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FRONTALCRASH
oder: Als EVA in unser Leben trat


Einer bislang nicht überprüften These zu Folge lautet der an deutschen Schulen am meisten verbreitete Satz: „Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir!“
Wie wahr – oder wie falsch – diese Aussage wirklich ist, lässt sich am besten erst dann herausfinden, wenn man seine Schulzeit hinter sich gebracht hat. Dabei mag sich der eine oder andere ehemalige Schüler gefragt haben, welchen Nutzen er schlussendlich aus seiner Schulzeit gezogen hat.
Was für einen praktischen Wert haben Lehrsätze wie „7 – 5 – 3 – Rom schlüpft aus dem Ei“? Wie wichtig ist es wirklich, die Summenformel von Schwefelsäure (H2SO4) zu kennen? Und, Hand auf´s Herz: Wann haben Sie zuletzt die Sinusfunktion benötigt?

Lernen für´s Leben, andererseits, ohne Schule ist in unseren Kulturkreisen nicht gut denkbar. Die zentrale Frage lautet also nicht, ob wir lernen, sondern was – und vor allem: wie!

EIN RÜCKBLICK
Eltern, die Kinder im schulpflichtigen Alter haben, aber auch die meisten Lehrerinnen und Lehrer von heute erinnern sich an ihre eigene Schulzeit und damit wahrscheinlich an zahllose Unterrichtsstunden, bei denen sich eine Lehrperson vor der Klasse aufbaute, einen 45-minütigen Vortrag über ein bestimmtes Fachgebiet hielt und die Verinnerlichung und Wiederholung der Inhalte zur Hausaufgabe machte. In Arbeiten und Tests waren wir daran gewöhnt, auswendig gelerntes zu reproduzieren, Daten und Formeln, die für uns manchmal keinen Sinn ergaben, auf unser Blatt zu schreiben um im Falle eines Misserfolges als Rückmeldung den Kommentar „besser lernen“ vorzufinden.
Wir machten uns keine Gedanken darüber, wann was wie zu bearbeiten war, sondern nahmen alles als vom Lehrkörper gegeben hin.
Wenn einer von uns mit irgendwelchen Aufgaben nicht zurecht kam, dann blieb er eben auf der Strecke, und wenn die halbe Klasse mit dem Lernstoff Probleme hatte, dann wurde dafür die gesamte Klasse für ihr schlechtes Lernverhalten gerügt und bekam wohlmöglich kollektiv eine Stunde Nachsitzen aufgebrummt.
Jungen wie Mädchen turnten am Reck und am Barren und spielten Fußball und übten die Grätsche und häkelten und sägten an den gleichen Werkstücken und sangen ein- und dieselben Lieder in ein- und derselben Tonart und bekamen dafür nach ein- und demselben Maßstab die gleichen (und damit zumeist ungerechten) Zensuren.
Doch Einzelschicksale waren unseren Lehrern nicht etwa egal – im Gegenteil: Jeder einzelne von ihnen betrachtete sein Fach als das Fach schlechthin. Wenn einer von uns sich nicht dafür interessierte, kam das dem gleich, was man in einer Monarchie als Majestätsbeleidigung bezeichnet.
Der Stoff wurde uns erklärt – das musste reichen.
Wir lernten vor allem, wie wir mit unseren einzelnen Lehrern umgehen mussten, damit wir die entsprechenden Zensuren erhielten. Bei Herrn A. musste man sich stets melden, da nicht die Gefahr bestand, jemals aufgerufen zu werden. Doch Vorsicht mit einer Wortmeldung bei Frau B.: Eine einfache Frage zog für den ahnungslosen Antworter eine ganze Reihe themenverwandter Fachfragen nach sich. Dies konnte leicht zur Folge haben, die ganze restliche Stunde lang vor den Augen der amüsierten Restklasse systematisch durch den Kakao gezogen zu werden. Wenn Herr C. bei Klassenarbeiten hinter seiner Zeitung verschwand, bekamen wir sogar ein Gefühl für Gruppenarbeit, wohingegen die Aufgaben, die Frau D. zu stellen pflegte, so sehr ihrem Tafelanschrieb aus der letzten Stunde glichen, dass es für die Arbeit genügte, diese einfach vorher nicht zu putzen.
Pädagogik? Sicher, es gab auch die Guten, diejenigen Lehrpersonen, bei denen wir uns wohl und verstanden fühlten. Zwar nicht, weil wir ihnen unbedingt bescheinigen konnten, dass es sich bei ihnen etwas besser lernen ließ, aber doch, weil wir den Eindruck hatten, ein Stück Individualität gewonnen zu haben.
Unvergessen bleibt auf der anderen Seite ein Ausspruch meines ehemaligen Mathelehrers, der, offenbar des ständigen Vergleichs mit seinem Kollegen aus den Erziehungswissenschaften überdrüssig, an unserer Schule den Satz prägte: „Ich bin kein Pädagoge, sondern Mathematiker!“

Die Lehrmethode, die wir damals allzu oft kennen lernten, war ausschließlich der Frontalunterricht (für manche, in ihrer Schulzeit weniger erfolgreiche Erwachsene, besser bekannt unter dem Begriff „Frontalcrash“).

UND HEUTE?
Der Frontalunterricht ist nicht ausgestorben, für einen Nachruf wäre es zu früh, und die oben aufgeführten Negativbeispiele werden ihm im Übrigen nicht gerecht. Im Gegenteil: Guter Frontalunterricht hat manchmal durchaus seine positiven Seiten, er bündelt die Klasse, sorgt für Disziplin und Ruhe im Klassenraum, systematisiert und strukturiert den Unterricht und treibt das Lerntempo.
Heinz Klippert, der seit einigen Jahren den Versuch unternimmt, den Begriff des „Eigenverantwortlichen Arbeitens“ (EVA) für den Schulunterricht zu systematisieren, beschreibt den Frontallehrer darüber hinaus allerdings als einen Lehrer, der exzerpiert, interpretiert, analysiert, argumentiert, organisiert, Probleme löst oder den Unterricht in sonstiger Weise managt und dominiert.
Die Nachteile von Frontalunterricht liegen damit auf der Hand: Jede/r lernt das Gleiche, jede/r lernt alles, jede/r hat das gleiche, vom Lehrer vorgegebene Tempo einzuhalten. Der folgenschwere Denkfehler des Frontalunterrichts ist dieser: Wenn wir als mit einem mittleren Lerntempo auf einem mittleren Lernniveau die gesamte Klasse bedienen, dann haben wir eben gerade nicht die meisten, sondern regelmäßig nur die allerwenigsten Schüler wirklich erreicht. Für ein Gros der Klasse – gerade an einer Gesamtschule – ist der Frontalunterricht entweder zu langsam oder zu schnell, entweder zu anspruchsvoll oder zu einfach. Nur die wenigen Schülerinnen und Schüler, die zufällig das (für Mathematiker: arithmetische) Mittel treffen, erleben diesen Unterricht als erfüllend.
Darüber hinaus steht die moderne Schule zunehmend vor der Frage, was überhaupt (Lern-) Standard ist. Wenn es im Geschichtsunterricht „damals“ beispielsweise um ein Referat über Karl den Großen ging, dann besorgte sich der Referent ein, nein, das Buch aus der Bücherei und fasste die Inhalte so gut wie möglich zusammen. Heute liefert Ihnen Google in nur 0,05 Sekunden über zehn Millionen Ergebnisse zu dieser Suchanfrage. Wer will sagen, welche von diesen Informationen nützlich, brauchbar oder auch nur richtig sind? Damit ist klar: Wenn unser Unterricht erfolgreich sein soll, benötigen wir Wege aus der Krise.

EVA
Wer ist Eva? – Hier die falsche Frage! Richtig muss es heißen: Was ist EVA?
Die Abkürzung steht für den Begriff „Eigenverantwortliches Arbeiten“. Der Ansatz beinhaltet eine Verschiebung der Prioritäten. Ging es früher vor allem um die Vermittlung und das Auswendiglernen fachlicher Inhalte, verlegt EVA den Schwerpunkt auf das Erlernen von Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen. Keine Formeln und Daten stehen als Ziel auf dem Programm, sondern Selbstständigkeit, Methodenkompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Kreativität, Eigeninitiative, Zielstrebigkeit und Verantwortungsbewusstsein.
Natürlich behandelt der Unterricht weiterhin die Fachsubstanz, es geht immer noch um „Themen“. Doch ist der Erwerb der Fachkenntnisse nur ein Teilbereich eines viel komplexeren Systems. Hätten wir schon damals als Schüler eine Unterweisung in diesen Schlüsselqualifikationen gut gebrauchen können, so gibt es heute in unserer globalen, medial geprägten Informationskultur keine Alternative mehr dazu, wenn es darum geht, Schüler (über-)lebensfähig zu machen.
Hochformen des EVA sind Projektarbeit, Stationenbetrieb oder Wochenplanunterricht. Diese können allerdings nicht von Anfang an eingesetzt werden. EVA muss viel schlichter im ganz normalen Fachunterricht intensiviert werden - kleinschrittig und unspektakulär. Denn ein erfolgreiches eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen setzt voraus, dass Schüler über tragfähige methodische Kompetenzen und Routinen verfügen, die ihnen persönlichen Erfolg sichern und nachhaltige Motivationen aufbauen helfen. (Klippert) Wir sprechen hier von Basiskompetenzen (gängige Lern- und Arbeitstechniken wie Markieren, Strukturieren und Visualisieren, außerdem Argumentations- und Kommunikationstechniken sowie eine systematische Kultivierung von Teamfähigkeit) und von der Herausbildung von Sockelqualifikationen, die durch regelmäßiges Methodentraining, Kommunikationstraining und durch aktive Teamentwicklung erreicht werden.

Die Rolle des Lehrers verändert sich hierdurch auf spektakuläre Weise: Er ist nicht länger Instrukteur und Initiator, sondern wird Moderator, Berater und Arrangeur. Lernspiralen, individuelle Arbeitspläne und das Herstellen von manchmal selektiven, manchmal übergreifenden Themenbezügen bilden das Grundmuster des eigenverantwortlichen Arbeitens und Lernens.
Und auch der Leistungsbegriff bekommt einen anderen Geschmack: Nicht jede/r muss alles können, nicht alles ist gleich wichtig, und der individuelle Lernfortschritt bestimmt den Status Quo – nicht (allein) die Zensur.

STRUKTURWANDEL
EVA tut Schülerinnen und Schülern gut, das lässt sich inzwischen beobachten, auch bei uns. Doch EVA ist kein System, das sich von außen überstülpen ließe. Es muss, wie oben ausgeführt, gründlich und kleinschrittig erlernt werden. Deshalb kann eigenverantwortliches Arbeiten nur ganz allmählich in den Schulbetrieb hineinwachsen.
Der Grundschulbereich der FSN bringt heute Schüler/innen hervor, die EVA erlebt haben, bei denen viele der oben genannten Basiskompetenzen und Schlüsselqualifikationen angelegt sind, die gewöhnt sind an Wochenplan-, Stationen- oder Projektarbeit. Diese Arbeit aus der Grundschule nun weiterzuführen und gleichzeitig um die erweiterten Herausforderungen der Sekundarstufe zu bereichern, ist eine Herausforderung. Am Ende stehen ja trotzdem standardisierte Prüfungen, es wird um Schulabschlüsse und damit auch um Lebenschancen gehen. Als Gesamtschule indes muss man EVA lieben. Denn der Weg zu angemessenen und individuellen Abschlüssen führt nicht zuerst über die Leistung, sondern über das Lernen.
Und wenn es dann [in Klasse 7, Anm. d.A.] um Karl den Großen geht, ist ja immer noch der Lehrer da, der als Fachmann eine kleine Einweisung geben kann – frontal, versteht sich.

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Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011

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