bin sehr abergläubisch in diesen Dingen, aber weil ich praktisch fertig bin – wie du willst, setzt dich hin und hör zu. Nun, seit einigen Wochen schreibe ich an einem Text namens DJ, sie verdient Hofarbeiten!
, eine Erzählung, die mir unter der Hand und ganz nebenbei schon beinahe in einen kleinen Roman ausgeartet ist.»
«Das hört sich ja ganz hervorragend an, Schatz, ich meine mal wo gelesen zu haben, so ein Roman verkaufe sich gleich viel besser als irgendwelche Gedichte.»
«Ja, bring mich doch nicht durcheinander mit deinem Geplapper, Liebling. Inspiriert wurde ich im Übrigen von diesem Film, den zu sehen du mich gezwungen hast, Die fetten Jahre sind vorbei
. Im Mittelpunkt meiner Erzählung stehen Kai und Emil, zwei junge Germanistikstudenten aus Berlin, die eine Anagramm-Dichter-WG gründen und die poetologische Weltlage diskutieren. Anfangs agieren sie rein textimmanent, sie schreiben etwa 50 Anagrammverse am Tag, sie exegieren die Schriften von Heißenbüttel, Pastior und Mon, und sie senden ihre Manuskripte an den Suhrkamp-Verlag, aber mit der Zeit stellen sie fest, dass die längst überfällige Revolution der Lyrik
im Grunde noch immer nicht wirklich stattgefunden haben kann, da doch kein einziger Verlag ihnen ihre Gedichte abnimmt. Zufällig sehen sie den Film Die fetten Jahre sind vorbei
, dessen Agitationsästhetik sie – teils konterkariert – übernehmen. Von nun an brechen sie in die Wohnungen anerkannter Lyriker ein und hinterlassen dort ihre erzieherischen Statements:
DJ, sie verdient Hofarbeiten!
oder
Hier ist J., der Feind von Beate
oder
Ihr findet ja dies Verbotene.
oder auch
Dieb stört Frieden in Jahve.
usw.»
«Was soll das denn? Sind die zwei Typen etwa geistesgestört. Ich glaube kaum, dass irgendjemand
so was lesen will.»
«Sei doch still und hör zu. Es handelt sich bei diesen Botschaften ja um überhaupt nichts anderes als um Anagramme von Die fetten Jahre sind vorbei
. Weißt du, die beiden Jungs wollen damit eine sprachreflexive Bewusstseinsveränderung der Überfallenen in Gang setzen. Die einzelnen Botschaften sind, wortwörtlich genommen, erst mal gar nicht so wichtig, mal sind sie banal, mal eher kryptisch wie du bemerkt haben wirst, die eigentliche Botschaft aber – die Botschaft hinter der Botschaft – besagt folgendes: Äußerungen werden aus Sätzen gemacht und Sätze werden aus Wörtern gemacht und Wörter werden aus Silben gemacht und Silben werden aus Buchstaben gemacht und das Buchstabenvorkommen in der Welt der Anagramme ist begrenzt, es verlangt Sparsamkeit und ökonomische Weitsicht. Daraus ergibt sich, dass jede anagrammatische Äußerung über die Welt besonders wertvoll
ist.»
«Aber selbstverständlich. Darauf
hätte ich aber wirklich von alleine kommen müssen. Du schreibst eine Erzählung über Anagrammatikfreaks, die glauben, Anagramme seien besonders wertvoll
. Nun bin ich aber gespannt, wie die zwei ihre Miete bezahlen.»
«Hör zu und staune. Emil und Kai versuchen also eigentlich und in erster Linie so was wie einen frischen Wind in die verstaubten Dichterstuben hineinzubringen. Poetologische Aufklärung, das ist ihr Ziel. Und Angst verbreiten, die fetten Lyriker-Ärsche sollen in dem Bewusstsein weiterleben, dass das was passiert ist, jederzeit wieder passieren kann und dass sie nicht sicher sind vor der Anagrammatischen Weltrevolution und dass kein Buchstabe auf seinem Platz bleibt, wenn die Anagrammaktivisten zuschlagen. Alles was nicht aus Buchstaben besteht bleibt nebenbei bemerkt ausdrücklich verschont und an derselben Stelle stehen, Ledersofas zum Beispiel. Stattdessen aber nehmen sie die Bücher – und es sind nicht wenige, die sie in den Dichterheimen finden, wie du mir glauben kannst – sie nehmen die Bücher aus den Regalen und verteilen sie buchstäblich im ganzen Haus. In die Waschmaschine, in den Brotkorb, in die Badewanne, in den Arzneischrank, in den Kühlschrank, in den Gartenteich, in den offenen Kamin, in die Papierkörbe, in die Blumenvasen, in den Schirmständer, in die Glasvitrinen, in den Toaster, in die Toilettenschüssel, in den Backofen, hinter den Filter der Dunstabzugshaube – einfach überall hin, ich denke, du hast das Prinzip begriffen. Auch auf den Schreibtischen der Dichter führen sie Manipulationen durch. Frisch ausgedruckte Manuskriptseiten werden Buchstabe für Buchstabe fein säuberlich zerschnippelt und komplett neu angeordnet, nach welchen Regeln versteht sich von selbst. Dieses Unterfangen, das natürlich die Krönung des Rituals darstellt, benötigt selbstverständlich noch einmal das vielfache der Zeit des einleitenden Bücherverteilens, es macht die ganze Sache also noch gefährlicher. Tatsächlich geht dann auch eines Tages einiges schief und durcheinander. Während Emil zu einem Treffen der Internationalen Anagrammatik-Gesellschaft nach Mallorca aufbricht, kochen Kai und eine äußerst talentierte Junganagrammatikerin eine Buchstabensuppe mit Russisch Brot. Dabei weiht Kai die Junganagrammatikerin in die Aktivitäten der Gruppe ein. Sie ist hellauf begeistert und auf ihren Vorschlag hin, steigen sie gleich am selben Abend miteinander in das Haus eines mehrfach preisgekrönten Politlyrikers ein. Der Politlyriker befindet sich gerade auf einem P.E.N.- Kongress. Kai, der sich in die Junganagrammatikerin verliebt hat, schmuggelt leichtsinnigerweise einen Liebesbrief ins Haus des Überfallenen. Dieser besteht aus einem Liebesgedicht in Anagrammform und ist unterschrieben mit Mike Rülla
, einem Anagramm von Kais richtigem Namen, Kai Müller. Nachdem sie den üblichen Schabernack getrieben haben (der in diesem Falle etwa 14 Stunden dauert und 50 Seiten meines Manuskripts einnimmt), setzen sie sich, erschöpft und ausgehungert auf ein Ledersofa. Kai nimmt seinen ganzen Mut zusammen, zückt den Liebesbrief, liest das Gedicht vor und gesteht seine Liebe. Die Junganagrammatikerin – die zufällig Anna heißt – ist ganz verwirrt und durcheinander, sie gibt Kai einen Kuss, erklärt ihm dann aber sofort, sie dürfe das nicht, da sie seit einigen Tagen mit Emil zusammen und darüber hinaus streng monogam sei. Kai verlässt heulend das Haus, lauter als jede Alarmanlage. Anna verfolgt ihn in den Garten, presst ihm die Hände auf den Mund und als das nicht hilft, die Zunge in den Hals. In der nächsten Szene erleben wir Kai, zurück in der WG, der – angestachelt durch den zweiten Kuss – denkt, er habe jetzt beste Chancen bei Anna. Er beginnt einen zweiten Liebesbrief mit einem neuen Liebesgedicht. Um die Kontinuität ihrer Beziehung symbolisch zu betonen, will er diesem zweiten Gedicht ein Motto voranstellen, das aus dem letzten Vers des ersten Gedichts besteht. Kai hat nur eine einzige Kope des Gedichts ausgedruckt und die Datei nicht abgespeichert, aus Angst vor Emil, der öfters in Kais Dateien schnüffelt, um Ideen zu stehlen. Dementsprechend greift Kai in die Taschen seines ADIDAS-Jäckchens, in dem er den Brief vermutet – da entdeckt er, dass er den Liebesbrief offensichtlich im Haus des Politlyrikers vergessen haben muss. Während Emil, der den Flieger nach Mallorca verpasst hat, Annas Gesicht ableckt, unterrichtet Kai Anna per Gebärdensprache über sein Malheur. Unter einem wirklich allzu fadenscheinigen Vorwand (den ich mir noch ausdenken muss), kehren Kai und Anna noch einmal zum Haus des Lyrikers zurück. Kai findet den Liebesbrief am Boden vor dem Sofa. Er eilt zur Haustüre, aber ausgerechnet jetzt bleibt Anna wie angewurzelt stehen – sie hat nämlich eine Inspiration und verfällt in eine Schreibtrance
. Kai gibt klein bei, stundenlang bewundert er Annas Schönheit, die ihm durch ihre Schreibtrance nochmals gesteigert scheint, wird aber zunehmend nervös. Und tatsächlich, während des dreizehnten Verses leuchtet plötzlich die Außenbeleuchtung des Hauses auf. Kurz darauf hört Kai das Drehen eines Schlüssels im Schlüsselloch – der Politlyriker kehrt vom Kongress zurück! Anna, noch immer entrückt, wirbelt nach wie vor kleine Buchstabenzettelchen durch die Luft. Kai gerät in Panik, er dreht völlig durch, schnappt sich den Zigarrencutter des Politlyrikers und geht in Stellung.
Kurzum: Kai nimmt den Lyriker als Geisel, Anna wird per Ohrfeige aus ihrer Trance geholt. Man braucht einen Fluchtwagen, Emil wird herbeizitiert. Die drei Anagrammatiker verschleppen den Politlyriker auf eine Berghütte. Sie erklären ihm ihre Agitationsästhetik und verweisen auf den Fetten Jahre
-Film, den der Politlyriker nicht kennt.
Dann finden poetologische Diskussionen statt, die ich dir jetzt nicht einfach so im Einzelnen auswendig hersagen kann. Der Politlyriker jedenfalls versucht sich einzuschleimen, erzählt von seiner einstigen Beschäftigung mit DADA, seiner ungebrochenen Sympathie für Kurt Schwitters, aber Emil fährt ihm sofort übers Maul und erklärt ihm, Anagramme und DADA hätten ungefähr so viel gemeinsam wie Marx und die christlichen Urkommunen – eine Äußerung, die der Politlyriker nicht versteht und die auch mir nicht einleuchtet, obwohl ich sie selbst geschrieben habe. Emil schimpft auf den Suhrkamp-Verlag, der keine Junganagrammatiker – oder jedenfalls viel zu wenige – aufnimmt. Anna verfasst nachts im Schlafsack heimlich nicht-anagrammatische Liebesgedichte in freien Rhythmen.
Am nächsten Tag behauptet der Politlyriker, er habe einmal mit Oskar Pastior über die Gruppe 47 gescherzt, und dabei sogar ein Bonmot geprägt, das ihm aber entfallen sei. Emil stellt ihn auf die Probe und will wissen, wie Pastiors Debütband heiße. Damit hat der Politlyriker gerechnet. In der Nacht hat er hierzu heimlich den SMS-Guru befragt, so dass er nun wie aus der Pistole geschossen antworten kann:
Fludribusch in Pflanzenheim, 1960
Außerdem zitiert er die folgenden Verse:
Poesie? –
Sei Poe!
und erklärt dann, dies sei auch so ein Gedicht von damals und zwar ein eigenes
– ja auch er habe sich damals für kurze Zeit der Avantgarde verschrieben und unter anderem ein paar Anagramme verfasst, an die er sich mit Ausnahme des einen aber leider nicht mehr erinnern könne. Suhrkamp habe aber abgelehnt und er habe sich danach auch nicht mehr um eine Veröffentlichung gekümmert, da Rotbuch seine eher politischen Gedichte angenommen habe. Sogar Enzensberger habe einmal ein Anagramm geschrieben, habe er Jahre danach irgendwo einmal gehört, kurz und gut, er könne die Junganagrammatiker nur allzu gut verstehen. Anna, ach so, das habe ich vergessen zu erwähnen, Anna und der Politlyriker, das hat eine Vorgeschichte. Anna hat vor Kurzem einen Schreibkurs an der FU besucht, bei dem der Politlyriker ihr Schreibdozent war. Der Schreibdozent hatte vor der Veranstaltung noch eben ein Gedicht für die F.A.Z. geschrieben, das er in der Unterrichtspause durch die Reihen reichte, aber Anna, die letzte in der Reihe, steckte es aus Zerstreutheit zwischen die Blätter mit ihren eigenen Gedichtentwürfen. In dieser Pause nun ging sie zufällig ins Kopierzimmer der FU und shredderte ihre Blätter, samt des Politlyrikers Gedicht versteht sich. Anna wurde belastet und der Politlyriker verklagte sie auf 500 Euro Schadenersatz, da er sich nicht mehr an den genauen Wortlaut des Gedichts erinnern konnte oder wollte. Nach diesem Vorfall verließ Anna den Schreibkurs und schloss sich den Radikalanagrammatikern an.
Als Anna nun auf diesen Vorfall anspielt, versucht der Politlyriker sich rauszureden. Er habe damals nicht gewusst, dass sie noch ohne Verlag sei und kein Geld mit ihren Gedichten verdiene, usw. Er bietet ihr einen Schuldenerlass an. Dann prahlt er mit seinen Kontakten, nennt Wagenbach einen alten Kumpel, betont, Anna sei sicherlich eine sehr attraktive Sache für so manchen Verlag. Alle erbitten sich Bedenkzeit. Zur Entspannung verfasst man ein paar Anagramme. Dabei wird ordentlich gesoffen, zwischendrin getanzt. Emil und der Politlyriker beginnen eine Diskussion über Jandls Lautgedichte, beide sehen das ausgesprochen kritisch. Irgendwann liegen sie sich in den Armen, während draußen, hundert Meter entfernt in einem Heuschober Kai und Anna miteinander schlafen.
Am nächsten Morgen überzeugt der Politlyriker die drei Entführer von der Notwendigkeit, bei seiner Frau anzurufen, sie komme nämlich demnächst nach Hause und rufe beim Anblick des Hauses mit Sicherheit die Polizei. Die drei stimmen zu. Sie suchen eine Telefonzelle. Emil lässt den Zigarrencutter in der Bergsonne aufblitzen, er warnt den Lyriker, bloß keinen Scheiß zu bauen. Der Politlyriker wählt seine Nummer. Die Frau geht ran. Der Politlyriker, er heißt übrigens Münzmann, sagt seiner Frau, sie solle sich keine Sorgen machen, er sei nach dem Kongress noch für einige Tage bei einer jungen, vielversprechenden Lyrikerin untergekommen, auch das mit dem Haus könne und müsse er erklären, er habe da vor seiner Abreise nämlich noch ganz spontan einen jungen Aktionskünstler zu Gast gehabt und der habe ihm ein Projekt erklärt und dazu sei es nötig gewesen, all die Bücher an all den komischen Stellen zu verstecken und das sei dann etwas ausgeartet und man habe dabei die Zeit vergessen und er habe doch aber unbedingt auf den Kongress müssen. Wie es den Kindern gehe, wann genau der Kleine noch mal Geburtstag habe, ja da sei er zurück, ja er denke daran etwas mitzubringen, er habe sich da sogar schon was überlegt, nämlich und zwar ein Brettspiel, vielleicht ... Scrabble
etwa sei doch nicht schlecht, fürs Lesen- und Schreibenlernen, ja er habe genügend Bargeld bei sich, nein der Pastior
sei nicht auf der Tagung gewesen, der sei doch vor kurzem verstorben, aber andere talentierte Avantgardisten habe er da kennen gelernt, die seien einsame Spitze
, so talentiert, dass man sie auf jeden Fall auf dem Gipfel
der zeitgenössischen Dichtkunst ansiedeln müsse, es sei einfach immer wieder schön, sich von diesen Leuten in völlig neue Klang- und Sinnwelten entführen
zu lassen, nein wo genau
der Zauber-berg
angesiedelt sei, habe der Thomas Mann nie verraten, ach sie habe auch schon ein Geschenk für den Jungen, soso, ahja, Emil und die Detektive
, ja, das sei klasse, fast so gut wie Kai
, äh Kalle Blomquist
von Ann
-äh-Agatha Christie, usw. – da reißt ihm Emil den Hörer aus der Hand, knallt ihn auf die Gabel und sagt, er habe nun genug geschwafelt.
Am Abend sitzen sie wieder in der Blockhütte und schreiben Anagramme. Kai, der glaubt, dass Emil etwas ahnt, stellt sich dumm – etwas zu dumm, wie du gleich sehen wirst – und proklamiert, er habe gerade erst entdeckt, dass Anna ein Palindrom sei und das sei ja ganz toll und ein Zufall und fast schon ein höheres Zeichen. In diesem Moment weiß
Emil, dass da was läuft. Später, während einem neuerlichen Saufgelage, beginnt er eine Scheindiskussion mit Münzmann. Münzmann bekennt, sein Leben sei verpfuscht, im Grunde sei er doch nichts anderes als ein armer alter verhinderter Romancier. Er wolle aber, wenn er wieder frei sei, noch am gleichen Tag endlich den Finnegans Wake
lesen und danach sofort den großen deutschen Avantgarderoman schreiben, ein 3000-seitiges Versepos in strenger Anagrammform. Kai und Anna haben sich längst verdrückt. Emil sollte nun eigentlich hellhörig werden, ob dieses unsinnigen und undurchführbaren Projekts von Münzmann, das mit einem Schlag dessen ganzen Dilettantismus und sein ganzes geheucheltes Interesse auf dem Felde der Anagrammatik offenbart. Stattdessen aber gerät er in Wut und behauptet, diese ganze
Dichtungsscheiße sei ein einziger verfickter, bourgeoiser, bourdieuser Anarchoderridascheiß, er gehe jetzt hinaus und schlitze dem jungen Dichterpaar
die Kehlen auf. Münzmann warnt ihn vor dem poetologischen Barrikadenkampf, ein Brecht-Zitat entfährt ihm: «Alles Formale, was uns hindert, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muss weg; alles Formale, was uns verhilft, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muss her.» Emil winkt ab und behauptet, er höre ihm schon gar nicht mehr zu, dann sagt er, er müsse jetzt sofort weg und der Sache auf den Grund gehen. Dann bindet er Münzmann an einen Marterpfahl und verlässt die Hütte.
Draußen ist mittlerweile ein Schneesturm aufgezogen, der Schnee wirbelt alles durcheinander, die Grenzen zwischen Himmel und Erde verschwimmen. Emil aber kämpft sich wacker durch die peitschende Wand, angetrieben durch seine kochende Eifersucht und geleitet von seinem Handy, das er dank des SMS-Gurus als Kompass verwenden kann. Tatsächlich findet er nach einigen Minuten die andere Hütte. Er späht durch das Schlüsselloch und sieht:
Kai und Anna
im Schein einer
Taschenlampe
beim
Ge-
schlechts-
ver-
kehr.
Angewidert weicht er zurück. Die einzige Fensterscheibe der Hütte ist mit einer dicken Frostschicht überzogen. Emil überlegt einige Sekunden, dann kratzt er mit seinem Zeigefinger – spiegelverkehrt – die folgenden Worte in die Frostschicht des Fensters.
Achim Reymsel!
Dann klopft er an die Scheibe. Er hechtet ans Schlüsselloch und sieht, wie seine beiden «Freunde» aufschrecken und nach ihren Kleidern greifen. Die Türe der Hütte hat Emil selbstverständlich mit einem Holzpflock blockiert. Er stellt sich zwischen Schlüsselloch und Fenster und presst ein Ohr an die Holzwand. Kai und Anna flüstern aufgeregt, durch die Ritzen der Hütte versteht Emil jedes einzelne Wort.
Anna fragt Kai, wer oder was Achim Reymsel sei oder bedeute. Kai versucht sie zu beruhigen. Emil habe mit der Sache bestimmt nichts zu tun, der sei nämlich genauso fanatisch und in das endlose Poetikgeschwätz vernarrt wie Münzmann, der alte Lustmolch höchstpersönlich, dementsprechend sitze er jetzt noch dort bei diesem, es handele sich bei dem Klopfenden wohl lediglich um einen Wanderer namens Achim Reymsel, der in den Schneesturm geraten sei und nun um Einlass und Schutz bitte. Sofern sie nicht völlig unmenschlich seien, hätten sie ihm jetzt postwendend zu öffnen.
Emil zückt den Zigarrencutter und lacht sich ins Fäustchen. Er
ist Achim Reymsel und Achim Reymsel ist ein Anagramm von Michael Myers
, dem geistesgestörten Serienkiller aus Halloween
, denkt er, und ihr zwei, ihr seid die erbärmlichsten Möchtegernanagrammatiker, die ich je gesehen habe.
Jetzt fehlt nur noch der Schluss, aber auch den hab ich immerhin schon grob skizziert, Liebling, nun kommt nämlich noch ein ordentlicher Schuss magischer Realismus rein. Münzmann, gefesselt am Marterpfahl, überlegt sich, ausschließlich im Kopf – ohne Notizzettel! – einen Vers, der tatsächlich Zauberkräfte
besitzt. Er ist nämlich eigentlich ein Zauberdichter, der aber nur nie von seinen Fähigkeiten Gebrauch gemacht hat, weil Rotbuch ihm damals nahe gelegt hat, er solle den eingeschlagenen Politstil weiterverfolgen. Jedenfalls belebt er nun durch seine Poesie den Marterpfahl, ein altes indianisches Artefakt, das Gott weiß wie in diese Berghütte geraten ist und selbstverständlich bindet der Marterpfahlmann ihn sofort los. Gemeinsam stürmen sie aus der Hütte und folgen den Schreien aus Richtung der Nachbarhütte. Emil hat sich vor Kai und Anna mittlerweile als Emil geoutet, er gesteht Kai, er habe dessen Suhrkamp-Manuskript nicht in den Post-Briefkasten, sondern in einen Mülleimer geworfen. Dann bedrängt er die beiden, endlich das Anagrammrätsel «Achim Reymsel» zu lösen. Als er aber Münzmann und einen galoppierenden Holzpfosten im Schneetreiben erspäht, löst er die Verriegelung und schreit gleichzeitig, er sei Emil Soundso, der größte Anagrammatiker der nachdrängenden Generation und außerdem sei er Achim Reymsel, alias Michael Myers, der berühmte Teenieschlitzer aus Hollawene
. Kai sagt zu Emil, Fernsehen sei reaktionärer Mist, es ficke seine Seele und koste auch viel zu viel ZEG-Gebühren, falls er verstehe was er meine. Emil tickt sowieso durch, aber – ja, liebes Frauchen, ich habe deinen Wünschen entsprochen und sogar ein Happyend vorgesehen – Münzmann und vor allem der indianische Marterpfahl überwältigen Emil und alles wird gut.
Am Schluss sind alle zufrieden. Anna, Kai und Emil quatschen sich aus, führen eine Dreierbeziehung, werden Palindromlyriker und geben ihre aggressive Agitation auf. Münzmann trennt sich von seiner Frau und heiratet den Marterpfahl, von dem sich herausgestellt hat, dass es sich eigentlich um eine indianische Fruchtbarkeitsgöttin handelt. Er schickt den dreien einen Brief, in dem er Annas erste Ratenzahlung von 100 Euro zurückbezahlt, außerdem schlägt er vor, falls sie weiterhin in Geldnot seien, könnten sie ja ein Drehbuch über die Ereignisse jenes Wochenendes schreiben, das er stets in angenehmer Erinnerung behalten werde. Im Übrigen sei Otto ein Palindrom von Otto. Da endet die Geschichte. Ich denke, dass ich sie in ein paar Tagen rausschicken kann.»
Bachstubs Verlobte seufzt und schüttelt den Kopf.
«Ach du große Scheiße. Aber weißt du was? Manche Leute ändern sich halt nie!
»
«Dürfte ich mich dann bitte wieder an die Arbeit machen? Ich würde heute gerne noch zwei, drei Verse schreiben.»
«Das würde dir gleichsehen!», juxt die Verlobte. «Mich erst mit einer solchen Liebesschnulze scharf machen und dann am ausgestreckten Arm verhungern lassen ...»
Mit diesen Worten packt sie den Dichter Bachstub am Hemdkragen und zerrt ihn ins Schlafzimmer.
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2008
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