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Carinna lief die Straße entlang. Hier hatte sie schon oft einen guten Fang gemacht. Die Leute fühlten sich einfach zu sicher, keiner dachte ausgerechnet in diesem Teil der Stadt daran, auf seine Sachen aufzupassen. Umso besser für sie. Seit Jahren schlug sie sich mit Stehlen durch. Falls sich ab und an ihr Gewissen gemeldet hatte, hatte sie es geschickt unterdrücken können mit dem wohl oft benutzten Argument „die verdienen es ja und haben sowieso mehr als genug“. Heute war sie allerdings nicht auf Beutezug, sondern hatte ein konkretes Ziel, nämlich die alte Fabrikhalle, in der „der Dieb des Jahres“ gekürt werden würde. Vor 4 oder 5 Jahren -genau wusste sie es nicht mehr- hatte sich ein kleines Grüppchen von ungefähr 10 Leuten zusammengetan, um diesen Preis ins Leben zu rufen, mittlerweile waren sie an die 100 und trafen sich relativ regelmäßig. Man kam nur durch Empfehlung in diesen exklusiven Club. Allerdings versuchte immer mal wieder der ein oder andere sich einzuschleichen, bekam aber von Herb, ihrem Wortführer, konsequent eine Abfuhr erteilt.
Jedenfalls fanden sie, dass auch ihre Zunft eine Galaveranstaltung mit Preis verdient hatte, bei den ganzen Preisen, die alle möglichen Leute für was auch immer bekamen. Natürlich ging es bei ihnen bei weitem nicht so glamourös zu wie bei den großen Veranstaltungen, die meist sogar im Fernsehen übertragen wurden, aber bezogen auf ihre Lebensverhältnisse war es für viele das Edelste, was sie im Jahr erlebten. Es gab, abgesehen von dem offiziellen Anstrich mit Jury, Reden und Preisverleihung, sogar Sekt und Chips, aus Pappbechern und -tellern zwar, aber immerhin.

Als sie fast angekommen war, begegnete sie Jock, den sie letztes Jahr selbst in den Club eingeführt hatte. Sie waren beide Einzelgänger und arbeiteten allein, trafen sich aber öfter „nach Feierabend“, um zu reden und gemeinsam etwas zu essen.
„Kalt heute, was?“ Jock hielt sich nie mit Floskeln im Stil von „Wie geht’s dir?“ oder auch nur einem simplen „Hallo“ auf. „Hättest ja ne Jacke anziehen können. Im September wird es abends schon mal kühler. Meinst du, heute ist wieder jemand von „denen“ da?“ „Hoffentlich nicht, die nerven, und wir dürfen uns immer wieder die selbe Begründung anhören, warum ausgerechnet „die“ nie bei uns reinkommen.“ „Ach, ich hör sie ganz gern.“ In der Halle war schon Feststimmung und geschäftiges Treiben zu spüren. Jeder, der beim Wettbewerb teilnehmen wollte, musste sich bei Herb melden und ihm und der Jury, die aus den Gewinnern der beiden Vorjahre bestand, die Geschichte seines spektakulärsten Diebstahls erzählen. Sie trafen dann erstmal eine Vorauswahl von 5 Geschichten, aus denen dann vor allen Anwesenden die beste ausgewählt wurde. Weder Carinna noch Jock hatten dieses Jahr etwas zu bieten, das ihrer Ansicht nach eine Chance auf den Gewinn hatte. Sie sahen sich um. Sie kannten sich in dem Club alle, ein paar Fremde fielen ihnen dennoch auf. Wahrscheinlich neue, die nach der Verleihung Herb vorgestellt werden sollten. Obwohl sich der Club ungefähr einmal pro Monat traf, konnten neue Mitglieder nur bei der jährlichen Preisverleihung mitgebracht und aufgenommen werden. Warum sie diese Regel hatten, wusste keiner so genau, sie dachten einfach, dass zu einem anständigen Club Regeln gehören mussten, und eine davon war nun mal diese. Carinna schaute sich jeden der Unbekannten an. Einen nahm sie etwas genauer ins Visier als die anderen, bevor sie zu Jock sagte „bereite dich vor, ich glaube, es ist wieder einer von 'denen' da.“ Jock blickte den Mann an, auf den Carinna mit dem Kopf gezeigt hatte. „Kann sein, ja. Also, dann geh mal zu Herb und erzähl ihm von deinem Verdacht.“

Sie stand noch neben Herb, als der mit einer großen alten Kuhglocke läutete, um für Ruhe zu sorgen. Dann bat er den Unbekannten, den ihm Carinna gezeigt hatte, zu sich auf die Bühne. Diese bestand nur aus ein paar alten Brettern, die sie über den Boden der Halle gelegt hatten. Der Mann ging auf die Bühne und Herb begann mit seiner tiefen, rauchigen Stimme zu sprechen. „Hier hat jemand den Verdacht, dass du keiner von uns bist, sondern einer von 'denen'. Was hast du dazu zu sagen?“ Herb konnte einem schon Respekt einflößen. Könnte er das nicht, hätte er als Sprecher des Clubs auch keine Chance. „Die“ waren eine besondere Art von Dieben, die beim Club verpönt waren. Sie waren erstens reich, was sowieso schon ein Hindernis für die Aufnahme war. Außerdem stahlen sie nicht nach guter alter Tradition, sondern bedienten sich anderer Methoden. Sie hatten gelernt, Menschen so anzusehen, dass sie ihnen ihr Geld freiwillig gaben und zwar in großen Beträgen. Dafür gaben sie den Leuten Kärtchen mit kurzen Texten wie „du bist schön“, „du bist klug“ oder „du bist besser als dein Nachbar“. Die Wirkung des Blickes hielt unbegrenzt, die allerwenigsten forderten Ihr Geld zurück, von Anzeigen bei der Polizei ganz zu schweigen. Ein kleiner Teil der Menschen schien allerdings gegen diesen Blick immun zu sein, trotzdem konnten „die“ Unmengen an Geld erwirtschaften. Herb sah den Mann immer noch streng an. „Ja, ich bin einer von denen, aber warum kann ich nicht hier aufgenommen werden? Ich möchte auch als Dieb anerkannt werden, denn ich bin einer und nehme den Leuten viel mehr ab als ihr.“ Jock verdrehte die Augen, als er das hörte. Immer die alte Leier! Aber alles in allem hatten sie trotzdem Glück, denn „die“ gab es in rauen Mengen, aber nur die wenigsten sahen sich als Diebe und versuchten, in den Club zu kommen.

Nun sah er auch schon, wie Herb zu seiner den Clubmitgliedern altbekannten Erklärung ansetzte: „Wir haben hier feste Regeln, dieser Wettbewerb betrachtet das ganze von der sportlichen Seite. Bei uns haben erstens die Leute eine Chance. Nur wer gut ist, kann gewinnen. Der Dieb muss immer besser sein als der Mensch, den er bestiehlt. Bei euch haben Menschen, bei denen euer Blick wirkt, keine Chance, weil ihr nur mit Manipulation arbeitet. Deshalb werden die Regeln des Fairplay verletzt. Und das Wichtigste: die Leute, die ihr bestehlt, merken in den allermeisten Fällen nicht, dass sie bestohlen worden sind, sondern sind ganz glücklich mit ihren Kärtchen. Bei uns merken sie es und haben die Möglichkeit, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Ihr dagegen habt es bei einer Person, die schon einmal von euch bestohlen wurde, immer leichter, je öfter ihr sie bestehlt. Also erfüllt ihr die wichtigsten Bedingungen nicht, nämlich, dass handwerkliches Geschick eingebracht wird und dass die Leute merken, dass sie bestohlen wurden. Zu unserem Club kannst du nicht gehören, vielleicht gibt es ja einen für Leute wie dich, aber welcher das ist, da kann ich dir nicht helfen. Damit ist alles gesagt, jedes weitere Wort ist überflüssig, bitte geh freiwillig.“ Der Unbekannte verschwand. Carinna hatte Recht gehabt mit ihrem Verdacht. Sie stellte sich wieder neben Jock und gemeinsam warteten sie darauf, dass die erste der 5 Geschichten des Abends vorgetragen wurde.

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Tag der Veröffentlichung: 18.04.2011

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