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Fritz war eigentlich zu klein für sein Alter. In seinen viel zu weiten Hosen und dem Schlabberhemd wirkte er wie eine beim Waschen eingegangene Stoffpuppe. Nur, dass er nicht gewaschen aussah, sondern schmutzig.

Niemand wollte neben ihm sitzen, er roch unangenehm. Es schien, als würde ihm das nichts ausmachen, im Gegenteil. Fritz saß gerne allein auf seinem Platz in der letzten Reihe, ganz hinten im Klassenraum. Jedenfalls waren wir davon überzeugt.

Keiner von uns wäre je auf die Idee gekommen, ihn in der Pause zu fragen, ob er mitspielen wollte. Niemand hätte ihn je auf seine Geburtstagsfeier eingeladen. Er wäre sowieso nicht gekommen. Jedenfalls glaubten wir fest daran. An Klassenfahrten nahm Fritz nicht teil, so dass niemand in die Verlegenheit geriet, mit ihm das Zimmer einer Jugendherberge zu teilen.

Die Lehrer sprachen ihn fast nie an, und er meldete sich auch nicht. Manchmal, aber das kam selten vor, bekam er Gelegenheit, auf eine Frage zu antworten, auf die sonst keiner eine Antwort wusste. Dann glänzte er. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals eine Frage nicht beantworten konnte. Trotzdem war es dann immer ganz ungewohnt, plötzlich seine Stimme zu hören, so selten sagte er etwas.

Fritz fehlte häufig. Niemand sagte uns, was mit ihm los war, aber es fragte auch keiner danach. Für uns war es irgendwann ganz normal, dass er oft nicht da war. Außerhalb der Schule bekam man Fritz nie zu Gesicht, außer man ging in eine ganz bestimmte Gaststätte in der Stadt, die seinen Eltern gehörte. Dort verbrachte er seine Tage (und, wie viele von uns überzeugt waren, auch seine Nächte).

Eines Tages im Mai passierte es dann. Es geschah ohne Vorwarnung, und wir alle waren so verblüfft, dass wir uns noch Tage später darüber wunderten und immer wieder kichern mussten. Fritz erschien nämlich in einem Mädchenkleid zur Schule. Es sah schon ziemlich seltsam aus. An den Füßen trug er nach wie vor seine abgetragenen braunen Halbschuhe. Natürlich haben wir uns nach dem ersten Schreck ziemlich über ihn lustig gemacht. Das Merkwürdigste an der ganzen Sache war aber, dass das Kleid, das er trug, kein bisschen abgetragen aussah. Im Gegenteil: Es war ein ganz furchtbar hübsches Trägerkleid, in einem zarten Rosa und mit aufgesticktem Blumenmuster. Wäre Fritz ein Mädchen gewesen, hätten wir anderen Mädchen ihn – oder sie – wahrscheinlich um das Kleid beneidet. Aber wenn man als Junge ein Kleid trägt, dann macht man sich zum Gespött der ganzen Schule. Das ist nun einmal so. Warum das so ist, darauf weiß ich keine Antwort. Sonderbar war auch, dass Fritz sich gar nicht zu schämen schien, sondern dass er offensichtlich sogar noch stolz war, ein solches Kleid tragen zu können.

Beinahe noch sonderbarer als dieses Ereignis ist aber vielleicht die Tatsache, dass Fritz nach diesem Tag nicht wieder gesehen wurde. In der Schule nicht, und auch nicht in der Wirtschaft seiner Eltern. Er schien einfach vom Erdboden verschluckt. Zuerst fiel es uns gar nicht auf, weil wir ja daran gewöhnt waren, dass er häufig fehlte. Aber als ich einmal mit meiner Mutter durch die Stadt ging und an jener Gaststätte vorbei kam, die Fritz´ Eltern gehört hatte, stellte ich fest, dass die Rollläden herunter gelassen und die Leuchtreklame abmontiert worden waren. Fritz und seine Familie waren einfach aus unserer Stadt verschwunden. Und aus unserem Leben.

Neulich sah ich eine Reportage über Kinder mit Schulproblemen im Fernsehen. Es kam darin ein Universitätsprofessor zu Wort, der gerade einen Preis für seine Forschungen auf diesem Gebiet erhalten hatte. Er erzählte, dass er selbst in seiner Schulzeit ein Außenseiter gewesen sei und keine Anerkennung bekommen habe. Bis zu jenem Tag, als er sich in dem Sonntagskleid seiner Schwester in die Schule aufgemacht habe. Er habe sich das nur getraut, weil er wusste, dass der Umzug seiner Familie in eine andere Stadt kurz bevor stand.

Als der Name des Professors eingeblendet wurde, sah ich schon nicht mehr hin.

Ich war auf einmal sehr nachdenklich geworden. Und ich erinnerte mich deutlich an einen bestimmten Tag im Mai.

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Tag der Veröffentlichung: 15.07.2011

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