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Steffi trat in die Pedale. Es war reichlich kalt, hatte aber noch nicht geschneit. Sonst würden die Radwege, wie in Berlin üblich, entweder mit Schneematsch oder völlig verdrecktem Schnee bedeckt sein. Wie immer wimmelte es in diesem Teil von Mitte von Touristen, man hörte verschiedene Sprachen, am meisten vertreten waren jedoch spanisch und italienisch- zumindest kam es ihr so vor. Sie fuhr am Dom vorbei Richtung Brandenburger Tor und war froh, eine funktionierende Klingel an ihrem Fahrrad zu haben, denn ständig liefen die Leute auf den Radweg oder standen darauf herum und schauten durch die Gegend. Sie verstand nicht, warum die ganzen Reiseführer mit ihren tausenden Geheimtipps nicht mal darauf hinweisen konnten, dass es in Berlin Radwege gab. Noch war es nicht ganz dunkel, aber die Weihnachtsbeleuchtung war schon an. Gestern war sie noch mit ihren Freunden beim Glühweintrinken auf dem Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz gewesen. Nach einigen Gläsern hatten sich einige von ihnen sogar eine Fahrt auf der Rodelbahn gegönnt- und den anderen den Anblick. Sie hatten vom Alkohol beseelt sehr viel gelacht. Da konnte ja noch keiner wissen, was kurz darauf passieren würde. Die Clique kannte sich schon ewig. Nur dieses Jahr war als Neuzugang ihr Exfreund Yannick dazugestoßen. Sie hatte es fast nicht glauben können, als er auf einmal vor ihr gestanden hatte nach der langen Zeit. Es war Ostern, er war gerade nach Berlin gezogen, um sich als Künstler selbstständig zu machen, genauer hatte er sich nicht ausgedrückt. Das lief aber noch nicht so gut, und so jobbte er bis jetzt in verschiedenen Kneipen. Sie hatten sich komischerweise ganz gut unterhalten, deshalb hatte sie ihn kurzentschlossen mit zum Ostereiersuchen ihrer Clique geschleppt. Er hatte sich sofort bestens mit allen verstanden und im Sommer hatten sie und ihre Freundin Lise sich dann auch häufiger ohne die anderen mit ihm getroffen. Nun war schon wieder Adventszeit, in der sie und die Clique regelmäßig Glühwein trinken gingen und als krönenden Abschluss kurz vor Weihnachten einen Wichtelabend veranstalteten. Doch dieses Jahr war plötzlich auch einer von ihnen etwas passiert, von dem man immer denkt, dass es nur andere betrifft. Sie war vor Lises Wohnung in Schöneberg angekommen und klingelte. Sie war nicht erstaunt, dass Yannick ihr öffnete. Lise und er verstanden sich sehr gut und Steffi hatte sich schon öfters gefragt, ob aus ihnen vielleicht ein Paar werden könnte. Wünschen würde sie es ihnen, sowohl Lise als auch Yannick waren schon lange solo. Yannick sah sehr übel aus, sie war fast erschrocken, als sie sein Gesicht sah. „Hallo Yannick, geht’s Lise sehr schlecht?“ „Nein, nein, schon wieder viel besser. Jetzt, wo der erste Schock vorbei ist, erholt sie sich ziemlich schnell.“ Lise saß in ihrem Zimmer -sie wohnte in einer WG mit einer Arbeitskollegin zusammen- auf dem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, in den Händen eine Tasse Tee. „Hallo Steffi, nett, dass du vorbeischaust, mir geht´s schon viel besser. Yannick kümmert sich auch sehr nett um mich.“ Sie grinste leicht. „Erzähl doch, wie das passiert ist, ist ja unglaublich, so spät war es doch nicht, als wir gestern aufgebrochen sind.“ „Tja, das dachte ich auch, oder besser gesagt, ich hab überhaupt nicht an so was gedacht. Aber ich erzähl mal von Anfang an. Wir verabschieden uns also alle und ich geh zu meinem Fahrrad, das ich in dieser Seitenstraße abgestellt hatte -sorry, aber mit Straßennamen hab ichs nicht so- du weißt schon, da gegenüber von den Potsdamer Platz Arkaden. Na ja, ist auch egal. Jedenfalls will ich gerade aufschließen, da hör ich, wie jemand ziemlich schnell auf mich zukommt, hab mir aber nichts dabei gedacht. Dann ging alles total schnell. Der Typ reißt mich von meinem Fahrrad weg, knallt mich gegen eine Hauswand und drückt mich dagegen. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Dann ist er auf einmal abgehauen und kurz danach kam auch schon Yannick an.“ „Hast du was von dem Kerl sehen können?“ „Nein, er war die ganze Zeit hinter mir, ich habe nur wahrgenommen, dass er einen gelben Regenmantel oder so an hatte. Zum Glück ist mir außer ein paar blauen Flecken und dem Schock nichts passiert. Vielleicht hat er auch Yannick gesehen und ist deshalb abgehauen.“ „Zum Glück hatte ich gestern ein Buch für dich mitgebracht, das ich dir leihen wollte und hab vergessen, es dir auf dem Weihnachtsmarkt zu geben und bin dir hinterher. Du hattest mir ja gesagt, wo dein Fahrrad abgestellt war.“ Yannick versuchte zu lächeln. Es gelang ihm aber nicht richtig. Steffi kam es so vor, als ob die ganze Sache ihn mehr mitnahm als Lise. Zur Polizei war sie nicht gegangen, wollte sie auch nicht, denn erstens war nichts weiter passiert und zweitens hatte sie sowieso nichts von dem Angreifer erkannt. Und Lust auf die Formalitäten einer Anzeige hatte sie nicht. Das hatte Yannick Steffi gestern am Telefon erklärt, nachdem er sie angerufen und ihr von dem Überfall auf Lise erzählt hatte. Aber es war ja alles noch mal glimpflich ausgegangen. Sie und Yannick verabschiedeten sich kurze Zeit später, es war Sonntag Abend und eine neue Arbeitswoche stand kurz bevor, zumindest für Lise, Steffi war vor zwei Monaten arbeitslos geworden und Yannick jobbte in seinen Kneipen nicht zu normalen Geschäftszeiten, sondern eher abends und am Wochenende. Er machte sich direkt von Lise auf zu einer seiner Schichten. Die nächste Glühweinrunde würde am Samstag stattfinden, diesmal am Weihnachtsmarkt in der Kulturbrauerei am Prenzlauer Berg. Eigentlich hatten sie am Sonntag gehen wollen, doch Lise hatte da keine Zeit, da sie mit einigen Arbeitskollegen eine Adventsschifffahrt auf der Spree mitmachen wollte, um sich das weihnachtliche Berlin vom Wasser aus anzuschauen. Steffi wunderte sich, dass Lise dieses Jahr richtig zur Weihnachtsfanatikerin mutiert war, sonst hatte sie sich immer über den ganzen „Schmus“und das „Friede-Freude-Eierkuchen-Getue“ aufgeregt. Das Fest war halt eben für Singles etwas anderes als für Familien oder Pärchen, die sich in der Zeit noch trauter benahmen als sonst. Obwohl nach Weihnachten und Silvester die Scheidungsrate ziemlich in die Höhe schnellen sollte.

Hanni war gerade über den Weihnachtsmarkt am Kollwitzplatz geschlendert, der an jedem der 4 Adventssonntage stattfand. Hier gab es, wie auch auf dem normalen Samstagsmarkt, Bio- und allerhand ökologisch unbedenkliche Produkte. Und unzählige Lena-Maries, Mias, Leons und wie sie alle hießen, die mit einem oder beiden Elternteilen oder ihrer Patchworkfamilie unterwegs waren. Sie wurde sich bewusst, wie schnell die Zeit verging, als sie daran dachte, dass die Kevins und Marcels von damals mittlerweile scharf auf die Volljährigkeit zugingen oder sogar schon mit eigenem Auto durch die Gegend fuhren. Sie wollte zu Achim und Markus, die zusammen in einer Wohnung an der Schönhauser Allee wohnten und die sie heute alle zum Abendessen eingeladen hatten. Hanni war wie immer viel zu früh dran, deshalb der Spaziergang über den Kollwitzplatz. Der Anblick des geballt zur Schau gestellten Familienglücks hatte sie kurzzeitig melancholisch werden lassen, allerdings hatte sie in der Clique eine gute Gesellschaft. Alle waren Anfang bis Mitte 30, also ihr Alter, und gerade Single, nur zwischen Yannick und Lise schien es gefunkt zu haben. Nun ja, vielleicht würde die Vorweihnachtszeit ihr Übriges tun, die beiden endlich zusammenzubringen. Sie hoffte, dass Lise sich schnell von dem Schock des Überfalls erholte, und nach allem, was sie sowohl von Lise als auch von Steffi telefonisch gehört hatte, schien das sehr wahrscheinlich. Sie klingelte bei Achim und Markus. Lise würde nicht kommen, sie wollte sich einen ruhigen Abend machen nach dem Schock vom Vortag, um beim Wochenstart wieder voll bei Kräften zu sein. Yannick musste arbeiten und würde ebenfalls fehlen. Er hatte sich schnell und gut in ihre Gruppe integriert und es schien auch für Steffi nicht zum Problem zu werden, dass er sich für Lise interessierte - immerhin war die ja mal mit ihm zusammen gewesen.
Am Anfang des Abends drehte sich natürlich das Gespräch um den Überfall auf Lise, aber nach und nach sprach man wieder über andere Themen, immerhin war ja nichts Schlimmes passiert. Als sie sich verabschiedeten, kreisten die Gedanken der einzelnen Freunde eher um die kommende Woche und die jeweiligen Probleme, die diese mit sich bringen würde.

Achim und Markus machten sich auf zur alten Schultheiß- Brauerei, die sich zur Kulturbrauerei gewandelt hatte. Es gab auf dem Gelände in den verschiedenen alten Gebäuden das ganze Jahr über kreative und künstlerische Aktivitäten und Veranstaltungen, u.a. auch ein Kino und mehrere Kneipen. An Silvester waren sie einmal zusammen auf der Party dort gewesen, die auf mehreren Dancefloors mit unterschiedlichen Djs und Musikrichtungen stattgefunden hatte. Und in der Adventszeit gab es eben den Weihnachtsmarkt, klein aber gemütlich. Und so schön und praktisch in der Nähe ihrer Wohnung. Markus fand, dass die kleinen Märkte eine besinnlichere Stimmung verbreiteten als z.B. der große Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz, der schon mehr ein Rummel war mit Riesenrad , Losbuden und Ähnlichem. Der war wohl mehr was für Zeiten, in denen man Party und Trubel suchte. Aber Markus hatte gerade einen seiner sentimental- friedlichen Gemütszustände. Sie sahen die anderen schon am ersten Glühweinstand stehen, jeder mit einem dampfenden Becher in der Hand. Achim holte für sie beide auch jeweils einen. Als sie nun alle versorgt waren, sagte Lise, nachdem sie zum wiederholten Mal versichert hatte, dass es ihr wieder gut ging, dass sie ihnen eine Neuigkeit erzählen müsste.

Hanni lief die Kopenhagener Straße entlang. Sie hatte die Nachricht, dass Lise schon seit zwei Monaten einen Freund hatte, noch nicht ganz verdaut. Seit zwei Monaten! Und sie hatte nichts gesagt. Er wohnte in Hamburg und sie sahen sich nur selten. Er hatte vor kurzem ein Restaurant eröffnet und konnte sich momentan nur ab und an einen Tag unter der Woche freinehmen, an dem er dann Lise in Berlin besuchte. Kennengelernt hatten sie sich übers Internet. Tja, also doch nicht Lise und Yannick. Irgendwie bereute sie ihre dumme Bemerkung, die sie diesbezüglich gemacht hatte, aber sie war ihr einfach so herausgerutscht. Yannick schien es ihr jedoch nicht übel zu nehmen, er hatte sogar ein bisschen mit ihr geflirtet. Nachdem sich Lise bezüglich Internetfreund geoutet hatte, war auch sie damit herausgerückt, dass sie sich jetzt auf dem Weg zu einem Typ befand, den sie über eine Partnervermittlungsseite kennengelernt hatte. Zum Glück wohnte er am Prenzlauer Berg nicht weit von der Kulturbrauerei. Es hatte letzte Nacht geschneit, der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Natürlich war der Gehweg nicht geräumt, aber das machte ihr nichts aus. Sie dachte an den Mann am Glühweinstand neben ihnen, der sie ständig so komisch angeschaut hatte. Irgendwie war er ihr bekannt vorgekommen, sie kam jedoch nicht darauf, woher. Ein bisschen unheimlich hatte er geschaut. Dann versuchte sie, diesen Gedanken abzuschütteln. Sie sah schon Gespenster und das wahrscheinlich nur, weil sie jetzt allein im Dunkeln auf der Straße war. Doch halt, da war noch jemand, Schritte hinter ihr. Sie spürte ein Kribbeln im Nacken und fühlte sich plötzlich sehr unwohl, zwang sich jedoch, sich nicht umzudrehen. Wäre ja noch schöner, wenn sie jetzt grundlos in Panik verfiele. Sie hörte, dass die Schritte nähergekommen waren. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht anzufangen, zu rennen, warum, wusste sie selbst nicht. Doch, da war doch die Sache mit Lise gewesen. Also sich lieber lächerlich machen, als dass etwas passierte. Sie wollte sich gerade umdrehen, da sah sie aus den Augenwinkeln etwas Gelbes und spürte fast zeitgleich einen Schlag auf den Kopf. 'Zu spät' war das letzte, das sie noch denken konnte, bevor sie ohnmächtig wurde.

Am 3. Adventssonntag war der letzte Tag des Markts der Kontinente im ethnologischen Museum Dahlem. An diesem Wochenende war Amerika das Thema. Markus und Achim hatten schon eine Führung durch eine Ausstellung mitgemacht und hörten gerade einer südamerikanischen Folkloregruppe zu, die auf der Bühne spielte. Sie gingen jedes Jahr zusammen mindestens ein mal auf diesen Markt. Für den Museumseintritt konnte man nicht nur alle Ausstellungen sehen, sondern bekam auch zusätzliches Programm geboten. Ein Markt im Warmen war auch zur Abwechslung mal nicht schlecht. Und an den vielen Verkaufsständen mit allerhand ethnischen Produkten konnte man gut Weihnachtsgeschenke einkaufen. Achim und Markus waren schon gemeinsam zur Schule gegangen, hatten dann zusammen Elektrotechnik studiert und wohnten immer noch in derselben WG, in die sie damals gezogen waren, nur arbeiteten sie mittlerweile in verschiedenen Firmen. Frauen waren in ihre jeweiligen Leben getreten und wieder gegangen, aber sie beide waren immer zusammen geblieben. Markus beobachtete gerade, wie ein Kleinkind unter den Augen seiner stolzen Mutter an Teppichen riss, die an einem Stand aufgehängt waren, so dass es diesen fast zerlegte. Die Mama lächelte nur dazu, und der Verkäufer war mit Kunden beschäftigt, konnte also den aufgeweckten Nachwuchs der Besucherin nicht bremsen. Markus wollte schon mit Achim wetten, ob er es überhaupt wagen würde, das kreative Spiel des Kindes zu dessen seelischem Unwohl zu beenden, da klingelte sein Handy. Als er aufgelegt hatte, zog er, kreidebleich im Gesicht, Achim mit sich Richtung Garderobe. „Hanni ist im Krankenhaus, sie ist auch überfallen worden.“ brachte er unter Keuchen hervor. Achim bliebt stehen und drehte sich zu ihm hin. „Was?! Wie schlimm?“ Markus konzentrierte sich darauf, Puls und Atmung unter Kontrolle zu bringen. „Ich weiß nichts Genaues, das war gerade die Polizei, sie wollen mit uns sprechen. Es muss bald nach dem Glühweintrinken passiert sein. Sie haben meine Nummer von Hanni, also konnte sie immerhin mit der Polizei reden. Der Polizist am Telefon meinte, wir sollen erst unsere Aussagen machen, dann können wir sie im Krankenhaus besuchen.“ „Läuft da ein Irrer durch die Gegend, der die Mädels aus unserer Gruppe auf dem Kieker hat oder was?!“ Achim fing an zu zittern, vor Wut oder Schock, er wusste es nicht, wahrscheinlich beides. Markus reichte ihm seine Jacke, die er gerade zusammen mit seiner von der Garderobenfrau entgegengenommen hatte. „Gehen wir erst mal zur Polizei und dann zu Hanni, danach wissen wir mehr, vielleicht wars ja auch nicht der selbe. Aber gut, ein komischer Zufall wäre es schon.“ Sie verließen das Museum und gingen zur U-bahn, um die Adresse aufzusuchen, die Markus am Telefon durchgegeben worden war.

Steffi lief neben Yannick her. Sie war ziemlich kaputt. Erst die Befragung bei der Polizei, dann waren sie noch alle bei Hanni im Krankenhaus gewesen. Das Ganze hatte sie psychisch und physisch sehr mitgenommen. Hanni war auf dem Weg zu ihrem Internet-Date überfallen worden. Wieder ein Typ in gelbem Regenmantel, deshalb ging die Polizei auch davon aus, dass es der gleiche Täter gewesen war, wie bei Lise, die natürlich jetzt die Sache vom letzten Wochenende auch gemeldet hatte. Er hatte sie von hinten niedergeschlagen, so dass sie bewusstlos geworden war. Dann musste er sie irgendwie in den Mauerpark geschleppt haben, denn Hanni war dort, an einen Baum gefesselt, wieder zu sich gekommen. Leider hatte sie nicht schreien können, da sie ziemlich professionell geknebelt worden war. Sie hätte erfrieren können! Zum Glück war sie aber von einer Gruppe Studenten gefunden worden, denen es in den Sinn gekommen war, an dem Abend eine Glühweinparty- mit mitgebrachtem Glühwein aus Thermoskannen- im Mauerpark zu veranstalten. So war Hanni stark unterkühlt und mit Schock und leichter Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Typ schien immerhin kein Vergewaltiger zu sein. Aber hatte er sie umbringen wollen? Mindestens quälen auf jeden Fall. Ein krankes, durchgeknalltes Hirn! Hanni hatte erzählt, dass ihr am Weihnachtsmarkt ein Mann aufgefallen war, der mehrmals zu ihr herübergeschaut hatte und der ihr auch bekannt vorgekommen war. Sie wusste aber immer noch nicht, woher genau. Steffi hatte ihn auch kurz gesehen und auch sie hatte sich gedacht, dass sie ihn schon mal irgendwo getroffen hatte, sich aber dann nicht weiter darum gekümmert. Ob es der gewesen war? Vielleicht hatte er es von Anfang an auf Hanni abgesehen gehabt und Lise war nur eine Verwechslung gewesen. Sie und Hanni waren ungefähr gleich groß und hatten auch beide dunkle Mäntel- im Gegensatz zu Steffi, die immer in ihrem knallpinken Anorak herumlief. Das war, vor allem für sie, die entscheidende Frage: ging es dem Täter um Hanni oder generell um die Frauen aus ihrer Gruppe? Im zweiten Fall wäre sie jetzt arg gefährdet. Vorsichtshalber war Yannick mit ihr gekommen, Markus und Achim begleiteten Lise. Plötzlich erinnerte sie sich. „Du, Yannick, ich weiß wer der Typ war, der gestern am Nebenstand war!“ Yannick schreckte aus seinen Gedanken hoch. Sie waren ziemlich lang schweigend nebeneinander hergelaufen. „Ja, und wer ists? Kenn ich ihn?“ „Nein, du kennst ihn nicht, das war vor deiner Zeit. Hanni hat während unseres Studiums mal eine Riesenfete veranstaltet, da war er auch eingeladen. Er war damals ihr Kollege, als sie im Call Center gejobbt hat. Geredet hab ich aber nicht weiter mit ihm.“ „Es ist jetzt kurz nach acht, glaubst du, du kannst Hanni noch im Krankenhaus erreichen?“ „Ich versuchs, ansonsten werd ich bei der Polizei anrufen.“ Steffi mobilisierte ihre gesamten Überredungskünste und da Hanni noch nicht schlief, wurde sie schließlich mit ihr verbunden. Ja, genau, das war ihr Ex-Kollege Herbert von damals! Er war recht still gewesen, sonst wusste sie wenig von ihm, würde aber gleich die Polizei kontaktieren. Die sollten sich dann näher mit ihm beschäftigen. Steffi war versucht, aufzuatmen. Wenn dieser Herbert der Täter war, hätten sie ein gewaltiges Problem weniger. Doch warum sollte er nach so langer Zeit Hanni überfallen? Weil er sie zufällig wieder gesehen hatte? Er musste dann auch am Potsdamer Platz gewesen sein, ohne dass sie ihn bemerkt hatten. Komische Sache. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Hanni ihm etwas angetan hatte, das ihn so austicken ließ. Ihr Kopf war dummerweise gerade nicht in einer seiner denkfähigsten Phasen. Vielleicht sollte sie erst mal schlafen und morgen weiterdenken? Aber es konnte auch nicht schaden, die Gedanken und Eindrücke, die ihr so kamen, gleich weiterzudenken. Sie stiegen aus der U-bahn aus. Bei dem kalten Wetter war ihr Fahrrad zu Hause geblieben. Immerhin hatte sie etwas bei der Fahrkarte eingespart, da ihr auf dem Bahnsteig ein zwar schon benutztes, aber immer noch gut eine Stunde gültiges Ticket für nur einen Euro angeboten worden war. Sie waren an der Station Eberswalder Straße im Prenzlauer Berg. Auch Steffi wohnte, wie Markus und Achim, in diesem Bezirk, der sich von einem eher alternativem Künstlerviertel immer mehr zu einem gut- situierte- junge-Familien-Sammelbecken verwandelte. Die Eltern-Kind-Cafés vermehrten sich ebenso wie die Menschen und die teuren Kinderwagen und Markenbabyklamotten in dieser Hochburg des großen Mutterkultes. Steffi fand es schade, dass alles so „verspießte“, wie sie es nannte, aber da konnte sie wohl kaum etwas dagegen tun. Diejenigen, die früher die wildesten Partys gefeiert hatten, neigten jetzt dazu, bei einem lauten Husten auf der Straße gleich „Ruhestörung“ zu brüllen und mit der Polizei zu drohen. Ganz zu schweigen von den ständig steigenden Mieten. Aber momentan hatte Steffi über Anderes nachzudenken als die „Schwaben“- nicht unbedingt geographische Schwaben, sondern Leute mit Geld, die die Veränderung des Stadtteils, in den sie wegen seines „Charmes“ gezogen waren, so vorantrieben, dass es sich irgendwann nur noch reiche Yuppies würden leisten können, hier zu wohnen.
Gut, zurück zu ihrem dringlicheren Problem. Am bequemsten wäre es schon, wenn Hannis Exkollege zweifelsfrei überführt werden könnte. Aber vielleicht war der arme Kerl nur zur sprichwörtlich falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Was, wenn es einer von ihnen war? Fast hätte sie ihren Wohnungsschlüssel fallenlassen. „Etwas viel in letzter Zeit, was?“ Yannick, den sie noch auf einen Tee zu sich eingeladen hatte, sah auch ziemlich fertig aus. Sie ging in die Küche und warf den Wasserkocher an. Einer von ihnen? Unmöglich! Sie kannten sich doch schon so lange, und welchen Grund sollte jemand aus der Gruppe haben, eine nach der anderen zu überfallen? Gut, Yannick war noch nicht so lange dabei, aber er war nie merkwürdig aufgefallen und immer nett gewesen. Außerdem hatte er Lise sehr gern, war wohl sogar in sie verknallt, gerade ihr würde er doch nie etwas tun, oder? Und von ihrem Freund hatten sie alle erst nach dem Überfall erfahren. Steffi zwang sich, rein logisch zu denken und erst einmal außer Acht zu lassen, dass sie alle so gut kannte. Was war mit den Frauen? Hanni hatte sich das Ganze kaum selbst angetan. Und Lise? Hatte sie den Überfall auf sich erfunden, um dann Hanni anzugreifen? Aber warum? Lise befand sich in einem Gefühlshoch, mit neuer Liebe. Deshalb die ganze Freude an Weihnachten und dem ganzen Zauber. Armer Yannick. Gerade zu dieser Zeit eine solche Enttäuschung zu erleben. Sie zuckte zusammen, weil sie merkte, dass das, was als gefühlsduseliges Mitleid begonnen hatte, ein wichtiger Schritt Richtung Lösung sein konnte. Yannick hatte eine starke Gefühlskrise erlebt. Konnte er es doch gewesen sein? Zuerst Lise. Hatte er vor den anderen von dem neuen Freund gewusst? Seine Laune war aber gut gewesen. Das erste Anzeichen, dass es ihm nicht so gut ging, hatte sie am Tag nach dem Überfall auf Lise in deren Wohnung bemerkt. Wahrscheinlich hatte sie es ihm da gesagt. Auch keine nette Erfahrung. Man kümmert sich rührend um jemanden, nur um sich dann anzuhören, dass es schon einen anderen Partner gibt. Verrückt! Unglaublich! Hatte er sie angegriffen, um sich um sie kümmern zu können?! Und so mit ihr zusammenzukommen? Sozusagen die „Starke-Mann- Nummer abziehen, den rettenden Ritter spielen und die Situation dafür vorher selbst schaffen? Gut, bis dahin in sich schlüssig. Weiter! Hanni. Bei ihr war nichts mehr harmlos oder fingiert gewesen. Sie musste sich erinnern, wie sich Hanni am Weihnachtsmarkt verhalten hatte und was davon Yannick zu seiner Tat getrieben haben könnte. Hanni hatte erst scherzhaft mit ihm geflirtet, um dann allen mitzuteilen, dass sie zu einem Date ging. Das passte auch! Yannick schleppte immer einen Rucksack mit sich herum und darin konnte der Regenmantel gewesen sein. Aber warum hatte er ihn auch gestern dabeigehabt? „Das Wasser kocht, soll ich den Tee aufgießen.“ Sie schreckte aus ihren Gedanken, antwortete aber nur kurz mit „Ja“. Plötzlich durchzuckte es sie: sie war ursprünglich als zweites Opfer vorgesehen gewesen! Er hatte sie zwar damals verlassen, aber sie hatte sehr kurz darauf einen neuen Freund gehabt, was sein Ego irgendwie nicht hatte verdauen können. Das war wahrscheinlich jetzt wieder hochgekommen. Und zusätzlich wurde er, wie alle anderen auch, ständig zugeballert mit weihnachtlicher Romantik. Sie war so in ihren Gedanken und von ihren logischen Schritten gefesselt gewesen, dass sie nicht daran gedacht hatte, Angst zu haben. Die hatte sie jetzt. Von ihren beiden Mitbewohnern war keiner da, die Lichter in ihren Zimmern waren aus. Doch dann war es, als legte sich ein Schalter in ihr um, sie spürte nur noch Wut. „Du warsts, du bist doch nur noch krank“, schrie sie ihn an. Die Worte schwebten im Raum. Er spannte sich erst an, ballte die Fäuste, dann sank er plötzlich kraftlos auf einen Stuhl. Er konnte anscheinend nicht damit umgehen, dass sie keine Angst hatte. Er wurde angegriffen, also brach er zusammen. „Stimmt, du solltest die Polizei anrufen.“ sagte er noch, ab da schwieg er, bis sie kamen, um ihn festzunehmen.


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Tag der Veröffentlichung: 01.12.2011

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