Es gibt Tage, an denen ich schon beim Aufwachen weiß – dieser wird kein angenehmer sein. Ich öffne die Augen und möchte sie am liebsten wieder schließen und so diesem qualvollen Gefühl entfliehen, dem Gefühl, das man als Depression bezeichnet.
Zum ersten Mal besuchte sie mich vor vielen, vielen Jahren – ich war noch ein Kind – und seitdem kommt sie immer wieder einmal vorbei. Sie schleicht sich meistens schon nachts in meinen Schlaf und sobald ich wach bin, langt sie zu. Sie raubt mir den Mut, die Kraft und die Freude. Gemein und hinterhältig sucht sie sich meine Schwächen heraus und setzt sie gegen mich ein. Das ist es ja, was sie doppelt so abscheulich macht – wenn sie einmarschiert, dann schleppt sie mit sich, um Vielfaches vergrößert, alle meine Sorgen und wunden Punkte. Sie schüttet sie über meinem Kopf aus und feixt dabei: „Na, wie wirst du damit fertig?“
Den Tag zu beginnen, ist eine Qual. Aber ich versuche, sie zu ignorieren. Ich bin ich, ich bin stärker! Ich stehe auf, ich lebe meinen Tag, Schritt für Schritt, obwohl jeder Schritt einem Kampf gleicht, jeder Schritt mir Angst macht und manchmal eine enorme Überwindungskraft erfordert. Zum Glück – sage ich mir – zum Glück ist sie diesmal allein, ohne ihren Komplizen. Denn der … der ist noch viel grauenvoller. Er ist das Monstrum unter Monstern. Sein Name ist Panik und er ist nur aufs Vernichten aus.
Jeden Dezember hoffe ich, dass ich „diesmal“ von ihrem Besuch verschont bleibe. Aber nix da – sie liebt die Weihnachtszeit; sie kommt, ohne auch nur anzuklopfen, und macht sich wie selbstverständlich in mir breit. Sie weiß –der letzte Monat des Jahres ist für sie quasi reserviert. So war es schon immer. „Und so wird es auch bleiben“, sagt sie mir und grinst selbstgefällig.
Sie vertreibt meine Lebensfreude, sät dafür nagende Unruhe, Hoffnungslosigkeit, Schwermut und noch einiges mehr dieser Art Empfindungen. Die Seele zu quälen, beherrscht sie gut, dafür ist sie geschaffen. Das ist ihre Aufgabe, ihr Lebensziel.
„Aber ich habe andere Ziele“, sage ich ihr voller Verzweiflung. Sie schweigt bloß und hört nicht auf zu grinsen. Ich weiß, sie wird nicht einfach so nachgeben – ich muss die „Notbremse“ in Form eines zusätzlichen Medikamentes ziehen. Es gefällt ihr nicht, das Grinsen verblasst in ihrem Gesicht und all‘ die Abscheulichkeiten, die sie in ihrem Gepäck hat, werden etwas leichter.
Wenn endlich der Dezember vorbei ist, verabschiedet sie sich und zieht von dannen. Mit der getanen Arbeit ist sie zufrieden, nun braucht sie eine Abwechslung – jemand anderes, den sie demütigen kann. Zum letzten Mal dreht sie sich um und zwinkert mir zu. „Bin weg, komme aber wieder – verlass dich drauf!“
„Wir werden sehen … hau‘ endlich ab!“
Das Thema „Depression“ kommt oft in meinen Texten vor und trotzdem fehlen mir für die Beschreibung dieser grauen Hexe (wie ich sie oft selbst nenne) die passenden Worte. Ja, für mich ist sie eine graue Hexe und dazu auch noch eine mit vielen Gesichtern. Es kann ein hohnlachendes, ein angsteinjagendes, ein aus der Ferne beobachtendes, es kann aber auch ein gleichgültiges und nichtssagendes Gesicht sein, aber es ist stets dunkel, farblos und hässlich.
Alles, was in Deutschland nicht zu gebrauchen war, ließ ich in Russland zurück, nicht bloß materielle Dinge, auch veraltete Lebenseinstellungen und einige Alltagsgewohnheiten. Nur die Depression konnte ich nicht so einfach loswerden, sie blieb in meinem Schatten versteckt und trat bei der erstbesten Gelegenheit hervor. So schlug sie gleich am 4. Dezember 1992 – am Tag meiner Ankunft in Deutschland – erbarmungslos zu. Seitdem läuft sie zwar meistens nebenher, findet jedoch gelegentlich immer noch ein passendes Schlupfloch, um sich zu präsentieren und mir den Weg zu erschweren.
Ich weiß – ich bin nicht die Einzige, die solch eine Last aus der alten Heimat mitgebracht hat; ich kenne Russlanddeutsche (darunter aus dem eigenen Familienkreis), die sich ebenso damit herumplagen müssen. Sie haben sie, wie ich von meiner Mutter, von ihren Vorfahren geerbt. Wahrscheinlich werden auch noch Generationen nach uns darunter leiden. Die aus schlimmen Erfahrungen und Erlebnissen resultierenden Gemütszustände haben Großeltern und Eltern uns unbewusst weitergegeben. Dieser Auffassung sind auch PsychiaterInnen und TherapeutInnen, die ich im Laufe der Jahre schon konsultiert habe. Zugegeben, bei mir hat die Depression noch einen anderen Grund, doch ohne den bereits vorhandenen Nährboden hätte sie sich nicht so tief verwurzeln können.
Wer mit dieser Krankheit nie konfrontiert wurde, versteht sie nicht wirklich. Du hast doch alles, sagen sie (oder denken sich insgeheim), du bist gesund, du lebst im Wohlstand und kannst dir vieles leisten, worüber du früher nicht einmal zu träumen gewagt hast. Was fehlt dir noch?
Ja, was fehlt mir?
Vielleicht denke ich zu oft darüber nach, was meine Eltern alles erlebt und worüber sie nicht gesprochen haben?
Das ist in der Tat so und es sind schmerzliche Gedanken, aber ich finde, so soll es auch sein und so ist es richtig. In gewisser Weise vertrete ich sie – mit dem, was ich schreibe und indem ich es öffentlich mache, auch wenn es zum größten Teil persönlich ist. Sie schwiegen – ich schweige nicht und ich spreche auch in ihrem Namen. Das Schreiben hilft mir selbst und vielleicht ein wenig anderen Menschen, die meine Texte lesen und sich dadurch ein Bild von dem, was war, machen können.
Ist es mir denn möglich, mit meinem Tun der Depression entgegenzuwirken?
Ich hatte schon einmal im Blogbeitrag eine Art Liste zusammengestellt, mit Positivem und Negativem in meinem Leben, und die möchte ich hier einfügen.
Eins vorweg: Alle Vergleiche mit dem Herkunftsland betreffen die Zeit vor meiner Aussiedlung nach Deutschland. Darüber, wie es dort später war, will ich nicht spekulieren. Allerdings, demnach, was ich alles im Netz las, sah und hörte, kann es nicht viel besser gewesen sein. Und Putins Regime mit seinem gegenwärtigen, aggressiven und blutigen Krieg in der Ukraine hat auch das bisschen zunichtegemacht, was vielleicht doch noch gut war.
Positiv (und wichtig):
Ausblick aus meinem Büro in der Stadtbücherei Lüdenscheid
In der Stadtbücherei Lüdenscheid, 2011
Negativ (mit Gegenwirkung):
Wie man sieht, ist die Liste der positiven Dinge deutlich umfangreicher als die der negativen – und doch bei Weitem nicht vollständig. Es gibt noch so vieles mehr, was in Deutschland völlig anders ist. Das, was in meiner alten Heimat unmöglich schien, ist hier normal und selbstverständlich. Ich komme nicht umhin, diese Beispiele auch noch aufzuzählen, so wie sie mir gerade einfallen:
Mit Sicherheit könnte ich die Positiv-Listen noch um mehrere Punkte erweitern. Ja, es fällt mir noch eine Menge ‚Kleinigkeiten‘ ein. Doch kann man auch so schon erkennen: es sind zwei grundverschiedene und einander fremde Welten – das, was mein Leben einst war, und das, was es heute ist. Für mich fühlt das Früher sich wie ein kalter, schwarzer Abgrund an, und es schaudert mich, wenn ich da hinunterblicke, wenn ich ‚abrutsche‘ und ‚hinabstürze‘, was in meinen Träumen nicht selten der Fall ist.
Nein, die Depression allein durch positive Gedanken zu besiegen, gelingt mir nicht – leider. Meine Versuche scheitern da immer wieder. Auch der stärkste Wille kann dagegen nichts ausrichten. Aber in Zeiten ihrer Abwesenheit hilft es, sich stets ins Gedächtnis zu rufen, was alles seit über 30 Jahren mein Leben nicht mehr belastet, wie erfüllt mit wunderbaren Dingen es heute ist. Dann kann sich diese Bestie bei ihrem nächsten Besuch nicht allzu breit machen. Dann trifft sie auf mehr Abwehr.
Hach ... 20 Jahre jünger!
Herzlich willkommen auch auf meiner Homepage: www.rosa-andersrum.de
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Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Rosa Ananitschev
Cover: Reimund Bertrams auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2021
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