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Begegnung - Aus dem Mailaustausch mit meiner Nichte Lilli (Veröffentlichung mit ihrer Zustimmung)

Lilli hat mich Anfang des Jahres im Internet „entdeckt“ und angeschrieben. Seitdem stehen wir im engen Kontakt miteinander. Sie ist eine wunderbare, außergewöhnliche, sehr kreative Frau. Uns verbinden nicht bloß das Familiäre und die Vergangenheit, wir haben auch andere Gemeinsamkeiten. Dazu lasse ich nur ein Wort fallen: Schreiben …

 

ROSA: … Du träumst doch auch viel, Lilli … Ich hatte vor Kurzem einen eigenartigen Traum. Dazu muss gesagt werden, dass ich fast die ganze Nacht nicht geschlafen hatte – wegen einer schlimmen Blasenentzündung. Dann so gegen fünf war ich wohl doch eingenickt und …

... merke – ich muss schon wieder auf die Toilette, stehe auf, gehe in den Flur und sehe, dass vor mir gerade jemand ins Bad geht. Es ist in der Morgendämmerung, ich erkenne meinen Sohn und denke: ‚Dann benutze ich eben das Gäste-WC, aber eigentlich kann ich auch warten‘. Ich nehme von der Kommode im Flur mein Handy – da liegt es immer – mit dem Gedanken: ‚Ich könnte ja derzeit ein Foto aus dem Wohnzimmer-Fenster machen‘, gehe ins Wohnzimmer, will das Licht einschalten – es geht aber nicht an. Im Halbdunkel stelle ich fest, dass der Tisch vor dem Fenster mit irgendetwas voll gestellt ist, gehe näher heran … Es sind Blumen in mehreren Vasen, die die Sicht aus dem Fenster versperren. Also gehe ich zurück, betätige wieder den Lichtschalter (aus), lege das Handy auf seinen Platz … In dem Moment öffnet sich die Badezimmertür und ich sage schnell: „Nicht erschrecken, ich bin’s – muss auch ins Bad.“

„Ich will sowieso jetzt gehen, ich muss weg und werde wahrscheinlich nicht zu Hause übernachten, weiß auch nicht, wann ich wieder komme und ob ich wieder komme“, erwidert mein Sohn ganz ruhig. Er ist schon angezogen und zupft sein grünes kurzärmeliges Hemd zurecht. Seine Worte beunruhigen mich. Wir stehen im Flur, durch die offene Schlafzimmertür sehe ich, dass Eugen, der neben mir im Bett schlief(!), wach geworden ist. Er steht auf und kommt ebenfalls in den Flur. Ich streiche unserem Sohn liebevoll durch das Haar und frage: „Wo willst du denn hin? Du wirst doch keinen Unsinn machen?“ Eugen zu mir: „Ach, sag doch so etwas nicht. Warum soll er denn Unsinn machen?

An dieser Stelle wache ich auf.

Das Sonderbare: Es war mein Sohn – ohne jeden Zweifel -, jedoch nicht Alex und auch nicht Paul. Mich wunderte im Traum nicht einmal, dass ich keinen Namen für ihn hatte, ich war nur völlig sicher – er ist mein Sohn. Schmal, mittelgroß, mit dunkelblondem Haar, ähnelte er aber keinem der beiden anderen. (Oder doch, ein wenig Alex …). Und dieses grüne Hemd!(?) Und all‘ die Einzelheiten, die mir so klar im Gedächtnis geblieben sind! Wir redeten übrigens auf Deutsch …

Ich träume ja viel und bunt und alles Mögliche und manchmal sind es Träume, die mich lange beschäftigen, sowie das Zusammentreffen mit meiner Mutter, mein Tod (den ich schon dreimal im Traum „erlebt“ habe) und jetzt dieser … Eigentlich will ich auch gar nicht viel darüber grübeln, ich möchte ihn bloß in Erinnerung behalten, vielleicht als die eine einzige Begegnung mit meinem ungeborenen, für immer namenlos gebliebenen Sohn … Wie alt wäre er jetzt? Etwa 45? Im Traum sah er jünger aus …

 

LILLI: Guten Abend, Rosa!… Dein Traum… Dein Sohn kann eine Sache sein, die du „geboren“ hast. Etwas, was du in dir lange Zeit getragen (Schwangerschaft) und dann gepflegt (erzogen) hast. Weil es auch um Eugen ging, war diese Sache (der Sohn) mit ihm verbunden oder etwas von damals. Grüne Farbe ist immer gut! Etwas kam zum guten Abschluss und grüne Kleidung bedeutet Glück. Dein „Sohn“ wollte gehen, d.h. er ist fertig. Eugen macht sich keine Sorgen, also hat er ihn freigelassen. Du bist „beunruhigt“, also willst du ihn nicht gehen lassen. Eigentlich ist es ein guter Traum. Etwas in dir hat lange gereift und ist jetzt bereit, dich zu verlassen, aber du traust dich noch nicht, diese Sache aus der Vergangenheit loszulassen. WEIL deine Sicht in die Zukunft (Fenster) versperrt ist! Da stehen Blumen in den Vasen, allein für sich ein gutes Zeichen. Blumen sind wichtig! Welche Blumen, frische, schöne, alte … Vase ist weiblich. Das bist anscheinend du. Also du selbst stehst dir im Weg vor deiner Zukunft, deshalb konntest du auch kein Foto machen – du hast momentan kein Bild von dieser Zukunft.

Fazit: Etwas Altes verlässt dich, du siehst aber das Neue noch nicht, weil du noch am Alten festhältst.

Es ist auch kein Zufall, dass du gerade mit der Blasenentzündung davon geträumt hast. Das schreit förmlich nach Loslassen! Was macht die Blase? Sie lässt das Wasser los. Sogar deine Blase drängt dich und sagt dir: ‚Rosa, es ist Zeit, lass es los …‘

Meine liebste Rosa, du brauchst keine Angst zu haben.

ES GIBT NICHTS, WAS DU NICHT ÜBERWINDEN KANNST!

Du bist eine mutige, starke Frau! Ich bewundere dich unendlich.

Wenn du selbst aus deiner Sicht weggehst, wirst du merken, dass etwas Neues und Aufregendes auf dich wartet. Vielleicht eine Belohnung für das, was du geleistet hast.

Dadurch wirst du auch deine Blasenentzündung los, sonst kommt sie wieder, um dich daran zu erinnern, dass du noch was zu tun hast.

Ich wünsche dir viel Erfolg dabei und weiß – ALLES WIRD GUT!

In Liebe

Lilli

 

ROSA: Liebe Lilli, deine Interpretation des Traumes hat mich beeindruckt. So wie du ihn beschrieben hast, gefällt er mir, so kann ich ihn annehmen. Obwohl – unheimlich ist er für mich immer noch. Eigentlich denke ich an meinen ungeborenen Sohn gar nicht mehr so oft. Es gab Zeiten, da hat mich die Geschichte von damals viel mehr beschäftigt und belastet.

Wenn ich jetzt – nach dem Traum – daran denke, habe ich ein seltsames Gefühl. Als ob ich mich in die Vergangenheit zurücksehnen würde, um sie ändern zu wollen, um vielleicht im Hier und Jetzt wirklich die Mutter dreier Kinder zu sein. Gleichzeitig weiß ich – zurückzugehen (oder in die Vergangenheit versetzt zu werden) wäre für mich das Allerschlimmste. Mich im Traum in Russland, in Omsk, wieder zu erleben, ist wahrhaftig und stets ein Alptraum, und daraus wache ich immer mit großer Erleichterung auf. Ich denke oft daran, was für ein Glück es doch war, diesem alptraumhaften Land entkommen zu können. Wir alle hatten großes Glück – auch du …

Danke dir für deinen Glauben an mich. Es ist schön, dass wir zueinander gefunden haben, wenn auch relativ spät. Aber – wie du jetzt wohl sagen würdest – es hat alles seinen (tieferen) Sinn. Dem stimme ich gern zu.

 

Lillis Blog: https://www.lilli-kreativ.de

Lillis Geschichten: https://belletristica.com/de/users/5048-liebesengel #profile

Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Cover: Bild von 3402744 auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2020

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