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Maria lief die U-Bahn Treppen hoch. Den Kopf hatte sie gesenkt, der Blick ging Richtung Boden. Noch 2 Tage, dann war der Kurs, der ihr vom Jobcenter aufgebrummt worden war, endlich vorbei. Auf Vorschläge von ihr, die ihre Weiterbildung betrafen, war ihr Sachbearbeiter leider nicht eingegangen, hatte alles gleich abgeblockt. In diesem Kurs war sie nicht gerade die Motivierteste. Was sollte sie auch anfangen in einem Bewerberseminar? Sie war Mitte 30 und hatte schon eine Vielzahl von Jobs gehabt, war aber leider auf Grund von Outsourcing oder sonstigen Sparmaßnahmen immer wieder rausgeflogen, mal schon nach ein paar Monaten, mal erst nach Jahren. Jedenfalls hatte sie sich schon oft erfolgreich beworben, wozu also dieses überflüssige Seminar? Das nützte doch nur dem Veranstalter, der damit gutes Geld machte. Neues hatte der Kursleiter, Viktor Mertens, sowieso nicht zu erzählen. Ein ekelhafter Typ. Sie schauderte, wenn sie nur an ihn dachte. Sie war früh dran, sie würde wohl die erste sein. Nachdem sie Licht gemacht hatte, fuhr sie zusammen. Viktor Mertens lag mitten im Raum auf dem Boden, Blut lief über eine Wunde an seinem Kopf. Sie stürzte auf ihn zu. Kurze Zeit später rief sie über ihr Handy den Notruf.

Die Polizei traf wirklich schnell ein, ebenso ein Krankenwagen mit Notarzt. Der nützte Viktor Mertens aber nichts mehr, denn er war bereits tot. Dafür konnte er sich um einige der Kursteilnehmer kümmern, die einen Schock erlitten hatten. „Dünnes Fell haben diese Leute.“ dachte der ermittelnde Kommissar Heiko Wiese. Laut sagte er „Wer hat den Toten gefunden?“ Maria ging auf ihn zu. Er schaute die kleine, zierliche Frau an. Irgendwoher kam sie ihm bekannt vor. „Hallo Heiko, erinnerst du dich noch an mich?“ Er schaute genauer hin. Natürlich! „Maria! Parellelklasse, stimmts?“ Sie waren in die selbe Schule gegangen, waren sogar zeitweilig mit der selben Clique unterwegs gewesen. „Komm mal mit und erzähl, was vorgefallen ist, danach können wir vielleicht mal was ausmachen, um über die alten Zeiten zu quatschen. Das heißt, wenn du Lust hast.“ Maria machte ihre Aussage. Als Heiko sie fragte, wie der Tote als Mensch gewesen war, sagte sie unverblümt ihre Meinung. „Nimmt immer noch kein Blatt vor den Mund.“ dachte er. Er gab ihr seine Handynummer, falls ihr noch etwas Wichtiges einfiel, ebenso, damit sie sich mal zu einem privaten Treffen verabreden konnten und machte sich wieder an seine Arbeit, befragte sie anderen Kursteilnehmer und Kollegen des Opfers. Die Spurensicherung war eingetroffen und der zuständige Staatsanwalt benachrichtigt. Angehörige hatte Viktor Mertens keine mehr. Nur 3 Ehefrauen hatte das Opfer gehabt, war aber von allen schon seit längerem geschieden, von einer festen Freundin war ebenfalls nichts bekannt.
Später in seinem Büro schaute er sich alle Befragungsprotokolle nochmal durch. Beliebt war das Opfer wirklich nicht gewesen. Der Tenor der meisten Kursteilnehmer war äußerst negativ. Aber der Kurs dauerte ja nur 10 Tage, deshalb musste man ja nicht gleich den Kursleiter umbringen. Denn Mord, oder zumindest Totschlag, war nach den ersten Ergebnissen aus der Gerichtsmedizin sehr wahrscheinlich. Spuren von Gewalteinwirkung, Hämatome an Bauch und im Brustbereich. Wahrscheinlich war Viktor Mertens gegen einen der scharfkantigen Tische gestoßen worden. Dort hatte die Spurensicherung Blutflecken gefunden. Außerdem gab es Hinweise auf sexuelle Aktivitäten. Sie mussten herausfinden mit wem. Da es höchstwahrscheinlich im Fortbildungszentrum passiert war, wohl mit einer der Kolleginnen oder einer Kursteilnehmerin. Aber keine hatte etwas Entsprechendes zugegeben, ja nicht mal angedeutet. Und so traurig, wie man ist, wenn der Geliebte ermordet wurde, war auch keine gewesen. Obwohl es ja auch nur um reinen Sex gegangen sein konnte, ohne Gefühle. Viktor Mertens war allerdings vom Äußeren her nicht das gewesen, was man sich so unter einem Verführer vorstellte. Aber über Geschmack ließ sich ja bekanntlich nicht streiten.
Heikos Handy klingelte. Maria. „Hallo Heiko, können wir uns sehen? Ich muss dir was Wichtiges sagen.“ „Hat es mit dem Fall zu tun?“ „Logisch, was könnte ich dir sonst, nachdem wir uns über 15 Jahre nicht gesehen haben, plötzlich Dringendes mitteilen wollen? Ich denke, du bist bei der Kripo? Aber Sherlock scheinst du nicht gerade zu sein!“ „Gut, kannst du herkommen?“ Er gab ihr die Adresse durch. Bissig war sie also immer noch. Aber er mochte das. Besser als die Schleimer, die es heutzutage zuhauf gab.

Als sie zur Tür hereingebracht wurde, fiel ihm als erstes auf, wie schlecht sie aussah. War sie etwas die heimliche Geliebte?! Wenn sie sich nicht sehr verändert hatte, kaum vorstellbar, dass jemand wie Mertens ihr Typ gewesen sein sollte. „Setz dich doch. Und kommen wir gleich zur Sache: worum geht’s?“ „Ich hab mich ziemlich überwinden müssen, aber ich denke, dass es das Richtige ist, alles zu sagen. Deshalb bin ich hier. Also Folgendes: ich mache mir Vorwürfe. Ich bin mal ne Zeitlang mit bei den Maltesern im Rettungswagen gefahren, so als Ersthelferin, also zusätzlich zu den Sanitätern. Deshalb hab ich noch so einen Sofort- Helfen-Reflex drauf, wenn ich jemanden sehe, dem es schlecht geht. Nur bei dem Mertens war das anders. Ich seh ihn da liegen, rausch auf ihn zu und als ich ihn dann von Nahem sehe, überkommt mich der totale Ekel und ich bring es nicht fertig, ihn anzufassen. Ich hab dann gleich den Notruf gewählt, ohne mich um ihn zu kümmern. Jetzt denke ich dauernd darüber nach, ob ich ihm hätte helfen können.“ „Mach dir da mal keine Gedanken, nach dem Bericht der Rechtsmedizin war er mindestens eine Stunde vor Kursbeginn schon tot. Und du warst ja, deiner Aussage nach, erst 20 Minuten vorher dort. Also mach dir keine Sorgen. Aber das hättest du mich auch am Telefon fragen können. Da ist nochwas, stimmts?“ „Ja, das war nur das Unangenehmste und deshalb wollte ich es als erstes hinter mich bringen. Könnt ja auch unterlassene Hilfeleistung sein oder so.“ „Na, da hättest du wahrscheinlich schon abhauen müssen, ohne Hilfe zu rufen. Aber darum geht es ja nicht. Was ist also noch?“ „Ok, ich hatte das Gefühl, dass Mertens mich oft angegrapscht hat. Also nicht offensichtlich, sondern eher so wie zufällig, mehr nebenbei, wenn er mir was am Computer gezeigt hat zum Beispiel. Hab ich vorher nicht gesagt, weils mir peinlich war und ich gedacht habe, ich übertreibe. Dann ist mir eingefallen, dass ich mal mitbekommen hab, wie sich zwei Mädels aus dem Kurs darüber unterhalten haben, dass es ihnen ähnlich geht. Ich denke, das solltest du wissen. Obwohl ich ja stark annehme, er hat ne Freundin oder zumindest Geliebte.“ „Wie kommst du darauf?“ „Ich bin immer sehr früh dran. Hab halt Angst, zu spät zu kommen und dann vom Jobcenter eins aufs Dach zu kriegen. Vor allem, seit eine Teilnehmerin am ersten Tag grade mal 2 Minuten zu spät war und von Mertens schon stark deswegen bedroht wurde. Er würde es melden müssen und blabla. Na ja, und zweimal habe ich gesehen, wie eine Frau aus dem Gebäude gehuscht ist. Und jedes Mal war Mertens als einziger schon anwesend. Also muss sie ja bei ihm gewesen sein.“ Aha, da hatten sie vielleicht die mysteriöse Geliebte. „Wäre es denn so schlimm, wenn jemand wüsste, dass er eine Freundin hat? Warum muss die sich rausschleichen?“ „Keine Ahnung. Ich glaub, das Problem wäre eher, dass er an seinem Arbeitsplatz solche Spielchen veranstaltet. Warum er sie nicht einfach mit zu sich genommen hat, kann ich dir nicht sagen. Könnte sein, dass sie verheiratet ist oder so und nur früh Zeit hat. Aber davon weiß ich nichts, ich kann dir nur sagen, was ich gesehen habe.“ „Hast du was von ihr erkannt, das für ein Phantombild reichen würde?“ „Klar, versuchen wirs!“ Heiko ließ sich noch den Namen der Kursteilnehmerin geben, die wegen dem Zuspätkommen Ärger bekommen hatte und brachte Maria dann zu seinem Kollegen, der das Phantombild anfertigen sollte. Das war doch schon was! Er machte sich auf, um Birgit Heinemann nochmal zu befragen, die Zuspätkommerin. Sie hatte kein sehr gutes Nervenkostüm und gab nach kurzer Zeit zu, am Morgen im Zentrum gewesen zu sein und das Opfer getroffen zu haben. Sie bestritt aber, die Frau zu sein, die öfter bei ihm war. Heute war das erste Mal gewesen. Er hatte sie zu sich gebeten, 2 Stunden bevor der Kurs begann, um darüber zu reden, ob es eine Möglichkeit gab, nochmal ein Auge zuzudrücken. Stockend und zittrig gab sie dann zu, dass Mertens ihr eine Handel vorgeschlagen hatte. Schweigen gegen Sex. Er war auf sie zugekommen und hatte versucht, sie an sich zu ziehen. Birgit Heinemann wollte sich losreißen, das hatte aber erst geklappt, nachdem es wie wild an der Tür geklopft hatte. Eine Frauenstimme hatte so etwas Ähnliches wie „Mach auf, du Schwein“ gerufen. Da hatte Mertens sie so weit losgelassen, dass sie durch die andere Tür, die zur Raucherecke und von dort nach draußen führte, hatte fliehen können. Heiko schluckte. Starker Tobak. Wenn die Geschichte stimmte. Sein Beruf hatte ihm gezeigt, dass es überall schwarze Schafe gab, die die Notlage anderer ausnutzten. Also warum nicht auch hier? Und die Frau war auch schon von Maria erwähnt worden. Unwahrscheinlich, dass sich die beiden so schnell abgesprochen hatten.
Sie mussten sie finden!

Doch auch am nächsten Tag blieb die Suche erfolglos. Heiko und seine Kollegen hatten noch weitere Befragungen durchgeführt, die sie aber nicht weiterbrachten. Die Exfrauen des Opfers hatten alle ausgesagt, sie hätten ihren Mann verlassen, weil er die Finger nicht von anderen Frauen lassen konnte. Das passte ja zu den bisherigen Aussagen. Abends rief ihn Maria wieder an. „Pass auf, die Frau war gerade da, hat sogar mit ein paar von meinen Leidensgenossinnen gesprochen. Ich habs durchs Fenster gesehen.“ „Warum hast du nicht sofort angerufen, das ist wichtig!“ „Weil wir hier die Handys auslassen müssen. Und ich hatte noch was mit dem Nachfolger von Mertens zu besprechen. Ist aber wirklich erst fünf Minuten her, dass sie wieder weg ist.“ Maria legte auf. Heiko schaute auf das Phantombild. War ganz gut geworden. Aber leider hatte die Frau ein Allerweltsgesicht. Davon gab es Tausende in der Stadt. Na, musste er halt mit den Leuten sprechen, die sie heute nach dem Kurs gesehen hatten, vielleicht war da jemandem ein einmaliges Merkmal aufgefallen.

Das war allerdings nicht nötig. Eine halbe Stunde später klopfte es an seiner Tür. Die Frau vom Phantombild betrat sein Büro. „Guten Tag. Ich kann damit nicht leben. Ich habe Viktor umgebracht.“ Heiko blieb für einen Moment der Mund offen stehen. Dass sie so direkt und geradeheraus gestanden hatte, verblüffte ihn. „Setzten Sie sich, Frau...“ „Müller, Heidrun Müller.“ „Gut, Frau Müller. Warum haben Sie ihn umgebracht?“ „Ich war in ihn verliebt. Ich weiß nicht warum. Dagegen kann man aber leider nichts machen, was?“ Sie schaute auf, tiefe Traurigkeit im Blick. „Er wollte aber nicht offiziell mit mir zusammen sein. Sagte, es täte ihm nicht gut. Ich war noch nie bei ihm oder er bei mir. Wir haben uns immer nur bei seiner Arbeit getroffen, meistens vor Kursbeginn, manchmal auch danach. Jetzt, wo ich das ausspreche, hört sich das dumm an. Also, dass ich dumm gewesen bin. Warum hab ich mich ausgerechnet in so einen verliebt?!“ Heiko hatte Angst, dass sie sich durch ihre Betrachtungen vom Kern ihrer Aussage entfernen würde. „Was ist gestern morgen passiert?“ fragte er deshalb. „Ich hätte eigentlich beim Squash spielen sein sollen. Da gehe ich immer hin am Donnerstag. Aber kurzfristig ist meine Squashpartnerin krank geworden. Da hab ich gedacht, ich überrasche Viktor. Ich wusste ja, dass er immer früher in der Arbeit war, auch wenn ich nicht kommen konnte. Er hatte gern eine Weile das ganze Gebäude für sich. Ich kam an und sah durchs Fenster, wie er die Frau umarmte. Ich dachte erst, er hätte eine andere. Als ich näher kam, hörte ich durchs offene Fenster, was wirklich vor sich ging. Er betrog mich nicht einfach, sondern war ein Erpresser und fast könnte man sagen Vergewaltiger. Ich bin ausgerastet, bin rein und hab an die Tür gehämmert wie wild. Als er aufgemacht hat, hat er versucht, mich zu beruhigen und allerlei Ausreden vorgebracht. Sie hätte sich an ihn rangemacht. Es war widerlich! Ich hab ihn mehrmals gestoßen, wurde immer wütender. Dann ist er mit dem Kopf gegen die Tischkante geknallt und hat sich nicht mehr bewegt. Ich habe sofort gesehen, dass er tot war, ich bin ausgebildete Krankenschwester, war früher in der Notaufnahme. Da weiß man so was. Dann bin ich abgehauen. Aber heute wurde mir klar, dass ich so nicht einfach weiterleben kann. Und ich will nicht, dass jemand anders wegen etwas, das ich getan habe, Schwierigkeiten bekommt.“ Heiko tat die Frau Leid. Trotzdem musste er sie festnehmen.

Danach nahm er sich fest vor, Maria anzurufen, um sich mit ihr zu treffen. Sie hatten sich eine Menge zu erzählen. Und ihn interessierte es, warum sie in Hartz IV gerutscht war. Immerhin hatte sie einen Studienabschluss. Er wurde sich bewusst, dass er darüber noch gar nicht nachgedacht hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 20.04.2011

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