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Ein alter Brief

Warum ich diesen Brief (genauer gesagt, die Kopie davon) aufbewahrt habe? Warum ich ihn hier veröffentliche? Ich glaube, zu seiner Zeit war er ein Zeichen meines wachsenden Selbstvertrauens, meiner Entwicklung. Heute kann ich sagen, dass ich beim „Umkrempeln“ meines Lebens richtig vorgegangen bin. Von Anfang an war ich ehrlich zu mir selbst, zu meiner Familie und zu meinen Freunden. Es gab für mich nur diesen einen Weg – den Weg der Offenheit, um nach vorn zu gehen.

Eine Antwort auf den Brief bekam ich nicht. Die beiden (ein älteres Ehepaar, Name geändert), denen er adressiert war, leben auch nicht mehr.

Den Text habe ich soeben korrigiert und muss mir selbst ein Lob aussprechen – allzu viele Fehler waren es auch damals schon nicht.

 

* * *

10. Februar 1999

 

Liebe Frau Heimann, lieber Herr Heimann,

 

bestimmt fragen Sie sich jetzt, was dieser Brief zu bedeuten mag? Ja, warum schreibe ich Ihnen?

Erstens möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich Ihnen, Frau Heimann, zu Ihrem Geburtstag nicht gratuliert habe. In dieser Woche vor dem 6. Februar war ich so sehr mit Bewerbungen beschäftigt, dass mir alles andere aus dem Kopf ging. Erst am Montag fiel mir ein, dass ich doch vorhatte, Ihnen eine Geburtstagskarte zu schreiben. Nun war es zu spät. Anzurufen habe ich mich, um ehrlich zu sein, nicht getraut. So bin ich auf die Idee gekommen, Ihnen beiden diesen Brief zu schreiben. Offen gesagt, habe ich das schon zigmal in meinen Gedanken getan. Denn wie Sie wohl verstehen, geht es mir hier nicht nur um den vergessenen Geburtstag, sondern um viel mehr. Und das ist die zweite Antwort auf die Frage „Warum?“.

Aber zuallererst möchte ich Ihnen doch, liebe Frau Heimann, alles-alles Gute und viel Glück wünschen (wenn auch sehr-sehr nachträglich) für Ihr weiteres Leben.

Nun weiß ich nicht, wie ich zum nächsten Thema meines Schreibens übergehen soll, von welchem Ende es besser zu fassen wäre.

Vielleicht fange ich einfach damit an, dass ich mich für alles, was Sie für mich getan haben, bedanke. Ich habe es nicht vergessen, nein. Und wenn Sie das Gefühl haben – ich hätte Sie bloß benutzt, als es mir nicht so gut ging und dann den Kontakt abgebrochen, weil ich Sie nicht mehr brauchte – so stimmt das ganz und gar nicht. Der einzige Grund, weshalb ich mich zurückgezogen habe, ist der, dass Sie (wie ich von Ihrer Tochter weiß und natürlich es auch selbst ahne) für meine Lebensveränderung kein Verständnis finden, ebenso wie es einige meiner Verwandtschaft nicht finden können.  Zum Beispiel hat meine älteste Schwester mich verflucht, aus der Geschwisterliste „gestrichen“ und mir den Tod gewünscht, am besten durch Selbstmord. Die Jüngste im Gegenteil liebt mich genauso wie früher, aber ich tue ihr sehr leid und sie betet Tag und Nacht für mich. Jakob hat nichts gegen mich persönlich, möchte mich aber nur allein zu Besuch haben und überhaupt „kotzen“ ihn Homosexuelle an.

Meine Stiefmutter? Mit ihr konnte ich mich wenigstens aussprechen und versuchen, ihr zu erklären, dass ich bevorzuge, ehrlich zu mir selbst und meiner Familie zu sein, statt mich zu verstecken oder im Stillen zu leiden. Dass ich die mir noch verbliebenen Jahre so leben möchte, wie ich es für richtig halte, dass ich mich nicht auf Wunsch ändern kann und alle sich damit abfinden müssen, eine Lesbe in der Familie zu haben.

Die Einzigen, die mein Coming-out nicht geschockt hat, sind Ida und Aneta, mit ihnen habe ich nach wie vor ein gutes Verhältnis.

Ich weiß, so extrem wie meine älteste Schwester, haben Sie nicht reagiert, als Sie erfuhren, was mit mir los ist, aber ich kann mir schon vorstellen, wie unangenehm erstaunt Sie waren. 25 Jahre verheiratet, zwei erwachsene Kinder … wie konnte sie bloß! … Wie kann eine Frau überhaupt sich nach so vielen Jahren in eine andere Frau verlieben, mit einer Frau ins Bett gehen wollen? Und wahrscheinlich auch: Gott erlaubt so etwas nicht, es ist eine Sünde.

So oder ähnlich dachten Sie doch, nicht wahr?

Zu dem Thema Sünde möchte ich Ihnen sagen: Ich glaube nicht daran, dass Liebe eine Sünde sein kann, auch wenn es um die gleichgeschlechtliche Liebe geht. Vielleicht war Gott einmal dieser Ansicht – am Anfang, als die Menschheit noch so jung war. Ursprünglich hatte er es ohnehin ganz anders gemeint, nicht einmal die menschliche Fortpflanzung war von ihm geplant. Eigentlich wollte er Adam und Eva unschuldig im Paradies behalten (als Spielzeug für sich?). Und was kam dabei heraus? Der Mensch ist ihm außer Kontrolle geraten. Hat Gott einen Fehler gemacht? Oder hat er seine eigene Schöpfung falsch eingeschätzt? Oder ist sein Werk viel komplizierter geworden, als er es sich erdachte? Konnte er denn ahnen, dass die Menschen sich nicht bloß vermehren, sondern auch noch Männer Männer und Frauen Frauen lieben werden? Und als das geschah, soll er diese Liebe verboten haben? Aus welchem Grund? Dies hat er nun nicht erklärt. Denn es gibt auch keinen Grund, warum diese Liebe nicht sein darf.

Es gibt auf dieser Welt Millionen von Menschen, die homosexuell sind. Sie können ihre Sexualität nicht ändern, genauso wie es Heterosexuelle nicht können. Sie kann vielleicht unterdrückt sein, sich nur sporadisch melden (viel machen ja die gesellschaftlichen Umstände, die Erziehung, die Angst davor, was Leute sagen, aus), aber eines Tages zeigt sie sich doch mit aller Kraft und will ausgelebt werden.

So ist es mir passiert. Glauben Sie mir, es war ein Schreck auch für mich, auf einmal festzustellen, dass ich mich in eine Frau verliebt habe. Aber jetzt stehe ich dazu und bin froh, mich nicht mehr „verstecken“ zu müssen.

Liebe Frau Heimann, lieber Herr Heimann, ich verlange keine Antwort von Ihnen (meine Fragen können Sie gern als rein rhetorische betrachten), obwohl ich mich natürlich sehr darüber freuen würde. Ich akzeptiere, wenn Sie Ihre Meinung trotz dieses Briefes nicht ändern können, bin aber gern bereit, mit Ihnen über das Thema zu diskutieren. Wenigstens hoffe ich, Sie überzeugt zu haben, dass ich mit meinem Leben vollkommen zufrieden bin. Ich meine damit die private Seite. Was die andere Seite angeht, so habe ich auf meine Bewerbungen inzwischen meine Unterlagen mit „freundlichen Grüßen“ zurückbekommen. Aber ich gebe mich nicht geschlagen und habe auch in dieser Richtung viel vor. Ich bin mir sicher – bald werde ich nicht mehr in der Spalte „Beruf“ angeben müssen, dass ich als Putzfrau arbeite. (Reinigungskraft klänge allerdings viel vornehmer, aber das Wesentliche ändert sich ja dadurch nicht).

 

Mit herzlichen Grüßen
(immer noch dieselbe) Rosa“

 

PS: Der berufliche Erfolg hatte nicht lange auf sich warten lassen – ein Jahr später erhielt ich auch schon eine Anstellung in der Stadtbücherei Lüdenscheid.

 

Herzlich willkommen auch auf meiner Homepage: https://www.rosa-andersrum.de/

Mein Blog: https://rosasblog54.wordpress.com/

Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Cover: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2023

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