Marcello Jäger drückte sich frustriert am Eingang der neuen Eisdiele herum. Hier war er oft mit Vivian gewesen. Allein der Gedanke an ihren Namen löste einen Schmerz in seinem Inneren aus, der sich noch verstärkte, als er die 2 Tische sah, die vor der Eisdiele standen und wo sie oft gesessen hatten. Meist als einzige Gäste, was das Ganze extrem romantisch gemacht hatte. Zumindest in seinen Augen. Sie beide allein in ihrer eigenen Welt. Na ja, fast. Die Angestellten der Eisdiele waren auch da gewesen, aber in einer anderen Sphäre, sie hatten nämlich arbeiten müssen. Über 90% der Eisverkäufe waren Lieferungen, die in speziellen Kühlboxen zu den Leuten nach Hause gebracht wurden. In der Eisdiele selbst, sowie in den meisten Restaurants sah man vor allem Touristen. Wenn überhaupt. Es gab spezielle Audiovisionsguides für fast alles. Die Städte als Ganzes, historische Gebäude, Museen. Trotzdem sah man Leute in der Stadt, aber fast nur an bestimmten Orten. Es war gerade in, erzählen zu können, dass man durch die halbe Stadt gefahren war, um in einem bestimmten Laden einzukaufen. Auch an einigen Plätzen und Straßen musste man sich von Zeit zu Zeit sehen lassen, hielt sich aber nirgends lange auf. Es kam vor allem darauf an, dabei gewesen zu sein. Schnell ein Foto von sich dort machen und es in sozialen Netzwerken posten hieß die Aufgabe und das Hobby der meisten. In andere Länder und Städte wurde ebenfalls fleißig gefahren, das war irgendwie hipp. Marcello erinnerte sich daran wie er mit seiner Mutter und ihrem damaligen Lebensgefährten -an ihn war die Erinnerung verblasst- nach Peking geflogen war. Und wie sie ihn angeschaut hatten, als er gesagt hatte, er wolle tatsächlich und in persona gemütlich durch die Stadt laufen. 2 Jahre war das jetzt her, damals war er 12 gewesen. Es hatte noch keine Vivian gegeben, jedenfalls nicht in seinem Leben, und somit keine potentielle Gefahr des Liebeskummers. Allerdings schien er der einzige zu sein, der so litt. Er konnte mit niemandem darüber reden. Seine Mutter hatte nur voller Unverständnis „Stell dich nicht so an. Und vor allem, gewöhn dich schon mal dran. Trennungen werden dir ständig im Leben passieren!“ gesagt und war dann zu ihrem neuen Freund gegangen, um dort mit dessen Freunden zu chatten.
„Hallo Marcello!“ Die Stimme des Eisdielenbesitzers riss ihn aus seinen Gedanken. „Wie gehts dir?“ „Hallo Jaques, nicht gut, Vivian hat mit mir Schluss gemacht.“ Er musste sich sehr anstrengen, um nicht anzufangen, aus vollem Hals zu heulen. „Das wird schon wieder. Komm rein, ich spendier dir ein Eis.“ Jaques war immer freundlich zu ihm. Und er wusste, was einem gut tat. Zumindest in den meisten Fällen. Bei schlechten Noten hatte ein Eis immer geholfen, aber nun schmeckte Marcello kaum, welche Sorte er da aß. Er schlich weiter und wusste nicht, wohin. „Arbeit lenkt ab! Tu was für die Schule!“ hatte ihm sein Vater geraten. Der lebte mittlerweile in Neuseeland, seit er dort vor einem halben Jahr einen Job angenommen hatte. Wie lange er allerdings dort bleiben würde, stand in den Sternen. Er hatte es zwar sehr gut getroffen und gleich einen Vertrag für ein ganzes Jahr bekommen, doch ob es danach weiterging, wusste niemand. Sein Vater war momentan, im Gegensatz zu seiner Mutter, solo. Schon seit fast 6 Wochen, was einen kleinen Rekord darstellte. Ob es seinem Vater nicht gut ging? Na ja, er würde bald eine Neue haben, wie das eben so üblich war. Vielleicht brauchte er einfach eine Pause. Sein Vater hatte sich von seiner damaligen Freundin getrennt, als er nach Neuseeland gegangen war. Besser gesagt, beide hatten sich einvernehmlich getrennt. Es war nicht üblich, sich mit Beziehungen zu belasten, die Schwierigkeiten machen konnten. Man trennte sich einfach und suchte sich jemandem, mit dem die Beziehung praktischer war. Das hatte sein Vater getan und schnell in Neuseeland eine Neue gefunden. Dann hatte es bei denen aber auch gekriselt. Marcello hatte nie genau erfahren, warum, und es interessierte ihn auch nicht. Er fragte ja auch nicht danach, was sein Vater jeden Tag aß.
Als er aufsah merkte er, dass er sich verlaufen hatte. Er war so in seine trüben Gedanken versunken gewesen, dass seine Beine einfach weitergelaufen waren, ohne dass er sich dessen bewusst gewesen war. Er holte sein Handy aus der Hosentasche. Mist! Akku leer. Wie sollte er jetzt zurückfinden? Leichte Panik stieg in ihm auf. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Er konnte sich nicht mal erinnern, aus welcher Richtung er gekommen war. Ohne sein Navi war er aufgeschmissen. Nach ein paar Minuten kam ihm die Idee, in einem Geschäft nachzufragen. Er sah sich um. Nichts. Natürlich, war ja klar. Auch Menschen sah er nicht auf der Straße. Dann entdeckte er in einer Seitenstraße ein heruntergekommenes Gebäude. „Bibliothek“ stand da, allerdings auf einem sehr verwitterten Schild. Ob die noch offen war? Wäre merkwürdig, heute las doch kaum einer mehr gedruckte Bücher. Und ebooks konnte man bequem von zu Hause oder wo auch immer aus bekommen. Sowohl leihweise als auch kaufen. Er ging auf das Gebäude zu. Reflexartig griff er wieder zu seinem Handy, um Informationen darüber abzurufen. Aber der Akku war ja leer. Er kam sich noch verlorener vor. Er drückte gegen die Tür. Verschlossen. Dann sah er eine Klingel. Ob die funktionierte? Er beschloss, es zu versuchen. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde die Tür von innen geöffnet. Ein etwas 70 jähriger Mann sah ihn fragend an. „Ja, bitte?“ Marcello wusste nicht, was er sagen sollte und stand ein paar Sekunden mit offenem Mund sprachlos da. „Komm doch erstmal rein.“ forderte ihn der Mann auf. Man hatte Marcello zwar mehrmals gesagt, er solle nicht mit Fremden mitgehen, aber in dem Moment befand er sich wie in Trance und folgte dem Mann nach drinnen. „Interessierst du dich für unsere Bücher? Es freut mich immer, wenn jemand noch auf die gute alte Art liest. Besonders, wenn es sich um junge Menschen handelt.“ Sie waren jetzt in der Bibliothek, überall standen Bücherregale volle Bücher. Ein paar Menschen waren auch da, saßen an Tischen und lasen oder suchten zwischen den Regalen nach einem bestimmten Buch. Keiner sah auf. Es schien wirklich eine Bibliothek zu sein, wie er sie aus dem Geschichtsunterricht kannte und wie es sie vor 20 Jahren noch gegeben hatte. Marcello stand mit offenem Mund da. „Wie kommts, dass du uns hier aufsuchst?“ Die Stimme des Mannes riss ihn aus seiner Benommenheit. Plötzlich spürte er wieder den Schwindel in sich aufsteigen, den er doch für eine Zeitlang vergessen hatte. Eine neue Panikattacke kündigte sich an. Marcellos Mund wurde trocken, der ganze Raum schien zu schwanken. „Na, komm erst mal mit.“ Er wurde zu einer Sitzecke geführt und ließ sich in einen der Sessel fallen. „Entschuldigung, mir ist gerade schwindelig.“ murmelte er und holte dabei eine Tablette aus seiner Hosentasche. „Ja, das hat ja jetzt jeder. Kommt von der ganzen Reizüberflutung. Keiner kommt mehr richtig zur Ruhe mit den ganzen special effects und was auch immer, das einen immer von überall anspringt. Kein Film und keine Werbung kommt anscheinend ohne solchen Zauber aus. Und auf der Straße plärrt und kracht es von den vielen Werbetafeln. Ich bin übrigens Professor Schmidt. Aber alle hier nennen mich Markus.“ Marcello sah den Mann an. Die Tablette fing schon an zu wirken. „Ich bin Marcello.“ „Gut, dann sieh dich ruhig hier um, wenn es dir wieder besser geht. Oder soll ich dich herumführen und dir alles zeigen?“ Marcello stand auf. „Gern.“ sagte er schüchtern. Dass er einen Professor mit Vornamen anreden durfte, verwirrte ihn. Normalerweise bestand jeder auf jedem noch so kleinen Titel. Es hatte auch fast jeder einen. Marcello würde auch einmal einen haben. Er hatte sich fest vorgenommen, Kassenmanagement zu studieren. Im Supermarkt, wo er immer einkaufte, dort wollte er mal arbeiten. Seine Mutter kannte den Leiter, er hatte schon versprochen, ihm ein Praktikum zu besorgen. „Für was sind Sie denn Professor?“ „Ich bin mittlerweile im Ruhestand. Aber den Titel habe ich in Mathematik.“ „Wow, das hat man ja nicht oft.“ „Ach, früher war das an der Uni gar nichts so arg Besonderes. Da gab es auch noch nicht so viele Studienfächer wie heute. Vieles, wofür man heute studiert, waren damals Ausbildungsberufe. Das heißt, man fing direkt in der Firma mit einem niedrigen Gehalt an und wurde ein paar Jahre lang dort ausgebildet. Normalerweise wurde man dann übernommen und bekam ein normales Gehalt. Aber das ist lange her.“ „Haben früher denn so wenige studiert?“ „So wenige waren es gar nicht. Heute sind es viele. So kann man das auch sehen. Wollen wir mit dem Rundgang anfangen?“
Der Professor führte Marcello durch die Bibliothek. Sie hatte 2 Stockwerke und war ziemlich groß. Es gab auch Bücher zu allen möglichen Themen. Marcello war beeindruckt, der Geruch der viele Bücher, die durch den Teppichboden gedämpften Schritte, einfach die ganze Atmosphäre faszinierten ihn. „Kann ich hier öfters herkommen?“ fragte er und fühlte sich auf einmal wieder wie ein kleines Kind. Markus Schmidt sah ihn an. „Natürlich. Ich mache dir einen Ausweis.“ Er führte ihn zu einem Empfangspult und schrieb Marcellos Namen und Adresse auf ein Pappkärtchen. Dann steckte er dies in eine Plastikhülle. „So, damit kannst du hierherkommen und auch Bücher ausleihen. Die Öffnungszeiten stehen auf der Rückseite.“ Marcello war beeindruckt. „Danke! Wenn sich meinen Adresse ändert, sag ich gleich Bescheid.“ „Alles klar. Dann haben deine Eltern keine angemeldeten Arbeitsstellen?“ Gut die Hälfte der Bevölkerung lebte von Schwarzarbeit. Wobei es mittlerweile toleriert wurde. Viele Firmen wollten einfach die hohen Lohnnebenkosten nicht mehr bezahlen. Meist waren diese Leute über Zeitarbeitsfirmen beschäftigt und mussten damit rechnen, in einer anderen Region eingesetzt zu werden, weshalb häufige Umzüge normal waren. Die meisten versuchten erst gar nicht, sich irgendwo heimisch zu fühlen. Nur Marcello wollte auf jeden Fall versuchen, in der Gegend zu bleiben, denn er hatte ja praktisch schon seinen Job im Supermarkt. Er wohnte seit gut 8 Monaten mit seiner Mutter und seinem Bruder, mit dem er sich das Zimmer teilte, in einer WG. Insgesamt waren sie 10 Leute. 6 Erwachsene und 4 Kinder. Wobei sein Bruder mit 16 Jahren eigentlich nicht mehr wirklich ein Kind war. Marcello hatte immer in WGs gewohnt, einmal waren sie sogar fast 20 gewesen. Als seine Eltern noch zusammen waren, waren sie dem, was man so Familie nannte, am nächsten gekommen. Er erinnerte sich, mit seinem Vater, seiner Mutter, seinem Bruder und einer älteren Frau zusammen gewohnt zu haben. Ihren Namen wusste er nicht, er hatte sie immer nur 'Tante' genannt. Als er 3 war, hatten sich seine Eltern dann getrennt. Dabei waren sie recht lange zusammen gewesen. Insgesamt 6 Jahre. Sein Bruder war recht früh in ihrer Beziehung gekommen. Er war natürlich ein „Unfall“ gewesen. Fast keiner von den Schwarzarbeitern bekam bewusst Kinder. Sie konnten sich ja nicht die ganzen Kurse und Frühförderprogramme leisten, zu denen die Reichen ihre Kinder schon bei Bekanntwerden der Schwangerschaft anmeldeten und die jeder für unverzichtbar hielt, damit das Kind im Leben mal eine Chance hatte. Marcello dachte bei sich, dass er mit seinem Leben ganz gut klarkam, auch ohne die Kurse. Er lernte zwar in einer öffentlichen Schule, aber seit das vor allem zu Hause über den Computer stattfand und sie nur ganz selten wirklich in die Schule mussten, gab es auch die ganze Gewalt an den Schulen, von der ihm einige ältere von früher erzählt hatten, nicht mehr. Dafür hatte man auch kaum Freunde. Außer Nachbarn und Kinder von Freunden der Eltern. Also von solchen Freunden, die die Eltern auch trafen. Marcello spürte wieder einen Stich. So hatte er Vivian getroffen. Sie war die Tochter einer Freundin seiner Mutter, hatte sogar für ein paar Wochen in seiner WG gewohnt. Dann war die Mutter weggezogen und ein reiches Paar hatte Vivian adoptiert. Seit dem Zeitpunkt wollte sie nichts mehr von Marcello wissen. Sie war in eine andere Gesellschaftsschicht aufgestiegen und gab sich nicht mehr mit den Schwarzarbeitern ab. Vivians Mutter und auch Vivian waren zwar kurz traurig gewesen, hatten aber beide eingesehen, dass es so das Beste war, denn als Kind von Reichen standen Vivian ganz andere Möglichkeiten offen. „Marcello?“ Die Stimme des Professors holte ihn wieder aus seinen Überlegungen zurück. „Entschuldigung. Ich war in Gedanken.“ Der Professor lächelte. „Gibts Probleme bei dir?“ Marcello hatte ihn zwar praktisch vom ersten Moment an sympathisch gefunden, aber soviel Vertrauen, dass er ihm von Vivian erzählte, hatte er noch nicht. Außerdem war er mittlerweile müde. „Ich weiß nicht, wie ich zurückfinden soll. Mein Akku ist leer, deshalb kann ich mein GPS nicht nutzen. „Noch so ein Fehler der Technik. Sie lässt die Leute bequem werden, so dass sie ohne sie nicht mehr zurecht kommen. Ich gebe dir eins von unseren Bibliothekshandys mit. Das ist sozusagen deine erste Ausleihe. Nachdem das Handy also offiziell ausgeliehen war, mit einer Rückgabefrist von 4 Wochen, verließ Marcello die Bibliothek und tauchte wieder in die ihm bekannte Welt ein, mit Straßenlärm, Reklametafeln und Hektik. Erst jetzt merkte er den Unterschied zum gemächlichen Tempo der Bibliothek.
Er musste sich beeilen, sein Bruder hatte morgen ein Vorstellungsgespräch, und Marcello hatte versprochen, ihm beim Auswendiglernen der Antworten zu helfen. Es gab bei allen Vorstellungsgesprächen einen festen Fragenkatalog, dann wählten die Personaler 10 davon aus. Es kam für die Bewerber nun darauf an, sich Antworten auszudenken und zu verinnerlichen, die sie möglichst gut dastehen ließen. Für Marcellos Bruder Mike war es das erste. Es ging um einen Nebenjob als Verkäufer in einer Bäckerei. Mike würde demnächst mit seinem Studium der Schreinerei beginnen. Es beinhaltete viel praktische Arbeit, weshalb Marcello das gemeinsame Zimmer tagsüber dann oft für sich haben würde. Es war schon dunkel, als er heimkam. Seine Mutter war nicht zu Hause, sie hatte seit kurzem einen Zweitjob in einem Restaurant. Als Mike 16 geworden war, hatten sie besprochen, dass er und auch Marcello nicht mehr mit umziehen würden, wenn sich für sie mal wieder ein Job in einer anderen Stadt ergab. Mike und Marcello konnten schon ganz gut für sich selbst sorgen. Eigentlich waren Umzüge kein Problem, da der Unterricht sowohl in der Schule als auch an der Uni vor allem über Internetkonferenzen ablief, aber ab und an musste man doch anwesend sein und Zugfahrten waren teuer.
Als Marcello in sein Zimmer kam, saß Mike schon vor dem Computer. Er sah auf. „Auch schon da?“ „Tut mir leid. Ich hab mich verlaufen und mein Akku war leer.“ „Na, das ist dumm gelaufen. Aber lass uns anfangen.“ Sie schauten sich den Fragenkatalog an, arbeiteten Antworten aus und studierten alles ein, wobei Marcello die Rolle des Personalers übernahm. Obwohl die Bäckerei, in der Mike anfangen wollte, nur 2 Gehminuten vom Haus entfernt war, würde er zum Vorstellungsgespräch ungefähr eine halbe Stunde mit der U-Bahn fahren müssen. Die Filiale gehörte zu einer Kette und die Zentrale war eben leider etwas weiter entfernt. „Ich verstehe nicht, warum dich nicht die Leute interviewen, mit denen du dann auch zusammen arbeitest. Ich meine, die in der Zentrale sehen dich danach nie mehr.“ Mike schaute Marcello an. „Na, das ist halt so. Nicht mein Problem. Danke, dass du mir geholfen hast. Bin jetzt noch mit Maike im Chat verabredet.“ Damit wandte er sich wieder seinem Computer zu. Maike war Mikes Freundin. Sie sahen sich persönlich nur selten, meist in Maikes WG, denn sie hatte ein Zimmer für sich. „Ich drück dir auf jeden Fall die Daumen.“ Marcello setzte sich ebenfalls an sein Laptop, um zu sehen, wer von seinen Freunden im Chat war.
Eine Woche später ging Marcello wieder zur Bibliothek. Er war deprimiert. Seine Mutter hatte Urlaub genommen, um sich mal wieder ihre Nase korrigieren zu lassen. Das hieß für sie alle sparen. Ihm kam es ungerecht vor, sich wochenlang von Nudeln ernähren zu müssen. Aber da war nichts zu machen. Für Schönheitsoperationen hatte man einfach Geld auszugeben. Genauso wie für modische Markenkleidung. Marcello hatte begonnen, sich für die Bilder des Malers Merkwart zu interessieren. Er war seit ein paar Monaten der angesagteste Maler Deutschlands und Marcello gefielen seine Bilder. Mit seinen Freunden konnte er darüber nicht reden. Nach ein paar Minuten wechselten sie immer das Thema. Wobei sich Marcello fragte, wozu er überhaupt Freunde hatte. Er konnte mit ihnen weder über seinen Liebeskummer noch über seine Interessen reden. Vielleicht sollte er sich neue Freunde suchen? Welche, die besser zu ihm passten? Er teilte diese Gedanken dem Professor mit. Irgendwie hatte er Vertrauen zu ihm gefasst. „Aber Marcello, man kündigt doch nicht einfach Freundschaften, nur weil man sich nicht für das gleiche interessiert.“ Marcello sah ihn erstaunt an. „Aber weshalb denn sonst? Darum geht es doch bei einer Freundschaft. Dass man sich gegenseitig nützlich ist.“ „Tja, diese Ansicht ist leider heutzutage weit verbreitet. Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du mit jemandem befreundet bist, weil du ihn magst?“ „Na, ich mag sie doch auch.“ „Warum willst du dann nicht mehr mit ihnen befreundet sein, nur weil sie sich nicht für die Bilder von Merkwart interessieren? In kurzer Zeit wird dieser Maler wahrscheinlich, so wie alle Künstler heutzutage, vergessen sein. Und dann hast du Freundschaften deswegen geopfert.“ „Aber dann kann ich mir neue Freunde suchen, die dann meine Interessen teilen.“ „Du wirst sowieso, mit jedem neuen Hobby, neue Leute kennen lernen. Aber warum willst du die alten aufgeben?“ „Na, weil ich dann mit ihnen nichts mehr anfangen kann.“ „Wenn ich ehrlich bin, gefallen mir die Bilder von Merkwart auch nicht. Er wird nur gut vermarktet. Schau sie dir mal genau an. Was ist an denen Besonderes? Und bilde dir deine eigene Meinung. Tu so, als hättest du nicht die ganzen Kritiken gelesen und gesehen. Tu so, als wären die Bilder von einem Maler, den keiner kennt. Und dann sag mir, was du siehst.“ Der Professor führte Markus zu dem einzigen in der Bibliothek vorhandenen Computer. Dann riefen sie im Internet einige Bilder Merkwarts auf. Marcello betrachtete sie lange, eins nach dem anderen. Immer wieder zwang er sich, nicht an die Sätze zu denken, die er im Internet oder dem Fernsehen zu Merkwart gehört bzw, gelesen hatte. Um es sich einfacher zu machen, stellte er sich einfach vor, die Bilder hätte sein Nachbar gemalt. Und plötzlich kam die Ernüchterung. Ja, er fand sie recht nett, aber keinesfalls außergewöhnlich. Ja nicht einmal besonders schön. Diese Bilder könnten auch in der Schule im Kunstunterricht entstanden sein. Und zwar von einem der nicht so herausragenden Schüler. Er sah auf. Der Professor war zu einem der Tische gegangen und studierte ein Buch. Schüchtern ging Marcello auf ihn zu. Sollte er ihn jetzt stören? Er wirkte so vertieft und konzentriert. Doch der Professor sah von selbst auf. „Nach deinem Gesicht zu urteilen, findest du Merkwart jetzt nicht mehr ganz so toll, was?“ Marcello nickte. „Marcello, du musst wissen, dass heute selten die wirklich guten Leute groß rauskommen. Es sind leider die, die am besten für sich Werbung machen können. Denk an die Werbung im Fernsehen oder Internet. Wie oft hast du etwas gekauft, weil du gedacht hast, du müsstest es unbedingt haben? Und wie oft hast du Dinge tatsächlich gebraucht? Wie oft hast du Sachen nur wegen der Werbung gekauft und wärst von allein nie auf die Idee gekommen? Und so ist es auch mit Künstlern jeder Art. Wobei ich sagen muss, dass gerade die, die nicht interessant sind und wenig können, leider die Kunst der Selbstdarstellung am Besten beherrschen. Einfach weil sie es nötig haben. Jemand, der richtig gut ist, ist mit seinen Werken zufrieden und muss nicht Lügen und Übertreiben. Leider bleiben die oft arm. Ihnen ist die Kunst wichtiger als der Erfolg, deshalb passen sie sich auch nicht an die Mode an, die es ja auch in der Malerei gibt, sondern machen ihre eigenen Sachen. Und das ist es ja, was einen Künstler ausmacht. Die eigenen Ideen umsetzen. Aber worauf ich hinaus will: denke selbst nach, ob dir Sachen gefallen. Lass dich nicht zu sehr manipulieren.“ Er lächelte Marcello an. „War das jetzt zu viel auf einmal?“ „Ja, ich habe viel zum Nachdenken.“ Dann setze dich doch in die Leseecke. Wenn du willst, nimm dir ein Buch. Oder mach dir einen Tee. Alles, was du brauchst, steht dort bereit.“ Marcello tat dies. Nachdem er den Tee getrunken hatte und als er sich gerade überlegte, ob er sich vom Professor ein Buch empfehlen lassen sollte, schlief er in seinem Sessel ein.
Als er nach Hause kam, wartete sein Bruder schon auf ihn. „Hallo Kleiner, rat mal, wer den Job bekommen hat?“ Sie feierten bei einem Wodka-Cola und Chat mit ihren Freunden. Dabei dachte Marcello an seine eigene Zukunft. An eine gute Uni würde er nicht kommen. Da waren nur die Reichen. War ja klar, an der Uni wurden die Kontakte für den Beruf geknüpft, da wollte jeder an die beste. Momentan war es die Goethe-Uni, denn an der studierten sämtliche Sprösslinge des größten Konzerns des Landes. Doch das konnte sich ändern. Vielleicht würde, wenn es bei ihm mal so weit war, eine andere Uni die beste sein. Also warum sich jetzt schon Gedanken machen? Ein paar Jahre hatte er noch Zeit. Also freute er sich weiter für seinen Bruder, feierte noch ein bisschen mit und ging bald schlafen. Am nächsten Tag hatte er einen Test und musste deshalb in der Schule anwesend sein. Na, immerhin würde er seine Klassenkameraden mal wieder direkt sehen, nicht nur auf dem Bildschirm. Irgendwie freute er sich darauf.
Es dauerte fast zwei Woche, bis Marcello wieder in die Bibliothek ging. Seine Mutter hatte ihm mitgeteilt, dass sie ihren derzeitigen Lebensgefährten heiraten würde. Die Hochzeit war auf ein Datum in ungefähr einem Monat angesetzt. Marcello hatte irgendwie keine Lust. Ständig irgendwelche Hochzeitsfeiern. Bei seinem Vater hatte er drei mitgemacht, bei seiner Mutter würde dies die vierte sein. Leider wurde von ihm erwartet, dass er teilnahm. Alles durfte man versäumen, nur Hochzeiten nicht. Marcello fand es blödsinnig, da sich die Leute ja sowieso wieder scheiden ließen. Er kannte nur ein Paar, das in letzter Zeit die Fünfjahresgrenze überschritten hatte. Doch er hatte sich einen neuen Anzug kaufen müssen und zusammen mit seinem Bruder einige Spielchen vorbereiten. Deshalb hatte er kaum Zeit gehabt. Doch nun war es soweit, heute würde er sich endlich den Büchern zuwenden. Er fragte den Professor nach einer Empfehlung. Der führte ihn zu einem Regal. „Hier, da ist sicherlich was für dich dabei. Schau dir ein paar an, lies den Klappentext und such dir eins oder auch mehrere aus. Das Stöbern in Büchern macht großen Spaß. Mir zumindest und ich glaube, bei dir könnte es auch so sein.“ Und er hatte recht. Als Marcello endlich drei Bücher ausgesucht hatte und auf die Uhr sah, wunderte er sich, wie spät es geworden war. Er ging zum Ausleihpult, wo diesmal außer dem Professor noch an die 20 andere Leute standen. Es waren Männer und Frauen, von jugendlich bis alt. Der Professor kam aus der Gruppe auf ihn zu. „Marcello, ich möchte dir unsere Gruppe vorstellen. Wir treffen uns ein mal im Monat hier und reden über Wissenschaft, Literatur, Kunst und auch sonst so alles mögliche. Manchmal arbeitet jemand ein Thema aus und hält einen Vortrag. Natürlich versteht nicht immer jeder alles, aber interessant ist es trotzdem immer. Ich möchte dir anbieten, bei uns mitzumachen.“ „Seid ihr so was wie ein Club?“ Der Professor lächelte. „Irgendwie ja, obwohl wir keinen Clubnamen haben. Wir sind alles Leute, die bestimmte Sachen in der heutigen Zeit vermissen, wie echtes wissenschaftliches Arbeiten, Kreativität und selbständiges Denken. Gut, es mag noch hier und da vorhanden sein, wird aber immer weniger geschätzt und gefördert. Deshalb machen wir das hier für uns. Hast du Lust? Du musst dich weder sofort entscheiden noch ewig dabeibleiben. Jeder kann jederzeit gehen.“ Marcello zögerte nicht lange. „Klar, ich versuch es.“ „Gut, dann stelle ich dir die anderen vor.“ Marcello ging an diesem Abend in Hochstimmung nach Hause. Er wusste noch nicht, dass der Club, wie er bei sich immer sagte, sein Leben wirklich entscheidend verändern würde. Er wusste es noch nicht, doch es würden sich echte Freundschaften entwickeln, die ein ganzen Leben hielten. Auch seine spätere Frau würde er im Club kennen lernen. Und er würde immer einen Ausgleich haben, wenn das Leben ihn frustrierte.
Er ging in sein Zimmer, wo er mit seinem Bruder nochmal einige Details der Hochzeitsfeier ihrer Mutter besprach.
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2011
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