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Sie war meine Rettung

Ich hatte Glück, eine beste Freundin in meiner Kinder- und Jugendzeit zu haben. Die neue Mitschülerin, die eines Tages – es war im zweiten Schuljahr – in das Klassenzimmer trat, wurde schon bald zu einem der liebsten Menschen in meinem Leben. Ohne dieses fröhliche Mädchen mit den Grübchen in den Wangen und dem ansteckenden Lächeln wäre mein Leben grau und trostlos.

Ich kann mich zwar nicht mehr erinnern, wie wir uns näher gekommen sind, denke aber, dazu hat im Wesentlichen der Umstand beigetragen, dass sie fremd im Dorf war. Auch ich – ein schüchternes, schweigsames Kind – lebte mehr in meiner eigenen Welt und fühlte mich einsam. Die Freundschaft mit Regina [Name geändert – R.A.] brachte Freude und Farbe in mein Leben. Besonders schön waren die zwei letzten Schuljahre. Wir gingen in die weiterführende Schule, die sich im anderen Ort befand, und wohnten bei meiner älteren Schwester in ihrem kleinen „Türmchen“. Wenn auch nur zwölf Kilometer vom Dorf entfernt, fühlte ich mich außerhalb der drückenden Atmosphäre des Elternhauses wie beflügelt, ohne Zwang, ohne Ängste, ohne Depression. Ich war frei! – ein unglaubliches, unbeschreibliches Gefühl. Wir unternahmen viel, gingen ins Kino, streiften durch die Straßen, redeten, lachten, spielten den Jungs Streiche, die im Nachbarhaus wohnten. Wir hörten Musik (Beatles waren gerade auf ihrem Höhepunkt – auch in Russland) oder zogen uns zurück, jede in ihre eigene Ecke und schrieben Tagebuch. Schlimm war es für mich nur an den Wochenenden und in den Ferien, wenn ich wieder nach Hause ins Dorf musste.

Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, dass unsere Bindung sich einmal auflösen wird.

Wir wurden erwachsen und das Leben trug uns zwangsläufig in verschiedene Richtungen. Mit eigenen Kindern und Sorgen beschäftigt, sahen wir uns immer seltener. Ich vermisste meine Freundin sehr. Sie dagegen war in dieser Hinsicht viel gelassener. (Dazu muss ich sagen – obwohl ich in Deutschland seit Jahren in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft lebe, war mir damals noch gar nicht bewusst, dass ich so „anders“ bin, und die Freundschaft mit Regina hatte nicht das geringste mit Sexualität zu tun).
Ende der Achtzigerjahre kam die Zeit des Umbruchs in der UdSSR und des Aufbruchs der Russlanddeutschen in ihre historische Heimat. Dieser Strom riss natürlicherweise auch uns mit.

Meine Familie und ich verließen Russland noch vor Regina. Als ich durch Zufall erfuhr, dass auch sie in Deutschland lebte, unternahm ich noch einen Versuch unsere Freundschaft zu kitten, die Tür zu öffnen, die mich wieder in ihre Welt und in ihr Herz führen würde, aber sie verschloss sich mir stets aufs neue. Wir trafen uns zweimal, das letzte Mal im April 2005 auf der Beerdigung meines Exmannes. Danach gab es nur noch ein paar (von mir ausgehende) Telefonate. Dabei merkte ich die Anspannung, die Disharmonie, die Distanz zwischen uns. Aber so hartnäckig wie ich bin, wollte ich nicht aufgeben. Ich schrieb Regina einen langen Brief – die letzte meiner Freundschaftsrettungsaktionen – in dem ich ihr unter anderem erzählte, warum ich „plötzlich“ lesbisch geworden bin.

„… Ich schreibe Dir so etwas, obwohl ich gar nicht weiß, wie Du zu mir stehst. So richtig über das Thema haben wir ja nie gesprochen. Offen gesagt, habe ich das Gefühl, dass Du meine Lebensweise auch nicht wirklich tolerierst. Aber vielleicht irre ich mich, vielleicht spielt da einfach meine Enttäuschung mit, dass unsere Freundschaft auseinandergegangen ist. Wir waren einst so eng befreundet, so vertraut miteinander … Ich will ehrlich sein – es tut mir weh, es tut mir immer noch weh, dass dem nicht mehr so ist. Wie oft träume ich von Dir, davon, dass Du weit weg von mir bist und ich verzweifelt versuche, die Telefonnummer von Dir zu erfahren, und wenn ich sie endlich habe und anrufe, dann nimmst Du den Hörer nicht ab. Und dann weiß ich – Du möchtest gar nicht mit mir sprechen, Du möchtest mich nicht sehen. In meinem Herzen existiert unsere Freundschaft immer noch, aber in Wirklichkeit(?) … Vielleicht soll ich endlich darunter einen Strich ziehen und es so nehmen, wie es ist …

… Liebe Regina, es wäre mir eine große Freude, von Dir eine Antwort zu erhalten, egal ob schriftlich oder telefonisch. Oder Du besuchst mich einfach (das wäre aber eine tolle Überraschung für mich!) und wir reden über die alten – und nicht ganz so alten – Zeiten. Ich würde Dich auch gern für ein Wochenende abholen und danach wieder nach Hause fahren …  Ach, es gibt so viele Möglichkeiten, Du musst es nur wollen (und Dich von niemandem einschüchtern lassen). Aber ich möchte Dich nicht bedrängen – es soll Deine Entscheidung sein; es wäre nur schön, wenn Du sie für Dich allein treffen könntest, unabhängig von Deinem Mann und Deiner Familie. Ich finde, Freundschaft ist etwas sehr, sehr wertvolles, und manchmal muss man auch um sie kämpfen, sich für sie einsetzen, sie verteidigen …“

Ich bat Regina um eine aufrichtige Antwort, bekam jedoch überhaupt keine. Und so kann ich bloß Vermutungen anstellen. Es schmerzt, aber letztlich bleibt mir nichts anderes übrig als zu akzeptieren, dass meine einst beste Freundin sich von mir abgewandt hat.

Trotz alledem bin ich ihr dankbar für die Jahre der wunderbaren Freundschaft. Sie war meine Rettung – im wahrsten Sinne des Wortes; ohne sie hätte ich es viel schwerer im Leben, ohne sie wäre ich nicht zu dem Menschen geworden, der ich heute bin.

 

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Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Cover: Bild von Moni Ly. auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2020

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