Inhalt
01. Chamber of Horrors
02. Bucht der weinenden Muscheln
03. Elinor
04. Winternacht
05. Die letzte Reise
06. Der Duft der Mandelblüte
07. Aussterben
08. Zwischen Traum und Wirklichkeit
09. 1944
10. Das Licht am Ende des Tunnels
01. Chamber of Horrors
Nervös betrat eine junge Frau den Eingangsbereich von Madame Tussauds in der Marylbone Road in London. Mit zittrigen Händen schob sie ihren weitkrempigen Hut gerade, der ihren Kopf zierte. Ihre braunen Haare waren kaum zu erkennen, da sie gemäß der Mode der frühen 20er Jahre kurz geschnitten waren.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie zum Kartenverkauf ging. Sie räusperte sich kurz, als der Verkäufer sie zuerst nicht wahrnahm.
Doch dann blickte er auf. »Verzeihen Sie, Miss, wie unhöflich von mir. Was kann ich für Sie tun?«
Aalglatt wie seine Frisur
, dachte sie sich, antwortete dann auf seine Frage: »Ich bin Miss Annabelle Eltringham und habe…«
»Miss Eltringham!«, fiel ihr Gegenüber ihr ins Wort. »Mr. Randall hat von Ihnen gesprochen und mir mitgeteilt, dass Sie heute kommen würden.«
Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf die Haut.
Annabelle errötete und entzog ihm ihre Hand. »Mr. Joseph Randall erwartet mich. Würden Sie ihm bitte mitteilen, dass ich eingetroffen bin?«
»Entschuldigen Sie meine schlechten Manieren«, erwiderte der Mann und griff nach dem Telefonhörer. Er drehte an der Wählscheibe und wartete einen Moment. »Mr. Samuel Cartwright aus dem Eingangsbereich, Mr. Randall. Miss Eltringham ist soeben eingetroffen. ... Ja, Mr. Randall, ich werde sie zu Ihnen Büro bringen.«
Samuel legte auf und schenkte Annabelle ein Lächeln.
Am Liebsten würde sie genervt ihre Augen verdrehen, aber das wäre ihm gegenüber unhöflich. Ihre Mutter würde sie züchtigen, wenn sie erführe, wenn sie dies gemacht hätte. Besonders dann, wenn es sich um ein Mann handelte, der in den Augen ihrer Mutter ein Heiratskandidat sein könnte.
»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten, Miss?«
Annabelle hatte gar nicht gemerkt, dass Samuel bereits neben ihr stand. Sie sah den Arm unentschlossen an, hakte sich aber dann doch ein.
»Vielen Dank«, murmelte sie und zog ihren Hut etwas tiefer ins Gesicht, damit er nicht sah, wie ihre Wangen sich wieder rötlich verfärbten.
»Sie sind nicht oft in männlicher Gesellschaft, Miss Eltringham?«
Annabelle deutete mit einem leichten Kopfschütteln ihre Antwort an.
Sie gingen an den ersten Wachsfiguren vorbei. Neugierig betrachtete sie die Figuren wie Virginia Woolf und Oscar Wilde. Auch William Shakespeare zog sie in den Bann.
»Kennen Sie Mr. Randall persönlich?«
»Wieso fragen Sie, Mr. Cartwright? Ihre Neugierde übersteigt mein Maß an Geduld. Ich habe mich als Mitarbeiterin hier beworben. Vor kurzem habe ich mein Studium in Kunst und textiles Handwerk abgeschlossen und denke, dass ich mit meinen Fähigkeiten hier gute Arbeit leisten werde«, erklärte Annabelle stolz.
Samuel lächelte wieder und führte sie in einen dunklen Gang.
Sie presste sich an ihn, da ihr die Angst den Atem nahm und sie noch kaum selbst gehen konnte.
»Da muss wohl eine Glühbirne defekt sein, Miss. Ich werde es dem Hausmeister melden, nachdem ich Sie zu Mr. Talbot gebracht habe.«
Annabelle nickte und keuchte nur ein leises »Ja«.
Cartwright führte Sie weiter durch die Dunkelheit. Er spürte, dass Annabelle neben ihm vor Angst zitterte.
»Es sind wohl alle Glühbirnen ausgefallen«, wimmerte sie leise. Dann spürte sie einen Lufthauch im Nacken. Überrascht blickte sie über ihre Schulter zurück. Genau in diesem Momente wurde das Licht heller und sie erkannte eine Fratze, die sie anknurrte.
Erschrocken kreischte Annabelle laut auf. Dass Samuel belustigt kicherte, hörte sie nicht.
Nun gingen überall Lichter an und sie erkannte Menschen auf Foltergeräten. Gierige Hände griffen nach ihr, doch bekamen sie sie nicht zu fassen. Direkt vor ihr tauchte wieder ein entstelltes Gesicht auf.
»Bitte machen Sie, dass es aufhört«, schluchzte Annabelle. Sie presste ihr Gesicht in seinen Jackett-Ärmel und verlor fast ihren Hut.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie Mr. Cartwright nun loslassen, Miss Eltringham«, sprach eine Person sanft auf sie ein.
Die Angst war noch nicht ganz verschwunden, als sie Samuel losließ und ihr violettes Kleid glattstrich. Sie zitterte am ganzen Leib
»Mr. Randall, Sir. Verzeihen Sie bitte«, schluchzte Annabelle. »Es war eben einfach furchtbar.«
»Was war furchtbar? Mr. Cartwright?«
Samuel wurde von Joseph Randall, einem Mann gehobenen Alters, mit einem Blick bedacht, der jeden das Fürchten lehren würde.
»Ich habe lediglich die Abkürzung zu Ihrem Büro genommen, Mr. Randall«, antwortete Cartwright ehrlich.
Joseph seufzte. »Sie können Miss Eltringham doch nicht durch die Chamber of Horrors führen, ohne sie zu fragen. Das arme Ding zittert wie Espenlaub.« Er wandte sich Annabelle zu. »Kommen Sie in mein Büro. Möchten Sie zur Beruhigung eine Tasse Tee trinken?«
Sie nickte nur und verschwand mit ihm in dem Raum.
Annabelles neuer Chef bot ihr den gemütlichen Ledersessel vor seinem Schreibtisch an. »Setzen Sie sich doch. Der Tee wird gleich kommen.« Joseph Randall nahm selbst Platz. »Verzeihen Sie das Benehmen von Mr. Cartwright. Wenn Sie wollen, dann werde ich ein ernstes Wort mit ihm sprechen.«
Verdient hätte er es
, dachte sie zornig.
»Miss Eltringham, ich möchte Sie herzlich Willkommen heißen bei uns im Madame Tussaud’s. Ihre Fähigkeiten haben mich und meine Atelierleiterin Victoria Bailey überzeugt. Ich hoffe, die Arbeiten, die Sie uns zugeschickt haben, waren nicht nur die besten.«
Die Tür ging auf. Eine dickliche Frau mit Locken stellte ein Tablett mit zwei Tassen edlen Porzellans und einer Teekanne auf den Schreibtisch ab. Annabelle erkannte am Zwiebelmuster, dass es sich um Meißner Porzellan handeln musste.
Die Frau goss Tee in die Tassen. »Möchten Sie Milch und Zucker zu Ihrem Tee, Miss?«
»Ja, Ma’am, aber ich werde mir dies selbst so nehmen, wie ich meinen Tee zu trinken pflege.«
»Hab vielen Dank, Molly«, sagte Joseph, als diese noch einen Teller voller Toffee abstellte. Dann verließ Molly leise das Büro.
»Nach unserer Teepause werde ich Sie ins Atelier bringen.«
Annabelle nippte stumm an ihrer Tasse.
Annabelle betrat das Atelier und sah sich mit großen Augen um. Sie kannte viele Künstlerateliers, aber so ein großes hatte sie noch nie gesehen. Sie war von den vielen Leuten beeindruckt, die überall im Raum arbeiteten.
Auf allen Tischen waren unfertige oder fertige Köpfe aus Wachs verteilt. In einer Ecke erkannte sie, wie zwei Näherinnen ein Kleid fertigten.
Eine blonde Frau in einem weißen Kittel gehüllt kam auf sie und Joseph Randall zu.
»Jospeh! Wie ich sehe, bringen Sie mir die neue Mitarbeiterin. Miss Eltringham, nehme ich an. Guten Tag, ich bin Victoria Bailey und von nun an Ihre direkte Vorgesetzte. Ihre Arbeiten haben genau unserem Konzept entsprochen und da wir wegen dem letzten Krieg zurzeit unterbesetzt sind, bin ich um jede Fachkraft froh, die Talent besitzt und sich bei uns bewirbt.«
Annabelle schenkte ihr ein höfliches Lächeln. »Das ist zu viel des Lobes, Mrs Bailey. Ich habe kaum praktische Erfahrungen und hatte teilweise sehr viel Zeit für meine Arbeiten. Aber ich denke, mit Zeitdruck kann ich auch sehr gut umgehen.«
»Das freut uns zu hören«, lachte Jospeh laut. »Ich lasse die Damen nun alleine. Victoria, seien Sie bitte nett zu Miss Eltringham.«
»Ich bin zu allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen nett, Joseph«, mahnte Victoria. »Hier hat sich noch niemand über meine Qualitäten als Vorgesetzte beklagt.«
»Das weiß ich, Victoria«, antwortete Joseph. »Haben Sie viel Spaß mit ihrer neuen Arbeit, Miss Eltringham.«
Dann verschwand er aus dem Atelier.
»Nun, Miss Eltringham, zeige ich Ihnen Ihren Arbeitsplatz. Ihre Aufgabe wird es sein, fertige Gesichter zu bemalen. Fotografien, die nachkoloriert worden sind, dienen Ihnen als Vorlage. Ebenso werden Sie unseren Näherrinnen helfen. Kennen Sie sich mit der Restauration aus?«
»Ein wenig, Mrs Bailey. Unser Professor hat das Thema nur angesprochen. Aber ich habe mich in meinen lesungsfreien Tagen in den Kunstraum gesetzt, in dem die Bildrestauration gelehrt wurde. Meine Mutter hat mir daheim gezeigt, wie man Stoffbezüge ausbessert.«
»Das ist gut, wirklich gut«, sagte Victoria leise. »Diese Kenntnisse können Sie auch hier einbringen. Sie wissen ja: der Krieg. Wir haben aber seit 1918 wieder sehr viel aufbauen können.«
»Schrecklich, dass so viel zerstört wurde. Ich verstehe einfach nicht, wie Menschen so etwas machen können«, erboste sich Annabelle. »Ich verstehe nichts von der Politik, aber Kriege sind in meinen Augen sinnlos!«
»Wie Recht Sie doch haben, Kindchen. Ich habe meinen Mann in Deutschland verloren. Aber ich denke, die Menschheit hat daraus gelernt und es wird nie wieder einen Weltkrieg geben. Noch einen wird die Welt nicht verkraften.« Victoria seufzte traurig. »Genug der Melancholie. Sollten Sie noch Material benötigen, im Lager hat es Pinsel und Farbe.« Victoria deutete auf eine schwere Stahltür. »Der Raum diente uns als Bunker, als London aus der Luft angegriffen wurde.«
Annabelle legte ihre Hand auf die Schulter ihrer Vorgesetzten. »Sie haben mein Beileid. Auch ich habe Vater und Brüder verloren.«
Der letzte Atelierarbeiter verließ den Raum.
»Machen Sie bitte das Licht aus, wenn Sie gehen, Miss Eltringham?«
Müde von der Arbeit und vom schlechten Licht nickte sie. »Ich werde daran denken.«
Dann widmete sie sich wieder dem Wachskopf.
An ihrem ersten Arbeitstag hatte sie ein mit Brokat verziertes Seidensofa restauriert. Es hatte viele Brandlöcher. Sie tat ihr Bestes, in dem sie im Lager nach den richtigen Farben und Stoffen suchte. Sie war des Öfteren unsicher und holte sich Rat bei Victoria.
Nun beugte sie sich über den Kopf von Queen Elizabeth I. und malte ihr die dünnen Augenbrauen auf, doch dann merkte sie, dass sie vergessen hatte, der Königin ihre typische Blässe aufzuschminken. Verzweifelt legte sie den Pinsel beiseite und griff nach einem Schwamm und der weißen Farbe.
Sie legte ihre Utensilien vor sich hin und legte stöhnend ihren Kopf in die hohlen Hände. Als sie ihren Kopf in den Nacken legte, gähnte sie herzhaft. Annabelle reckt sich und lockerte ihre steifen Gelenke.
Ihre Kehle brannte vor Durst, da die Luft in den letzten 15 Minuten sich erwärmt hatte und somit sehr trocken war.
Annabelle ging zum kleinen Waschbecken um sich dort ein Glas Wasser zu holen. Als sie den Hahn aufdrehte, kam zuerst kein Wasser, sondern nur Dampf aus dem Rohr.
»Was?«
Sie drehte den Hahn noch weiter auf. Annabelle hielt ungeduldig einen Becher darunter. Ein kochendheißer Wasserstrom schoss aus dem Hahn. Vor Schmerzen gepeinigt riss Annabelle ihre Hand zurück. Die Haut war gerötet und schlug Blasen.
»Was ist hier los?«
Um nach dem Rechten zu schauen, verließ sie das Atelier. Im Gang roch es stark nach Rauch. Annabelle hustete, als sie sich weiter vorwagte. Nach ein paar Schritten kam sie an Josephs Büro vorbei. Laut klopfte sie an die Tür.
»Mr. Randall? Sind Sie noch da?«
Es kam keine Antwort. Auch als sie versuchte die Tür zu öffnen, scheiterte Annabelle. Joseph Randall war nicht mehr im Haus.
Verzweifelt schlang sie ihre Arme um ihren Oberkörper und ging mit schnellen Schritten Richtung Ausgang. Ehe Annabelle sich versah, befand sie sich in der Chamber of Horrors. Sie kannte nur diesen einen Weg hinaus.
Mit gesenktem Blick hastete sie durch die engen Gänge und versuchte, nicht die Wände zu berühren. Vor ihr leuchtete es rötlich. Der Qualm nahm zu und wurde dicker.
Qualvoll hustete Annabelle. Sie ging in die Knie und hielt ihre Hand vor ihrem Mund. Ihre Augen tränten vor Hitze.
Ich will nicht sterben. Nicht hier und nicht jetzt!
, dachte sie verzweifelt und rief: »Hilfe!«
Annabelle hoffte, dass noch Mitarbeiter in ihrer Nähe sein würden. Sie wimmerte, als heißes Wachs auf sie hinabtropfte. Immer noch saß sie auf dem Boden. Starr vor Angst wagte sie es nicht, aufzustehen und zu fliehen.
»Hilfe«, sagte sie schluchzend und senkte ihren Kopf.
Kaum hatte sie das Wort ausgesprochen, hörte sie Schritte, die sich ihr näherten. Hoffnung regte sich in ihr und sie hob den Blick. Die Tränen verschleierten ihr Blickfeld und sie erkannte nur eine verschwommene Silhouette.
»Miss Eltringham?«
»Mr. Cartwright? Oh mein Gott! Bin ich froh, dass ich nicht alleine bin. Was ist hier los?«
Samuel zog Annabelle auf die Beine und meinte mit schneller Stimme: »Es brennt hier. Wir müssen hier so schnell wie möglich weg, sonst verbrennen wir bei lebendigem Leib.«
Mit ihr an der Hand lief Samuel in die Richtung, aus der Annabelle gekommen war.
»Mr. Cartwright! Das ist die falsche Richtung!«
Er warf einen Blick über seine Schulter. Dicker, schwarzer Rauch erfüllte die Gänge und auch einzelne Flammen züngelten bereits an den Möbeln und Gemälden.
»Nein, dort steht bereits alles in Flammen, Miss. Beim Atelier muss es einen Notausgang geben.«
Keuchend stolperte Annabelle hinter Samuel her. Sie sah, dass sein Jackett bereits ein paar Brandlöcher hatte und eines noch schwelte. Sie legte ihre Hand auf das Loch und verzog ihr Gesicht vor Schmerz. Aber es hatte sich gelohnt: Es glimmte nicht mehr.
Die Beiden erreichten eine Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift Notausgang hing. Samuel griff nach der Klinke und brüllte vor Schmerz auf.
»Was ist los?«, rief Annabelle in Panik.
»Diese Klinke ist verdammt heiß!«
Überrascht darüber, dass er in ihrer Gegenwart fluchte, bemerkte sie nicht, dass durch den unteren Türschlitz auch Qualm drang.
Leise fluchend zog Samuel sein Jackett aus und wickelte es – so gut es ging – um seine Hand. Wieder legte er die Hand auf die Klinke. Sachte drückte er sie nach unten, als Annabelle den Rauch realisierte.
»Mr. Cartwright! Tun Sie das nicht!«
Er sah sie überrascht an und öffnete dabei die Tür.
Der vorhandene Sauerstoff verband sich mit den Flammen hinter der Tür; eine Walze aus Feuer und Rauch bahnte sich durch den Gang.
Samuel reagierte schnell und warf sich als Schutz auf Annabelle. Ein Sternenhimmel explodierte vor ihren Augen, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug. Benommen nahm sie die Hitze wahr, die sich um sie herum ausbreitete.
Ihre Gedanken wurden wieder klarer. Annabelle hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits bewusstlos auf dem Boden lag.
Das Knistern von Feuer wurde immer lauter und sie erkannte die Gefahr, in der sie sich befand. Annabelle wollte sich aufsetzen, doch eine schwere Last drückte ihren Körper wieder nieder.
Sie erkannte Samuel, der auf ihr lag. Die Feuerwalze hatte ein großes Loch in sein Hemd gefressen und die Haut warf Brandblasen.
Verzweifelt schüttelte sie den Mann auf ihr. »Los! Aufwachen! Das Feuer ist fast hier, bitte!«
Doch er reagierte nicht.
Mit viel Mühe zog sie sich unter ihm hervor und stand mit wackeligen Beinen auf. Sie sah zurück. Eine kleine Chance erkannte Annabelle, denn das Feuer hatte die Tür zum Atelier noch nicht erreicht.
Immer noch schwach beugte sie sich zu Samuel hinunter und griff nach seinen Armen. Sie legte ihr gesamtes Körpergewicht in jeden Schritt und zog ihn langsam aber stetig in Richtung Atelier.
Die Anstrengung und die Hitze ließen ihren Schweiß nur so aus ihren Poren laufen. Ihr Herz raste und durch den Rauch bekam ihr Körper sehr wenig Sauerstoff, der dringend benötigt wurde.
Ihr Kreislauf war kurz davor zusammenzubrechen, als sie keuchend die Tür erreichte. Mit zittriger Hand öffnete sie diese und trat sie auf, sodass die Klinke gegen die Wand schlug.
Wieder griff sie nach Samuel und zog ihn in den Raum.
Hastig schloss sie die Tür und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl. Blind griff sie nach einem Stück Stoff und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Sie legte ihren Kopf in den Nacken. Aus ihren Augenwinkeln sah sie, dass sich auch hier bereits der Qualm durch den Türspalt drückte.
Ohne zu überlegen sprang sie auf und lief zum Lager. Mit ihrer verbliebenen Kraft öffnete sie die schwere Eisentür. Auf wackeligen Beinen eilte sie zurück zu Samuel.
Sie zog ihn in das Lager. Mit verschwommenem Blick zog sie die schwere Tür zu und erkannte, dass sich Flammen bereits durch das Holz der Tür fraßen.
Das Schloss rastete ein.
»Geschafft«, seufzte Annabelle, sank zu Boden und fiel in eine Ohnmacht.
Ein defektes Kabel hatte 1925 den Brand im Museum ausgelöst. Viele der Exponate fielen den Flammen zum Opfer, darunter auch die prachtvolle Kutsche Napoleons, die mit viel Liebe zum Detail erstellt wurde. Doch konnten viele Gussschablonen geborgen und viele der Figuren nachgestellt werden.
Annabelle und Samuel wurden von Feuerwehrleuten im Lager geborgen. Jedoch erlagen sie ihren schweren Brandverletzungen und einer Rauchvergiftung.
Drei Jahre hatte es gedauert, bis das Tussaud’s wieder aufgebaut war. Hinzu kamen ein kleines Kino und ein Café.
Der Friede dauerte nur zwölf Jahre. 1940 wurden das Kino und der größte Teil der Ausstellungsräume beim Bombenangriff auf London während des Zweiten Weltkriegs zerstört.
Ironischerweise überlebte die Statue von Adolf Hitler diesen verheerenden Angriff.
Ende
02. Die Bucht der weinenden Muscheln
Es war später Nachmittag, als Kouros die Taverne betrat. Für den heutigen Tag hatte er seine Arbeit auf den Feldern seines Vaters verrichtet und wollte mit seinen Freunden ein paar Becher Wein trinken. Während er sich umsah, stellte er enttäuscht fest, dass er noch kein ihm bekanntes Gesicht entdeckte.
Erschöpft ließ er sich auf eine harte Holzbank nieder und wartete darauf, dass die Wirtin ihn wahrnahm. Es dauerte nicht lange, als die dicke Wirtin mit einem mürrischen Gesichtsausdruck zu ihm kam.
»Heda, was bedrückt Euch, Frau Máthair?«
Die rundliche Frau sah ihn kurz an und seufzte. »Die Sommerhitze, junger Kouros. Die Weintrauben meines Mannes vertrocknen in den Bergen. Wenn es in diesem Monat nicht regnet, wird die Weinlese ausfallen. Mein Mann und ich rechnen jeden Tag aufs Neue durch, wie viel es uns kosten würde, Wein aus regenreicheren Gebieten zu kaufen. Das hieße aber für euch, dass jeder Becher teurer wird.«
»In einer Woche feiern wir das Fest des Regens. Wir werden Geshem Opfer darbringen, Frau Máthair. Er hat bis jetzt immer unser Flehen erhört und …«
»Ich weiß«, unterbrach ihn die Wirtin. »Aber ich hege Zweifel, weil es diesen Sommer nicht einmal geregnet hat. Dir und deinem Vater kommt die Hitze zu gute, da ihr Kornbauern seid.« Sie stockte. »Verzeih mir meine harten Worte, Kouros. Da hat der Neid aus mir gesprochen.«
Kouros wollte etwas erwidern, als ein junger Bursche und zwei Mädchen lachend in die Taverne kamen. Sein Herz fing an schneller zu schlagen, als er sah, dass eines der beiden Mädchen Ileana war. Nervös strich er seine langen dunklen Haare zurück.
»Tante Máthair! Wein für uns alle! Ich zahle heute!«
Die kleine Gruppe gesellte sich zu Kouros. Ileana setzte sich ihm gegenüber und lächelte ihn schüchtern an.
Máthair brachte ein Tablett mit Bechern und einer Amphore zum Tisch. »Deine gute Laune ist kaum zu übersehen, Zyrius. Was ist geschehen?«
Zyrius zog das andere Mädchen auf seinen Schoß, welches vergnügt kicherte. »Adrianas Vater hat mir endlich die Hand seiner Tochter versprochen«, antwortete er lächelnd und küsste das schwarz-gelockte Haar seiner Verlobten.
»Das sind doch gute Neuigkeiten«, erwiderte Máthair mit einem Zwinkern. »Du hast ihrem Vater sechs Monate bewiesen, dass du sie ernähren kannst. Du bist ein guter Junge mit einem reinen Herzen. Wenn er nicht eingewilligt hätte, dann hätte er mich kennen gelernt!«
»Das hat Mutter auch gesagt«, lachte Zyrius. »Genau dieselben Worte mit demselben Tonfall.«
Máthair stellte vor jedem einen Becher und füllte diese mit Wein. »Wir sind auch Schwestern, mein lieber Neffe.« Sie stützte sich auf dem Tisch ab und sah Ileana an. »Und dein Vater möchte immer noch, dass du Tempeldienerin wirst?«
»Ja«, sagte Ileana leise. »Aber ich will das nicht. Aber mein Vater ist so stur …«
»Nein«, fiel Kouros ihr ins Wort.
Alle sahen ihn fragend an.
Ihm steckte ein Kloß im Hals. Er blickte kurz auf und sah in Ileanas grüne Augen. Mit zitternder Hand strich er eine Strähne ihres blonden Haares aus ihrem Gesicht. »Nein, er ist nicht stur. Er möchte nur nicht, dass ein Mann ihm seine wunderschöne Tochter wegnimmt.«
Máthair bedachte ihn mit einem Blick, der ihm zu verstehen gab, dass sie nun um seine Gefühle zu Ileana wusste. Sie nahm das leere Tablett und ließ die kleine Gruppe allein.
»Der alte Paramis ist wieder in der Stadt«, begann Zyrius aufgeregt mit einem Grinsen zu erzählen. »Er hat dieses Mal von unserer Bucht erzählt.«
»Die Bucht der weinenden Muscheln? Die Geschichte wird jedem jungen Knaben zur Warnung erzählt. Dieses Märchen ist genauso alt wie die Menschheit«, lachte Adriana. »Paramis ist ein dummer alter Greis.«
»Und wenn es keine Lüge ist? Über Götter dürfen wir nicht spotten und sie in Frage stellen, Adriana, sonst überkommt uns deren Zorn.«
Adriana blieb das Lachen im Hals stecken.
»Bist du dir da so sicher?«, zischte Zyrius. Er war über die Worte seines besten Freundes gegenüber seiner Verlobten verärgert.
»Ja, bin ich. Ich glaube an die Götter.« Kouros’ Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wie wäre es mit einer Wette, Zyrius?«
»Das klingt interessant.«
Kouros nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher. »Ich werde diese Nacht zur Bucht gehen und dort auf sie, Veneridae, warten.«
»Nein«, entfuhr es Ileana. »Bitte fordere die Götter nicht heraus.«
»Er möchte es und ich sehe ihm an, dass es ihm auch ernst ist.« Zyrius war von der Wette angetan. »Nun, Kouros, um was sollen wir wetten?«
»Sollte ich zurückkehren, ist es ein Beweis, dass es keine Götter gibt. Dann werde ich wohl einsehen müssen, dass es nur Geschichten sind, die uns erzählt werden, damit wir Ehrfurcht vor den Göttern haben. Sollte ich nicht zurückkehren, so bitte ich euch die Anwesenheit der Götter zu respektieren.«
Zyrius’ Schultern zitterten. Er konnte es nicht mehr zurückhalten und fing an zu lachen. »Und woher sollen wir wissen, dass du die Nacht auch wirklich in der Bucht verbringst und du nicht ins Nachbardorf gehst?«
Ileana griff nach Kouros’ Hand. »Ich werde mit ihm gehen. Der Legende nach werden Mädchen verschont.«
Kouros schüttelte seinen Kopf. »Nein, Ileana. Das ist viel zu gefährlich für dich. Wenn dir etwas geschehen sollte, könnte ich es nicht verkraften.«
»So kann ich aber beweisen, dass du bei der Bucht warst. Ich werde sicher nicht ins Nachbardorf gehen. Und ich werde es auch nicht zulassen, dass er vor Morgengrauen diesen Ort verlässt.«
Er spürte die belustigten Blicke seiner Freunde auf sich ruhen. Zuerst hatte er vor, alleine zu gehen und sich für die Nacht einen anderen Schlafplatz zu suchen. Er fürchtete sich davor, was ihn in der Nacht erwarten würde, wollte dies aber nicht offen zugeben. Kouros glaubte an alle Legenden und Mythen, die ihm erzählt wurden, in denen Götter vorkamen.
»In Ordnung«, flüsterte Zyrius. »Ileana soll dich begleiten. In einer Stunde werden wir euch bis zur Bucht begleiten.«
Zyrius und Kouros sahen sich lange an. Jeder versuchte dem Blick des anderen standzuhalten.
»Bis morgen.« Zyrius blickte Ileana an und grinste. »Die Nacht wird nicht langweilig werden mit ihr an deiner Seite.«
Das Mädchen errötete bis zu den Haarspitzen und senkte verlegen ihren Blick.
»Ich werde nichts dergleichen mit ihr machen!«, erboste sich Kouros. »Was denkst du von mir? Ich bin ein anständiger Mann, der die Ehre eines Mädchens nicht zerstören möchte.«
»Wie niedlich«, erwiderte Zyrius süffisant und warf Adriana einen Blick zu, der mehr preisgab, als Kouros wissen wollte.
Das Paar ließ sie ohne ein anderes Abschiedswort alleine.
»Verzeih, Ileana. Er ist wirklich ein guter Freund, aber manchmal weiß er nicht, was er mit seinen Worten anrichtet.«
Sie wagte es nicht in seine Augen zu blicken. »Ist schon in Ordnung. Ich kenne ihn ja. Und seit er heute weiß, dass er Adriana heiraten darf, ist er irgendwie anders als sonst. So vergnügt. Das heißt nicht, dass er …«
Kouros setzte sich in den Sand und betrachtete den Sonnenuntergang. »Das ist wohl die Liebe in ihm.«
Sie setzte sich neben ihn. »Warum bist du dann so ruhig?«
»Ich … Ich …« Er sah sie an. »Jeder ist anders.« Dann starrte er wieder das schöne Schauspiel vor ihm an. In seinen Ohren rauschte das Blut. Sein Herz schlug so schnell, dass er dachte, es würde in seiner Brust zerspringen.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie die dünne Tunika vom Wind an Ileanas Körper gedrückt wurde und so ihre Rundungen preisgab. Nun war er wirklich unsicher, ob er seine inneren Triebe zügeln könnte.
Das orange-rote Licht ließ die Bucht mysteriös erscheinen.
»Ist es nicht seltsam, dass so hier so viele Venusmuscheln liegen?«, hörte er Ileanas Stimme. »Das ist mir zuvor nicht aufgefallen. Erst seitdem die Sonnenscheibe den Horizont geküsst hat.«
Kouros sah ihr direkt in die Augen, dann blickte er sich um. Überrascht zog er seine Augenbrauen hoch. »Du hast Recht. Das ist schon fast unheimlich. Mich beschleicht das Gefühl, dass die Legende wahr ist.«
Er zog seine Beine enger an seinen Körper und betrachtete gequält das Meer. Er fürchtete sich vor dem, was ihn erwarten würde. Stöhnend ließ er sich mit geschlossenen Augen in den Sand fallen.
»Du hast Angst, Kouros. Das spüre ich.«
Er setzte sich schnell wieder auf, sodass ihm schwindelig wurde. »Angst? Ich?« Er versuchte nicht unsicher zu klingen. »Ich fürchte mich doch nicht, Ileana. Es ist nur etwas aufgefrischt. Die Nacht kommt mit schnellen Schritten und der Himmel ist klar.«
Beide sahen sie hoch zum Himmel, an dem sich bereits die ersten Sterne abzeichneten.
Ileana stand auf. »Ich gehe eben den Überwurf holen.«
Kouros sah ihr nach, wie sie zu einem großen Stein ging, auf dem der Überwurf und das Essen lagen. Er lächelte. Wenn die Nacht vorüber war, dann würde er um ihre Hand anhalten. Dieses Mädchen hatte es nicht verdient, für immer in einen Tempel eingesperrt zu werden.
Der Wind frischte immer mehr auf und Sand wurde in die Luft gehoben. Die ersten Mondstrahlen trafen auf die Erde und tauchten die Bucht in ein mysteriöses Licht. Ein Wimmern erklang und es hörte sich an, als ob jemand weinen würde.
Besorgt wandte Kouros sich Ileana zu, die gerade erst den Felsen erreicht hatte. Er schüttelte den Kopf und schob es auf den Wind. Dann vernahm der junge Mann ein Flüstern. Es kam vom Meer und rief ihn.
Er schloss die Augen und horchte angestrengt.
»Kouros«, wimmerte es. »Mach die Augen auf.«
Der junge Mann sah auf. Die Wellen verwandelten sich in Schaum, als sie sich am Sandstrand brachen. Als eine neue Welle an Land getrieben wurde, wurde das Wasser davor wieder ins Meer zurückgezogen.
Kouros blickte über seine Schulter und lächelte. Ileana hatte gerade den Stein erreicht und winkte ihm zu. Sie strich sich nervös eine Strähne hinter ihr Ohr. Mit der anderen Hand legte sie den Überwurf über ihre Schulter. Mit einem Lächeln hob sie das Tuch mit den Früchten, doch Entsetzen breitete sich in ihrem Gesicht aus.
»Kouros, hinter dir!«
Er wandte sich wieder der Meeresoberfläche zu, konnte aber nichts entdecken, doch etwas war anders.
Das Wasser berührte seine nackten Zehen. Leichter Schaum umspülte seine Füße. Mit der langsamen Bewegung legte er sich hin. Die nächste Welle umspülte seinen gesamten Körper.
Aus dem Schaum bildete sich eine Silhouette.
»Veneridae«, trug der Wind Ileanas Flüstern zu Kouros hin.
»Ja«, hauchte eine rauchige Stimme. »Und nun schlafe, Mädchen.«
Kouros sah im Augenwinkel, wie Ileana in den Sand sank.
»Ich tu ihr nichts, mein hübscher Kouros.«
Auf ihn lag eine Frau, die eine überirdische Schönheit besaß. Ihre Locken waren silbern und ihr Körper war wohlproportioniert. Kouros blickte in die Augen der Göttin dieser Küste und diese hypnotisierten ihn.
»Dir wird nichts passieren. Du brauchst keine Angst haben.«
Kouros blinzelte verwirrt. Eben war es noch Veneridaes Gesicht, doch nun beugte sich Ileana über ihn.
»Ileana? Aber du bist doch eben noch…«
Sanft strich Veneridae ihm den Pony aus dem Gesicht. »Du bist kurz eingenickt, als ich zu dir zurückkam, und sahst so friedlich im Schlaf aus, sodass ich dich nicht wecken wollte.«
»W-Wo ist der Überwurf und das Essen?«, fragte Kouros verwirrt.
Veneridae legte die Stirn in Falten.
»Was hast du, Ileana?«
»Nichts, Kouros. Lausche einfach dem Wind und den Muscheln.«
Der Vollmond tauchte die Bucht in silbernes Licht. Die Venusmuscheln im Sand reflektierten das Licht.
Leiser Gesang breitete sich aus. Er klang traurig, fast wie ein Jammern.
»Singen sie nicht schön? Die Muscheln singen jedes Mal bei Vollmond und nun singen sie noch viel schöner, weil sie wissen, dass du hier bist.«
»Was hat dies zu bedeuten?« Er schwieg kurz. »Du bist nicht Ileana! Du bist Göttin Veneridae.«
»Ja«, hauchte sie.
Kouros versuchte aufzustehen, doch die Göttin hielt ihn in ihrem Griff gefangen.
»Was hast du mit Ileana gemacht?«
»Sie schläft nur. Ihr wird nichts geschehen, sei da unbesorgt.« Sie lachte. »Ah, ich verstehe: Du liebst dieses Mädchen.«
Der junge Mann nickte nur.
Veneridae setzte sich rittlings auf Kouros. Beschämt starrte er auf ihren blanken Busen.
»Bin ich schön?«
»J-Ja, wunderschön.« Er war von der Stimme verzaubert. Sie verzauberte seine Sinne.
»Dann küss mich. Ich bring dir das bei, was du als Mann wissen musst.«
Ihre Lippen trafen sich. Kouros’ Händen strichen über die nackte Haut der Göttin, die bereits seinen Hals liebkoste.
Das Jammern des Windes und der Muscheln nahm zu.
»Sie singen so wunderschön. Es hört sich fast zu an, als ob die Muscheln weinen würden.«
»Sie besingen dein trauriges Schicksal, mein Kouros.«
Die Sonne ging wieder auf und kleine Vögel kündigten mit Gezwitscher den neuen Tag an.
Ileana wachte auf. Müde richtete sie sich auf und sah eine Person vor sich, die im Sand lag und etwas streichelte. »Guten Morgen, Ileana.«
Ehrfürchtig senkte das Mädchen ihr Haupt, als sie erkannte, dass sie eine Göttin vor sich sah. »Veneridae, habt Ihr Kouros gesehen?«
»Ja, er ist hier.«
Vorsichtig stand Ileana auf und näherte sich Veneridae. Entsetzt erkannte sie eine Venusmuschel in der Hand der Göttin.
»Er wird nie altern und sterben. Kouros wird wie alle anderen Jünglinge unter meinem Schutz stehen. Als Dank singen sie mir jeden Monat ihr Klagelied, welches ich so sehr liebe.«
Verzweifelt sank Ileana in die Knie. Tränen liefen über ihre Wangen. »Kouros, nein.«
Veneridae küsste die harte Kalkschale, stand auf und ging zurück zum Meer. Mit der nächsten Welle verwandelte sie sich in Schaum und verschwand.
Ileana stand auf und tat einen Schritt. »Gib ihn mir zurück! Verwandel Kouros sofort zurück.«
Mit jedem verzweifelten Ruf, den sie der Göttin hinterher rief, näherte sie sich dem Meer. Kühles Wasser umspülte ihre Waden.
»Gib mir meinen geliebten Kouros wieder zurück!«
Das Wasser reichte ihr bis zur Taille, als eine Welle sie erfasste und die Strömung sie mit sich riss.
Nun war es wieder still in der Bucht der weinenden Muscheln.
Ende
03. Elinor
Bereits seit vielen Jahrzehnten führten die beiden Fürstentümer Swid und Béohrd Krieg. Der Grund hierfür ist bereits eine Legende, da niemand mehr lebte, der sich noch daran erinnern konnte. Jedem Thronfolger wurde gelehrt, immerzu gegen den Feind zu kämpfen und die Familienehre aufrecht zu erhalten.
Das Land litt schon seit langem unter dem langen, zehrenden Krieg. Die Äcker konnten die Bauern nicht mehr bearbeiten, da die Truppen und die Schlachten die Böden aufwühlten und so unfruchtbar machten. Den Dorfbewohnern in der Umgebung fiel es immer schwerer frisches Wasser zu finden, weil die verwesenden Leichen die so dringend benötigte Flüssigkeit vergifteten. Die Wälder wurden gerodet, damit man aus deren Holz Palisaden bauen konnte; somit wurde das Gelände karger und die Waldtiere zogen sich immer weiter zurück. Die Jäger kamen immer öfters mit leeren Händen zurück. Die Familien litten an Hunger und erkrankten an der Schwindsucht, doch sie trafen bei Audienzen nur auf taube Ohren.
Der Morgen dämmerte, als Elinor aus dem Schatten des letzten Waldes trat. Sie seufzte tief, als sie die Rinde einer Erle berührte. »Mein Volk hatte es nie gewollt, dass ihr unter diesem Krieg leiden müsst.«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, umschmeichelte sie der Wind und lauschte diesem. Ihre roten Locken schienen im Luftzug zu schweben und gaben ihre Elfenohren preis. Die Strähnen fielen ihr ins Gesicht, als es wieder still wurde. Elinor löste ihren Blick vom Wald und wandte sich dem Feldlager zu, welches auf dem Hügel lag.
»Elinor!«
Die Elfe blieb stehen. Sie nahm Schemen wahr und erkannte dann, dass Geralf auf sie zukam.
»Verschwinde, Geralf! Wenn dich mein Herr sieht, wirst du getötet«, zischte Elinor. »Es ist schon schwer genug uns heimlich zu treffen.«
»Ich verstehe dich, Liebste, aber du scheinst den Auftrag unseres Volkes vergessen zu haben. Es hat zu lange stillschweigend hingenommen, dass die Menschen das zerstört haben, was es mit seinem Wissen seit Beginn der Zeitrechnung behütet hat«, erwiderte Geralf und nahm sie in seine Arme. »Der Wind hat auch zu mir gesprochen. Heute ist es Zeit, dass wir uns rächen. Die Natur hat viel zu lange gelitten.«
Elinor lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich habe Angst. All die Wochen haben wir unseren Herren vorgespielt, dass wir gegeneinander kämpfen würden. Mein Herr ist nicht dumm. Er kennt meine Fähigkeiten und hat mich bereits darauf angesprochen, warum ich dich noch nicht getötet habe.« Sie machte eine kurze Pause. »Ich fürchte ihn, Geralf. Er ist ein grausamer Mann.«
»Heute hat dies alles ein Ende, mein kleiner Phönix.« Er sah sie lange an. Ihre klaren grünen Augen waren voller Tränen. »Dein Feuer wird sie alle verbrennen und mein Wasser wird es löschen. Vater hat mir Samen gegeben, die wir gemeinsam aussäen werden.«
Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf das Land. Die Tauperlen auf den Gräsern fingen an zu verdunsten und ein dünner Nebelstreifen legte sich über den Boden. Im Wald begannen die letzten Vögel ihr Lied.
»Ich muss gehen, Geralf. Mein Herr erwartet mich.« Elinor löste sich von ihrem Liebsten, doch dieser zog sie wieder schnell in seine Arme. Seine Lippen legten sich flüchtig auf ihre. Seufzend strich sie über seine hellbraunen langen Haare.
Nervös tänzelte die weiße Stute auf der Stelle. Das Tier spürte die Aufregung, die von Elinor ausging. Heute würde sie zu einer Mörderin vieler Familienväter werden. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an die Frauen und Kinder dachte, die keine Schuld an diesem Krieg hatten.
Die Naturgeister wollten Rache dafür, dass die Menschen sie geschändet hatten und baten die Elfen und ihre Magie um Hilfe.
Elinor war in Gedanken versunken und erschrak, als ihr eine Hand auf ihre Schulter gelegt wurde. Sie verfluchte sich selbst für ihre Unachtsamkeit. Im Kampf hätte dies ihr Leben gekostet.
»Nun, meine Magierin, seid Ihr bereit für die heutige Schlacht? Ich zähle auf Euch. Der Magier von Swid soll heute vernichtet werden. Ich bin diese Fehde langsam leid. Heute soll der Tag sein, an dem ich den Fürsten Andrós vernichten werde. Dafür benötige ich deine Hilfe. Béohrd soll noch mächtiger werden und mit mir als zukünftigen König wird dieses große Reich erstrahlen.«
»Mein Herr, Corvus, ich …«
Der Fürst warf ihr einen süffisanten Blick zu. »Ihr werdet als meine Königin regieren. Mit einer mächtigen Feuermagierin an meiner Seite wird selbst der Großkönig es nicht wagen, mich anzugreifen. Und mit Euch werde ich mein Reich noch mehr vergrößern können. Sei es durch noch mehr Krieg.«
Die Elfe versuchte ihre Wut zu unterdrücken. Sie sah ihm in die Augen und wusste, dass er sie zur Königin nehmen würde, auch wenn sie seinen Antrag ablehnte.
Dann sprach Corvus die Wörter aus, die sie befürchtete: »Solltet Ihr ablehnen, Elinor, werde ich Euch als Hexe verbrennen lassen. Mein Volk fürchtet Euch und Eure Fähigkeiten. Euer feuerrotes Haar und Eure katzengleichen Augen lässt es noch mehr vor Angst erzittern. Ihr seid bei mir in Sicherheit, Elinor.«
Sie nickte. »Das ist mir bewusst, mein Herr.«
Corvus lächelte und ritt zurück zu seinem befehlshabenden Kommandanten.
Elinor verkrampfte ihre Hände und zitterte am gesamten Leib, sodass ihre Rüstung klapperte. Sie griff nach dem Schwert an ihrer Seite.
Noch mehr Krieg konnte das Land nicht verkraften. Noch mehr Krieg konnte sie nicht verkraften.
Sie spürte, wie ihr Hass auf Corvus ihre Macht anfachte. Die Elfe konnte es kaum erwarten, die Streitmächte zu zerschlagen.
Da kam auch schon das Signal zum Angriff. Mit Kriegsrufen ritten und liefen die Soldaten an ihr vorbei. Die Bogenschützen traten neben Elinor. Als diese ihre Bögen spannten, entfachte die Elfe mit einer Handbewegung die Pfeilspitzen mit Feuer.
Ein Feuerregen ging auf die feindlichen Soldaten nieder, doch diese wurden von einem Schild aus Wasser geschützt. Das Wasser bündelte sich und wurde als Welle auf Elinor und den Männern Corvus’ zurückgeworfen.
Die Elfe reagierte scheinbar zu langsam, denn zehn der Bogenschützen wurden von dem Wasser fortgerissen und ertranken jämmerlich. Um den Schein zu wahren, zog sie ihr Schwert und verwandelte die Klinge in eine Flamme. Sie hob es über ihren Kopf.
»Phönix, der du mir die Macht verleihst! Ich rufe dich!«, beschwor sie das Feuer.
Das Fauchen von Feuer erklang, welches von einem gellenden Schrei gefolgt wurde. Aus den Flammen der Klinge materialisierte sich der gerufene Phönix. Der Vogel segelte in Kreisen in den Himmel. Dort verharrte er.
Elinor starrte zu ihm empor. Wenn sie jetzt das Schwert hinunterriss, verbrannten alle Männer elendig. Sie sah die weinenden Frauen und Kinder vor sich, die den Tod ihrer Männer betrauerten, die gefallen waren. All diese Männer konnten nichts für den Krieg, sie führten nur die Befehle der beiden Fürsten aus. Die Elfe zögerte immer noch. Schweiß lief an ihrer Schläfe hinab und ihr Schwertarm zitterte.
Niemand konnte ihr diese Entscheidung abnehmen. Nicht einmal Geralf, der darauf vertraute, dass sie den Plan ausführte.
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und riss das Schwert nach unten. Der Phönix im Himmel schrie und schlug seine gewaltigen Schwingen nach unten. Eine Feuerwalze wurde auf das Schlachtfeld geschleudert.
Sie konnte Corvus lachen hören, als er sah, dass das Feuer sich durch die Reihen seiner Gegner fraß. Elinor warf einen Blick über die Schulter. Sie spürte schon die Hitze, die auf sie zukam und konnte Corvus ansehen, wie ihm das Lachen im Halse stecken blieb.
Dann umarmte das Feuer die Elfe. Sie lachte, als sie Corvus vor Schmerz schreien hörte und er am lebendigen Leib verbrannte.
Geralf kam mit schnellen Schritten auf Elinor zu, die gerade ihre roten Locken mit einem Lederband bändigte.
»Es ist getan, Liebste«, flüsterte er. Er betrachtete das brennende Schlachtfeld unter sich. Geralf entkorkte die Flasche, die an seinem Gürtel hing und goss das Wasser in seine hohle Hand. Mit einer ausholenden Bewegung warf er die Flüssigkeit in die Luft. Als sie wieder niederkam, vervielfachten sich die Tropfen und ein leichter Regen ging auf die geschundene Erde nieder. Nun holte er die Samen aus einem Lederbeutel hervor, der um seinen Hals – verborgen unter der Rüstung – hing. Er gab ihr eine handvoll Samen und zusammen verstreuten sie alles in jede Himmelsrichtung. Der Wind erfasste die Saat und trug sie dorthin, wo sie benötigt wurde.
»Was wird aus den Frauen und Kindern, Geralf? Sie waren unschuldig und verloren heute all ihre Männer und Väter. Viele der Soldaten sind in die Schlacht gezogen, weil sie es mussten. Ich konnte teilweise ihre Gedanken lesen. Viele sträubten sich gegen den Krieg.«
Der Elf lächelte sie sanft an. »Es muss diese Opfer geben, Elinor. Auch wenn viele Unschuldige heute starben, sie haben dennoch das Land zerstört und dies können wir nicht dulden.«
Elinor wandte ihren Blick dem Schlachtfeld zu und konnte ihre Tränen kaum verbergen.
»Wir sollten zu meinem Vater zurückkehren und ihm berichten, dass wir erfolgreich waren. Das Land hier wird jetzt wieder gedeihen mit Hilfe der Naturgeister.«
Während die Elfe sich auf ihre weiße Stute schwang, liefen ihr Tränen über die noch vom Kampf geröteten Wangen. Sie wandte ihren Blick vom Schlachtfeld ab, stieß ihre Fersen in die Flanken des Tieres und ritt Geralf hinterher.
Ende
04. Winternacht
Schneeflocken fielen vom Himmel hinab und überzogen die Welt mit einer weißen Decke. Nur der nächtliche Wind wirbelte vereinzelt den Puder auf. Die alten Fachwerkhäuser von Mont Brison sahen aus wie Lebkuchenhäuser mit Puderzuckerguss auf den Dächern.
Ein Teil der dicken Wolkendecke riss auf und das fahle Licht des Mondes tauchte die Schneelandschaft und das Dorf in ein mysteriöses Licht. Die Eiszapfen wirkten wie silberne Dolche, die von den Dächern hingen.
Die Tür eines Bauernhauses wurde geöffnet. Heraus trat eine junge Frau, die ihren Rock raffte und zum nahegelegenen Pferdestall lief. Kurz bevor sie ihn erreicht hatte, riss ihr der Wind die Haube vom Kopf und trug sie fort. Ein paar Haarsträhnen ihres dunkelblondes lösten sich aus dem fest gebundenen Dutt. Erschrocken blieb sie stehen und wollte ihrer Haube hinterherlaufen.
Sandrine …
Sandrine zog überrascht ihre Schultern hoch und sah in die Nacht. Sie hatte sich eingebildet, dass der Wind ihr ihren Namen ins Ohr geflüstert hatte.
Die junge Frau öffnete vorsichtig die Stalltür und sah hinein. Enttäuscht stellte sie fest, dass er noch nicht zur verabredeten Zeit da war, betrat aber dennoch den Stall und setzte sich auf einen Strohballen, um auf ihre Verabredung zu warten.
Gelangweilt sah sie sich im trüben Licht um und lauschte dem leisen Schnauben der Pferde. Sie wusste nicht, wie lang sie bereits wartete, als sie ein Geräusch vernahm, das ihrer Meinung nach nicht in einen Pferdestall gehörte. In ihren Ohren klang es wie ein zufriedenes Gurren. Von ihrer Neugierde angetrieben erhob sie sich von ihrem Platz.
»Heda! Wer ist hier im Stall?«
Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, sah sie einen Schatten, der aus einer Pferdebox sprang und durch eine offene Stallklappe floh.
Sandrine lief zur Box und wollte nach dem Tier sehen. Vorsichtig öffnete sie Tür. Das Pferd ließ matt seinen Kopf hängen und schnaubte aufgeregt. Um es zu beruhigen strich sie dem Tier über die Nüstern, legte eine Hand auf den starken Hals und sprach leise mit ihm.
Als das Pferd sich beruhigt hatte, entfernte sich Sandrine von ihm. Im Schein einer Lampe wischte sie ihre Hände an ihrer Schürze ab.
»War wohl eine der Katzen, die sich erschrocken hat.«
Der Wind hatte zugenommen. Er drang durch die Ritzen des Stalles und heulte sein grausames Lied. Die Stalltür wurde von einer Böe erfasst. Die Tür schwang mit einem lauten Krachen auf.
Sandrine, Sandrine, Sandrine …
Immer wieder flüsterte der Wind ihr ihren Namen ins Ohr.
Angstschweiß trat aus den Poren der jungen Frau. Das Herz schlug schnell in ihrer Brust und drohte zu zerbersten. Ihre Angst ließ all ihre Muskeln anspannen und machte sie zur Flucht bereit.
»Sandrine …«
Sie sah in das bleiche Antlitz des Mannes, welcher sie in den Stall bestellt hatte.
»Vicômte, ich dachte, Ihr würdet nicht mehr kommen. Ich hatte große Angst«, flüsterte Sandrine und schlang ihre Arme um seinen Körper.
Der Vicômte lächelte und strich ihr über das Haar. »Ich bin gekommen, wie ich es dir versprochen habe.«
Er küsste mit seinen kalten Lippen ihre Stirn. Sandrine hob ihren Kopf und sah in die tiefblauen Augen des Mannes. Die Augen hypnotisierten sie. Sie fühlte sich sicher in seinen Armen. Sie war bereit für alles. Egal, was er mit ihr vorhatte.
Der Vicômte drückte sachte den Kopf der jungen Frau in den Nacken. Mit seiner Nase nahm er den süßlichen Geruch des Blutes auf, das in Sandrines Adern pulsierte. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten und durchstach mit seinen Eckzähnen die zarte Haut.
Gierig sog er das Blut aus der Hauptschlagader. Mit jedem Schluck nahm er mehr von ihrem Leben auf.
Sandrine erschlaffte in seinen Armen. Ihr Herz schlug nicht mehr. Wieder hatte er ein Menschenleben genommen.
Vorsichtig legte er den Körper des toten Mädchens ins Stroh und verließ den Stall. Er hatte sich noch nicht weit vom Gehöft entfernt, als der Wind ihm eine Haube in die Hand blies.
Sandrine …
, wimmerte der Wind leise.
Ende
05. Die letzte Reise
Die Sonne stand hoch am Himmel, jedoch durchbrachen kaum ihre Strahlen das dichte Blätterdach des Amanwaldes. Eine feuchte Hitze baute sich zwischen der Flora auf.
Die Frauen des Amazonenstammes Torîl legten ihre Arbeiten nieder und zogen sich in die kühlenden Schatten ihrer Lehmhäuser zurück.
Einzig aus der großen, mit Blumen geschmückten Hütte der alten grauhaarigen Schamanin Néara ertönte ein monotoner Gesang. Ein süßlicher Weihrauchduft wehte jeder Frau entgegen, wenn sie die Hütte passierte.
»Göttlicher Dinësh, Tag für Tag schickst du uns deine kraftvollen Strahlen. Ich flehe dich an, deine Macht zu zügeln. Die Hitze trocknet die Tränken des Viehs aus. Unser Getreide auf den Feldern geht ein.« Ein qualvolles Husten erklang von der alten Néara, welches sie in der Meditation störte. Fast kraftlos stützte sie sich ab und rang nach Luft. Vereinzelt klebten Strähnen ihres ergrauten Haares in ihrem schweißnassen Gesicht.
»Mutter? Oh, bei allen Göttern!« Aaryanna betrat die Hütte. Vor Schreck ließ sie die Tonschale mit den Lilienblüten fallen, die sie eben im Garten gepflückt hat. Die junge Frau eilte zu ihrer gebrechlichen Mutter. »Hast du dich heute noch nicht mit dem Thymianöl eingerieben?«
»Meine Tochter, gegen das Alter ist kein Kraut gewachsen. Ich spüre es. Ich spüre das Ende meines sterblichen Lebens.«
Tränen liefen über die zarten Wangen der jungen Aaryanna. Mit zitternder Hand strich sie ihr feingelocktes dunkelbraunes Haar hinter das rechte Ohr. »Nein, Mutter, sag bitte nicht das. Es ist noch zu früh für dich.«
Ein mildes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Schamanin aus. Vorsichtig legte sie ihre runzelige Hand auf das Haar ihrer Tochter. »Deine Ausbildung zur Schamanin ist bereits abgeschlossen, Aaryanna. Du bist klug und weise. Dein Wissen kannst du hervorragend anwenden. Ich jedoch bin eine alte Frau, die keinen Mörser mehr halten kann. Nicht einmal die Meditation kann ich ohne Unterbrechungen durchführen.«
Erschöpft vom Sprechen schloss Néara ihre Augen. Ein Rasseln erklang aus ihrer Lunge.
»Mutter?«, flüsterte Aaryanna mit tränenerstickter Stimme.
»Tochter. Die Zeit für mich ist gekommen. Mit meiner verbleibenden Kraft werde ich auf den Veda gehen und dort meine ewige Ruhe finden.« Néara richtete sich ächzend auf. Mit wackeligen Knien humpelte sie in Richtung Tür.
»Mutter, ich werde dich begleiten. Ich will nicht, dass du alleine stirbst.«
»Ich hatte gehofft, dass du diese Worte aussprechen wirst. Es ist als meine Nachfolgerin deine Pflicht mich zu begleiten. Nur so erlangst du den Segen der Götter und von den Göttern als Schamanin akzeptiert.«
Die beiden Frauen verließen ihre Hütte, während Aaryanna ihre Mutter stützte. Néara hatte kaum noch die Kraft zu laufen.
Die anderen Frauen beobachteten dies und kamen aus ihren Hütten.
»Ehrwürdige Néara…«
»Der Veda ruft mich, meine Freundinnen. Ich bin alt und meine Tochter wird meinen Platz einnehmen. Lebt wohl.«
Die Frauen fingen an zu jammern. Sie umarmten ihre scheidende Schamanin und vergossen viele Tränen. Néara wurden bunte Bänder ins Haar geflochten. Ein kleines Mädchen hängte ihr eine Kette aus Nagetierknochen und Federn von exotischen Vögeln um den Hals.
»Ihr ward eine sehr gute Schamanin und habt uns bei vielen Krankheiten geholfen«, sagte die Stammesanführerin, die aus ihrer Hütte kam. Eine prachtvolle Pfauenfederkrone zierte ihren Kopf, während ein scharlachrotes Tuch um ihre Hüften geschlungen war.
Aaryanna und Néara und auch die anderen Frauen neigten ihre Köpfe.
»Trauer erfüllt mein Herz, wenn ich daran denke, dass du nun zu den Göttern gehen wirst. Aber Freude kommt in mir auf, da ich weiß, dass deine Tochter eine sehr gute Lehrmeisterin hatte und so gerecht dein Erbe antreten kann.«
»Das Wissen wird auch nur von der Mutter an die Tochter weitergegeben«, lächelte die alte Schamanin.
Die Stammesanführerin stieß einen Schrei aus, dem alle Frauen mit einstimmten.
Mit einer Gänsehaut wandte sich Aaryanna von ihnen ab. Sie konnte es sich nicht vorstellen, von nun an allein die Schamanin des Stammes zu sein. Ihre Mutter hatte ihr immer als Rückenstärkung gedient.
»Du wirst das schaffen, das weiß ich, meine Tochter«, ermutigte Néara sie.
Beide liefen sie tiefer in den Wald hinein. Die Schwüle war schier unerträglich, sodass Aaryanna ihre Mutter auf den Rücken nahm und sie weiter Richtung Veda trug. Sie spürte, wie ihre Kräfte sie verließen, doch musste sie es schaffen, da sie selbst von den Göttern den Segen erhalten wollte.
Der Schweiß lief an ihr herab. Das weiße Hüfttuch klebte an ihrer Haut, als sie eine Lichtung in dem dichten Regenwald erreichten.
»Wir sind da«, flüsterte Aaryanna ihrer Mutter zu. »Aber ich sehe den Göttlichen Berg nicht, Mutter.«
Die alte Frau öffnete ihre Augen und lächelte. »Ich sehe ihn. Nur eine Gesegnete, die sterben wird, kann ihn sehen.«
Aaryanna stockte. »Aber wie soll ich…?«
»Die Götter werden sich dir zeigen, wenn sie meinen, du wärst meiner würdig, Aaryanna«, unterbrach Néara sie. »Ich werde nun in die Mitte der Lichtung laufen, die du gerade siehst. Deine Pflicht ist es, hier stehen zu bleiben, sonst wirst du dich in der Unendlichkeit verlieren.«
Die Tochter umarmte ihre Mutter. Ihre Augen brannten, unablässig liefen Tränen aus ihren Augenwinkeln. »Ich werde dich nie vergessen, Mutter. Du warst so voller Güte und hattest sehr viel Geduld mit mir.«
»Lebe wohl, meine Tochter«, flüsterte die Sterbende. Mit letzter Kraft schritt sie auf den Berg vor ihr zu. »Ihr Götter! Ihr habt mich vor fünfzig Jahre zur Schamanin des Stammes Toríl erwählt. Nun flehe ich euch an: Gebt mir die Ruhe, die ich verdiene und gebt meiner Tochter Aaryanna den Segen, den ihr mir einst gab.«
Aaryanna hatte ihre Mutter aus den Augen verloren. Ihr schien, ihre Mutter wäre in einem Nebel verschwunden. Sie wollte Néara hinterherlaufen, doch sie erinnerte sich an die Warnung ihrer Mutter. Widerwillig blieb sie an ihrem Platz stehen und wartete ungeduldig auf das, was wohl passieren würde.
Enttäuscht dachte sie, die Götter würden sie als Schamanin verweigern.
Doch dann wurde die Lichtung von einem hellen Licht erfüllt. Sie schloss ihre Augen, als sie geblendet wurde.
»Öffne deine Augen, Götterkind«, hörte sie eine sanfte Stimme.
Vorsichtig hob sie ihre Augenlider und blinzelte kurz. Aaryanna sah einen Mann vor sich, der eine goldene Haut hatte. Als sie erkannte, wer vor ihr stand, warf sie sich auf die Knie. »Göttlicher Dinësh.«
»Stehe auf und sieh.«
Neugierig blickte sie an ihm vorbei. Ihre Augen weiteten sich, als sie einen Berg vor sich sah.
»Der Göttliche Berg Vedu«, sagte sie ehrfürchtig.
»Aaryanna…«
»Mutter«, keuchte die junge Frau. Sie konnte ihren Augen nicht trauen, als sie ihre Mutter vor sich sah, die um Jahre jünger war. Ihr faltenloses Gesicht wurde von tiefschwarzen Locken umrahmt und in ein goldenes Gewand gehüllt.
»Ich werde nun zu den Göttern gehen. Lebe wohl, meine Tochter.« Néara blickte auf, als ein Regenbogen über ihr erschien. Sie hob zum Abschied ihren linken Arm und trat in das bunte Licht von grün, blau, rot und orange. »Ich liebe dich, Aaryanna.«
»Mutter!«, schrie Aaryanna, als Néara in einem gleißenden Licht verschwand.
»Ihr wird es bei uns an nichts fehlen, Schamanin des Stammes Toríl. Ich habe erkannt, dass du dem Erbe deiner Mutter würdig bist. Kehre nun zurück in dein Dorf und nimm deine Arbeit auf.«
Die Brünette senkte ihren Kopf zum Gruß.
Der Gott verschwand und Aaryanna fand sich auf der Lichtung wieder. Tiefe Trauer erfüllte ihr Herz, als sie sich zum Gehen umwandte. Sie stockte kurz, als sie merkte, dass etwas in ihr anders war. Sie blickte über ihre Schulter, doch da war niemand, der ihr noch etwas mitteilen wollte.
»Schamanin Aaryanna«, hallte die Stimme Dinësh’ über die Lichtung. »Lehre dem Götterkind in dir das, was du von Néara gelernt hast.«
Die junge Schamanin konnte es nicht fassen. Sie hatte das Kind Dinësh’ empfangen, damit die uralte Tradition weitergeführt werden konnte.
Ende
05.
Der Duft der Mandelblüte
Eine Tiara aus Diamanten zierte den blonden Schopf der jungen Frau. Sie funkelte in den verschiedensten Farben, als sich das Licht, das von den silbernen Lüstern kam, in den Edelsteinen brach.
Die Ballgäste applaudierten, als Jewel Melody April Hope de l’Amande den Saal betrat. Ihre ozeanblauen Augen strahlten vor Freude, da viele der jungen Männer sie zu ihrem Thron begleiten wollten. Sie liebte es, wenn sie so umgarnt wurde, wenn sie beachtet wurde.
Eine Träne, einer Perle gleich, lief an der Wange hinunter, so gerührt war sie von der Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde.
Die Männer – egal ob alt oder jung – konnten ihre Augen nicht von ihr abwenden. Jewel gehörte zu den schönsten Frauen im Reich. Blonde Haare mit engelsgleichen Locken umrahmten ihr feingeschnittenes Gesicht. Die zierliche Stupsnase, die großen blauen Augen und die vollen roten Lippen ließen jedes Männerherz höher schlagen und jeder wollte sie beschützen.
Ihr Körper hingegen passte gar nicht zu ihrem kindlichen Gesicht. Sie besaß eine feengleiche Figur. Der Verstand der Männer setzte aus, wenn sie Jewels wohlgeformte Oberweite und Hüfte und die schmale Taille sahen.
Mit einem Lächeln setzte sich Jewel Melody April Hope de l’Amande auf ihren goldenen Thron. Eine Vorfreude stieg in ihr auf, als sie ihre geladenen Gäste ansah. Sie war froh darüber, dass so viele ihrer Freunde zu ihrem achtzehnten Geburtstag gekommen waren und konnte es gar nicht erwarten, die Geschenke zu öffnen.
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und blieb an einem stattlichen jungen Mann hängen, dessen Haare schwärzer waren als die Nacht und im Nacken zu einem Zopf gebändigt waren. Seine klaren eisblauen Augen ruhten seit einer Weile auf ihr.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Muskeln sah, die sich unter seiner engen Kleidung abzeichneten. Sie spürte, wie ihr Kopf feuerrot wurde, als er ihr zunickte.
»Wer ist das, Mimi?«
Ihre Zofe Mimi beugte sich zu ihr hinunter. »Das ist Gordon Errol of Taunt. Er müsste drei Jahre älter sein als Ihr. Wie ich gehört habe, hat er schon seit Eurem sechzehnten Geburtstag an Euch Gefallen gefunden, doch Euer Vater hatte ihm verboten das Schloss noch einmal zu betreten, so lang er noch unter den Lebenden weilte.«
»Und Vater ist vor einem Monat gestorben, so kann er das Schloss wieder frei betreten.«
»Habt Ihr Euch denn nicht gewundert, dass seit Eurem Geburtstag vor zwei Jahren, die Attentate auf Euren Vater, Gotte habe ihn selig, zunahmen?«
Jewel sah ihre Zofe wütend an. »Du dumme Kuh! So etwas würde Gordon nie tun! Sieh doch sein unschuldiges Gesicht an! Dieser Mann hätte nie meinen Vater töten wollen! Scher dich fort und komme nie wieder!«
Mimi sah sie entsetzt an. »Ihr benehmt Euch wie ein naives Kind.« Sie raffte ihre Röcke und verließ den Saal um nie wieder zurückzukehren.
Alle Augenpaare waren auf Jewel Melody April Hope gerichtet, die versuchte ihre Wut auf Mimi zu unterdrücken.
Gordon Errol of Taunt würde so etwas nie machen!
»Was seht ihr mich so an? Wo sind meine Geschenke?«, fuhr sie ihre Gäste an. »Ich bin wahrlich etwas verstimmt. Bringt mir meine Geschenke!«
Ihr Herz hüpfte vor Freude, als Gordon als erster zu ihr kam.
»Mylady, Euer Herrschername heißt übersetzt Mandel. Ich habe meinen besten Parfümier darum gebeten einen Duft aus Mandelblüten für Euch zu zusammenzumischen. Zu meiner Freude hat er es getan.«
Einer seiner Diener brachte ihm ein Flakon aus durchsichtigem Kristall. Eine rosafarbene Schleife war um den Hals des zarten Fläschchens gebunden und in klaren Lettern stand auf dem Etikett Odeur de la fleur d'amande.
Jewel fühlte sich geschmeichelt. Noch nie hatte jemand ihr so ein persönliches Geschenk überreicht.
»Ist es mir erlaubt, dem Geburtstagskind einen Hauch des Duftes auf die lieblichen Handgelenke zu träufeln?«
Sie spürte, wie das Blut vermehrt durch ihre Wangen floss. Sie nickte, stand auf und ging zu Gordon hin. Sie hielt ihm ihre behandschuhte Hand hin.
Vorsichtig zog er den Handschuh aus und hauchte einen Kuss auf ihren empfindlichen Handrücken.
Jewel Melody April Hope bekam eine Gänsehaut. Lust durchströmte ihren Körper. Sie spürte die neidischen Blicke aller Männer und Frauen, doch sie konnten nichts dagegen machen. Sie hatte ihn auserwählt und er sie.
Gordon öffnete das zierliche Fläschchen. Eins, zwei, drei Tropfen fielen auf Jewels Haut, die er vorsichtig verstrich und blickte sie erwartungsvoll an, als sie daran roch.
»Was für ein süßlich-lieblicher Duft, oh mein Gordon Errol of Taunt! Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe!«
»Das freut mich, dass Ihr so entzückt seid. Mein Parfümier saß über zwei Jahre an der Formel. Seit Euer Vater mich des Hofes verwiesen hat, konnte ich nur noch an Euch denken. Mein Herz sehnt sich nach Eurer Liebe, ich verzehre mich nach Euch.« Er schloss sie in seine Arme. »Bitte, oh meine Jewel Melody April Hope de l’Amande, werdet meine Frau!«
Perlentränen kullerten über ihre Wangen. »Ja, ich will die Eure sein.«
Die Geburtstagsgäste seufzten vor Freude und applaudierten.
»HAHAHAHAHAHIHIHIHIHAHAHA!«, lachte Gordon plötzlich los und warf den Flakon auf den Boden. »Du wirst für immer zu mir gehören, du törichtes Weib!«
Der süße Duft benebelte Jewels Sinne, sodass sie in Ohnmacht fiel.
Jewel wachte in einem dunklen Verlies wieder auf. Nur das fahle Mondlicht schien durch die vergitterten Fenster.
Sie wollte aufstehen, doch sie merkte, dass ihre Hände in Ketten lagen.
»Na, mein kleines Kätzchen, bist du wieder aufgewacht?«
Ihre Gedanken wurden schlagartig klar, als sie in das hässlichste Gesicht blickte, das sie bis jetzt gesehen hatte. Die grauen Haare hingen strähnig und fettig vom Kopf und viele Falten und Narben zierten das Gesicht des Mannes. Als er sie dreckig angrinste, sah sie, dass viele seiner Zähne fehlten.
Ekel stieg in ihr empor, als er sie anfassen wollte. Verzweifelt trat sie nach ihm. »Fass mich nicht an, du abgrundtief hässliches Ekelpaket!«
»Wieso? Wir sind verlobt. Du hast mir vor den Augen deiner Geburtstagsgäste deine Treue geschworen, meine Mandelblüte.«
Tränen der Verwirrung stiegen in ihre Augen. »Nie und nimmer hätte ich so einen Mann wie dir mein Einverständnis der Verlobung gegeben! Dein Parfüm hat bestimmt meine Sinne getrübt, weil ich in dir einen Schönling gesehen habe!«
»Das war ein Illusionszauber«, grinste er böse. »Ich habe nur sein Aussehen angenommen, aber ich heiße wirklich Gordon Errol Taunt. Ich bin der Spott auf zwei Beinen.« Er machte ein trauriges Gesicht und schniefte etwas. »Vor zwei Jahren, als ich Euch das erste Mal gesehen habe, habe ich bei Eurem Vater um Eure Hand angehalten. Doch er jagte mich von seinem Hof. Als ich dann gesehen habe, wie er Gefallen an einem jungen Burschen namens Alexandre Patrice le Saveur gefunden hatte, wurde ich eifersüchtig«, jammerte er.
Jewel Melody April Hope sah ihn mit großen Augen an.
»Ich habe Alexandre entführt und ihn in ein dunkles Verließ gesperrt. Die zwei Jahre habe ich nach dem Duft gesucht, der Eure Sinne betören sollte und gleichzeitig einen Trank entwickelt, mit welchem ich für ein paar Stunden das Aussehen von Alexandre annehmen konnte.«
»Du Widerling! Was hast du mit ihm gemacht?«, spie sie ihm ins Gesicht
»Er müsste schon längst tot sein! HAHAHAHAHAHAHAHAHAHAHA!«
»NEIN!«
Jewels Herz zog sich zusammen. Der Mann, den sie liebte, war tot!
Die Kerkertür wurde aufgestoßen. Herein trat Mimi.
»Mimi?«, schluchzte das arme angekettete Mädchen. »Aber… Ich habe dich doch fortgejagt!«
»Und ich sollte zusehen, wie du ins Unglück rennst?« Dann sah sie Gordon an. »Sieh an, so trifft man sich wieder.«
»Ich habe dich noch nie gesehen, Weib! Gegen mich kannst du nichts ausrichten! Gegen meine Magie bist du machtlos!«
Mimi hob ihre Arme über ihren Kopf und rief: »LIFT THE ILLUSION!«
Grelles Licht umgab ihren Körper und wurde nach ein paar Sekunden wieder dunkler.
»Du?« Gordon sah die Person vor sich mit großen Augen an. »Aber du müsstest schon längst tot sein!«
Jewel erkannte, wer da vor ihr stand. »Alexandre Patrice le Saveur?«
Er sah sie milde an. »Ja, meine Liebste. Eine gute Zauberin hat einen Illusionszauber über mich gelegt, nachdem ich es geschafft hatte, dem Kerker zu entfliehen. Als Mimi habe ich mich bei dir eingeschlichen, damit ich immer in deiner Nähe sein konnte. Ich habe deinem Vater geschworen, immer auf dich aufzupassen, egal in welcher Gestalt.«
»Oh, Alexandre, ich wusste, dass jemand in meiner Nähe war. Meine Liebe zu dir hat es mir verraten.«
»Nein! Das ist meine Frau!«, schrie Gordon Errol of Taunt. »DEADLY BLOOD POISON!«
Alexandre wich dem Zauber geschickt aus. Geschmeidig wie eine Katze bewegte er sich.
Mit magischen Worten rief Alexandre nach seinem Schwert, welches sich in seiner Hand materialisierte. Er packte den bösen Mann und stieß das Schwert in dessen Brust.
Gordon spie Blut und brach tot zusammen. Rauchwolken stiegen von seinem Körper empor und er verschwand.
»Oh, meine Geliebte Jewel. Er ist nun endlich tot und du kannst in Frieden leben.« Alexandre löste die Fesseln von ihren Handgelenken.
Schluchzend schlang Jewel Melody Hope April ihre Arme um seinen Hals. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Sonst hätte ich nicht gewusst, was er mir angetan hätte.«
»Was musstest du dumme Gans mich auch wegschicken? Ich hätte es als deine Zofe nie so weit kommen lassen dürfen.«
»Ich konnte deine Widerworte nicht ertragen und wurde wütend. Aber du warst ja da. Wie hast du mich gefunden?«
»Ich bin dem Duft des Parfüms gefolgt, das er dir geschenkt hatte. Etwas Gutes hatte dieses Parfüm letztendlich doch.«
Er presste seine Lippen auf ihre und sie erwiderte seinen Kuss. Diese Leidenschaft hatte sie sich schon immer ersehnt.
Alexandre hob sie ihn seine Arme. Er trug sie zu seinem Schimmelhengst und setzte sie vorsichtig in den Sattel. Er selbst setzte sich hinter sie und gab dem Pferd die Sporen.
Zusammen ritten sie zurück zum Schloss von Jewel Melody April Hope de l’Amande.
Die Gäste waren alle froh darüber, dass ihre gütige Herrscherin unversehrt zurückgebracht wurde.
Jewel gab bekannt, dass sie Alexandre Patrice le Saveur heiraten wollte. Jubel brach aus und die gute Nachricht wurde mit viel Champagner angestoßen.
»Ich werde dir von nun an zu jedem Geburtstag ein Mandelblütenparfüm schenken. Es soll an den Tag erinnern, an dem ich dich wiederfand und rettete, meine Liebste«, flüsterte Alexandre ihr ins Ohr.
»Das wird unser Duft der ewigen Liebe sein, oh Alexandre.«
Ende
07. Aussterben
Seit Tagen herrschte eine brütende Hitze im Tal. Es standen kaum noch Bäume, die Schatten warfen und somit einen Schutz vor der Sonne gaben. Die Wasserlöcher waren nahezu ausgetrocknet und es kam unter den Tieren zu Streitereien, um den letzten schlammigen Tropfen Wasser zu erhalten.
Erdbeben erschütterten immer häufiger die Erde und seit Tagen stand eine Kilometer hohe Rauchsäule über dem Gipfel des Vulkans. Kleinere Lavaströme fanden bereits ihren Weg ins Tal. Giftige Schwefeldämpfe drangen aus Erdspalten.
Eine Herde von Pachycephalosaurier, deren Schädeloberseite kuppelförmig wegen der extrem dicken Schädeldecke wirkten, durchstreifte die Ödnis. Sie fanden nur wenige Farne, die sie fressen konnten und blieben deshalb immer nur kurz stehen, um ihren Hunger stillen zu können. Unter ihnen befanden sich Triceratops. Die mächtigen Tiere der Gattung Ceratopsidae wanderten seit Tagen mit den Pachycephalosaurier umher, um die Herde bedrohlicher auf ihren größten Feind wirken zu lassen, den Tyrannosauriern.
Die Tiere erreichten eine Wasserstelle. Gierig hielten sie ihre Mäuler in das kühle Nass, um ihren Durst zu löschen. Die Jungtiere drängten sich an den Alten vorbei und gerieten in Gefahr, niedergetrampelt zu werden. Die Saurier brüllten wütend, da nicht alle Platz am Ufer hatten und kämpften um die besten Plätze.
Flugsaurier der Gattung Quetzlacoatlus, der größte unter den Flugsauriern in der Ära der Echsen mit seinem typischen roten Kopf, kreisten über deren Köpfe. Sie suchten den Boden nach Tierkadavern ab. Sie schlugen kaum mit ihren Flügeln, sondern ließen sich vom warmen Aufwind tragen.
Ein leichtes Beben, das immer stärker wurde, ließ die Tiere an der Wasserquelle aufschrecken. Die Herde wurde panisch, als ein lautstarkes Donnern durch das Tal hallte.
Eine tiefschwarze Wolke aus Rauch und Asche wurde aus dem Schlot des Vulkans geschleudert. Es bildeten sich Risse im trockenen Boden, heißer Dampf trat hervor. Ein Riss weitete sich aus und das Wasser der Trinkstätte verschwand im Boden.
Panik ergriff die Herde und die Tiere liefen davon. Jungtiere wurden niedergetrampelt und die erwachsenen Tiere schoben sich gegenseitig aus dem Weg, manche stürzten dabei.
Erste Fels- und Lavabrocken fielen auf die Erde. Ein Strom aus Lava bahnte sich einen Weg ins Tal. Bimssteine regneten auf die Tiere hinab und Ascheflocken rieselten vom bereits verdunkelten Himmel.
Je mehr sich die Tiere vom Vulkan entfernten, desto ruhiger wurden sie. Sie blieben neben einem Waldhain stehen und fingen an zu grasen, jedoch spürten sie die Gefahr nicht, die hinter den Büschen des Waldes lauerte.
Aus dem Gehölz brach ein Tyrannosaurus hervor. Die Pachycephalosaurier und Triceratops gingen in Angriffstellung.
Der Fleischfresser brüllte wütend, als er die Gegenwehr realisierte und blieb vor seiner Beute stehen. Gierig umkreiste er die Triceratops, Sabber lief aus seinem Maul. Er täuschte einen Angriff vor und sein Plan ging auf. Ein Triceratops verließ die schützende Stellung.
Sofort schnappte der Tyrannosaurus nach dem knöchernen Nackenschild und riss ein Stück heraus. Der Pflanzenfresser brüllte. Er versuchte seinen Gegner mit seinen Hörnern aufzuspießen.
Beide Tiere tanzten den Tanz des Todes, es war ungewiss, wer als Sieger des Kampfes den Platz verlassen würde; Jäger oder Beute.
Der Jäger stieß mit seinem mächtigen Schädel sein Opfer um. Bevor dieses aufstehen konnte, vergrub der Tyrannosaurus seine gewaltigen Krallen in dessen Körper. Triumphierend brüllte er und riss einen großen Fleischbrocken aus dem Bauch des Triceratops.
Die Herde der Pflanzenfresser zog sich ein Stück zurück und beobachtete die Szene, die sich ihnen darbot.
Kleinere Fleischfetzen fielen auf dem Boden. Die Quetzlacoatlus zogen ihre Kreise immer enger.
Ein Getöse hallte im Tal wieder. Der Tyrannosaurus hob seinen Kopf. Er sah eine weiße Kugel am Himmel, die einen langen Schweif hinter sich herzog, durch die dünne Aschewolke.
Der Schwarm der Flugsaurier löste sich auf. Auch die Echsen, die den Boden bewohnten spürten die Gefahr, die vom Himmel kam.
Die weiße Kugel verschwand am Horizont hinter. Ein greller Lichtblitz erschien und die Erde bebte stark. Die Erschütterung ließ den Vulkan im Hintergrund stärker eruptieren.
Immer mehr Erdrisse taten sich auf. Ängstlich wich der Tyrannosaurus vor ihnen zurück.
Den Tieren war es nun egal, ob sie miteinander Jäger und Beute waren. Sie rannten vor der drohenden Gefahr davon.
Die Luft erhitzte sich in kürzester Zeit. Die Pflanzen hinter ihnen fingen Feuer. Die Hitzewelle erreichte die fliehenden Tiere und eine Wucht des pyroklastisches Flusses streckte sie nieder und tötete sie sofort.
Kurz darauf erreichte die Detonationswelle des Asteroiden, der vor dem Golf von Mexiko hinabgestürzt war, das Tal und vernichtete alles Leben, was der Fluss noch am Leben gelassen hatte.
Der Himmel verdunkelte sich und die Luft wurde spürbar kühler. Asche fiel auf den Boden und bedeckte ihn. Den letzten Pflanzen, die die Hitze überlebt hatten, wurde das Sonnenlicht genommen und starben langsam.
Die Ära der Dinosaurier war zu Ende, während die Zeit der Säugetiere begann.
Ende
08. Zwischen Traum und Wirklichkeit
Die Sonne neigte sich dem Horizont, sodass sich der Himmel rot verfärbte. Die Vögel flogen in Schwärmen zu ihren Schlafplätzen in die Bäume und fingen an sich leise in den Schlaf zu zwitschern.
Nur das metallene Geräusch von Klingen, die sich kreuzten, übertönte die Tiere.
Die Wucht des letzten Schlages ließ Andalglarien taumeln, sodass sie ihr Gleichgewicht verlor. Unsanft fiel sie ins Gras und blieb keuchend liegen.
»Habe ich dich verletzt?«, fragte ihr Vater Katlian besorgt.
»Nein«, antwortete sie kopfschüttelnd, »ich bin lediglich außer Atem. Wir üben bereits seit dem frühen Nachmittag und ich bin der Meinung, wir sollten es für heute beenden, Vater.«
Katlian lächelte seine 14-jährige Tochter und setzte sich zu ihr ins Gras. Sein Schwert legte er neben sich.
»Du hast dich verbessert, Andalglarien.«
»Ich bin eben ein Naturtalent«, antwortete sie frech.
»Ich würde eher sagen, dass es auch mit an dem Schwertmeister liegt, mit dem du übst«, lachte ihr Vater und schüttelte seinen Kopf. »Aber Talent vermag ich in dir zu erkennen. Eines Tages wirst du eine große Schwertkämpferin sein.«
»Mutter ist da anderer Meinung. Sie sieht mich als Wassermagierin durch Ethera ziehen und neue Welten erkunden. Oder vielleicht doch als ihre Nachfolgerin des Ladens?« Verzweifelt blickte sie ihren Vater an und strich eine Strähne ihres blonden Haares hinter ihre Ohren, die spitz zuliefen.
Er zwinkerte ihr zu. »Tári hat ihren eigenen Willen. Sie war schon immer so und einen Teil von diesem Willen hat sie auch an dich weitergegeben.«
Andalglarien setzte sich auf, sah ihren Vater an und gähnte herzhaft. »Ich werde zu Bett gehen, Vater. Morgen Nachmittag muss ich wieder zur Schule und da möchte ich gern ausgeschlafen sein.«
Sie drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und stand dann schwankend auf.
»Ich bring dir gleich noch einen Tee hoch, damit du besser schlafen kannst und entspannt aufwachst.«
Ein Lächeln erschien auf Andalglariens Lippen, dann machte einen leichten Knicks. Mit schweren Schritten ging sie auf dem Steinplattenweg zur Hintertür, die direkt in die Küche des Hauses führte.
Diese war ungewöhnlich leer, da ihre Mutter zusammen mit ihrem Bruder Cëargan ihre Großeltern in O’rye besuchten.
Auch wenn sie sich oft mit ihrer Mutter stritt, vermisste sie sie gerade aus vollem Herzen. Gerne hätte Andalglarien sie begleitet, doch die Schule hatte Vorrang.
Sie verließ die Küche und erreichte den Flur, in dem die Treppe zum oberen Stockwerk führte, in welchem sich die Schlafräume ihrer Familie befanden.
Andalglarien öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und schloss sie leise hinter sich. Die ersten Tränen liefen über ihre Wangen, als sie zu ihrer Waschschüssel ging. Schluchzend zog sie ihr Leinenhemd und ihre Hose aus und tauchte ihre Hände in das kalte Wasser.
Sie spritzte es in ihr Gesicht, um so ihren Schweiß und ihre Tränen wegzuspülen. Das überschüssige Wasser wischte sie mit ihrem abgelegten Hemd ab.
Mit großen Schritten ging sie zu ihrem Bett, auf dem ihr Schlafhemd aus weißem Leinen lag. Sie zog es sich über ihrem Kopf und gerade als sie unter ihre Decke schlüpfte, kam ihr Vater mit einem dampfenden Becher hinein.
Katlian kam zu ihr und setzte sich auf ihre mit Stroh gefüllte Matratze. Er überreichte ihr den Becher.
»Auch wenn du heute besser als sonst warst, du warst mit den Gedanken nicht ganz da. Was war los mit dir?«
»Ich vermisse Mutter«, seufzte Andalglarien. »Warum musste sie gerade dann verreisen, wenn ich noch Schule habe?«
»Du weißt, dass Tári dies nicht mit Absicht gemacht hat. Aber Cëargan ist ins Mannesalter gekommen und dies feiern deine Großeltern groß und dort sind nur die Söhne und Mütter zugelassen.«
Sie verzog ihren Mund. »Ich wünschte, ich wäre als Junge geboren worden! Dann dürfte ich Männerkleidung tragen und Mutter hinge mir nicht in den Ohren, ich solle doch ein Kleid anziehen! Ich hasse es ein Mädchen zu sein!«
Ihr Vater atmete schwer. »Ich bitte dich! Rede nicht so über dich und deine Mutter! Hier, trink diesen Tee und leg dich schlafen!«
Er stand auf und verließ rasch das Zimmer.
»Vater ...«
Traurig senkte sie ihren Kopf und betrachtete den Tee in dem Becher. Von ihm ging ein wunderbarer Geruch aus; ein Gemisch aus Rose, Kirsche, Erdbeere und einem Aroma, das sie nicht identifizieren konnte.
Nachdem sie lange ihre Spiegelung betrachtet hatte, führte sie den Tee zu ihren Lippen und nippte vorsichtig dran.
Ein wohlig-warmes Gefühl breitete sich in ihr aus, während sie den Tee trank. Langsam wurde sie müde. Als der Becher leer war, stellte sie ihn auf den Boden, selbst legte Andalglarien ihren Kopf in ihr Kopfkissen.
Bevor sie ihre Augen schloss, gähnte sie ein leises »Mutter ...«.
»Andalglarien Itabah, wach auf.«
Die sanfte Stimme ließ ihre Augen öffnen. Sie spürte, dass sie im warmen Gras lag und konnte den Duft der Wiesenblumen riechen.
»Sei gegrüßt, Tochter von Tári und Katlian Itabah.«
Andalglarien blickte in ein gütig-dreinblickendes, weibliches Gesicht, erschrak und setzte sich auf. »Wer ... Wer seid ihr?«
Die Frau ihr gegenüber lächelte. »Ich bin die Herrin der Träume und des Schlafes.«
»Göttin Faranda?«
»Ja.«
Ungläubig sah Andalglarien sie an. »Aber wie ist das möglich? Das ist alles ein Traum ...«
Die Göttin lachte leise. »So ist es.«
Die 14-Jährige betrachtete sie lange. Zwei Strähnen hatte die Göttin zu Zöpfen gebunden. Das Gesicht war kindlich gehalten, die Nase war kurz und stupsig, die Lippen voll und ihre Augen groß wie Kinderaugen. Gekleidet war Faranda in einem wunderschön verzierten Seidenkleid. Es war nachtblau, mit feinen Goldfäden waren Sterne aufgestickt.
»Wenn dies alles ein Traum ist, wo bin ich? Das Traumreich habe ich mir anders vorgestellt.«
»Du bist dort, wo du sein möchtest.«
»O’rye«, hauchte Andalglarien. Schnell stand sie auf und wandte sich um. Sie stand auf einem leichten Hügel und blickte auf eine kleine Stadt hinunter, in welchem das Fest zur Mannwerdung stattfand.
Sie wandte sich um und lächelte die Göttin an. »Vielen Dank!«
Die Götten nickte ihr zu und verschwand.
Andalglarien lief den Hügel hinab, stolperte und rollte bis seinem Fuß hinab. Sie blieb im Dreck liegen, doch der Schmerz war schnell vergessen, als sie unter den Elfen vor ihr, ihre Mutter ausmachte.
»Mutter! Mu-!«
Sie verstummte. Was würde ihre Mutter dazu sagen, wenn sie ihre Tochter hier sah? Tári hatte sie nicht mitgenommen, gerade weil Töchter auf diesem Fest verboten waren.
Auf allen Vieren kroch sie hinter einen Busch und ließen ihren Tränen freien Lauf.
»Was ist das nur für ein Traum, in dem ich nicht mal meine Mutter sehen darf?«
»Das ist dein Traum, Andalglarien, in deinen Träumen darfst du alles«, hallte Farandas Stimme den Hügel hinunter. »Steh auf und geh zu deiner Mutter. Sie wird sich freuen, dich zu sehen.«
Andalglarien wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Mit festen Schritten trat sie aus dem Gebüsch hervor. Sie ging mit entschlossener Mimik auf ihre Mutter zu, die auf einer Bank abseits der tanzenden Elfen saß.
Sie räusperte sich leise und tippte zurückhaltend auf die Schulter ihrer Mutter.
Erschrocken blickte Tári über ihre Schulter. Ein Lächeln breitete sich aus und sie stand auf. Glücklich zog sie ihre Tochter in ihre Arme.
»Schön, dass du hier bist, Andalglarien.«
Sie genoss die Umarmung und Wärme ihrer Mutter. Sie liebte es ihren Herzschlag zu hören. Sie liebte es den Geruch ihrer Mutter zu riechen.
»Komm mit. Eigentlich dürftest du nicht hier sein. Wenn sie dich sehen, wirst du zu deiner Volljährigkeitsfeier ausgeschlossen sein, weil du die Regeln missachtet hast.«
Tári und ihre Tochter verließen den Festplatz und lenkten ihre Schritte aus der Stadt hinaus. Zusammen gingen sie in den angrenzenden Wald, schwiegen jedoch dabei.
Erst als sie sich auf einen Baumstamm niederließen, fragte Andalglarien zaghaft: »Mutter, wann wirst du zurückreisen? Vater und ich vermissen dich und natürlich vermissen wir auch Cëargan.«
»Das Fest dauert noch zwei Tage. Ich habe meinen Eltern versprochen, noch eine Woche zu bleiben.«
»Oh, verstehe. Dann seid ihr mit der Rückreise noch etwa einen Monat fort.«
Tári nickte und sah, dass ihre Tochter wieder weinte. »Weine nicht, wir kommen ja wieder.«
»Ich vermisse dich, Mutter. Ich vermisse dich so sehr.«
»Ich weiß. Eine Mutter versteht den Kummer ihrer Kinder.« Tári beugte sich vor. Zaghaft pflückte sie eine Blume mit purpurner Blüte. »Verzeih mir, Göttin der Blüten, aber ich möchte sie meiner Tochter schenken.«
Als Antwort ging ein Wind durch die Baumwipfel.
Lächelnd gab Tári die Blume ihre Tochter. »Behalt sie solang, bis ich wieder zurückkehre. Die Blüte selbst ist von der Göttin gesegnet und wird erst verblühen, wenn ich wieder bei euch bin. Doch nun«, sie stockte kurz, »muss ich zurück, sonst vermisst man mich noch.«
Andalglarien nickte traurig. »Verständlich. Ich hätte gar nicht hier sein dürfen.«
»Wach auf, meine Tochter, du warst nun lang genug zwischen den Welten. Vergiss diesen Traum nicht.« Tári hob ihre Hand zum Gruß.
»Ich liebe dich, Mutter!«
»Wach auf, du Schlafmütze. Die Sonne steht schon hoch am Himmel.« Die Stimme gehörte zu ihrem Vater. »Du musst noch deine Sachen für die Schule packen.«
Langsam öffnete Andalglarien ihre Augen und beobachtete ihren Vater dabei, wie er Sachen vom Boden aufhob.
»Du bist drei Tage hier und schon sieht es aus, als ob eine Horde von Dunkelelfen durch dein Zimmer gezogen wäre.«
»Oh Vater, diese Worte sagst du mir jedes Mal.«
»Ich hoffe, du lernst irgendwann auch mal, Ordnung zu halten.« Ihr Vater kam zu ihrem Bett und hob den Becher auf. »Dann müsstest du ... Wo hast du diese Blume her?«
Andalglarien hob die Blume auf, die neben ihrem Kissen lag. Sie hatte eine purpurne Blüte.
»So eine habe ich hier noch nie gesehen.«
»Du wirst es mir eh nicht glauben, woher ich sie habe.«
Katlian zog seine Stirn kraus. »Nun ja... So, aber nun warst du lang genug im Bett. Auf, du musst bald los.«
Sie küsste die Blüte.
Langsam stand sie auf und ging zum Bücherregal, das an der Wand gegenüber stand. Sie zog ein Buch heraus, das sie mit in die Schule nehmen wollte, schlug es auf und legte die Blume hinein.
»Bis bald, Mutter. Es war schön, dich sehen zu dürfen.« Sie schloss vorsichtig das Buch. »Hab Dank, Göttin Faranda, dass du mir ermöglich hast, sie sehen zu dürfen.«
Ende
09. 1944
Als ich noch ein Kind war, tobte hier ein Krieg, der viele Opfer forderte, darunter auch Familienmitglieder und Freunde, die mir sehr am Herzen lagen.
Es war das Jahr 1944, als die Amerikaner Heilbronn aus der Luft angegriffen hatten.
Wir hatten noch nicht lange das Abendessen beendet und ich stand mit Mutter in der Küche, um ihr beim Abwasch zu helfen, während Vater im Wohnzimmer in seinem Sessel saß und seine frisch angezündete Pfeife rauchte und Zeitung las.
Es war kurz nach sieben Uhr, als wir uns zu Vater gesellten und über unseren gemeinsamen Nikolaustag sprachen. Mutter stickte nebenbei, während ich in mein Tagebuch schrieb.
»Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist. Es steht doch jetzt noch kaum ein Stein auf dem anderen. Was wollen die Engländer und Amerikaner noch zerstören?“, seufzte meine Mutter.
»Liebling.« Mein Vater blickte über den Rand seiner Zeitung. »Das werden wir wohl nie wissen. Wir können leider nur abwarten. Ich würde ja gerne an vorderster Front mitkämpfen, aber die Franzosen haben mir vor zwei Jahren das Bein weggeschossen.«
Mutter und ich schwiegen betroffen. Über dieses Thema sprach mein Vater sehr ungern, da er uns voller Stolz erzählt hatte, dass er für das Vaterland kämpfen sollte und somit sein Land und seine Familie beschützen konnte.
Er war fast vier Jahre fort, in Frankreich, als wir ein Telegramm erhielten, dass er schwer verwundet war und dass ihm ein Bein abgenommen werden musste. Wenige Wochen später kehrte Vater zurück. Doch war er nicht so, wie wir ihn kannten, als er einberufen wurde.
Der Krieg hatte ihn verändert. Er war apathisch und schrie in der Nacht, da er häufig Alpträume hatte, doch auch darüber sprach er nicht gern.
Das einzige, worauf er stolz war, war das Ehrenzeichen, welches er verliehen bekam.
Das Schweigen hielt jedoch nicht lange an, da Vater unruhig wurde. Er blickte immer wieder zum Fenster.
»Soll ich das Fenster öffnen, Vater?«
Als Antwort bekam ich nur ein Nicken. Mit einem Lächeln legte ich mein Tagebuch beiseite und stand auf.
Ich öffnete das Fenster einen Spalt und sah dabei auf die Straße unter mir. Die Menschen liefen aus ihren Häusern, blieben stehen und blickten in den Himmel.
»Vater?« Angst schwang in meiner Stimme mit. Auch ich starrte den Himmel an. Es waren viele Lichter zu sehen. »Was ist das?«
Mein Vater griff nach seiner Krücke. Er drückte sich aus seinem Sessel und kam zu mir. Zaghaft legte er eine Hand auf meine Schulter und kniff seine Augen zusammen. Sein Griff wurde immer fester.
»Vater, du tust mir weh«, jammerte ich.
»Packt eure Sachen ... Sofort!« Er zerrte mich vom Fenster weg. Er schubste mich zu meiner Mutter und verließ, so schnell er konnte, das Zimmer.
»Elisabeth, hab keine Angst«, beruhigte meine Mutter mich, in dem sie über mein Haar streichelte.
»Maria!«, brüllte mein Vater. »Du sollst unsere Sachen packen. Wir müssen fort von hier.«
»Geh deine Sachen holen, sonst rastet er vollkommen aus.«
Schweigend und mit Tränen in den Augen ging ich in mein Zimmer und packte ein paar Kleidungsstücke und einen kleinen Koffer. Ich lief zurück ins Wohnzimmer, da dort noch mein Tagebuch lag. Ich steckte es noch hinein und gesellte mich zu meinen Eltern, die bereits im Hausflur standen.
Vater blickte mich grimmig an. »Wurde auch Zeit. Nun komm, Elisabeth.«
Wir gingen die Treppe hinunter, als ein ohrenbetäubender Lärm ertönte und eine Detonation uns fast die Treppe unter den Füßen wegriss.
Während wir, Vater und ich, uns noch festhalten konnten, stürzte Mutter.
»Mutter!« Ich ließ meinen Koffer los und lief die Treppe hinunter.
»Elisabeth! Sei vorsichtig!«
Eine weitere Detonation erschütterte die Grundmauern des Hauses. Ich klammerte mich am Treppengeländer fest. Ich hatte fast meine Mutter erreicht. Die Erschütterung hatte nachgelassen, sodass ich die Chance ergriff und weiter bis zum Fuß der Treppe lief.
Ich kniete mich neben meine Mutter nieder und schüttelte erst zaghaft ihre Schulter. Als sie sich jedoch nicht regte, liefen Tränen über meine Wangen und schüttelte heftiger.
»Mutter, wach auf!«
»Lass das, Elisabeth«, sagte Vater trocken, »hol deinen Koffer. Wenn wir nicht sofort von hier verschwinden, wird es uns so ergehen, wie deiner Mutter.«
Fassungslos starrte ich meinen Vater an. War er in Frankreich auch so? Hatte er auch eiskalt seine toten Kameraden liegengelassen?
Ich ging langsam die Treppe hoch und nahm meinen Koffer auf. Schweigend ging ich vor ihm die Stiege hinunter. Kurz blieb ich vor meiner Mutter stehen, schloss die Augen und stieg mit einem Kloß im Hals über ihren leblosen Körper. Danach half ich meinem Vater.
Zusammen verließen wir unser Wohnhaus.
Menschen liefen schreiend und in Panik durcheinander. Eine Hitze empfing uns, sodass wir unsere Arme vor unsere Augen halten mussten.
Das stetige Brummen, das vom Himmel kam, dröhnte in meinen Ohren. Ängstlich griff ich nach Vaters Hand.
»Komm, mein Liebling.« Vater zog mich fort von unserem Haus.
Kurz wagte ich einen Blick über meine Schulter und sah das Gebäude an, in dem meine Mutter lag.
Vater und ich gingen ein paar Schritte weiter, als das Dröhnen lauter wurde.
»Was ist das Vater?«
»Das sind Bomber. Heilbronn wird aus der Luft angegriffen, deshalb müssen wir schnell einen Bunker erreichen. Hier ist einer in der Nähe. Wenn wir Glück haben, ist dieser noch nicht überfüllt.«
Ich nickte nur. Die Angst in mir war zu groß. Ich war doch noch zu jung, um zu sterben.
Ein hohes Pfeifen mischte sich zum Dröhnen.
Vater zog mich enger an sich. »Schneller, Elisabeth.«
So schnell es ging, entfernten wir uns immer mehr von unserem Haus, doch der Einschlag, der durch das Pfeifen angekündigt wurde, kam für uns unerwartet.
Wir stolperten und fielen hin. Kleine Steine rieselten auf uns hinab.
Die Angst wurde immer größer, ich konnte das Zittern nicht mehr kontrollieren. Ich zitterte wie Espenlaub.
»Steh auf, wir müssen weiter.«
Ich funktionierte nur noch, weil mein Körper überleben wollte. Selbst merkte ich nicht, wie ich aufstand und meinem Vater aufhalf. Den Arm, den er nicht für seine Gehhilfe benötigte, legte ich über meine Schulter und zusammen wankten wir voran. Unsere Sachen ließen wir liegen.
Immer wieder wurden wir von Detonationswellen erfasst und zu Boden geworfen. Doch unser Überlebenswille trieb uns weiter voran.
»Es ist für Mutter, es ist für Mutter ...«, murmelte ich stetig. »Sie hätte es gewollt, dass wir überleben.«
Vater selbst sprach gar nicht mehr. Wenn ich in seine Augen blickte, erkannte ich, dass er mit seinem Geist nicht mehr anwesend war. Ich vermutete, dass er wieder in Frankreich gefangen war.
Ich betrachtete meine Umwelt, viele Gebäude standen in Flammen. Viele Menschen lagen auf der Straße.
Überall brannte es. Es war so heiß, wie im Hochsommer. Der Schnee, der die Tage zuvor gefallen war, ist unter den Flammen geschmolzen.
Blut vermischte sich mit dem Schmelzwasser.
Meine Lunge brannte bei jedem Atemzug. Ich war gezwungen den Rauch der brennenden Häuser einzuatmen.
Nicht unweit von uns schlug eine weitere Bombe ein. Das Schaufenster des Ladens zerbarst in Tausenden von Scherben. Vater zog mich in seine Arme und stöhnte kurz auf. Er legte all sein Gewicht auf mich. Meine Knie gaben nach und wir stürzten wieder. Doch mein Vater regte sich nicht mehr.
Sein Atem ging rasselnd.
»Wir müssen weiter«, flüsterte ich ihm zu. »Vater, wir müssen den Bunker erreichen.«
»Ich kann nicht mehr, Elisabeth. Geh du allein weiter. Lass mich hier liegen.«
»Nein«, rief ich empört. »Wir gehen zusammen hin. Ich möchte dich nicht verlieren. Nicht wie Mutter.«
Meine Kleidung fühlte sich langsam warm und nass an.
»Ich bleibe bei dir.«
»Rette dich.«
Mein Unterbewusstsein wusste, dass mein Vater Recht hatte. Ich wand mich unter seinem schweren Körper hervor. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und stolperte meinen Weg weiter.
Ich erreichte den Bunker. Und zu meinem Glück, gab es für mich noch einen Platz. Die Leute drängten sich zusammen, damit ich mich hineinquetschen konnte und überlebte so den Luftangriff.
Am nächsten Morgen öffneten wir wieder den Bunker. Der Anblick, der uns erwartete, versetzte uns in Schrecken. Die gesamte Innenstadt war zerstört. Das Leben, das wir all die Jahre hier aufgebaut hatten, wurde zunichte gemacht.
Wir gingen in den Straßen umher, um nach Verwandten und Freunden zu suchen.
Immer wieder wurde ich angesprochen, ob ich verletzt wäre, da meine Kleidung blutdurchtränkt war.
An mir klebte das Blut meines Vaters.
Allein ging ich den Weg zurück, den ich gegangen war, bis ich den Leichnam meines Vaters fand. Ich setzte mich neben ihn und fing an zu weinen.
Ich wusste, nicht wie lang ich bereits hier saß, als ich meinen Namen hörte. Verwirrt sah ich mich um und sah meine Tante, die auf mich zugelaufen kam.
Das Aufstehen erwies sich als schwierig, doch meine Tante war schnell bei mir und zog mich auf die Beine. Schluchzend umarmte sie mich. Ich erzählte ihr von Mutter und Vater.
Mit einem traurigen Lächeln versprach sie mir, sich um mich zu kümmern.
Nun ist es 64 Jahre her.
Ein kalter Wind zog durch die Gassen Heilbronns. Es war kurz nach sieben. In wenigen Minuten würden die Glocken der Killianskirche läuten.
»Oma?«
Meine Enkelin zog ungeduldig an meinem Arm.
»Ich möchte einen Karamelapfel«, nörgelte die Kleine.
»Ja, mein Schatz.«
Sie summte laut, als wir weitergingen. Ich betrachtete die neue Innenstadt. Nach dem Angriff dauerte es nicht lange, bis der Aufbau begann.
Heilbronn ist wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstanden.
Ende
10. Das Licht am Ende des Tunnels
Eine bedrückende Dunkelheit hält meine Seele gefangen.
Die Angst ist zurzeit mein ständiger Begleiter. Ich habe Angst davor, allein zu sein. Ich habe Angst davor, mit Menschen zusammenzusein. Ich habe Angst davor, ignoriert zu werden. Ich habe Angst davor, beachtet zu werden.
Wieso kann mir niemand sagen, warum ich grundlos anfange zu weinen? In der einen Sekunde geht es mir gut, aber kurz darauf laufen mir Tränen über die Wangen. Ich habe über nichts nachgedacht, das mich hätte zum Weinen bringen können. Ganz nah an meinen Körper ziehe ich meine Beine und umklammere sie. Sachte lege ich meinen Kopf auf die Knie, lasse die Tränen fließen, bis der Stoff meiner Hose nass ist.
Mein Herz zieht sich zusammen, während ich mich in meinem Zimmer umsehe. Mich verlangt es nach der Nähe von Menschen, die ich gerne habe. Ich möchte nicht mehr allein sein. Doch all die Menschen, die ich liebe, sind zu weit weg. All meine Freunde wohnen im ganzen Land verstreut. Die Wärme meiner Mutter ist mir schier unerreichbar, obwohl uns nur eine kurze Autofahrt trennt.
Verzweifelt greife ich mir ins Haar und kralle mich darin fest; um nicht den Halt zu verlieren. Wie ein Kamm fährt meine Hand durch die Haare. Ich registriere zwar, dass sich Haare gelöst haben und lasse sie achtlos auf den Boden fallen. Es beruhigt mich ungemein, wenn ich mir durch die Haare fahre und dabei einzelne Strähnchen herausrupfe.
Geduckt sitze ich auf der Couch und betrachte den Monitor meines Laptops. So viele Leute, die ich gern habe, schreiben mit mir, wollen mit mir Kontakt haben. Doch jedes Mal, wenn die nächste Nachricht eintrifft, reagiert mein Körper überreizt und ich könnte das Gerät gegen die nahe Wand werfen, weil ich einfach nur genervt bin.
Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ein heilloses Durcheinander der Gefühle herrscht in mir. Selbst komme ich nicht damit klar und bin froh, dass ich doch alleine bin. Mit meinen unkontrollierten Gefühlsausbrüchen möchte ich anderen nicht zur Last fallen.
Wärme durchflutet meinen Körper, wenn ich unter Menschen bin, aber es dauert nicht lange, bis die Angst mich wieder beherrscht. Unwohlsein breitet sich aus, während ich in die bekannten Gesichter blicke. Es kostet mich Kraft, nicht durchzudrehen, sondern mich so zu geben, wie man es von mir auch erwartet. Das fröhliche Mädchen, das gerne plappert und gespielt ihren Charme versprüht. Innerlich fühle ich mich fast wie tot. Während ich rede, ist mein Blick leer, ohne Freude.
Ich bin erleichtert, als ich wieder allein sein darf, gleichzeitig jedoch traurig, dass niemand gemerkt hat, wie schlecht es mir doch geht.
Träge lasse ich die Tage über mich ergehen; ich schlafe schlecht in der Nacht. Mir geht es schlecht. Der Rücken schmerzt, das Knie ist starr. Ich habe keinen Hunger, esse aber trotzdem. Danach quält mich das schlechte Gewissen. Der Frust lässt meine Pfunde anwachsen.
Tränen der Verzweiflung fließen wieder über meine Wangen.
Doch langsam erhole ich mich wieder von meinem Tief. Den dunklen Tunnel der Depressionen habe ich fast durchquert. Ich kann schon wieder das Licht am Ende des Tunnels sehen.
Ich beschleunige meine Schritte und ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus, als die warmen Sonnenstrahlen mich berühren. Ausgelassen tanze ich im Licht.
Das Leben hat mich wieder.
Ende
Texte: Alle Geschichten sind reine Fiktion. Ähnlichkeiten zu Personen sind reiner Zufall.
Das Cover zeigt den Schalenbrunnen des Klosters Maulbronn. Das Copyright liegt bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2009
Alle Rechte vorbehalten