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Nichts war gut

Manchmal rufe ich in Google Maps meinen Wohnort aus dem früheren Leben auf. Es ist ein seltsames Gefühl, die Straße und das Haus zu sehen, in dem ich 17 Jahre meines erwachsenen Lebens verbracht habe – bis Mitte November 1992. Mich wieder in diese andere Welt, wenn auch nur gedanklich, zurückzuversetzen, fällt mir schwer und bringt mich in eine albtraumhafte Stimmung. Es ist wie an einen Ort des Schreckens zurückzugehen – du fürchtest dich davor, aber gleichzeitig zieht es dich hin.

Omsk war zu meiner Zeit schon eine Millionenstadt – laut und schmutzig. Die vielen Chemiewerke sorgten dazu noch für einen widerlichen Gestank, der besonders oft im Sommer über den Straßen hing. Wie dieser Smog sich auf die Gesundheit der Bewohner ausgewirkt hat, ist ein anderes Thema, aber dazu bedarf es nicht viel Fantasie. Da brauche ich bloß an mein Kind und die eigene starke Allergie zu denken.

Auf dem Bild sehen die Umgebung und das Haus selbst noch ganz passabel aus, sogar die Straße hat keine Schäden.

 

 

Ich versuche, in Gedanken wenigstens einen Tag von früher zu rekonstruieren, aber das gelingt mir nicht so wirklich. Welchen soll ich auch nehmen – einen von vielen belanglosen, oder einen von der schlimmen Sorte? Den, als der Notdienst vor dem Haus stand, weil mein Jüngster, noch kein Jahr alt, kaum Luft bekam und ich befürchtete, er ersticke gleich? Für ein paar Tage kam er ins Krankenhaus; ich durfte mit, aber solche Aufenthalte trieben dann mich wiederholt in die Verzweiflung, denn ich war ständig der Panik nahe. Gefangen sein, vertrug ich schlecht, und im Krankenhaus fühlte ich mich gefangen. Meiner Freiheit beraubt. Eingesperrt. Sobald es dem Kleinen besser ging, haute ich mit ihm ab. Oder den Tag, an dem mich die größte aller Panikattacken überfiel? Als mir zum ersten Mal bewusst geworden war – aus diesem Leben komme ich nicht raus, ich bin für immer und ewig darin gefangen. Nicht einmal den Freitod sah ich als Ausweg, denn auch er war für mich gewissermaßen ein Teil des Lebens. Nein, an diesen Tag will ich auch nicht denken.

 

 

Eigentlich will ich mir keinen einzigen der vielen Tage, verlebten in Omsk, vorstellen. Jeder, auch wenn er noch so schön und friedlich scheint, enthält die grauen, blutgetränkten Hintergrundfarben – die Farben des Schreckens einer Diktatur, die es in diesem Ausmaß in der Geschichte der Menschheit nirgendwo mehr gab. Ein wenig an der Oberfläche kratzen genügt – und schon bist du mittendrin im Grauen.

Darum kann ich es nicht verstehen, wenn Menschen, die aus diesem Land kommen, so viel Nostalgie nach der Vergangenheit verspüren und behaupten – in Russland war nicht alles schlecht, vieles war gut. Nein, nichts war gut in diesem Land! Nichts ist gut in diesem Land.

 

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Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Rosa Ananitschev
Tag der Veröffentlichung: 18.12.2022

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