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Schritte der Einsamkeit

Die Idee kam wie auf Flügeln daher, als habe der frische Wind, der heute durch die Stadt fegte, sie irgendwo aufgewirbelt und werfe sie jetzt mit anerkennendem Pfiff der verwunderten Frau direkt an die Stirn. Er zerzauste ihr das Haar, strich die Treppe empor und verschwand hinter dem Gebäude. Danach herrschte Stille.
Marta Wiens blieb wie angewurzelt stehen. Verblüffung zeigte sich in ihrem Gesicht. ‚Geh deinen Weg. Es gibt so viele Wege‘. Dieses Zitat von Kurt Tucholsky hatte sich urplötzlich in ihrem Kopf festgesetzt.

Es war als Thema in einem Literatur-Wettbewerb vorgegeben worden. Marta hatte gar nicht vor, daran teilzunehmen, weil ihr die Zeit bis zur Abgabe zu knapp erschien und sie gerade eine Woche Urlaub außer Landes verbrachte.

Sie vermochte sich nicht zu erklären, warum sie gerade jetzt an das Zitat dachte, wusste aber instinktiv, dass sie auf etwas Vielversprechendes gestoßen war.
Marta beschäftigte sich schon seit längerem mit einem Projekt, das sich nur schwer verwirklichen ließ, doch sie blieb hartnäckig daran und fand immer wieder kostbare, wenn auch oft nur winzige Mosaik-Steinchen, die sie in ihre Arbeit einfügen konnte – in einen Roman über die absolute Einsamkeit eines Menschen.

Marta hatte schon einiges zusammengetragen. Wann immer sie Zeit fand, setzte sie sich an den Computer und schrieb. In ihrer Handtasche steckten, stets griffbereit, ein Notizbuch und ein guter Füller, mit dem es ein Genuss war zu schreiben, weswegen sich die Gedanken fast wie von selbst auf dem Papier aneinanderreihten. Marta hatte oft das Gefühl, dass nicht sie, sondern der Federhalter derjenige war, der den Text produzierte.

Richtig zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen war sie bis jetzt dennoch nicht. Das Problem bestand in der Gestaltung der Handlung. Wie sollte Spannung aufgebaut werden, mit nur einem Protagonisten?

‚Geh deinen Weg‘ … Darüber ließ sich doch wunderbar in ihrer Geschichte sinnieren! Zum Beispiel – wie wäre es, wenn es nur einen Menschen auf der Welt gäbe? Wie sähe sein Weg dann aus? Könnte er wirklich aus vielen Wegen den richtigen wählen? Gäbe es denn andere Varianten, andere Möglichkeiten, ohne Wechselwirkung mit anderen Menschen und ohne vielfältige Alltags-Situationen?

Marta hatte das starke Bedürfnis, genauer darüber nachzudenken. Aber dazu benötigte sie Ruhe. Aus Sorge, die aus der zugeflogenen Idee hervorgegangenen Gedanken könnten ihr wieder entgleiten, setzte sie sich auf eine der Treppenstufen, die der Wirbelwind hinauf gehuscht war, und holte das Notizbuch aus der Tasche. Es war ein schönes Gefühl, hier zu sitzen – doppelt schön, weil ihr nach einem halben Tag Lauferei durch die fremden Straßen die Fußsohlen brannten und weil nichts sie daran hinderte, an Ort und Stelle nachzudenken.

Angeregt durch das Zitat von Kurt Tucholsky, stellte Marta fest, dass sich auch mystische Elemente gut in den Plot verflechten ließen. Das Mystische eignete sich sogar als Faden, der alles auf natürliche Weise zusammenhielt – ein Paradoxon, das sie nicht zu erklären vermochte. Noch nicht! Alles, was Marta bislang fast unmöglich schien, wurde plötzlich stimmig. Gewisse Abschnitte, die sie nicht verbinden konnte, passten auf einmal wunderbar zueinander. Ihre ursprüngliche Idee bekam dadurch eine einzigartige Bedeutung. Faszinierend!

Marta füllte fieberhaft Seite um Seite des Notizbuches. Schließlich schlug sie es zu und beobachtete eine Weile mit gesenktem Kopf und aus ungewohnter Perspektive die menschlichen Beine, die unentwegt treppauf und treppab an ihr vorbeieilten. Sie überlegte, wie sich wohl die Schritte eines einzigen  Erdenbewohners in völliger Stille anhörten. Die Schritte der Einsamkeit …

Halblaut wiederholte sie den Satz, ließ ihn auf sich wirken und fand, dass er nach einem guten Titel zu ihrem künftigen Buch klang.
Das Gerüst dafür war eigentlich fertig. Schade, dass ihr keine Zeit mehr blieb – nicht mal ein Tag, um die begonnene Geschichte zu Ende zu bringen und vielleicht doch noch am Wettbewerb teilzunehmen.

Sollte sie versuchen, sich extrem kurz zu fassen?

Marta schüttelte bedauernd den Kopf – es würde nicht funktionieren, aus dieser Momentaufnahme des Tages, dieser konkreten Situation, eine Kurzgeschichte zu machen. Allein durch Wiedergabe ihrer Gedanken würde kaum Spannung entstehen. Es sei denn, sie fügte ein paar persönliche Details hinzu. Aber welche?

Martas Gesicht wurde ernst bei dem Gedanken an den Sohn – ihr großes Sorgenkind. Das war er nicht immer gewesen. Nun jedoch bereitete er ihr schon lange Kummer. Er lebte allein und zurückgezogen, war so verschlossen. Langsam, aber unaufhaltsam hatte er sich innerhalb der letzten zehn Jahre zu einem extremen Einzelgänger entwickelt, war inzwischen arbeitslos und hatte keine Freunde mehr, an eine Freundin war schon gar nicht zu denken. Er interessierte sich nicht für seine Mitmenschen, besuchte die Verwandten nie – nicht einmal Marta, seine Mutter. Ihn telefonisch zu erreichen war fast unmöglich.

Das hörte sich alles sehr negativ an, aber zugleich war  der Sohn ein liebenswerter, höflicher, gutaussehender Mann, keiner der üblichen Süchte verfallen. Er liebte Musik, kannte sich hervorragend in Computerdingen aus, programmierte sogar eigene Spiele. Er war hilfsbereit, wenn es drauf ankam, und seltsamerweise schien er nicht unglücklich zu sein.

Trotzdem konnte Marta seinen Lebensstil nur schweren Herzens akzeptieren. Was für einen Weg ging der Sohn? Hatte er ein Lebensziel? Was wusste sie wirklich über ihn? Vielleicht führte er ein abenteuerliches Doppelleben? Er musste doch irgendeinen Lebenstraum haben! Und wer weiß, vielleicht stand er eines Tages doch noch an einer für ihn lebenswichtigen Kreuzung und entschied sich, den vertrauten Einsiedlerpfad zu verlassen und einen, wenn auch gefährlicheren, Weg einzuschlagen, der in die Welt zurückführte. Marta wünschte es ihm, denn so waren sie – die Mütter!
Nein, solche Details passten nicht in eine Kurzgeschichte. Es würde beim Roman bleiben.

Der Wind kehrte zurück. Mit aller Kraft versuchte er, der Frau das Notizbuch zu entreißen und als ihm das nicht gelang, blätterte er es wütend in einem Zug durch. Vermutlich entnahm er ihm doch, worauf es ihm ankam, denn im nächsten Moment zog er wirbelnd weiter.

 

Wir – die künftigen Leser, die neben ihr die Treppe hinauf- und hinuntergehen – hätten auch gern einen Blick in Martas Notizen  geworfen, aber nein, so respekt- und taktlos sind wir nun doch nicht. Wir werden uns in Geduld üben und die Belohnung – ein neuer, spannender Roman von Marta Wiens – wird zweifelsohne nicht mehr lange auf sich warten lassen.

 

Marta hob den Kopf und lächelte zerstreut den Menschen zu, die ihr im Vorbeigehen neugierige Blicke zuwarfen. Ihre Gedanken waren indes weit von dieser Treppe entfernt, liefen ihren eigenen, den einzig richtigen Weg – ihrem Traum entgegen. Eine kühle Brise – vielleicht aus der Zukunft? – wehte ihr ins Gesicht, raschelte verspielt mit den Notizblättern und strich, diesmal sanft, über ihr zerzaustes Haar.

 

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Impressum

Texte: Rosa Ananitschev
Lektorat: Barbara Siwik
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2011

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