Zum ersten Mal wurde ich damit im Alter von neunzehn Jahren konfrontiert. Es war, als ob sich plötzlich ein Aktenvernichter in meinem Kopf aktivierte, der meine Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen lautlos kleinhackte. Wie vom Donner gerührt, verstand ich in dem Augenblick nicht, was da in meinem Hirn abgeht, und als nach relativ kurzer Zeit (Minuten, Stunden?) der ‚Aktenvernichter‘ verschwand und normale Gedanken wieder möglich waren, war ich sehr erleichtert. Ich schrieb diese Merkwürdigkeit meiner Müdigkeit zu – ich fühlte mich an dem Tag wirklich ziemlich erschöpft.
Leider blieb es nicht bei diesem einen Mal.
Das Gute an der Sache: es passiert in unregelmäßigen Abständen und ohne Vorankündigung; manchmal vergehen Jahre, bis es mich erneut erwischt, manchmal lässt sich die Ruhepause nur in Wochen oder Tagen messen, manchmal jedoch überfällt es mich sogar mehrmals am Tag. Ja, es fühlt sich wie ein Überfall an, obwohl die Intensität nicht immer die gleiche ist. Im schlimmsten Falle bekomme ich starke Schwindelanfälle, von Schweißausbrüchen begleitet, höre unverständliches Stimmengewirr, bestenfalls ist es nur ein kurzer Anflug von etwas Fremdartigem, eine verzerrte Wahrnehmung. Aber egal ob stark oder schwach, immer groß mit dabei – die Angst, eine dunkle, bedrückende Angst.
Wenn man das Bild zu diesem Beitrag lange genug betrachtet, dann glaubt man, etwas Schemenhaftes erkennen zu können, aber wie man sich auch anstrengt, wenigstens ein Detail herauszufiltern – es bleibt schemenhaft. So könnte man das Phänomen in einem Satz beschreiben; jedoch steckt viel mehr darin und nicht weniger dahinter.
Es geschieht urplötzlich, als ob jemand einen Schalter betätigen – mit einem Mal wird aus gerade Gedachtem ein Durcheinander; der Gedanke (die Erinnerung?) verzerrt sich bis zur Unkenntnis und zersplittert. Die Bruchstücke flattern vor meinem geistigen Auge wild umher und ich spüre – jetzt, gleich kann ich eins davon fassen, festhalten und dann auch die anderen rüberziehen und aneinander reihen …
In seltenen Momenten gelingt es mir tatsächlich, das Bild zusammenzustellen. Noch während ich bemüht bin, es nicht auseinanderfallen zu lassen, mich auf seinen Inhalt zu konzentrieren, dessen Bedeutung zu verstehen, merke ich – es ist vorbei, der Schwindel hört auf und der Wirbelsturm in meinem Kopf legt sich; das Erinnerungsbild zerfällt wieder in tausend Mosaiksteinchen und wird fortgefegt, als ob es nie da wäre. Es folgen Enttäuschung, abermals das Rätsel nicht gelöst zu haben, aber auch eine enorme Erleichterung, wieder ‚normal‘ denken zu können.
Es ist jedes Mal eine Qual, denn nicht nur meine Gedanken sind durcheinander, auch meine Empfindungen werden aus der Tiefe hoch- und durchgewirbelt; Empfindungen, die ich wiederum nur schlecht zuordnen kann. Die Furcht, irgendwie „nicht richtig im Kopf“ zu sein, macht alles um einiges schlimmer.
Mittlerweile verfüge ich über eine einigermaßen plausible Erklärung für diese seltsame Eigenart. Eine Psychologin hat mir Folgendes nahegelegt.
Man stelle sich vor, eine Erinnerung wolle ‚ausbrechen‘. (Vermutlich, denn – wer kann das schon mit Sicherheit wissen?) … Aber der Schutzmechanismus meiner Psyche ist so stark, dass er sie immer wieder abwehrt und zerschlägt, sodass nur einzelne Fragmente das Bewusstsein erreichen können. Und wenn ich es gelegentlich doch schaffe, das Bild zu vervollständigen, wird es mir rasch wieder entzogen und auf den sicheren Platz in die Tiefe des Unterbewusstseins geschoben. Als ob das nicht schon Abwehr genug wäre, wird mir auch noch die leiseste Ahnung bezüglich der Art der Erinnerung genommen, und somit weiß ich zum Schluss nicht einmal mehr, ob sie gut oder böse war. Es bleibt bloß die vage Erinnerung an eine vage Erinnerung.
Und das alles nur zum Schutz? Zu meiner Sicherheit? Raffiniert, oder? … Besonders sicher fühle ich mich dabei dann doch wieder nicht, wie man merkt.
Ich staune gerade selbst, weil mir plötzlich in den Sinn kommt, dass der kleinen Lisa, dem Mädchen aus „Andersrum“, ja Ähnliches zu schaffen macht. (Das war mir bis jetzt gar nicht so bewusst!). Auch bei ihr ist es eine Erinnerung, die sie quält und die letztlich doch den Weg ins Freie findet. Die ihr fast den Verstand raubt, aber auch dazu führt, dass sie die Möglichkeit bekommt, sich aus eigener Kraft zu wehren, und vor allem – das Verdrängte zu bewältigen und aufzuarbeiten.
Habe ich nicht auch so eine Chance verdient? Werde ich nicht schon viel, viel zu lange geschützt? Will ich diesen Schutz überhaupt? Oder bin ich vielleicht selbst dafür verantwortlich, dass er immer noch funktioniert?
Die Antworten auf diese Fragen werde ich wohl noch finden müssen.
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Texte: Rosa Ananitschev
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Tag der Veröffentlichung: 23.08.2018
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