Cover


Miriam Miesbach gähnte herzhaft. Sie schaute auf den Frühstückstisch und überlegte, ob sie noch etwas essen sollte oder nicht. Ihr Mann und ihre Tochter waren schon aus dem Haus gegangen. Herbert in die Firma, Norma in die Schule. Dieses Jahr würde sie ihr Abitur machen. Und dann Studieren. Wo, wusste sie noch nicht genau, nur das Fach stand fest: Psychologie. Herbert und Miriam hätten sich ja etwas anderes gewünscht, Lehramt zum Beispiel, aber Norma blieb fest. Miriam griff sich noch ein Brötchen. Heute würde sie Energie brauchen. Es musste einiges im Garten gemacht werden, das sie heute endlich erledigen wollte. Danach würde sie sich mit ihrem Hund Flocki einen langen Spaziergang gönnen.Das Wetter war herrlich. Durch das offene Fenster fühle sie fast, wie der Frühsommer ins Haus strömte. Die typischen Geräusche waren auch zu hören. Vogelgezwitscher und ein Rasenmäher. Einer der Nachbarn werkelte wohl in seiner Garage herum. Ein Tag wie viele andere, vertraut, doch immer wieder schön. Im Radio liefen gerade die Regionalnachrichten. Keine neuen Schreckensmeldungen von dem Mann, der innerhalb der letzten Monate insgesamt 5 junge Frauen vergewaltigt hatte. Eine war erst 14 gewesen. Der „Maskenmann“, so wurde er genannt. Er passte die Frauen normalerweise bei Dunkelheit auf Wegen rund ums Dorf ab, trug dabei schwarze Kleidung und eine Sturmmaske. Die Wege am Waldrand waren beliebt bei den jungen Leuten. Man konnte dort sehr gut Joggen und Radfahren. Oder als Pärchen spazieren gehen. Na, ihr würde wohl nichts passieren. Sie passte mit ihren knapp 50 Jahren kaum ins Beuteschema. Manchmal brachte ein gewisses Alter doch glatt auch Vorteile. Außerdem würde Flocki ihn abschrecken. Er war zwar ein gutmütiger Mischling, kam aber von der Größe her schon fast an einen Schäferhund heran. Und er konnte böse werden, wenn jemand ein Familienmitglied bedrohte. Hoffte Miriam jedenfalls. Sie war in dem Dorf aufgewachsen und würde sich von keinem davon abhalten lassen, sich hier in der Gegend aufzuhalten, wo und wann immer sie wollte. Angst hatte sie nur um Norma. Nun war sie froh, dass diese schon seit Jahren Kampfsport machte. Anfangs hatte sie das ja als für ein Mädchen nicht so passend empfunden. Sich prügeln! Norma hatte damals argumentiert, dass es darum ging, sich zu verteidigen. Und noch irgendetwas von innerem Gleichgewicht erzählt. Von zu sich selbst finden und meditativem Erlebnis. Schließlich hatte Miriam sich erweichen lassen, mehr, weil auch Normas beste Freundin sich angemeldet hatte. Und sie Norma nicht ausschließen wollte. Wer hätte gedacht, dass sie Jahre später erleichtert über diese Erlaubnis sein würde?! Trotzdem hatte sie ihr seit den Vergewaltigungen nicht erlaubt, abends oder nachts allein rauszugehen. Sie hatte sich immer versichert, dass sie in einer Gruppe unterwegs war. Außerdem fühlte sich Mirriam wegen der ganze Atmosphäre im Dorf ein bisschen unwohl. Man konnte das Mißtrauen förmlich riechen. Jeder schien jeden zu belauern. Doch es gab einen Hoffnungsschimmer. Das letzte Opfer hatte sich gewehrt, hatte dem Mann sogar die Maske ein Stück weit vom Kopf gezogen. Und hatte fliehen können, bevor es zur Vergewaltigung gekommen war.
Sobald er gefasst war, würde ihre Welt wieder in Ordnung kommen. Ihr Leben hatte sich eindeutig zum Besseren gewandelt, seit Herbert in der Firma ihres Bruders untergekommen war. Vorher hatte er als Schichtarbeiter in einer Fabrik in der ungefähr 100 km entfernten Kreisstadt gearbeitet. Er hatte dort unter der Woche ein Zimmer gehabt und war nur am Wochenende zu ihr und Norma rausgekommen. War schon Wahnsinn gewesen, so eine Wochenend-Ehe. Aber Miriam liebte das Haus, das ihr ihre Eltern zur Hochzeit geschenkt hatten, und hatte um nichts in der Welt in der Stadt leben wollen. Für Herbert war das ebenfalls kein Problem gewesen. „Unter der Woche bin ich sowieso nur am Malochen.“ hatte er immer gesagt. Doch seit knapp einem Jahr wohnten sie nun immer zusammen. Und sie hatten sich schnell daran gewöhnt. Miriam konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass es mal anders gewesen war.
Ein Klingeln an der Tür riss sie aus ihren Tagträumereien. Wer konnte das wohl sein, so früh am morgen? Sie ging zur Tür und öffnete. Draußen standen zwei Männer, die sie noch nie gesehen hatte. Was wollten die jetzt um die Zeit?! „Kriminalpolizei, Mischke mein Name.“ Ein Ausweis wurde ihr unter die Nase gehalten. „Guten Morgen, mein Name ist Lennert, ebenfalls Kriminalpolizei. Dürfen wir reinkommen?“ Miriram starrte die beiden an. Sie schienen im gleichen Alter zu sein, beide so um die 40. Miriam kam das Ganze unwirklich vor. Was machte die Polizei bei ihr? Dann plötzlich durchfuhr sie eine nie gekannte Panik. „Norma“ keuchte sie, wobei sie sich bemühte, nicht umzukippen. Hatte das Schwein sie auch erwischt? Sie stützte sich am Türrahmen ab. „Nein, Frau Miesbach, keine Sorge, wir sind nicht wegen ihrer Tochter hier.“ Lennert führte sie nach drin und dirigierte sie zielsicher zu einem der Sessel im Wohnzimmer. Miriam zitterte noch leicht, als sie die beiden nach einigen Minuten fragte, was denn eigentlich los war.
„Es geht um Ihren Mann.“ Mischke schaute sie an. „Können wir ihn sprechen?“ „Er ist auf der Arbeit. Was wollen Sie denn von ihm?“ „Wir wollen ihn wegen den Vergewaltigungen hier im Dorf befragen.“ „Hat er was gesehen? Ist er ein Zeuge? Das hätte er mir doch erzählt!“ „Sie verstehen nicht ganz, Frau Miesbach,“ Mischkes Stimme hatte sich irgendwie verändert, „Ihr Mann ist verdächtig.“ Miriam blieb der Protest, den sie reflexartig äußern wollte, im Hals stecken, als sie Mischkes Gesicht sah. „Das letzte Opfer hat ihn erkannt.“ Mischke ließ sie nicht aus den Augen, als er Lennert die Anweisung gab, einen Streifenwagen zur Arbeitsstelle von Herbert Miesbach zu schicken. Miriam fiel in den Sessel zurück, aus dem sie sich halb erhoben hatte. Sie nahm noch einen Schluck von dem Wasser, das Lennert ihr vor ein paar Minuten gebracht hatte. Dann stand sie auf. „Sie können meinen Mann doch nicht einfach so verhaften, nur weil irgendjemand ihn beschuldigt! Wer weiß, vielleicht irrt sich das Mädchen ja. Oder sie hat was gegen ihn oder unsere Familie!“ „Vorerst befragen wir ihn nur.“ Lennert sah sie mitleidig an. Sie wusste ja nicht, was die Polizei schon recherchiert hatte. Was Miesbach früher unter der Woche, weg von zu Hause, so alles getrieben hatte. Davon hatte die arme Frau natürlich nichts mitbekommen. „Wo bringen Sie meinen Mann jetzt hin?“ „Wir werden ihn bei uns im Kommissariat befragen.“ „Dann möchte ich mitgehen!“ „Sie können gern selbst hinfahren und dort warten, aber wir werden Sie nicht mitnehmen. Und bei der Befragung können Sie sowieso nicht dabei sein. Bleiben Sie lieber hier.“ Miriam setzte sich wieder. Sie fühlte sich kraftlos. Herbert? Das konnte doch nicht sein! Es würde sich bestimmt alles als Missverständnis herausstellen. Und er konnte ja nichts dafür, dass junge Dinger ihn reihenweise anhimmelten.
Noch schaffte sie es nicht, vor sich selbst zuzugeben, dass es eigentlich andersherum war. Noch nicht mal in Betracht ziehen konnte sie diese Möglichkeit. Das würde später kommen, nachdem sie endgültige Gewissheit hatte, dass ihr Mann tatsächlich der Vergewaltiger war.
Lennert und Mischke waren unterdessen auf dem Weg zur Befragung Miesbachs. „Irgendwie schade um die Frau“, sagte Lennert, „ich mein, die scheint ihren Mann ja wirklich gern zu haben.“ „Oder ihr schönes Leben. Wer weiß, viele machen da die Augen zu. Wobei man natürlich auch diejenigen hat, die Gespenster sehen. Erinnerst du dich, wie viele Frauen bei uns angerufen haben, weil sie ihren Mann für den Vergewaltiger hielten? Dabei haben die armen Kerle nie jemandem was getan.“ „Immerhin haben wir jetzt den richtigen am Haken. Ich bin mir da jedenfalls sicher.“ „Ich auch. Die Leute im Dorf werden sich wieder angstfrei bewegen können.“ „Und Frau Miesbach muss wahrscheinlich umziehen.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /