Sie fand das Büchlein im Bus. Es lag zwischen den Sitzen auf dem grauen Boden und war wegen seines ebenso grauen Umschlags kaum zu erkennen. Jennifer hätte es vielleicht auch übersehen, wenn sie nicht mit dem Fuß dagegen gestoßen wäre. Zuerst hielt sie es für einen ganz gewöhnlichen Taschenkalender, den jemand verloren hatte. Sie hob das Büchlein auf, durchblätterte es flüchtig. Es war kein Kalender. Fast bis zur Hälfte eng beschrieben, sah es eher wie ein Notizbuch oder ein Tagebuch aus – ein Minitagebuch. Unwillkürlich las Jennifer einen Absatz: „Schon der nächste Augenblick zeigt mir, wie sehr ich mich irre. Ich sehe sie kommen – Freunde, die bereit sind, mir in meiner schlimmsten Stunde beizustehen. Mein Hilferuf wurde vernommen, wie leise er auch gewesen sein mag. Ich bin nicht allein – eine überwältigende Erfahrung für mich …“
Mit dem Gefühl, unerlaubt in etwas sehr Persönliches eingedrungen zu sein, schlug Jennifer rasch das kleine Buch zu und blickte sich verstohlen um. Außer einem jungen Mann auf dem hinteren Sitz war im Bus keiner mehr. Sie näherten sich der letzten Haltestelle.
Einen Augenblick lang wog Jennifer das Büchlein unentschlossen in der Hand und steckte es schließlich zögerlich ein.
Sie stieg an der Haltestelle aus, spürte die nächtlich-herbstliche Kälte, hüllte sich fester in den Mantel und lief, so schnell sie nur konnte, die wenigen hundert Meter bis zu ihrem Haus.
In der Wohnung war es kalt. Kalt und einsam. Jennifer drehte die Heizung auf, überlegte, ob sie eine Kleinigkeit essen sollte oder lieber nicht, ging schließlich ins Badezimmer.
Das heiße Bad tat so gut, dass sie es erst nach einer halben Stunde verließ. Danach wollte sie nur noch eins – ins Bett. Dennoch konnte sie nicht einschlafen. Sie dachte an das kleine, eng beschriebene graue Büchlein. Ein fremdes Tagebuch … Natürlich durfte sie es nicht lesen! Aber wenigstens nachsehen, ob nicht irgendwo der Name oder gar die Adresse des Besitzers angegeben war!
Jennifer stand auf, holte den Fund aus der Manteltasche und untersuchte den Umschlag: kein Name, keine Adresse. Vielleicht im Text?
Also, was blieb ihr anderes übrig?
Sie machte es sich im Bett bequem und schlug das Tagebuch auf.
„Es ist Nacht. Zeit zum Schlafen. Zeit, zur Ruhe zu kommen. Ich schaffe es jedoch nicht. Meine Gedanken verjagen den Schlaf. Die Erinnerungen quälen mich. Ich stehe erneut am Rande des Geschehens und betrachte unter Tränen, was ich getan habe. Eine Welt in Trümmern liegt vor mir, eine Welt, die ich selbst zerstört habe, leichtsinnig, blind und egoistisch. Sie war wie eine Insel mitten im Alltag, auf der ich frei reden und zuhören konnte, auf der zwei Menschen sich gut verstanden, auf der viele Dinge eine neue ungewöhnliche Bedeutung bekamen. Diese Welt war wie ein Traum, den man nicht gehen lassen möchte – zauberhaft, geheimnisvoll und so zerbrechlich, dass sie eines Tages dem Druck meiner Gefühle nicht mehr standhielt und in tausend Stücke zersprang.
Ich überlebte die Explosion, aber noch immer bluten die Wunden, noch immer stoße ich auf die Scherben der durch mich zugrunde gegangenen Welt. Sie hören nicht auf, mich zu verletzen. Sie sind zu meiner ewigen Qual geworden …
Ewige Qual? Nein! Protest steigt in mir auf und wird immer lauter. Plötzlich weiß ich, wie ich mich wehren kann, was ich zu tun habe. Ich werde sie begraben – die zerbrochene Welt. Ich muss es tun, wie schwer, wie grausam es für mich auch sein mag, sonst werden meine Wunden nie heilen.
Weinend beginne ich meine traurige Arbeit und sammle auf, was von der einst so schönen Welt übrig geblieben ist – jede Scherbe, jeden einzelnen Splitter. Sorgfältig lege ich alle Bruchstücke in einen großen Sarg hinein. Ich staune, wie verschieden die vielen Teile voneinander sind und dennoch wie sehr miteinander verbunden.
Ein Haus mit exotischem Duft, eine weiche, ruhige Frauenstimme, eine Straße und jeder kleine Winkel in ihr; Bücher, Blumen, leise Musik; ein bizarres Bild, das scheinbar von einem anderen Planeten stammt, und noch ein Bild … eine Ampel, die nur noch mit dem gelben Auge aufblinkt, als ob sie mich vor etwas warnen möchte. Vielleicht vor mir selbst? Ich hebe einen seltsamen Gegenstand auf, ein Bündel, das aus mehreren Teilen besteht, erkenne zwei bunt bemalte Gläser – eins davon mit etwas abgeblätterter roter Farbe – ein angeregtes Gespräch, Zigarettenrauch, ein Lächeln, ein mir anvertrautes kleines Geheimnis. Etwas hält all diese Teile zusammen, lässt sie nicht auseinanderfallen, und ich begreife, was es ist: Vertrauen umfängt und durchdringt das kleine Bündel. Es war einmal das Zentrum, das Herz dieser Welt, deren Überreste jetzt vor mir in der großen Kiste liegen. Noch lange halte ich es in der Hand, füge es dann vorsichtig den anderen Sachen bei.
Ein letztes Mal schaue ich um mich. Habe ich alles aufgehoben? Schließlich entdecke ich, dass meine Finger noch etwas umklammern, etwas Kleines, Flaches und Kühles – einen Schlüssel! Die Erkenntnis trifft mich wie ein Messerstich. Und dann sehe ich dein Gesicht. Deine Augen sind mir fremd und blicken erbarmungslos. Aber du lächelst mich an, so freundlich, dass ich es kaum ertragen kann. Deine ausgestreckte Hand fordert den kleinen metallenen Gegenstand ein. Und ich weiß, ich muss ihn zurückgeben, auch wenn du mir damit die letzte Chance nimmst, ‚alles wieder gutzumachen‘. Ich weiß, ich habe dich verloren. Ich habe einen Menschen verloren, von dem ich so fasziniert war, den ich so sehr liebte, dass ich Liebe … mit Liebe verwechselte.
Der Schlüssel entgleitet meiner kraftlos gewordenen Hand, fällt mit dröhnendem Nachklang in den Sarg hinein und verschwindet unter den Trümmern.
Eine Ewigkeit stehe ich am offenen Sarg und hänge meinen trüben Abschiedsgedanken nach, fühle den unendlichen Schmerz, weine meine letzten Tränen. Dann schließe ich ihn und nagle den Deckel fest.
In einer unerforschten Ecke meines Herzens habe ich ein Grab vorbereitet. Dort, in der Stille und Dunkelheit, soll der Sarg für immer verschwinden. Doch noch ehe meine Hände das Holz berühren, sagt mir eine innere Stimme, dass meine Mühe umsonst ist. Ich werde es nicht schaffen, den Sarg an diesen Platz zu bringen! Niemals! Er ist zu schwer! Eine ganze Welt allein auf die Schulter zu nehmen – das übersteigt menschliche Kräfte. Diese Erkenntnis versetzt mich in Panik. Verzweifelt starre ich den vernagelten Deckel an. Was tun? Die Nägel herausziehen, den Deckel abnehmen und alles wieder ausräumen? Allein dieser Gedanke ist entsetzlich.
Fast unhörbar bitte ich um Hilfe, obwohl ich schreien möchte; aber ich habe keine Kraft und die Stimme versagt mir. Wer sollte mir auch zu Hilfe eilen?
Schon der nächste Augenblick zeigt mir, wie sehr ich mich irre. Ich sehe sie kommen – Freunde, die bereit sind, mir in meiner schlimmsten Stunde beizustehen. Mein Hilferuf wurde vernommen, wie leise er auch gewesen sein mag. Ich bin nicht allein – eine überwältigende Erfahrung für mich.
Dennoch, so einiges muss mir noch klar werden, eine Menge Fragen sind geblieben. Vor allem diese: Wie schaffte ich es, mit einem Schlag eine ganze Welt zu zerstören? Und: Hat diese Welt wirklich existiert oder war sie nur die Schöpfung meiner Fantasie, mein leidenschaftlicher Wunsch gewesen?
Es gibt keinen Grabstein auf diesem Grab und ich lege auch keine Blumen darauf nieder.
Ein absurder Gedanke kommt mir plötzlich in den Sinn, völlig unpassend zu meiner tiefen Trauer: Falls ich mich doch für ein Grabmal entscheiden könnte, dann müsste es ein Staubsauger sein. Der Gedanke gefällt mir und ich muss lächeln, als ich mir das Bild vorstelle – ein Staubsauger auf einem Grabhügel. Es ist ein tröstliches Anzeichen: Meine Trauer beginnt, sich aufzuhellen.
Ein weiterer Gedanke löst sie endgültig in Gelassenheit auf: Trotz allem habe ich aus der eben begrabenen Welt etwas Wertvolles behalten, das nur mir gehört, das mir niemand wegnehmen kann: Ein kleines witziges Lesezeichen mit dem Anfangsbuchstaben meines Namens, eine kirschrote Schreibmappe, ein paar Musik-CDs und ein Foto mit deinem lachenden Gesicht. Vier Dinge, die das symbolisieren, was mein Leben mit Sinn erfüllt – Lesen und Schreiben, Musik, die ich mag, und Menschen, die ich liebe …
Nun habe ich mir meinen Schmerz vom Herzen geschrieben; er liegt auf diesem Papier, geschmolzen und in schwarzen Zeilen aufgefangen. Es war unsäglich schwer, ihn zu berühren, ihn in Worte zu fassen und die Bestattung einer gestorbenen Welt zu beschreiben. Aber es war notwendig, um wieder aufatmen zu können, den Lauf der Zeit zu spüren und mit dem Aufbau einer neuen Welt zu beginnen. Vielleicht werde ich diese nicht mehr zugrunde richten! Vielleicht lerne ich endlich aus meinen Fehlern!“
Langsam schloss Jennifer das Tagebuch. Die Geschichte hatte sie so aufgewühlt, dass sie zunächst einmal tief durchatmen musste, um sich zu beruhigen und das Chaos ihrer Gedanken zu ordnen. Sie versuchte, was sie gerade gelesen hatte, zu verstehen. Eins war ihr von vornherein klar: Der Handschrift und Ausdrucksweise nach konnte dies nur von einer Frau geschrieben worden sein und die Geschichte war mit Sicherheit eine echte Lebenserfahrung. So etwas dachte man sich nicht einfach aus!
Aber wer war diese Frau? Warum hatte sie ihre Welt zerschlagen? Wer war die andere Person, die nur als Gesicht erschien, und in welcher Beziehung stand sie zu der Schreiberin? Was hatte ein grüner Staubsauger auf dem Grabhügel zu bedeuten?
Jennifer las den Text noch einmal. Schon beim ersten Mal hatte sie das merkwürdige Gefühl gehabt, etwas an dieser Geschichte sei ihr vertraut. Jetzt wusste sie plötzlich, warum. In dem, was die Unbekannte schrieb, spiegelte sich ihr eigenes Schicksal wider! War ihr vor vielen Jahren nicht Gleiches passiert? Sie war nur nie auf die Idee gekommen, ihre zerstörte Welt auf diese Art zu begraben. Das Einzige, das sie unternommen hatte, war, den Schmerz zu unterdrücken. Also grub er sich mit der Zeit tief in ihr Herz ein und wurde zu ihrem ständigen, wenn auch vorwurfsvoll schweigenden Begleiter.
Die Erinnerungen stiegen in Jennifer auf, unerwartet und überraschend klar. Susanne … ihr mit roten Flecken bedecktes Gesicht … an jenem Tag, an dem Jennifers Geheimnis offenbar wurde. Sie versuchte damals immer wieder, Susannes Blick einzufangen und immer wieder wich er dem ihren aus. Auch jetzt sah sie Susannes Augen nicht vor sich, hörte aber deutlich ihre gemessene, kühle Stimme, die immer noch weh tat. ‚Nein, es käme gar nicht infrage, eine Freundschaft aufrechtzuerhalten. Sie könne es nicht. Zumindest nicht jetzt. Sie müsse zuerst mit der neuen Situation zurechtkommen. Mit dem, was sie erfahren habe. Sie brauche Abstand. Zeitlich und räumlich.‘
Der Abstand war allerdings nie mehr überbrückt worden. Nie mehr hatte Jennifer die Freundin wiedergesehen, wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war.
Ja, es könnte auch ihr Tagebuch sein! Diese Erkenntnis verblüffte Jennifer und gab ihren Gedanken eine neue Richtung. In ihrer Fantasie versuchte sie, die fremde Welt wiederzubeleben, die Welt jener unbekannten Frau. Sie malte sich aus, wo wunderbarerweise alles seinen richtigen Platz fand – die Musik, die Blumen, das Vertrauen und … der Staubsauger.
Ob sie die Puzzleteile richtig zusammengefügt hatte? Das konnte nur die Person wissen, die einst in dieser Welt lebte. Was gäbe Jennifer darum, sie kennenzulernen!
Sie musste diese geheimnisvolle Frau finden! Aber wo und vor allem wie? Dann fiel ihr eine ganz einfache Lösung ein: Sie würde eine Anzeige zu ihrem Fund aufgeben, immer und immer wieder, bis die Besitzerin des Büchleins sich bei Jennifer meldete.
Sie würde sich melden! Ganz bestimmt. Sonst ergab doch alles keinen Sinn! Warum hatte gerade sie das Büchlein gefunden? War die Geschichte – gelesen in dieser schlaflosen Nacht – nicht erhellend für ihre bisherige Einsamkeit gewesen? Für ihr gesamtes Leben?
Mit diesen Gedanken schlief Jennifer endlich ein, während die Dunkelheit draußen vor dem Fenster wich. Ein neuer Tag brach an. Eine neue, gerade geborene Welt.
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Texte: Rosa Ananitschev
Bildmaterialien: Rosa Ananitschev
Lektorat: Barbara Siwik
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2010
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