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Lebenswende




15 Minuten können ein ganzes Leben verändern. Das war mir früher nie bewusst. Heute weiß ich es umso besser und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke.

Mittlerweile ist dieser wunderschöne Frühlingstag schon fünf Jahre her. Während ich den Kuchenteig zusammenrühre, denke ich wieder daran. Es sollte der schönste Tag unseres Lebens werden, denn meine Frau Tanja stand kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes. In der Nacht hatte sie schon Wehen bekommen, weshalb wir jetzt am Vormittag bereits auf der gynäkologischen Station waren. Ich kam gerade aus der Cafeteria zurück, wo ich mir einen Espresso gekauft hatte, als ich sie auf ihrem Bett liegen sah. Sie war in einen leichten Schlaf gefallen und so wunderschön, dass ich einen Moment nur dasitzen und sie anstarren konnte. Ihre goldblonden Locken fielen wirr um ihren schiefliegenden Kopf und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. In diesem Moment malte ich mir aus, wie sie in den nächsten Monaten zu Hause auf mich warten würde, auf dem Sofa sitzend und unser Kind stillend. Ich war aufgeregt und sehr gespannt auf unsere Tochter. Als ich einen tiefen Seufzer ausstieß und ihr eine Locke aus dem Gesicht strich, wachte sie auf und öffnete ihre tiefblauen Augen, in die ich mich vor Jahren auf den ersten Blick verliebt hatte. Wir sprachen noch eine Weile miteinander. Eine halbe Stunde später fuhr eine Schwester sie in den Kreißsaal. Wie abgemacht folgte ich ihnen, denn ich wollte keine Sekunde dieses Ereignisses verpassen. Ich wollte ihr beistehen. Während die Schwester und die Hebamme Tanja halfen auf die breite Entbindungsliege umzusteigen, sah ich auf die Uhr: 11:36 Uhr, das musste ich mir merken, denn bald würden wir unsere Tochter in den Armen halten können.
Ich stellte mich neben das Kopfende und sprach mit ihr, erinnerte sie an die Atemübungen aus dem Geburtsvorbereitungskurs. Sie war so tapfer und ich war so stolz auf diese starke Frau, die ich geheiratet hatte. Ich beugte mich so weit vor, wie ich konnte, um mehr zu sehen. „Da ist der Kopf. Ich sehe die Haare. Man, sind das viele!“, erzählte ich ihr begeistert. Ich war richtig euphorisch. Sie lächelte nur matt zwischen den Wehen, die nie lange auf sich warten ließen.
Kurz darauf hielt die Hebamme unsere Tochter in den Händen. Sie war so klein, so zart und voll mit Schleim, Blut und Käseschmiere. Ich wurde von dem unbändigen Wunsch ergriffen, meine kleine Tochter in den Armen zu halten. Sie schrie kräftig, trotz ihres zierlichen Körpers. „Wie sieht sie aus? Eric, bitte! Wie sieht sie aus?“. Während Tanja das gesagt hatte, hatte sie sich mühevoll auf die Ellenbogen gestützt und fiel jetzt erschöpft zurück auf die Kissen. „Wunderschön, mein Liebling! Du hast uns eine wunderschöne Tochter geboren!“ Tanja lächelte selig und strich mir mit der flachen Hand über die Wange. Das tat sie immer, wenn sie mir sagen wollte, wie sehr sie mich liebte. „Möchten Sie die Nabelschnur durchschneiden?“, fragte mich die Hebamme. Erst fühlte ich noch den Nabelpuls. Er war kräftig und die Nabelschnur war dick und fest. Ich hatte sie mir anders vorgestellt, viel weicher und glitschiger. Aber sehr zusammendrücken konnte man sie nicht. Dieser feste, mit Adern durchzogene Strang hatte meine Tochter also die letzten neun Monate genährt und ihr Wachsen geholfen. An ihrem Bauch war bereits eine Klammer befestigt worden, ebenso wie etwa eine handbreit darüber. Mit der Verbandsschere schnitt ich durch das dazwischen liegende Nabelschnurgewebe und war wieder erstaunt, wie fest es war. Dann legte man dieses kleine Würmchen auf einen kleinen hohen Tisch unter eine Wärmeleuchte. Sie hatte aufgehört zu schreien und nuckelte nun ein bisschen an ihren Fingern. Die Lampe über ihr blendete sie wohl, denn sie kniff unentwegt die Augen zusammen, nur um sie wieder einen Spalt breit zu öffnen und die neue Welt um sie herum zu erspähen. Dann, in ein Handtuch gewickelt, konnte ich unsere Tochter endlich im Arm halten. Ich schaukelte sie ein wenig. „Gleich zeige ich dir deine Mama. Sie ist so schön. Bald wirst du ihr Konkurrenz machen, nicht wahr?“, sagte ich leise zu ihr. Mein Herz schlug wie wild und ich war so überglücklich, ein gesundes Kind in den Armen zu halten – mein Kind –, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Ich war Vater geworden und die Frau, ich liebte, hatte mir dieses Kind geschenkt. Dieses Wunder!
Dann ertönte ein pfeifender Piepton. Ich nahm an, dass sie Tanja den Wehenschreiber und die Elektroden abgenommen hatten. Aber der Ton hörte nicht auf. Hinter mir wurde es hektisch. Ich war auf der anderen Seite des Raumes und blickte mich nun nach meiner Frau um. Die Hebamme beeilte sich, die Rückenlehne der Gebärliege flach zu machen, während ein Arzt aus dem Nebenzimmer geeilt kam. Ich sah noch, wie er sich schon über Tanja beugte und mit einer Herzmassage begann, bevor er mir die Sicht verdeckte. Warum, dachte ich. Ich war vollkommen konfus. Eine junge Schwester stand plötzlich neben mir, legte ihren Arm um mich und wollte mich aus dem Zimmer leiten. Doch ich schüttelte nur hektisch den Kopf, gab ihr das Neugeborene und eilte zu meiner Frau. Ihr schlanker, zierlicher Körper erbebte unter den Wiederbelebungsversuchen des Arztes. Zitternd nahm ich die schlaffe Hand meiner Frau und dankte Gott im Stillen dafür, dass der Arzt und die Hebamme mich nicht fort schickten. Doch im nächsten Augenblick taten sie genau das und versuchten anschließend mit einem Defibrillator wieder Leben in Tanjas Körper zu schicken. Ich weiß, dass es nur wenige Minuten waren, aber in dem Moment kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Die Zeit stand für mich still. Meine Gedanken überschlugen sich. Bilder flackerten vor meinen Augen auf: Der Augenblick, in dem ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, unsere Hochzeit, ihre Wärme, ihr herzliches Lachen, der Abend, an dem sie mir sagte, dass wir ein Kind erwarten. Wie Blitze zuckten diese Bilder vor meinen Augen und wühlten mich noch mehr auf. Tränen rollten über meine Wangen, doch das war mir egal. Ich war dabei, meine Frau zu verlieren! Wir hatten doch noch so viel vor. Drei Kinder wollten wir haben, in wenigen Monaten wäre unser Haus endlich bezugsfertig. Sie wollte sich einen Gemüsegarten mit Gewächshaus anlegen, um endlos viele Tomaten essen zu können. Auf der Hollywoodschaukel wollte sie im Sommer unsere Tochter stillen.
„Zeitpunkt des Todes: 11:51 Uhr“, hörte ich den Arzt wie durch dicken Nebel sagen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich taumelte rückwärts, hielt mich an einem Schrank fest. Mir wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Durch meinen Tränenschleier sah ich den Arzt auf mich zu kommen. „Herr Weber, es tut mir leid. Wir konnten Ihre Frau nicht retten.“ Der Arzt sah zerknirscht aus. Ich blickte zur Liege hinüber, wo man Tanja inzwischen hingelegt hatte, als würde sie schlafen. „Ich möchte... Entschuldigen Sie, Herr Doktor, aber ich würde gern mit meiner Frau allein sein.“ „Natürlich, Herr Weber. Wir werden Ihre Tochter in der Zwischenzeit in das Säuglingsstation bringen.“
Ich hörte ihn gar nicht mehr. Ich sah nur noch Tanja, meine geliebte Tanja. Meine lebensfrohe, strahlende Tanja. Als ich an ihrer Seite stand und auf sie hinab sah, kam es mir vor, als schliefe sie bloß. >Sie schläft! Und du auch! Es ist alles nur ein böser Traum!< Ihre Hand war noch warm, ihre Wangen rosig. Ich strich ihr über den Kopf, so wie sie es geliebt hatte. Dann setzte ich mich neben sie, sah ihr ins Gesicht. Sie lag so ruhig da, dass sie aussah, als träumte sie einen schönen Traum. „Oh, mein Liebling, warum? Warum nur?“, fragte ich ihre geschlossenen Augen, ihre stummen Lippen. Meine Tränen fielen auf ihr Krankenhaushemd und auf ihre Hand, die ich fest in der meinen hielt. „Wir haben eine Tochter! Das hast du dir doch gewünscht. Wir haben eine wunderschöne kleine Tochter.“

Ein Gespräch kam mir in den Sinn, das wir einige Wochen zuvor geführt hatten. Sie war ganz ernst gewesen. Als ich abends aus dem Bad ins Schlafzimmer gekommen war, hatte sie auf dem Bett gesessen, mit einem Buch auf ihrem Schoß. Ihr Blick war leer auf ihre Beine gerichtet gewesen und als ich sie ansprach, schreckte sie hoch. „Setz dich, Schatz.“, hatte sie gesagt. „Ich möchte, dass du mir etwas versprichst.“ Klar, dachte ich. Jetzt will sie wieder über den Namen für unser Kind streiten und mich so überlisten, ihrem Vorschlag zuzustimmen. Sie hatte Vivien für ein Mädchen ausgesucht, aber mir war der Name zu altmodisch, er erinnerte mich an eine alte Frau. „Sieh mich an, Eric. Das ist jetzt ernst!“, ein warnender Unterton hatte in ihrer Stimme gelegen. „Dir ist sicher klar, dass es auch Komplikationen bei der Geburt geben kann, oder?“. Ich hatte genickt. „Es kann zu einer Verzögerung kommen, das Kind könnte feststecken oder verkehrt herum liegen, die Nabelschnur könnte um seinen Hals gewickelt sein.“, hatte sie geseufzt, mit besorgtem Blick auf ihr Buch gestarrt und war dann fortgefahren. „Die Luftzufuhr zum Gehirn des Kindes könnte so lange unterbrochen sein, dass es behindert wird - oder stirbt.“, hatte sie leise hinzugefügt. So ernst war sie selten gewesen. Ich hatte mich direkt neben sie gesetzt, ihren Kopf mit der Hand gehoben, so dass sie mich ansehen musste, und ein schiefes Grinsen versucht. „Mal keine Teufel an die Wand, Liebling! Du wirst ein wunderschönes gesundes kleines Mädchen zur Welt bringen!“ Sie schaute mich noch immer traurig an. „Und wenn dem so wäre? Wenn ich statt dessen sterbe?“ Eine Faust hatte sich in diesem Moment um mein Herz geklammert. Eine eiskalte Faust. „Rede nicht so einen Unsinn! Wieso solltest du sterben? Du bist kerngesund, die Schwangerschaft verläuft großartig. Was sollte da auf der letzten Etappe noch passieren?“ Ich hatte eine Grimasse ziehen wollen, sie von ihren trüben Gedanken abbringen. Doch mir war mit einem Mal so elend zumute gewesen, dass ich das nicht fertig brachte. Tanja sah mich mit traurigem Ernst an. „Was wirst du dann tun? Wenn unsere Tochter gesund ist und ich sterbe?“ Sie hatte mich fixiert, aber ich konnte ihrem Blick nicht standhalten. Stattdessen lehnte ich mich neben sie an die Wand. „Na, was würde ich schon tun? Mir die Augen ausheulen. Aber ich will nicht darüber reden, Tanja! Das wird nicht eintreffen und damit basta!“ Als sich unsere Blicke wieder getroffen hatten sah sie mir immer noch ernst in die Augen. „Was würdest du tun?“ Ich hatte tief durchgeatmet. Mit einem Scherz konnte ich mich also nicht aus dieser unangenehmen Situation retten. Dann sah ich ihr fest in die Augen und sagte ehrlich: „Ich weiß es nicht, Liebling! Wenn du nicht mehr da wärst, würde für mich eine Welt zusammenbrechen!“ Sie sah mich lange an, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Miene blieb regungslos, verriet keinen ihrer Gedanken. Nach einer Ewigkeit brach sie das Schweigen. „Das will ich nicht! Das darf nicht passieren! Du wirst stark sein müssen für unsere Tochter! Ihr werdet in dem neuen Haus leben, sie wird im Garten spielen, du wirst ihre ersten Schritte aufnehmen und tausende von Fotos schießen. Und ich werde immer bei euch sein. Natürlich wirst du trauern. Und wehe du frisst deinen Schmerz in dich hinein!“, dabei verzog sie ihre Augen zu Schlitzen, wie sie es immer tat, wenn sie mich – meistens mehr im Spaß als im Ernst – wegen etwas warnte. Ich musste lachen, was endlich auch sie zum Schmunzeln brachte. Seufzend legte ich einen Arm um meine Frau und drückte sie an mich. „Ich würde dich auf ewig vermissen, wenn du von mir gingest. Aber ich weiß auch, dass du trotzdem bei mir wärst und wollen würdest, dass ich ein fröhlicher Papa für unsere Tochter bin.“ Sie nickte und ich hörte sie schniefen. „Du darfst mich nicht vergessen, aber du darfst auch nicht allein bleiben!“, hatte sie gesagt. Dann setzte sie sich ruckartig auf und grinste mich breit an. „Denn ich würde mir auch einen neuen Mann suchen, wenn du eher denn Löffel abgibst als ich!“ „Oh, das würdest du nicht wagen.“, lachte ich, warf sie auf den Rücken und kitzelte sie durch, bis sie nicht mehr konnte vor Lachen.

Auch an ihrem Totenbett im Kreißsaal musste ich bei den Erinnerungen an jene Nacht bitter auflachen. Es war ihr todernst gewesen und sie hatte weder Ablenkung noch Kompromiss geduldet. Ich sollte trauern, aber nicht darin versinken. Ich sollte ein fröhlicher Papa sein und unserem Kind erzählen, was für ein toller Mensch seine Mama gewesen war. „Denn ich werde die tollste Mama der Welt werden.“, hatte sie lachend zwischen zwei Kitzelattacken herausgepresst. „Und du wirst ein armes Schwein sein ohne mich, Eric Weber!“ Mein Herz krampfte sich zusammen.
Dann fasste ich einen Beschluss. Ich atmete mit geschlossenen Augen tief durch und legte mich zu meiner toten Frau auf die Liege. Ich hielt sie in den Armen, schloss die Augen und hielt einen Moment inne. „Sie sieht aus wie du, weißt du das?“ Ich strich ihr weiter über das lange goldgelockte Haar, das so wunderbar nach ihrem Lieblingsshampoo duftete. „Unsere Tochter sieht aus wie du!“

„Rrrrriiiiinnnnggg...!!!!“ Die Eieruhr! Na ja, der Kuchen kann noch ein bisschen im Ofen bleiben. Aber lieber schalte ich ihn aus - Restwärme. Bei diesem Gedanken höre ich wieder die Stimme meiner Frau, die mich immer wieder dafür schalt, dass mir die Brötchen zu dunkel wurden. Heute ist alles anders. Ich backe weiche Brötchen, weil Vivien sie genauso weich liebt wie ihre Mama es getan hat.
Ich weiß nicht, wie lange ich mit meiner toten Frau im Arm in diesem leeren Kreißsaal im Dämmerlicht gelegen habe. Irgendwann jedenfalls weckte mich eine junge Schwester und fragte, ob ich etwas essen wolle. Man müsste meine Frau jetzt nach unten bringen, sagte sie. Ich habe an diesem Tag nichts zu Mittag gegessen. Stattdessen spazierte ich an diesem schönen Frühlingstag durch das riesige Parkgelände des Krankenhauses. Es war ein Tag, wie Tanja ihn geliebt hatte: strahlend blauer Himmel, bunte Blumen und das fröhliche Gezwitscher der Vögel.
Dieser Tag hat mein ganzes Leben verändert. Diese 15 Minuten im Kreißsaal bis zur Feststellung ihres Todes. Heute lebe ich allein.
Das heißt, das stimmt eigentlich nicht. Vivien ist da! Meine quicklebendige fröhliche Tochter Vivien. Mit ihren langen blonden Locken sieht sie ihrer Mutter immer ähnlicher. Und Tanja? Sie ist auch überall. Im Flur und im Wohnzimmer hängen und stehen viele Bilder von ihr, von uns, von Vivien. Mein Sonnenschein liebt die Geschichten über ihre verrückte Mama. Sie hat Omas und Tanten en masse, drei Onkel und einen Opa. Während ich an meinem Urlaubstag den Geburtstagstisch decke, holt Dörthe mit meiner Tochter deren Freunde ab. Heute ist Viviens fünfter Geburtstag. Und ich glaube, Tanjas Wunsch erfüllt sich.

Kurz darauf stehe ich im Garten und blicke auf den Pflaumenbaum, den Tanja damals bei der Besichtigung so freudestrahlend umtanzt hatte. „Den will ich haben! Wir müssen dieses Haus kaufen, denn DAS ist MEIN Baum!“ Dann hatte sie mich angestrahlt, aus der Ferne. „Tanja, das Haus ist total baufällig! Wir werden unsere ganzen Ersparnisse da rein stecken müssen!“, hatte ich missmutig gebrummt. Daraufhin war sie langsam und ernst blickend auf mich zu gegangen. „Ja Schatz, ich weiß. Aber ich möchte mit dir zusammen für unsere Kinder ein Nest bauen! Ich möchte, dass sie auf diesem Rasen spielen, unterm Gartenschlauch eine Dusche nehmen und ihre Kleidung mit Pflaumensaft bekleckern.“ Dann hatte sie ihre Arme um meinen Hals gelegt und leise raunend hinzugefügt. „Ich liebe dich, Eric Weber. Und ich weiß ganz genau, dass damit große Abenteuer auf uns zu kommen. Aber zusammen werden wir das schaffen!“ Dann hatte sie mich geküsst und noch am selben Tag haben wir den Kaufvertrag unterschrieben. Am ersten Abend, an dem wir in dem dringend renovierungsbedürftigen großen Haus für ein paar Stunden blieben, hatte sie den Kamin im Wohnzimmer angezündet. Auf dem Boden waren Decken und Kissen ausgebreitet und neben ihr stand ein Picknickkorb. In ihren Händen hielt sie zwei Sektgläser. „Was ist das denn für ein Sekt? Wieso hast du nicht unseren Lieblingssekt gekauft?“, fragte ich unsensibel, nachdem ich ihn probiert hatte. Der Kostenvoranschlag des Bauunternehmers war mir auf das Gemüt geschlagen. Tanja jedoch blieb ganz ruhig, kuschelte sich in ihren Sitzsack und sah mich lächelnd an. „Das ist alkoholfreier Sekt, mein Schatz.“ „Alkoholfrei? Wozu das denn? Warum ...?“, ich verstummte. Dann sah ich sie mit großen Augen an. Sie nickte und ihr Lächeln wurde immer strahlender. „Ich bin schwanger! Wir werden ein Kind bekommen, Schatz!“

Während ich so in Erinnerungen versunken im Garten stehe und die Frühlingsblumen betrachte, streift mich ein warmer Wind. Tanja ist immer noch bei mir.

Abends lege ich Vivien ins Bett und lese ihr, wie jeden Abend, eine Geschichte vor. Tanja hatte angefangen, Kinderbücher und –musik zu sammeln, als sie wusste, dass wir Eltern werden. „Papa?“ „Ja Mäuschen, was ist denn?“ Vivien blickt mich aus ihren großen tiefblauen Augen fragend an. „Mama war heute auch da, oder? Sie hat vom Himmel auf uns runter geguckt wie die Mama von Pippi Langstrumpf, stimmt’s?“ Ich muss lachen. Pippi ist ihre Lieblingsfigur. „Ja, wie die Mama von Pippi Langstrumpf hat sie uns zugeguckt. Und das tut sie jeden Tag. Jeden Tag wacht sie über uns.“ Plötzlich fängt sie an zu kichern. „Glaubst du, sie hat auch gelacht, als wir ohne Hände Negerkuss gegessen haben und du was in die Nase gekriegt hast?“ „Ja,“, lache ich, „das fand Mama sicher auch sehr lustig.“ Meine Tochter nickt grinsend. Doch plötzlich wird sie nachdenklich. „Papa? Hast du Dörthe lieb?“ Ich seufze. Vor diesem Gespräch hatte ich immer Angst. „Ja mein Engel, ich habe Dörthe sehr lieb.“ „Lieber als mich?“, fragt sie herausfordernd. „Nein, ich könnte niemals jemanden lieber haben als dich!“ „Hast du sie lieber als Mama?“ „Vivien Mäuschen, ich habe deine Mama über alles geliebt und liebe sie immer noch. Und Mama hat dich und mich auch geliebt. Deshalb wollte sie, dass dein Papa eine Mama für dich findet, die dich ganz doll lieb hat und die du ganz doll lieb hast. Und die ich ganz doll lieb habe.“, füge ich hinzu. “Du hast Dörthe doch lieb, oder?“ Ich atme innerlich auf, als ich das Aufstrahlen im Gesicht meiner Tochter sehe. „Jaaa, Dörthe ist lustig. Und sie bastelt immer so toll mit mir.“, kichert sie strahlend. “ Papa, hat Dörthe dich auch lieb?“ Zärtlich streiche ich meiner Tochter übers Haar. „Ja, Dörthe hat mich auch lieb.“ Einen Augenblick guckt sie mich ernst an und sieht aus wie ihre Mutter. „Das ist gut, Papa. Das ist gut.“ Sie setzt sich im Bett auf und drückt mich noch mal ganz doll an sich. „Schlaf gut Papa, ich hab dich lieb.“, sagt sie noch, bevor sie mir einen Kuss auf den Mund drückt und sich wieder in ihre Decken kuschelt.

„Schläft sie?“ Dörthe steht in der Küche und füllt die Spülmaschine. „Ja, sie schläft. Und ich glaube, sie hat uns ihren Segen gegeben.“, meine ich lächelnd, als ich sie in die Arme schließe. „Ich hab dir doch gesagt, dass sie es weiß. Sie ist ein kluges Kind.“, lächelt sie und ich genieße die Wärme, die mich durchströmt, als sie sich an mich schmiegt. Mein Blick fällt auf ein Bild von Tanja. Sie strahlt mich an und ich weiß, dass sie da oben die Hände aneinander klatscht, als wolle sie sich Mehl davon ab klopfen. Ich sehe sie förmlich vor mir, wie sie sich freudestrahlend auf die Schulter klopft und beglückwünscht. Tief in meinem Herzen weiß ich, dass sie glücklich darüber ist, dass ich Dörthe für Vivien und mich gefunden habe. Und vielleicht war sie es ja auch, die uns zusammen geführt hat.

Impressum

Texte: alles meins!
Tag der Veröffentlichung: 04.06.2012

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