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Ich bin es – das schwarze Schaf

Meine dreieinhalb Jahre jüngere Schwester gab mir wieder einmal Anlass zum Sinnieren. Ein herzensguter, freundlicher und hilfsbereiter Mensch, kümmert sie sich um unsere andere Schwester, die elf Jahre älter ist als ich, und gesundheitliche Einschränkungen im Alltag hat. Beide wohnen sie in Dortmund, nicht weit weg voneinander. Am vergangenen Sonntag besuchten meine Frau und ich die zwei. Wir verbrachten in der Wohnung der Älteren bei Kaffee und Kuchen ein paar gemeinsame Stunden, redeten über dies und das. Mich wunderte schon, dass die Jüngere das Thema Gott nicht aufgriff. Aber zu früh gefreut.

Auf dem Nachhauseweg nahmen wir sie mit, um sie an ihrer Wohnung abzusetzen. Bevor sie sich verabschiedete, äußerte sie eine Bitte an uns – jetzt kommt’s! – wir sollen doch dringend nachdenken – über Gott und unser Leben, denn sonst können wir nicht gerettet werden. Ich lachte innerlich, sagte aber: Wir denken immer nach.

Wenn ich das schwarze Schaf in der Familie bin, dann ist meine jüngste Schwester mit Sicherheit das weiße – das reinweiße. Diese Behauptung würde sie zweifelsohne zufriedenstellen. Denn sie als gläubiger Mensch ist mit allen Wassern gewaschen und kein einziges Stäubchen kann mehr an ihr haften bleiben. Wobei ich – oh du lieber Gott! – die echte Schande darstelle und das Schlimmste – der Schmutz klebt nicht nur an mir, sondern droht, auch sie zu beflecken. Er würde sogar für noch ein paar Leute in meiner nahen Verwandtschaft reichen, die zwar nicht unbedingt alle an Himmel und Hölle glauben, aber sich von mir fernhalten, um möglichst wenig von dem Ruß abzubekommen. Es tut mir ja schrecklich leid, dass sie sich so vor mir fürchten und für mich schämen müssen, aber ich bin nun mal so … schwarz. Mich ständig zu waschen, nützt da auch nichts.

Da meine Schwester jedoch überzeugt ist, dass sie an ihrer Seite den Allmächtigen hat, fühlt sie sich von ihm bestärkt und vor allem berufen, alles zu tun, um die Schwärze aus meinem ‚Fell‘ herauszubekommen. Koste es, was es wolle. Ich beneide sie nicht; es ist Schwerstarbeit, und nur ich allein weiß, dass sie es nie und nimmer schaffen wird.

Warum ich solch eine harte Nuss bin, fragt ihr mich?

Nun, als eigenständige Frau habe ich auch meinen eigenen Verstand und der sagt mir, dass es keine höhere Macht gibt, die über uns Menschen wacht, die uns, ob lebend oder tot, richtet. Dagegen kommt keine Predigt an, sei sie noch so händeringend.

Dann ist da noch etwas, womit meine Schwester zu kämpfen hat: die verkehrte Liebe, der ich zum Opfer gefallen bin, die falschen Gefühle, die mich hindern, den richtigen Weg zu gehen … Oh, Gott, wie soll ich das denn erklären?

Also, noch einmal von vorn. Es gibt doch die Liebe … die Liebe zwischen Frau und Mann …

„Klar, und es gibt die Liebe zwischen Frau und Frau ebenso wie zwischen Mann und Mann“, würdet ihr jetzt ungeduldig ergänzen und mich fragen: „Was ist denn daran so verkehrt?“.

Ja-a, für euch, diejenigen, die das hier lesen, ist es vielleicht sonnenklar und überhaupt nicht verkehrt oder gar schwarz. Jedoch die anderen, die für diese Zeilen leider die Augen verschließen (pfui Teufel!) … die sind der felsenfesten Meinung, dass die Konstellation Frau und Frau oder Mann und Mann vom Gott so gar nicht vorgesehen ist. Mann und Frau (genau in dieser Reihenfolge, mit Mann an erster Stelle, da die Frau laut Bibel ja zum Geschöpf zweiter Klasse gehört) – das ist das einzig Wahre und von höchster Instanz genehmigt, für alle Ewigkeit. Punkt und basta!

Das Interessante – meine Schwester war nicht immer so ‚blütenweiß‘ und auch ich galt nicht von Geburt an als schwarzes Schaf, zumindest nicht äußerlich (das Innerliche sah keiner). Es gab Zeiten, da trug die noch junge Frau kein Kopftuch, dafür aber gern Hosen; sie las nicht ausschließlich die Bibel, sondern auch Liebesromane; sie ging ins Kino und sogar in die Disco. Das Blatt wendete sich vor … vielleicht 30 Jahren. Da erschien ihr eines Nachts der Allvater höchstpersönlich und erklärte, wie sie ihr Leben zu leben habe. Seitdem ist sie in ständiger Bereitschaft … Bereitschaft für Danach. Zu diesem Thema hatten wir schon einmal eine Diskussion, in der sie sehr bemüht war, mir einzuschärfen, dass ein Mensch immer in Erwartung des letzten Gerichts sein müsse.

„Stell dir vor“, sagte sie und Entsetzen schwang in ihrer Stimme mit, „Gott kommt, um die Lebenden und die Toten zu richten, und du … du bist in diesem Moment im Theater!“

„Aber wenn er Gott ist“, entgegnete ich, „dann ist er doch allmächtig und allwissend, dann findet er mich überall, auch im Theater. Außerdem bin ich hier, auf dieser Welt, um zu leben und glücklich zu sein, nicht um mich für den Tod vorzubereiten.“

Darauf wusste mein Schwesterlein seltsamerweise keine Antwort.

Es ist bemerkenswert, wie die Baptistin ihr ganzes Dasein nach der Bibel richtet und mit der höheren Macht in Verbindung bringt. Wenn ihr etwas Schlimmes passiert, dann ist es das Werk Gottes, indem er prüft, wie treu sie ihm ist. Und so betet sie noch häufiger, noch länger, mit noch mehr Inbrunst. Wenn sich unerwartet angenehme Dinge ereignen, dann hat sie es ganz bestimmt nur dem Schöpfer zu verdanken, und wieder schickt sie Gebete voller Bewunderung gen Himmel. Ist das nicht die Harmonie selbst?

Als mein schwarzes Fell für die Verwandten deutlich sichtbar wurde, haben so einige von ihnen den Kontakt mit mir abgebrochen. Meine Schwester jedoch nicht. Nein, sie überwand ihre Abneigung und rief zwar nicht oft, aber in regelmäßigen Abständen ihre vom Weg abgekommene Schwester an. Sie wusste: Nur ihr kann es gelingen, mich umzuwandeln und wieder in die Spur zu bringen. Sie wagte es sogar, meine Lebensgefährtin und mich in unserer Wohnung zu besuchen. Mit Sicherheit war sie neugierig und wollte wissen, wie denn so der Alltag zweier Lesben aussieht. Ob sie fürchtete (oder auch insgeheim hoffte), etwas zu entdecken, was uns als Monster entlarvte? Sexspielzeug? Noch schlimmer – ganze komplexe Gerätschaften? …

Sie fand nichts, weil auch nichts zu finden war, und die Rosa hatte ihre menschlichen Züge auch nicht verloren, sogar ihre Freundin sah wie eine ganz normale Frau aus. Was für eine Enttäuschung! Die Gläubige wagte auch nicht, das Thema Religion anzusprechen, da sie wohl noch nicht abschätzen konnte, wie die Fremde reagieren würde.

Aber egal wie nett und lieb meine Partnerin sich auch erwies, sie wurde noch lange von der Gottesfürchtigen auf Abstand gehalten. Einladungen zu Feierlichkeiten bekam nur ich. Was ich stets ‚dankend‘ ablehnte.

Eine längere Funkstille zwischen uns Schwestern stellte sich ein, nachdem sie mir am Telefon verkündet hatte, zu welchen Bedingungen ich ihren 50. Geburtstag mitfeiern dürfte. Ich war empört und erteilte ihr sofort die Absage. Sie meinte, ich solle mich nicht so anstellen, was wäre schon dabei, wenn ich allein käme. „Unsere Männer“, sagte sie betont, „gehen doch auch nicht überallhin mit, sie bleiben auch mal zu Hause“.

„Es gibt da aber einen feinen Unterschied, liebe Schwester“, parierte ich. „Euren Männern wird kein Hausverbot erteilt, so wie meiner Frau – sie entscheiden für sich selbst, ob sie euch begleiten oder besser nicht“.

Da ich ein toleranter Mensch und nicht nachtragend bin, nahm ich später ihre Anrufe wieder entgegen. Natürlich pflegt sie in jedem Telefonat ein paar gottgefällige Worte einzuflechten. Ich höre gelassen ihre Tiraden zu Ende und lenke dann das Gespräch in eine andere Richtung, weiß ich doch – Streiten hat keinen Zweck.

Und doch brachte sie mich eines Tages erneut an den Rand meiner Geduld.

Meine Schwester wollte mir eine traurige Nachricht überbringen: Die Tochter eines unserer Cousins liege im Koma und werde nie wieder aufwachen. Natürlich sprach ich mein Bedauern aus, obwohl zwischen mir und dieser Familie, aus den gleichen wie oben genannt Gründen, kein Kontakt besteht und ich nicht einmal weiß, wie viele Kinder mein Vetter hat und wie seine Tochter heißt.

Da sagte doch die gute Frau: „Aber zum Glück ist sie ja gläubig …“
Meine Fassungslosigkeit schwappte in Wut über: „Auch wenn sie nicht gläubig wäre, wäre sie trotzdem ein Mensch! Von welchem Glück redest du überhaupt? Und zum Teufel, wie lange willst du mir noch vom Gott erzählen? Du weißt – unsere Vorstellungen über Leben und Tod gehen völlig verschiedene Wege und werden sich in keiner Weise treffen. Du kannst über alles Mögliche mit mir reden, aber hör endlich auf, mich zu bekehren.“

Sie war beleidigt. Legte auf. Ich atmete durch.

Es war natürlich nur eine Frage der Zeit, bis sie erneut ihrer ehrwürdigen Lebensaufgabe nachging.

 

 

Erstaunlich, aber wir haben mittlerweile ein gutes Verhältnis. Ich weiß auch, dass sie meine Frau in ihr Herz geschlossen hat. Doch paradoxerweise wäre es meiner Schwester lieber und eine Genugtuung, wenn ich mich trennen würde. Logisch – würde ich anfangen, an Gott zu glauben, wäre ich gezwungen, diesen Schritt zu gehen (ihr versteht – Gott duldet nicht …), ich würde es sogar wollen.

Solange ich jedoch ungläubig bin, muss sie weiter machen und mit noch mehr Eifer sich dahinterknien, um meine Seele zu retten. Denn sie weiß – Vater unser sieht und beurteilt alles. Sie weiß – die Hoffnung auf den Lobpreis im Himmelreich darf sie nicht aufgeben.

 

Mai 2022

 

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Mein Blog: https://rosasblog54.com/

Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Bild von reenablack auf Pixabay
Cover: Bild von Alexa auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 10.04.2023

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