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Diese Rosa

In meiner alten Heimat war es ja so: Bevor der zum Militärdienst Eingezogene die Familie verließ, fand eine Abschieds-Feier statt. Die gab es auch für meinen Bruder im Jahr 1969. Wie allbekannt, trinken die Russen meistens Wodka. Den tranken zwangsläufig auch die Deutschen dieses Landes.

Obwohl unser Vater das Trinken schon in jungen Jahren aufgegeben hatte, sorgte er dafür, dass Alkohol auf dem Tisch nicht fehlte, wenn Besuch da war oder bei solchem Anlass, wie dieser Abschied. Es wäre schöner, mit einem Glas Wein anzustoßen, aber gute Weine waren in Russland nicht zu bekommen, es gab überhaupt selten Wein im Angebot. Also blieb nur der Hochprozentige.

Von der Feier blieb allerdings eine Halbliterflasche unberührt. Vater versprach seinem Sohn: „Diese Flasche öffnen wir, wenn du in drei Jahren wiederkommst“.

Der Wodka verschwand zur Verwahrung in die Speisekammer. Dort wäre er auch geblieben, wäre da nicht wieder diese Rosa gewesen – dieses Mädchen, das verbotene Dinge besonders anzogen.

Mein Bruderherz war längst in der ‚Nordflotte‘, meine Mutter bereits schwer krank, meine heimliche Liebe unerreichbar; an einem dieser schlimmen Wintertage also herrschte draußen die gleiche Kälte wie in meinem Inneren.

Kurzum, ich hatte großen Kummer, der im Zusammenspiel mit der sich anbahnenden Depression immer mehr auf mein Gemüt drückte. Darum war es nicht verwunderlich, dass mir der Gedanke kam, Wodka könne Erleichterung bringen. Natürlich hatte ich mit meinen damals sechzehn Jahren schon Alkohol probiert und seine Wirkung war mir bekannt. So hoffte ich, auch diesmal die Schwere aus meinem Herzen damit herausspülen zu können.

Ich holte die noch ungeöffnete Flasche aus der hintersten Regalecke der Speisekammer und füllte ein Wasserglas. Es schmeckte scheußlich, sorgte aber für eine angenehme Wärme im Magen, und ich trank heroisch fast das ganze Glas aus. Vielleicht hätte ich sogar noch mehr getrunken, aber aus Erfahrung wusste ich – ein paar Tropfen zu viel und ich beginne zu heulen. Das durfte nicht passieren, denn ich hatte an diesem Tag keinen, an dessen Schulter ich mich lehnen und dem ich mein Herz hätte ausschütten können. Also zog ich die Notbremse!

Was aber sollte ich mit dem Rest Wodka machen? Ich überlegte nicht lange, kippte die Flüssigkeit in den Eimer unter dem Waschtisch und schleuderte die leere Flasche draußen in das schneebedeckte Kartoffelfeld hinter dem Haus.

Ging es mir danach besser? In gewissem Sinne und im ersten Moment schon. Ich hatte jedoch etwas zu viel des Guten getan, denn meine Schwermut verwandelte sich rasch in eine tiefe Traurigkeit, die ausgeweint werden wollte. Mich irgendwo zu verkriechen ging aber nicht – es war bald Abend und ich musste den Bus nach Moskalenki nehmen, denn am nächsten Tag fing die neue Schulwoche an. Mir blieb nichts anderes übrig, als in den Bus zu steigen und mich in einer Ecke ganz klein zu machen.

Im Frühjahr, beim Bearbeiten des Ackers, fand Vater die leere Wodkaflasche und schöpfte sofort Verdacht, es könne sich um jene handeln, die er in der Vorratskammer deponiert hatte. Tja, den Sohn konnte er nicht beschuldigen und auch ganz bestimmt nicht die dreizehnjährige Erna. Also, wer blieb übrig? …

Per Ausschlussverfahren kam er schnell auf die wahre Täterin. Ich gestand meine Schuld mit dem Verteidigungs-Argument, ich hätte mich mit Wodka aufheitern wollen. Als mildernden Umstand fügte ich noch hinzu, ich hätte nur wenig von dem hochprozentigen Zeug getrunken und den Rest weggeschüttet, was ja fast der Wahrheit entsprach.

Bestraft wurde ich nicht. Oder vielleicht doch? Kam es nicht einer Strafe gleich, mir danach bei jeder Gelegenheit diese Story unter die Nase zu reiben und den Gästen auf Feiern als Anekdote zu präsentieren?

Als Jakob aus der Armee entlassen wurde, gab es selbstverständlich eine neue Flasche Wodka, serviert mit der Geschichte darüber, auf welche ‚amüsante‘ Weise die alte verschwunden war.

 Mein Bruder Jakob, 1971

 

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Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Rosa Ananitschev
Cover: Rosa Ananitschev
Tag der Veröffentlichung: 05.08.2023

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