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Ein Kapitel bzw. Abschnitt, über den ich gern Kommentare lesen würde.

 

Vanessa saß am Sonntag Abend in ihrem Wohnzimmer, hörte ein Hörbuch und spielte ein kleines Onlinegame, obwohl sie genau wusste, dass sie eigentlich das Chaos in ihrer Wohnung hätte beseitigen oder zumindest dezimieren sollen. Nachdem Dominik den Kleiderschrank früher an diesem Wochenende aufgestellt und an diesem Nachmittag all ihre Kleidung, die sie zu ihm mitgenommen hatte, ins Wohnzimmer gestellt hatte, war er wieder zu sich nach  Hause gefahren. Vanessa war der Abschied so schwer gefallen, als würden sie sich erst in drei Wochen und nicht in drei Tagen wiedersehen. Aber  nach drei beinahe pausenlos gemeinsam verbrachten Wochen hatte es ihn nach einer kurzen Auszeit verlangt. Und das war auch vollkommen vernünftig, zumal er ab morgen daheim in Hannover wieder würde arbeiten gehen müssen und sie fürs erste genug damit zu tun haben würde, ein wenig Ordnung in das Chaos ihrer Wohnung zu bringen.

Ein wohlklingendes ‚Ding-Dong’ ertönte und während Vanessa aufstand und das Hörbuch auf Pause stellte, freute sie sich darüber, dass ihr Freund sie endlich von der schrecklich grellen Klingel befreit hatte, die sie bei Betätigung schon seit drei Jahren aufschreckte.

 

Langsam ging sie die erleuchtete Treppe hinunter, fragte sich, wer so spät abends noch bei ihr klingelte und wusste doch schon bevor sie die verschwommene Gestalt hinter der Glastür zu erkennen glaubte, dass es nur Erna sein konnte. Ihre Mutter. Die Frau, wegen der sie so viele Tränen vergossen hatte, so viel Schmerz erlitten. Beim letzten Mal, fiel ihr schlagartig ein, hatte sie die Tür geöffnet, gezögert und sich schließlich doch von der sanften Stimme überreden lassen, sie in ihre Wohnung einzuladen.

 

 

 

 

 

Bezahlt Richard euch dafür?“
“Was hat Richard damit zu tun?“

 

Sehr viel! Er bildet sich nämlich ein, dass ihr seine Kinder seid.“

 

Ha. Nein, das tut er sicher nicht!“

 

Was ist los? Wieso hast du das gemacht?“ Schweigen.

 

Weil ich nicht wieder was bereuen wollte.“ Ihre Augen weiteten sich entsetzt.

 

Das hab ich nicht verdient.“ Ein abfälliges  Keuchen. „Ich hab euch nichts getan. Ich hab euch nur immer zu sehr behütet.“

 

Behütet?“, keuchte sie. „Ja, sehr behütet! Am 23.12.2002! Das war sehr behütend!“ Sie glaubte die Stimme ihrer Mutter zu hören, die ihr weinend mitteilte, sie müsse wieder zurück zum Eichengrund fahren. Am Tag zuvor war Vanessa für einen Besuch über die Weihnachtsferien angekommen und hatte ihre Mutter erst spät abends kurz gesehen, als diese von der Arbeit gekommen war. Vor ein paar Minuten war sie morgens um acht aufgewacht, weil sie laute Stimmen aus der Küche und dem Esszimmer unter sich gehört hatte. „Nein!“, hatte die Stimme ihres Stiefvaters herauf gedröhnt. „Sie bleibt nicht hier! Ich will sie hier  nicht haben! Entweder sie geht oder ich gehe. Und dann nehme  ich Olaf mit!“ Ängstliche, zaghafte Versuche ihrer Mutter, ihn umzustimmen folgten. Dann saß sie zusammen mit der kleinen Leonie, die sie aus ihrem Bett geholt hatte, auf dem Bett ihrer ältesten Tochter und erklärte ihr unter Tränen, dass sie fahren müsse, da ihr Stiefvater so wütend sei und sie nicht im Haus haben wolle. „Vielleicht hilft es, wenn du dich entschuldigst. Wenn du ihm sagst, was du gemacht hast und wer alles dahinter steckt, wer euch dazu gezwungen hat.“ Die damals 14-jährige Vanessa hatte ihre Mutter angeblickt und begriffen, dass sie diese Schlacht verloren hatte. Wie oft hatte sie ihr und ihrem Mann in den letzten dreieinhalb Jahren beteuert, nicht in irgendwelche dunklen Machenschaften verwickelt zu sein. Nicht mit ihrem Vater für den Rausschmiss ihres Stiefvaters gesorgt zu haben. Nicht mit Hermanns Bruder - der ihr persönlich noch nie begegnet war, mit dem sie niemals gesprochen hatte - ihren eigenen Großvater überfallen und halb tot zurückgelassen hatte. Wie oft hatte sie still, eindringlich und wütend oder verzweifelt schreiend beteuert, ihrer Schwester Leonie  niemals Geld aus der Spardose entwendet zu haben. Ganz zu schweigen von diesem ominösen Geldkoffer, dessen Inhalt von Jahr zu Jahr in seinen Vorwürfen an Wert gewann.

 

Schließlich war Vanessa zu dem Schluss gekommen, dass sie im Eichengrund, den sie mehr als das Haus ihrer Mutter ihr „zu Hause“ nannte, schönere Weihnachtsferien würde verbringen können. Außerdem, hatte sie erfreut gedacht, kann ich so beim Weihnachtskonzert des Chores mitsingen.

 

 

 

 Vanessa blickte in das Gesicht ihrer Mutter, den verwirrten und traurigen Ausdruck darin. Und als blasse Erinnerungsfetzen an andere Tage vor ihren Augen vorbeifegten fügte sie noch hinzu: „Zum Beispiel an dem Tag. Und noch an anderen.“

 

Erna sah sie an. Mit einem Blick, den Vanessa hasste. Sie hasste es, wie ihre Mutter sie anblicken konnte, als wäre sie von ihr zutiefst enttäuscht, überzeugt, ihre Tochter wäre ein abgrundtief böser Mensch geworden und sie selbst sei eines ihrer unschuldigen Opfer.

 

Das hab ich nicht verdient.“, murmelte die Ältere halblaut und wandte sich zur Straße. Nach zwei Schritten kehrte sie um und warf etwas vor Vanessas Füße, bevor sie aus dem Sichtfeld ihrer Tochter verschwand und kurz darauf die Autotür zuschlug. Vanessa blickte zu Boden, sah, dass es ein Schulkochbuch gewesen war, das Erna geworfen hatte. Dann knallte sie ebenfalls die Haustür heftig zu. Das Buch ließ sie liegen, als sie die Holztreppe zu ihrer Wohnung hinauflief. Kaum oben angelangt stiegen ihr die Tränen der Wut in die Augen. Wut und etwas anderes. Es war das Gefühl, wehrlos zu sein. Sie fühlte sich schwach, unfähig, die Härte gegen ihre Mutter als Selbstschutz aufrecht zu halten. „Das darf sie nicht sagen.“, sprach sie weinend. „Sie hat nicht nichts getan. Sie hat uns nicht behütet.“ Ein kurzer Weinkrampf schüttelte sie. „Das stimmt nicht. Das darf sie nicht sagen. Sie hat kein Recht dazu.“ Sie hielt inne. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie wie sie klang. Sie klang wie ihre Mutter. Kurz flackerten Szenen vor ihrem inneren Auge auf, in denen sie, selbst noch ein Kind, ihre Mutter getröstet hatte, nachdem ihre Lebenspartner sie verlassen hatten. Ein erneuter Weinkrampf, heftiger als der vorherige, schüttelte sie. „Nein!“, schrie sie fast. „Ich will nicht sein wie sie! Ich will nicht klingen wie sie. Ich will nicht so schwach sein wie sie.“ Sie weinte weiter. Weinte über ihre Mutter, die sie als solche verloren hatte. Sie weinte über den Schmerz, den der Verlust in ihr verursachte. Den Schmerz, den die vergangenen Jahre verursacht hatten. Vanessa wünschte, Dominik wäre nun bei ihr und könnte sie, wenn er auch nicht anders helfen konnte, in den Armen  halten. Das hatte er getan, als sie vor über einer Woche von einem langen und äußerst heftigen Weinkrampf geschüttelt worden war. Sie erinnerte sich an ihren Abschied am früheren Abend. Sie hatte ihn so fest umarmt, wie sie gekonnt hatte und ihn nicht loslassen wollen. Ohne sie aus seinen Armen zu lassen hatte er sie angeblickt, liebevoll aber ohne zu lächeln, und fragte: „Dass ich dich liebe weißt du doch, oder?“ Wärme breitete sich in ihr aus, genau wie es in dem Moment gewesen war.

 

Vanessa brauchte einige Minuten, bis sie sich beruhigt hatte. Dann aber atmete sie mehrere male tief durch und begann, sich mit einem Onlinespiel abzulenken.

 

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Tag der Veröffentlichung: 27.06.2014

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