Über das Leben meines Großvaters, eines Großvaters, den ich nie kennenlernen durfte, ist mir nur wenig bekannt. Doch darüber, wie und warum er sterben musste, weiß ich mittlerweile mehr.
Seine eigenen Großeltern lebten einst in Rheinland-Pfalz. Sie waren 1807 zunächst nach Ungarn und schließlich 1810 in die Ukraine ausgewandert.
Johann Hetterle wurde 1871 in Peterstal im Odessa-Gebiet (Ukraine) geboren und lebte nach der Heirat mit Margarita König (1995) in Scherowo (ebenso Odessa-Gebiet). Sie hatten sechs Kinder großgezogen (meine Mutter Ida war das Vorletzte von den Sechsen). Johann war ein angesehener Lehrer und Prediger in der Baptisten-Gemeinde des Dorfes. Zudem besaß die wohlhabende Familie einen kleinen Bauernhof.
1926 geschah das Unvermeidliche – die Sowjets stuften ihn als Kulak ein und damit nach ihrer Ideologie als Feind des Volkes. Ihm wurde als Ausbeuter und Diener Gottes das Wahlrecht entzogen und 1929 sein Eigentum expropriiert. Um einer Deportation zu entgehen, war er mit der Familie 1930 nach Donbass geflüchtet und von da aus 1933 nach Sibirien. Sie fanden eine Bleibe in Schönfeld (Dobroje Pole) – einem deutschen Dorf im Omsk-Gebiet. Doch seine Flucht nutzte ihm nicht viel, verschaffte ihm lediglich ein paar Lebensjahre mehr. Auch in Sibirien holte es ihn ein.
Im Grunde konnte man die Schicksalsschläge der Deutschen in der Sowjetunion voraussagen und in ihr Leben gleich einberechnen. Der nächste Schlag traf auch schon bald mit voller Wucht zu. Im Juli 1937 wurden Großvater und sein ältester Sohn (Mamas Bruder) sowie weitere Männer als Verräter verhaftet. Mein Vater erzählte, es sei eine Anweisung von „oben“ gewesen – mindestens zehn Personen sollten es werden. Das Plansoll galt wohl als erfüllt und sogar mit „Erfolg“ übertroffen, denn festgenommen wurden elf Dorfbewohner. Man riss sie nachts aus dem Schlaf und brachte sie für immer fort. Erst in den Zeiten der Perestroika stellte sich heraus, dass zehn von ihnen zum Tod durch Erschießen verurteilt worden waren. Nur einer bekam acht Jahre Lagerarbeit, doch auch ihn sah seine Familie nie wieder.
Folgende Antwort bekam mein Bruder 1989 von der Staatsanwaltschaft (deutsche beglaubigte Übersetzung):
Auf Ihre Anfrage bezüglich des Schicksals Ihres Großvaters hin teile ich Ihnen mit: Auf Anordnung der Troika des UNKWD für das Gebiet Omsk vom 17.11.37 ist Iwan Hetterle, geboren 1871, erschossen worden. Auf Anordnung des Präsidiums des Gebietes Omsk vom 29. O1. 58, auf den Protest des Gebietsstaatsanwalts hin, ist die Anordnung der Troika aufgehoben worden und der Strafprozess eingestellt, da keine Straftat vorlag. Die Bescheinigung über die Rehabilitierung können Sie beim Versorgungsdienst erhalten.
Der Bürovorsteher des Staatsanwalts für das Gebiet Omsk Justizrat J. I. Simonow
Aus diesem Schreiben wird ersichtlich – Johann Hetterle wurde bereits Anfang 1958 rehabilitiert. Die Angehörigen zeitnah zu benachrichtigen, hielt man jedoch für überflüssig.
Später ist es einem meiner Cousins gelungen, die ganze Wahrheit über die letzten Tage des Großvaters ans Licht zu bringen. Folgend nur ein paar der Dokumente, zu denen er Zugang bekam.
Order Nr. 57 (meine Übersetzung und Original-Foto):
Ausgestellt am 28. Juli 1937
Gültig für 24 Stunden
Genosse [Name ausradiert]
wird befohlen, die Hausdurchsuchung und Festnahme des Bürgers Geterle Iwan [Hetterle Johann] durchzuführen, wohnhaft in Dobroje Pole.
Alle Bürger der UdSSR sind verpflichtet, bei der Ausführung dieser Order mitzuarbeiten und Hilfe zu leisten.
Und so unbürokratisch, so zügig, so routiniert (automatisiert, könnte man fast sagen) wurde Johann Hetterle der Prozess gemacht, damals am 17. November 1937. Wenn ich die wenigen Zeilen aus dem Protokoll der sogenannten Troika lese (es gibt dazu auch fünf Seiten des Vernehmungsprotokolls) – und viel mehr noch zwischen den Zeilen – dann wird mir ganz anders ...
Auszug aus dem Protokoll Nr. 44 der Gerichtssitzung der Troika UNKWD, Omsk Gebiet (meine Übersetzung):
Ermittlungsakte Nr. 7377 …
Angeklagt: GETERLE Iwan Pawlowitsch [HETTERLE Johann], geboren 1871, Kulak. 1926 wurde ihm als Kulak-Ausbeuter und Diener Gottes das Wahlrecht entzogen, 1929 sein Eigentum expropriiert. Um einer Deportation zu entgehen, war er 1930 nach Donbass geflüchtet.
Ihm wird vorgeworfen: Agitation gegen die Sowjetregierung, Diskreditierung der kommunistischen Partei, Infizierung aus konterrevolutionären Gründen der gesunden Kolchos-Nutztiere mit Brucellose und Tuberkulose.
Das Ziel seiner Aktivitäten – Zusammenbruch der Kolchose und Restauration des Kapitalismus in der UdSSR.
Gibt seine Schuld nicht zu, die wird jedoch von den Komplizen- und Zeugenaussagen bestätigt.
Redner: Genosse KOWGAN
Am 17.11.1937 beschlossen: GETERLE Iwan Pawlowitsch [HETTERLE Johann] ERSCHIEßEN
Auszug aus dem Protokoll der Gerichtssitzung (Original)
Wie man der unten angefügten Bescheinigung – ausgestellt am 28. November 1953 (nach Stalins Tod) – entnehmen kann, hatte Johann Hetterle nach der Urteilsverkündung nur noch drei Tage zu leben.
Bescheinigung über die Hinrichtung (meine Übersetzung):
Das Urteil über die Erschießung Geterle Iwan Pawlowitsch [Hetterle Johann] wurde vollstreckt in Omsk am 20. November 1937.
Ausgestellt: 28. November 1953.
Stadt Omsk
Bescheinigung über die Hinrichtung (Original)
Johann Hetterle war nur einer von vielen Millionen Menschen, die in Russland verfolgt, verurteilt, in Lager gesperrt, gefoltert, vergewaltigt und hingerichtet wurden. Die von Stalin legalisierte Willkür der Repressionsorgane kannte keinen Halt und keine Grenzen. Auch das Grausigste aller Grauen war statthaft und geschah allerorts und aller Tage.
Demnach soll uns das Jetzt und Heute in diesem Land nicht mehr wundern, denn wir wissen – die Diktaturen gleichen sich. Putin und sein Regime machen es Stalins Regime erfolgreich nach und lassen so den Horror der Vergangenheit in der Gegenwart wieder aufleben.
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Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Rosa Ananitschev
Cover: Quelle: livejournal.com
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2023
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