Schwer hing der Duft von Kerzenwachs in der engen Studierstube und überdeckte den sonst dort herrschenden Geruch nach altem Leder und Pergament. Der flackernde Schein der Flammen ließ unruhige Schatten über die Bücherregale an den Wänden tanzen, spielte über den Kreis aus Kreide, der fast den gesamten Boden einnahm. Kerzen standen in regelmäßigen Abständen auf der weißen Linie. Um sie herum, hatte jemand seltsam anmutende Symbole auf die Dielen gezeichnet.
Die einzige Stelle im Raum, die weder von dem Kreis noch von Bücherregalen eingenommen wurde, war ein kleiner Bereich um ein Schreibpult, auf dem ein dickes Buch aufgeschlagen lag. Aus diesem Buch hob Dr. Johann Constantin von Willhelmi nun an zu rezitieren. Er hatte lange geforscht, sich auf der Suche nach Antworten in Gefilde gewagt, vor denen die meisten seiner Kollegen zurückgeschreckt wären. Doch nun lag das Ziel seiner Suche in greifbarer Nähe. Der Text vor ihm musste lediglich halten, was es versprach.
„Voco te“, intonierte er. „Voco te. Ex umbra, ex igni veni. Voco et ligo te. Veni!“
Mit angehaltenem Atem blickte er erwartungsvoll in die Mitte des gezeichneten Kreises. Ein plötzlicher Windstoß kam auf und brachte die Flammen der Kerzen zum Flackern. Sonst rührte sich nichts. Langsam ließ der Gelehrte die Luft aus seinen Lungen entweichen. Enttäuschung zog seine Schultern nach unten, krümmte seine Gestalt, die zuvor noch so stolz und aufrecht gestanden hatte. Die ganze Arbeit, die ganze Forschung umsonst. Zehn Jahre seines Lebens waren vergeudet für nichts und wieder nichts. Er klappte des Buch zu, das nutzlose, alte Ding, das ihn so viel Geld gekostet hatte, nahm es vom Schreibpult, drehte sich um, um es ins Regal zurückzustellen.
„Du hast eine Lücke gelassen.“
Von Wilhelmi erstarrte, das Buch halb erhoben. Vorsichtig ließ er das schwere Grimoir sinken, sah über seine Schulter zu dem Kreis zurück. Dort stand, außerhalb der Kreidelinie an einem der Regale lehnend ein junger M... nein, eine Frau. Das Hemd, das viel zu eng anlag, als dass es noch sittsam gewesen wäre, ließ daran keinen Zweifel. Er hatte sie zuerst für einen Mann gehalten, weil sie Hosen trug. Eine Frau in Hosen, wie absurd. Um das Bild komplett zu machen, saß auf ihrem Kopf ein breitkrempiger Hut, unter dem langes, lockiges Haar hervorquoll. Als sie seinen Blick auf sich ruhen sah, teilten sich ihre Lippen zu einem Lächeln und enthüllten Eckzähne, die ein klein wenig zu spitz waren. Sie schob den Hut ein Stück nach hinten und gelbe Augen blitzten unter der Krempe hervor, leuchteten im Licht der Kerzen.
Das Buch glitt von Wilhelmi aus den Fingern, als er sich langsam zu ihre umwandte. Er bemerkte kaum, wie es zu Boden fiel.
„Ver...“, setzte er krächzend an, brach dann aber ab, um sich zu räuspern. „Verzeihung?“
Das Lächeln der Frau wurde ein wenig breiter. „Der Kreis“, erklärte sie geduldig. „Du hast eine Lücke darin gelassen. So etwas kann recht schnell geschehen, wenn man auf unebenen Dielen zeichnet.“
„Oh.“ Der Gelehrte streckte eine Hand haltsuchend nach seinem Pult aus. “Dann ... ähm ...“
Ein helles Lachen, das die Flammen der Kerzen erneut zum Flackern brachte, bewahrte ihn vor weiterer Stotterei.
„Dann bin ich die, die du gerufen hast, ja. Auch ohne an den Kreis gebunden zu sein, stehe ich nun zu euren Diensten, Herr Doktor.“ Die Dämonin zog ihren Hut und verneigte sich elegant. Genau wie die plötzlich so förmliche Anrede schien auch die Verbeugung einen Hauch von Spott in sich zu bergen. „Zu einem geringen Preis, versteht sich.“
Sie richtete sich wieder auf, noch immer das Lächeln auf den Lippen.
Das war seine Chance! Hatte von Wilhelmi zuvor noch fast resigniert, so rückten nun seine Ziele plötzlich und unerwartet wieder in Reichweite. Mochte es kosten, was es wolle, er würde seine Antworten erhalten.
„Der Preis wäre?“, fragte er dennoch vorsichtig, ohne seine Hand von der Kante des Schreibpultes zu lösen, um die sie sich verkrampft hatte.
Das Lächeln der Frau veränderte sich, trug nun den Spott offen, den der Doktor in der Verbeugung zuvor schon vermutet hatte.
„Da steht er nun, ein studierter Mann, bewandert in der Philosophie, den Sprachen und den Naturwissenschaften und doch muss er fragen, was der Preis denn wäre.“ Sie hob eine Hand und zog damit aus der Luft einen Bogen Pergament. Mit einem Schritt war sie in dem Kreis, mit zwei weiteren hatte sie ihn durchquert und stand nun direkt vor dem Schreibpult. Das Pergament legte sie auf der Pultfläche ab, so dass von Wilhelmi den Text darauf lesen konnte.
„Was sollte er denn anderes sein“, fuhr sie fort, „als die Seele des werten Herrn? Alles, was noch fehlt, ist eine Unterschrift desselben.“
Zögernd betrachtete der Gelehrte den Vertrag, der vor ihm lag. Der Preis war hoch ... sofern man daran glaubte, eine unsterbliche Seele zu besitzen. Entschlossen griff er nach einer Feder.
„Nana.“ Die Hand der Dämonin schoss vor, schloss sich um die seine und dreht die Handfläche nach oben. Mit einer Nadel stach sie ihm in den Zeigefinger und rotes Blut quoll aus der Wunde, tropfte auf das Pergament.
„So, nun ist es besiegelt. Was wünschst du also?“
Tief atmete von Wilhelmi durch. Worte, die so lange darauf gewartet hatten, ausgesprochen zu werden, nahmen in seinem Geist Gestalt an.
„Ich möchte die ganze Wahrheit wissen. Wo liegt der Sinn des Lebens? Warum sind wir hier?“ In die Augen des Mannes trat ein aufgeregter Glanz, als er seinen Wunsch vorbrachte. „Kannst du das, Dämon? Kannst du mir diese Fragen so beantworten, dass ich nie wieder zweifeln muss, nie wieder hadern?“
Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht der Dämonin aus. „Ich weiß etwas noch viel besseres, ich werde dir deine Fragen nicht beantworten, ich werde dir die Wahrheit zeigen.“
Sie schnippte mit dem Finger und fast im selben Moment schnappte der Gelehrte nach Luft. Es war, als hätte er sein ganzes Leben in der Dunkelheit verbracht und würde nun zum ersten Mal das Licht sehen. Es war ein kaltes, grausames Licht, das jedes unschöne Detail erbarmungslos beleuchtete. Jede Form war deutlich, nichts blieb mehr der eigenen Vorstellungskraft überlassen, die vielleicht hier und dort etwas beschönigt hätte. Er sah alles. Die volle Wahrheit über sich selbst, die Menschen, das Leben, die ganze Welt.
Er hatte sich, ohne etwas davon zu merken, sein Leben lang hinter selbst errichteten Mauern versteckt. Dort lebte er in seiner Welt, an einem Ort, an dem er sich sicher und geborgen fühlte. Nun hatte die Dämonin die Mauern eingerissen, jegliche Selbsttäuschung hinweggefegt. Es gab keinen sicheren Ort mehr für ihn.
Er sackte vor seinem Pult auf die Knie, hielt sich den Kopf. Er weint und würgte, die Erkenntnis kam zu plötzlich, war zu viel für ihn. Kein Mensch sollte jemals so schutzlos der Wahrheit ausgeliefert sein.
Schließlich übergab er sich, rollte sich am Fuße seines Pultes zusammen. Ein leises Wimmern kam über seine Lippen, dann war er still. Nur noch das Rascheln seiner Kleidung war zu hören, als er sich leicht hin und her wiegte.
Die Dämonin machte einen Schritt vor, achtete sorgfältig darauf, nicht in die unappetitliche Hinterlassenschaft auf dem Fußboden zu treten und hob das Kinn des Mannes ein Stück an. Die Augen, in die sie blickte, waren leer, der Geist dahinter gebrochen unter der Last der Erkenntnis. Das Gesicht war zu einer Maske des Grauens erstarrt.
„Ich hatte angenommen, dass du es ein wenig besser verkraftest“, erklärte sie der leeren, sterblichen Hülle. „Aber der menschliche Verstand ist doch ein zerbrechliches Ding.“
Sie lächelte, ließ das Kinn des Mannes los, dessen Kopf zurück auf seine Knie sank, und richtete sich wieder auf.
Nachdenklich blickte sie auf die Gestalt am Boden hinunter.
„Ich frage mich, warum ihr Menschen euch so schwer damit tut, zu erkennen, dass ihr die Mauern braucht, die ihr zum Schutz vor der Wahrheit um euren Geist errichtet habt.“
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2009
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