Endlich würde sie ausziehen. Was für eine Erleichterung! Jahrelang hatte Markus darauf gehofft, nun konnte er sein Glück fast noch nicht glauben. Er hatte ja schon seit einiger Zeit gedacht, dass es mit ihrer neuesten Eroberung etwas Ernstes war, aber dass sie dann doch so schnell zu ihm ziehen würde, hätte er nicht geglaubt. Woran er nicht zu denken gewagt hatte, war, dass ihr Freund ja genausogut in das Haus mit hätte einziehen können, es gehörte schließlich zur Hälfte ihr und war sehr geräumig. Aber anscheinend hatte Phil -so hieß ihr Lover- etwas Besseres zu bieten. Er sah jedenfalls ganz gut betucht aus, jedes Mal, wenn er mit seinem Porsche und in seinen Designerklamotten vorfuhr, um sie abzuholen. Ein richtig eitler, angeberischer Fatzke! „Mausi“ nannte er sie immer zärtlich. Markus fand, dass für sie eher der Ausdruck „miese Ratte“ angebracht wäre. Seit einer gefühlten Ewigkeit schikanierte sie ihn, wo sie nur konnte. Immer wieder hatte sie ihm z.B. seinen selbstgebackenen Kuchen weggegessen, meist mit Hilfe ihrer Freundinnen. Wenn er dann müde von der Arbeit nach Hause gekommen war und nur noch ein paar Krümel vorgefunden hatte, hatte sie ihn nur süffisant angelächelt. Seine vorgekochten Abendessen verschwanden ebenfalls regelmäßig. Außerdem drehte sie mit Vorliebe nachts ihre Anlage auf eine doch sehr hohe Lautstärke. Sie musste ja erst spät aufstehen, denn sie arbeitete immer von 14:00-20:00 in einem Fitneßstudio. Solche Spielchen gab es zu Hauf, sie hatte wenig unversucht gelassen, ihn aus dem Haus zu treiben, das in bester Lage und sehr gut in Schuss war. Und eben leider ihnen beiden gehörte. Er hatte sie ja auch rausekeln wollen, wie er vor sich selbst zugeben musste. Doch irgendwie hatte er nie von sich aus einen konkreten Plan gefasst, sondern sich einfach gegen sie gewehrt. Er hatte den Kuchen und die sonstigen Speisen öfters mit einem stark wirkenden Abführmittel versetzt. Das war ein Spaß gewesen! Leider hatte sie dann das selbe Mittel in die Lebensmittel, die in der Speisekammer oder im Kühlschrank waren, getan. Woraufhin er für sich abschließbare Schränkchen und einen kleinen abschließbaren Kühlschrank zum Aufbewahren seiner Lebensmittel besorgt hatte. Sie hatte ihn immer mehr belauert, gehofft, dass sie ihn irgendwo kalt erwischen konnte. Bevor er an seine Schlafzimmertür ebenfalls ein Schloss angebracht hatte, hatte sie öfter seine Anzüge manipuliert, so dass er, nachdem er sich morgens eilig angezogen hatte, erst im Büro gemerkt hatte, dass Hose und Jackett nicht zusammenpassten. Es häuften sich die Tage, vor allem in den letzten paar Monaten, an denen er sich kaum aus seinem Zimmer traute, da er wusste, sie würde auf der Lauer liegen, ihm notfalls ein Bein stellen, so dass er hinfiel, ihm heißen Kaffee aufs Hemd schütten oder etwas ähnlich Kindisches, nur um ihn fertig zu machen. Aber meistens hatte sie fiesere Sachen auf Lager. Er erinnerte sich, dass er einmal seine Zimmertür nicht abgeschlossen hatte, als er kurz in die Küche gegangen war, um sich ein Bier zu holen. Sie war in dieser kurzen Zeit zu seinem Zimmer gerannt und hatte es mit seinem eigenen Schlüssel, der innen gesteckt hatte, von außen abgeschlossen. Er hatte einen Schlüsseldienst rufen müssen, da sie den Schlüssel im Klo runtergespült hatte. Er hatte sich wirklich hilflos und ihr ausgeliefert gefühlt. Sie machte ihm das Leben zu Hause schwer, sorgte dafür, dass er sich im Job mit seinen Klamotten lächerlich machte und fast hätte sie ihn und seine neue Freundin auseinandergebracht, als sie ihr einen gefälschten Liebesbrief an eine andere Frau in die Tasche geschmuggelt hatte. Sie hatte seine Schrift wirklich täuschend ähnlich nachmachen können. Jedenfalls war sein Leben permanent durch sie bedroht, zwar nicht so, dass sie ihn umbringen wollte, aber es trotzdem darauf anlegte, ihn zu zerstören, wobei das Ganze ihr scheinbar auch noch ein spielerisches Vergnügen bereitete.
Sabine lächelte vor sich hin. Ein Beobachter hätte allerdings eher von einem maliziösen Grinsen gesprochen, obwohl sie selbst sich so fühlte, als lächele sie. Sie war zufrieden. Bald würde sie zu Phil ziehen, raus aus diesem Haus. Aber vorher hatte sie es geschafft, Markus mehr oder weniger fertig zu machen. Er traute sich ja kaum noch aus seinem Loch, das er Zimmer nannte, heraus. Und das war ihr Verdienst. Sie sah sich -wohl von zahlreichen Abenteuerromanen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gelesen hatte, inspiriert- als Puma, der jederzeit zum Sprung ansetzen und sein ahnungsloses Opfer von hinten anfallen konnte. Sie zerfetzte ihn allerdings nicht körperlich, sondern psychisch. Sogar seine Beziehung zu seiner neuesten Tussi - eine völlig aufgetakelte, affektierte Dumpfbacke- hatte sie fast abgewürgt. „Katerchen“ hatte sie sie Markus einmal nennen hören. Katerchen! So ein Blödsinn! Die einzige Gelegenheit, bei der man das Wort Kater im Zusammenhang mit Markus anwenden konnte, war, wenn man seinen Zustand am Tag nach einer seiner Bierorgien beschreiben wollte. Er schnurrte weder noch strahlte er Gemütlichkeit aus, noch war er gewitzt oder hatte in irgendeiner Form Charakter. Es gab immer mal wieder einige plumpe Versuche seinerseits, sie aus dem Haus zu ekeln. So warf er häufig die Waschmaschine, die im Raum direkt neben ihrem Schlafzimmer stand und nicht gerade leise lief, an, bevor er morgens zur Arbeit ging. Dabei schlief sie zu der Zeit noch -oder eben dann nicht mehr. Aber das beantwortete sie einfach mit Hilfe ihrer Stereoanlage und Rockmusik spät nachts. Auch seine restlichen Versuche, sich gegen sie durchzusetzen, fand sie nur lächerlich. Gut, das Abführmittel im Kuchen war nicht schlecht gewesen, aber auch da hatte es für sie Kontermöglichkeiten gegeben. Sie hatte jedenfalls Oberwasser, war die Jägerin, er der Gejagte. Mittlerweile machte es ihr sogar Spaß, sich immer etwas Neues auszudenken. Und sie konnte ihm ansehen, dass er seines Lebens nicht froh war. Obwohl sich das ja geändert hatte, seit sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie auszog. Sie hatte überlegt, ob sie ihm, bis es in ein paar Wochen so weit war, noch das ein oder andere antun sollte, sich aber dagegen entschieden. Es genügte, dass sie andeutete, dass sie etwas vorhatte, das würde ihn schon genug mitnehmen. Außerdem wollte sie natürlich ihr Zimmer und Wohnrecht behalten, er konnte also nie wissen, ob und wann sie auftauchen würde und was sie dann täte. Das wäre wie Jagen auf Distanz und spontan. Sie würde ja dann auch nicht wissen, ob und wie wehrlos sie ihn vorfände. Als sie sich umdrehte, um vom Balkon ins Haus zu gehen, fiel ihr Blick zufällig auf die beiden Liegestühle, die dort schon ewig standen. Dabei vollzog sich plötzlich eine Stimmungsschwankung. Sie hatten sich doch wirklich einmal sehr gut verstanden. Bevor sie zusammen hier eingezogen waren und auch noch eine ganze Zeitlang nach dem Einzug. Wie stolz sie gewesen waren, auf ihr eigenes Haus! Und stundenlang waren sie auf den Liegestühlen gesessen und hatten über alles mögliche sinniert und philosophiert, manchmal geklatscht, manchmal waren sie auch einfach schweigend beieinander gesessen, in stiller Harmonie und einem Schweigen, das nur zwischen Menschen möglich ist, die sich sehr vertraut sind. Sie fühlte, wie sich eine große Müdigkeit in ihr ausbreitete. Ein Bild stieg vor ihrem geistigen Auge auf, wie sie in Phils Wohnung einfach auf der Bank vor dem schönen, alten Kachelofen im Wohnzimmer saß und zufrieden vor sich hindöste, ohne an irgendwelche Gemeinheiten zu denken, die sie Markus antun konnte. Wann hatte sie eigentlich angefangen, Ablehnung ihm gegenüber zu empfinden, die sich dann Schritt für Schritt in so etwas wie Abscheu verwandelt hatte? Genau konnte sie das auch nach längerem Nachdenken nicht beantworten, aber sie war fast sicher, dass alles angefangen hatte, als er Brigitta ins Haus gebracht hatte. Dass er ein Betthäschen hatte, hatte sie schon lange vorher vermutet, aber als sie sie dann das erste Mal gesehen hatte, seine „gute alte Freundin“, war sie doch geschockt. Vor allem, weil Brigitta gar so billig daherkam, nicht sexy, sondern nuttig, fand sie. Deshalb hatte sie auch nicht eine Sekunde geglaubt, dass es einfach eine Freundin war. Zum Glück war es bei den beiden anscheinend nur um Sex gegangen, deshalb hatte sie das Ganze sehr schnell unterbinden können. Markus stand eben doch zu sehr auf ein bequemes, stressfreies Leben. Doch seit dieser Episode waren ihr zunehmend die negativen Eigenschaften an ihm aufgefallen, die sie vorher wohl „wegidealisiert“ hatte. Tja, trotzdem hatten sie auch eine schöne Zeit gehabt, vielleicht war wirklich der Punkt zum Einlenken gekommen? Sie hatte ja jetzt Phil und würde bald bei ihm einziehen. Sie nahm sich vor, gleich ihrem guten Vorsatz entsprechend zu handeln, oder besser gesagt, nicht zu handeln und Markus für den Rest des Tages in Ruhe zu lassen. Das hatte zur Folge, dass sie sich auf anderes konzentrieren konnte. Sie beschloss, eine Pizza zu backen und rief Phil an, um ihn dazu einzuladen.
Markus saß in seinem Zimmer in seinem alten Sessel und versuchte zu lesen. Irgendwie klappte es nicht. Er war vor kurzer Zeit noch so euphorisch gewesen, weil Sabine ausziehen würde. Doch nun wich dieses Hochgefühl wieder so etwas wie Angst. Das Haus gehörte immer noch zur Hälfte ihr und sie wollte -natürlich- einen Schlüssel behalten. Was bedeutete, dass sie immer in das Haus kommen und ihn weiter belauern und sozusagen aus dem Hinterhalt kalt erwischen konnte. Plötzlich überkam ihn eine Wut auf sich selbst, die sich immer weiter in ihm ausbreitete, bis er sie in jedem Knochen seines Körpers zu spüren meinte. Was war er eigentlich für ein Weichei?! Warum wehrte er sich nicht effektiver? Er war ihr körperlich auf jeden Fall überlegen und was das Geistige betraf: ein kompletter Dummkopf war er auch nicht. Also war es jetzt wirklich an der Zeit, die Rollen zu vertauschen, von der Beute zum Jäger zu werden, dann konnte man ja weiter sehen, denn er hatte weder die Lust noch die Energie, dieses kindisch Spiel sein ganzes Leben lang fortzusetzen. Doch bevor ein Waffenstillstand möglich sein würde, musste er handeln, ihr zeigen, dass er nun derjenige war, der die Initiative ergriff, und dass sie sich vorsehen musste, jedes Mal, wenn sie das Haus betrat. Da er es gewohnt war, einen gefassten Entschluss sofort in die Tat umzusetzen, verließ er gleich sein sicheres Nest, überzeugte sich, dass es ordentlich verschlossen und somit keinen Gefahren ausgesetzt war und machte sich auf ins feindliche Terrain, um es wieder zu seinem Revier zu machen. Ideen würden ihm schon kommen, wenn er erstmal unterwegs auf Streifzug war. Noch bevor er zwei Schritte von seiner Tür weggegangen war, breitete sich ein Hochgefühl in ihm aus, er wusste nun, dass ihm seine neue Rolle großen Spaß machen würde. Und er freute sich schon auf Sabines Reaktion, wenn sie merkte, dass sie nun diejenige war, die sich in Sicherheit bringen musste.
Sabine steckte den Schlüssel ins Schloss. Gerade war sie von ihrem kurzen Spaziergang zurückgekommen. Es hatte ihr gutgetan, sich ein bisschen zu bewegen. Die Pizza dürfte noch im Ofen vor sich hin backen und in einer Viertelstunde würde Phil kommen. Als sie ihre Jacke an die Garderobe hängte, hörte sie Geräusche, die darauf hindeuteten, dass Markus sich durchs Haus bewegte, sprich, nicht in seinem Zimmer war. Und den Lauten nach zu urteilen, ging er nicht hastig und ängstlich herum, wie sonst, im Gegenteil, fast meinte sie ein neues Selbstbewusstsein aus Markus Schritten und Hüsteln herauszuhören. Pfiff er da etwas sogar vor sich hin? Komisch; hatte er etwa instinktiv gemerkt, dass sie sich vorgenommen hatte, friedlicher zu werden? Das konnte doch eigentlich nicht sein. Sie ging ins Wohnzimmer und deckte den Tisch. Sie zündete sogar eine Kerze an, um das Ganze romantisch anzuhauchen und legte noch die CD ein, die Phil ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Perfekt! Als sie sich umdrehte, um die Pizza aus dem Ofen zu holen, erschrak sie so, dass sie fast laut aufgeschrien hätte. Markus stand direkt vor ihr. Er war so leise gekommen, dass sie rein gar nichts gehört hatte. Außerdem war sie einfach nicht mehr gewohnt, ihn im Haus zu treffen. Er ging ihr normalerweise aus dem Weg, man könnte sagen, er rannte sogar vor ihr davon. Er grinste sie an. „Hallo, schön Essen vorbereitet für deinen Lover-Boy?“ Sie versuchte, ihren Atem und Herzschlag langsam wieder auf Normalmaß herunterzufahren. Vor Erstaunen, oder besser gesagt Schock, brachte sie keine Antwort zustande. Er war nicht nur zu ihr gekommen, sondern hatte sie auch noch angesprochen! Und noch dazu so herausfordernd. Sie konnte mit der neuen Situation nicht umgehen und beschloss, eiligst den Rückzug anzutreten. Vielleicht wäre es am besten, wenn sie draußen vor der Tür auf Phil wartete. Sie musste mit Erschrecken feststellen, dass sie Angst vor Markus hatte. Konnte das ein Traum sein? Sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht panisch Richtung Haustür und nach draußen zu rennen. Er grinste sie immer noch an. Als wartete er den geeigneten Moment ab, sich auf sie zu stürzen, und wüsste, dass sie ihm sowieso nicht entkommen konnte. Dann fiel ihr die Pizza ein. Die musste dringend aus dem Ofen geholt werden. Sie schob sich mit höchster Willensanstrengung an Markus vorbei und fasste dabei den Entschluss, so schnell wir möglich zu Phil zu ziehen und dann eine ganze Zeitlang nicht hierher zurückzukommen. Als sie die Ofentür öffnete, kam der nächste Hieb: die Pizza war völlig verkohlt. Markus hatte die Temperatur auf Maximum gestellt. Sie konnte nicht mehr, hysterisches Kreischen und Schluchzer hallten Phil entgegen, als er das Haus und dann die Küche betrat. Sabine kniete heulend vor dem Ofen. In der Küchentür stand Markus, Sabines Bruder und Mitbesitzer des Hauses, das die beiden vor fünf Jahren von einer Großtante geerbt hatten, und machte ein Gesicht wie eine Katze, die gerade gefressen und nun nichts mehr zu tun hatte, als sich satt und zufrieden irgendwo zu einem Schläfchen niederzulassen.
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2011
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