Nur einen winzigen Augenblick lang durchbrach das Licht des Vollmondes den dicken Wolkenvorhang.
Einen Wimpernschlag lang wurde das kleine Tal vom Licht durchflutet und der Mond warf sein Spiegelbild auf das klare Wasser des Sees. Diesen Moment hatte Glenn genauso herbeigesehnt wie gefürchtet. Endlich sah er, wohin er rannte. Sah die Steine, die ihn zu Fall bringen wollten und die feuchte Erde, in der seine Fußabdrücke so gut zu erkennen waren. Aber jetzt sah man auch ihn. Er unterdrückte das Verlangen sich umzudrehen. Waren sie noch hinter ihm? Hatte er sie abgehängt? Wussten sie wohin er floh? Jegliche Hoffnung löste sich in Luft auf, als der Wind wütende Stimmen zu ihm trug. Schnell stolperte Glenn weiter. Kurz bevor er in den düsteren Wald neben dem kleinen See verschwand, nahm er eine flinke Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, ihr folgte ein seltsames Schimmern. Doch schon verschwand der lichtspendende Mond wieder hinter den Wolken und der Junge musste viel zu viel Acht auf seine Schritte geben, als das er groß darüber nachdenken konnte.
Kaum umfing den Jungen das schützende Dickicht, tauchte eine ungeheure Masse von Menschen am anderen Ende des Tals auf. Hektisch schwenkten sie die leuchtenden Fackeln und stießen unter wütendem Gefluche ihre Mistgabeln und Speere in die Luft. “Wo ist das Balg hin?” “Weit kann er nicht sein!” “Sucht ihn! Sucht ihn und bringt ihn zum heiligen Schrein!” Ein in ein edles Gewand gekleideter Mann schrie Befehle: ”Teilt euch auf! Sucht das ganze Gebiet ab, besonders den Wald! Stellt Wachen auf! Er darf auf keinen Fall entkommen! Bei der Mutter alles heiligen Lebens!”.
“Bei der Mutter, bei der heiligen Göttin!” Die Rufe schallten durch das Tal, prallten an den steilen Felswänden ab und ließen den See erzittern. Ungesehen von allen erschrak noch ein ganz anderes Wesen durch die plötzliche Unruhe. Misstrauisch sträubte das kleine Wesen das seidige kurze Fell und streckte dennoch neugierig die Schnauze nach vorn. Die dunklen Knopfaugen blitzten geheimnisvoll, als die feine Nase Feuer, Angst und Wut witterte. Blitzschnell huschte der kleine Beobachter über den See. Kleine Wellen störten die glatte Oberfläche sobald die leichten Pfötchen einen Satz über das Wasser taten. Ein leises Rascheln ertönte, als es flink im Laub des Waldes verschwand, um der Spur aus Angst zu folgen.
Hart stieß sein Fuß gegen einen großen Stein. Es kam so urplötzlich, dass Glenn noch nicht einmal Zeit hatte, die Arme auszustrecken, um den Sturz anzufangen. Mit einem leisen Schrei landete er im nassen Laub. Der umgeknickte Knöchel schmerzte schlimm und die Knie und Hände hatte er sich aufgeschrammt. Verzweifelt blieb er liegen und schluchzte leise ins Laub. Warum? Warum er? Er war doch bloß ein einsamer kleiner Junge! Nicht mal 10 Jahre alt! Warum hatte man ihn ausgewählt, warum jagte man ihn? Das war nicht fair! Er wollte doch nur leben! Leben!
Schnell rappelte er sich auf, atmete einmal tief durch und warf einen prüfenden Blick über die Schulter, bevor er erneut losrannte. So weit war er schon gekommen! Aus dem Schrein, quer durch das Dorf, die lange Straße entlang, durch die Felder und vom Tal aus zum Wald. Bald, bald war er da! Glenn spürte wie seine Kräfte langsam nachließen, sein Atem ging keuchend, die Augen wurden schwer und die Beine wogen mit jedem Schritt mehr. Schmerzen fühlte er kaum, schon zu lange rannte er durch die kalte Nacht. Feuchte Luft schlug ihm entgegen und füllte seine Lungen. Bald würde es Nebel geben. Nebel! ‘Oh nein, bitte nicht! Mutter der Natur und der großen Götter, Gaia, bitte hilf mir! Hab Erbarmen!’ stumm stieß der kleine Junge Stoßgebete Richtung Himmel. ‘Ich darf nicht aufgeben!’
Tränen schimmerten ihm in den Augen als er die ersten großen Steinbrocken entdeckte. Wie Vorboten der Hoffnung erschienen sie ihm. ‘Es ist nicht mehr weit!’ Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn und er beschleunigte seine Schritte. ‘Ich kann es schaffen!’ Doch schon näherten sich wieder die Stimmen. Die bösen, wütenden Stimmen. Die Stimmen, die seinen Tod forderten.
Noch ein paar Schritte und - vor Glenn raschelte es laut im Gebüsch und etwas helles huschte direkt vor seine Füße. Erschrocken blieb er stehen und ihm entwischte ein kleiner Schrei. Sofort schlug er sich die Hände vor den Mund, doch es war schon zu spät. Seine Verfolger hatten ihn bereits gehört. Wild schlug das Herz des Jungen in seiner Brust als er auf das Wesen vor seinen Füßen starrte. Dunkle Knopfaugen musterten ihn neugierig. ‘Ein ….Frettchen?! Aber wieso…? Hat es denn keine Angst vor mir?’ Nein, dass hatte es eindeutig nicht, denn statt fluchtartig das Weite zu suchen, fiepste es Glenn nur frech an und flitzte den Weg, den das Kind nehmen wollte, ein Stück entlang, drehte sich dann noch einmal auffordernd um, nur um kurz darauf weiter zu rennen. ‘Will es, dass ich ihm folge?’ Verwirrt blickte der Junge dem Tierchen nach. Doch lange Zeit zum überlegen hatte er nicht, denn seine Verfolger hatten bereits aufgeholt. Kurzerhand lief er hinterher, diesen Weg hatte er ja sowieso nehmen wollen. Er folgte dem silbernen Schimmer des seidigen Fells bis er auf eine Lichtung gelangte. ‘Geschafft! Ich habe es wirklich geschafft!’ Pure Erleichterung füllte seine Augen als er die Reste des alten Tempels sah. Viele Jahre stand die Ruine nun schon verlassen da. Die Steine hatten längst begonnen zu zerfallen und waren über und über mit Moos und Flechten bewachsen. Glenn war sich sicher, dass er den Anblick der kahlen Steinmauern noch nie zuvor so schön und beruhigend gefunden hatte. Und vor allem sicher, denn zwischen den Trümmer gab es jede Menge Keller, Schächte und Geheimgänge. Nirgendwo konnte man sich besser verstecken. Mit neuer Kraft sprintete der Verfolgte auf den Torbogen zu. Einsam stand dieser eindrucksvoll und erhaben vor dem ehemaligen Tempel. Geschmeidig kletterte das silberne Frettchen die Säulen des Bogens hinauf. Oben angekommen stierte es herab, als wartete es auf etwas. Der Geruch der Wut kam unaufhörlich näher.
Kaum war Glenn zwischen den eingefallenen Wänden verschwunden, tauchten auch schon seine Verfolger auf der Lichtung auf. Suchend blickten die Dörfler und Bauern sich um. In ihrer Mitte stand gefasst ein Mann in einem edlen Priestergewand.
Vielleicht hätte der Junge es geschafft seinen Vorsprung auszubauen, vielleicht hätte er durch einen der vielen versteckten Tunnel fliehen können und vielleicht wären seine Peiniger bald des Suchens müde geworden, hätte nicht das leuchtende Fell des Tieres oben auf dem Torbogen alle Blicke auf sich gezogen und wäre es nicht wie ein Wegweiser der Spur des Jungen gefolgt.
Dieser ist sich längst der nahenden Gefahr bewusst geworden und suchte verzweifelt nach einem Versteck. Gerade als er fiebernd überlegte, welche Abzweigung er in dem Labyrinth aus Mauern nehmen sollte, hörte er das Schallen dutzender Schritte hinter sich. “Da ist er! Lasst ihn nicht entkommen!” Sein Herz setzte einen Moment aus, bevor er hektisch begann einen Fluchtweg zu finden.
Sie hatten ihn gefunden! Nein, nein, das durfte nicht sein!
Panisch stolperte er zwischen den Steinen umher, versuchte hinter halb eingestürzten Mauer Schutz zu finden.
Da! Da war es wieder, das Frettchen mit dem leuchtenden Fell. Froh, nicht mehr umherzuirren, lief er erneut dem Tierchen nach. Gerade als er glaubte, dem Irrgarten entkommen zu sein, traf es ihn wie einen Schlag.
Eine Sackgasse.
Eine Sackgasse. Unschuldig blickten ihn die schwarzen Knopfaugen an.
Tränen stiegen dem kleinen Jungen in die Augen und bahnten sich langsam ihren Weg über die vom vielen Rennen geröteten Wangen. Sein Brustkorb hob und senkte sich noch heftig, als er sich langsam umdrehte.
Da waren sie. Wie in Trance starrte er den Priester an, welcher ihn nur triumphierend anlächelte. Die Klingen der Messer und Speere glänzten im Mondlicht. Wie um ihn zu verspotten, schien das Licht des Mondes in diesem Moment besonders hell und verlieh dem tödlichen Metall die gleiche silberne Farbe wie die des Tierfells.
Warum? Warum verdammt?!
Glenn hörte kaum die Worte der aufgebrachten Männer und nahm auch das leise Fiepsen hinter sich nicht war.
“Seinem Schicksal kann man nicht entkommen, Junge!” Die ruhige Stimme des Priesters zerteilte die kühle Nachtluft. “Nimm nun die große Ehre entgegen, das Blutopfer für die große Mutter Gaia zu sein!”
Vorbei. Einfach so vorbei.
Die Männer stürmten mit erhobenen Waffen auf ihn zu.
Glenn bemerkte sie kaum. Über ihre Schultern hinweg sah er den Nebel aufziehen.
Nebel. Bald hatte er ihn erreicht.
Gepeinigt schrie er auf, als die eisernen Klingen in sein Fleisch fuhren.
Blut durchtränkte seine Kleidung und sammelte sich um seine Füße.
Vorbei.
Zufrieden mit der nun endlich erledigten Aufgabe wandten sich die einstigen Verfolger ab, in der tiefen Hoffnung, die mächtige Göttin sei durch das Opfer besänftigt und zufrieden gestellt worden. Sie kehrten ins Dorf zurück, um die frohe Botschaft ihren Familien und Freunden mitzuteilen.
So wurde es wieder still im Tal. Und während sich ein blutroter Nebel wie ein Trauerschleier über die Ruine legte, verschwand das geheimnisvolle Tierchen durch ein Loch in der Mauer.
Ein Loch, das gerade groß genug war, dass ein kleiner Junge hindurchgepasst hätte.
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2011
Alle Rechte vorbehalten