Die runde Spitze des Stiftes in meiner Hand glitt über die silbrige Oberfläche meines Zeichentabletts, während meine Augen auf den Bildschirm vor mir fixiert waren, auf welchem sich langsam – wie von allein, so schien es – die Konturen einer jungen Frau bildeten, die im Wasser mit Quallen umher schwamm. Draußen thronte bereits der zunehmende Mond hoch am Himmel und erhellte über die Baumkronen hinweg ein wenig die Wände meines dunklen Zimmers. Es war eine warme, klare Sommernacht und während ich in die Fertigstellung meines nächsten Bildes vertieft war, zirpten vor meinem Fenster die Grillen in einem lauten Konzert um die Wette. Den kontinuierlich wachsenden Stapel an Broschüren über Universitäten neben meinem Computer, den meine Mutter mir auf ihre energisch freundliche Weise bereitgestellt hatte, verdrängte ich mit jedem Strich, den ich malte, ein wenig mehr. Ich hatte Sommerferien, noch keine Idee, was ich studieren wollte, und die Anmeldefrist für das kommende Semester ohnehin bereits verpasst. Meine Gedanken dachten lieber darüber nach, welche Farben ich für das Bild wählen sollte, damit es eine schöne Komposition gab, als über ein Studium oder die Zukunft. Ich bekam Magenschmerzen, wenn ich an die Ungewissheit dachte, welche vor mir lag. Gerade erst hatte ich meinen Abschluss gemacht, meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und alles, was ich wollte, war malen. Und nicht über das Berufsleben und Steuern und Miete nachdenken. Nicht einmal kochen konnte ich. Allein in einer Wohnung würde ich, so dachte ich, vermutlich an einer Fett-Überdosis durch Fast Food sterben oder an meinen Kochkünsten, welche entweder zu einer Vergiftung oder einer brennenden Küche führen würden. Frustriert legte ich meine Zeichensachen beiseite und hüpfte in meinen himmelblauen Pyjama und anschließend in mein mit Kissen überfülltes Bett, um mich in meine Decke einzurollen. Meine Augen waren müde. Ich durfte nicht mehr so lange vor dem Computer sitzen, dachte ich, als ich mich in meine Kissen kuschelte und die leuchtenden Sterne an meiner Decke betrachtete, bis meine Augenlider letzten Endes nachgaben und mich in einen traumlosen Schlaf fallen ließen.
Viel zu früh weckten die warmen Sonnenstrahlen meine matten Lider. Ich zog die Decke über mein Gesicht und fluchte innerlich, weil ich vergessen hatte die Vorhänge zuzuziehen. Da ich nur wählen konnte unter der Decke zu ersticken oder geblendet zu werden, stand ich doch langsam auf und versuchte heftig blinzelnd die Zahlen auf meinem Wecker zu erkennen. Da dieser allerdings ebenfalls von der Sonne beschienen wurde und spiegelte und mein Gesicht ohnehin zur Hälfte von meinen langen roten Locken verdeckt wurde als ich mich vorbeugte, entschied ich einfach, dass es zu früh für alles war. Schlecht gelaunt und etwas taumelnd huschte ich ins Badezimmer und kam einige Minuten später gähnend wieder heraus, um meinen knurrenden Magen mit einem Frühstück zu besänftigen. Noch bevor ich in der Küche ankam, drückte mir meine Mutter einen Brief in die Hand. Eigentlich wusste sie, dass man mich morgens nicht ansprechen sollte, aber ihrem ungeduldigen Gesicht nach zu urteilen, konnte das Öffnen des Briefes wohl nicht warten. Ich suchte auf dem Briefumschlag nach einem Absender. „Eine Universität hat dir geschrieben. Hast du dich ohne etwas zu sagen, irgendwo angemeldet?“ Man merkte ihrem Ton an, dass sie ein wenig beleidigt war. Den Kopf schüttelnd musterte ich den Brief. Ich wusste ja noch nicht einmal, was ich studieren wollte. Ungeduldig hielt meine Mutter mir einen Brieföffner entgegen. Ich starrte ihn genauso desinteressiert an wie zuvor den Brief. Mein Magen knurrte. „Später, Mama … Ich lese ihn nachdem ich etwas gegessen habe.“ Schnaubend setzte sich meine Mutter wieder an den Tisch und stierte böse ihre Zeitung an. Wieso nur hatte sie es so eilig damit, dass ich einen Studienplatz bekam? Ich würde ohnehin erst im Sommersemester anfangen können, da ich die Frist für den Winter bereits verpasst hatte. Müde suchte ich nach einer Schüssel für meine Cornflakes, während ich meine Mutter energisch ihre Zeitung umblättern hörte. Ich seufzte.
Zurück in meinem Zimmer zog ich die Vorhänge ein wenig zu und kleckerte die Hälfte der Milch über meine Hose, weil ich beinah wieder eingenickt wäre. Nachdem ich den Rest gegessen hatte, starrte ich meine Wand an. Vielleicht sollte ich mich einfach wieder hinlegen, dachte ich. Mein Blick blieb auf dem Weg zum Bett an dem Brief hängen. Ein klein bisschen neugierig war ich schon. Also öffnete ich ihn doch. Ich nahm den Brief heraus und entfaltete ihn. Oben war das Logo einer Universität abgebildet. Es war keine mir bekannte Universität. Ich begann stumm zu Lesen.
Sehr geehrtes Fräulein Velours,
Wir freuen uns Ihnen eine Einladung zum kommenden Semester an unserer Académie d'art schicken zu können. Aufgrund Ihres Talentes wurden Sie ausgewählt und erhalten hiermit die Möglichkeit, als neue Studentin an unserer Universität die verschiedensten Künste zu erlernen.
Bitte geben Sie bis Ende August Bescheid, ob Sie unserer Einladung nachkommen. Wir würden uns freuen Sie als neue Studentin willkommen heißen zu dürfen!
Mit den besten Grüßen
Claudette Baudin
Stellvertretende Schulleiterin
Verwirrt las ich den Brief noch fünf mal. „Aufgrund meines Talentes …?“ dachte ich laut. Woher hatte denn irgendeine Universität Kenntnis über meine Bilder? Ich hatte noch nie eines meiner Bilder veröffentlicht. Und andere Talente hatte ich meines Wissens nach nicht. Ich hatte noch nicht einmal einen besonders guten Abschluss. Auf einem weiteren Blatt waren Kontaktdaten angegeben. Und sie schrieben, dass das Studium kostenlos war und nur für ausgewählte Talente durch Einladung zugänglich. Dem Brief konnte ich ebenfalls entnehmen, dass es wohl eine Art Internat war und man das Jahr über dort wohnen würde. Außer in den Ferien. Nachdem ich noch weitere zehn mal den Brief gelesen hatte, setzte ich mich vor meinen Computer und suchte im Internet nach der Universität und klickte den im Brief angegebenen Link an. Website derzeit in Wartung. Klasse. Vielleicht aktualisierten sie gerade etwas, dachte ich. Ich entschied, den Brief meiner Mutter zu zeigen. Die würde sich sicher darüber freuen, dass ich einen Studienplatz angeboten bekam. Sogar an einer Kunst-Akademie … Langsam gefiel mir der Gedanke.
Meine Mutter war natürlich völlig aus dem Häuschen. „Alice! Hast du an deinen Ausweis gedacht?“ rief sie quer durch die Wohnung, als ich meinen Koffer packte. Wir – hauptsächlich meine Mutter – hatten uns entschieden, dass ich auf diese Akademie gehen würde. Im letzten Monat hatte ich noch ein paar Mails an die Universität geschrieben und nach Einzelheiten gefragt und nun bereitete ich mich auf meine Fahrt vor. Die Akademie war wohl auf einer Insel und alle neuen Studenten würden sich am Hafen treffen und mit einem privaten Schiff dort hingebracht werden. Ein wenig mulmig war mir schon. Dort kannte ich ja niemanden und der kleine Gedanke, ich könne von einem Unbekannten, der Studenten durch einen kostenlosen Studienplatz anlockte, entführt werden, wuchs mit jedem Kleidungsstück in meinem Koffer ein wenig mehr. Ich entschied keinen meiner Krimis mitzunehmen. Mit einem letzten Blick in mein Zimmer ging ich zu unserem Auto. Meine Mutter hatte darauf bestanden, mich zum Hafen zum fahren. Ein wenig ängstlich blickte ich am letzten Augusttag unserem immer kleiner werdenden Haus hinterher, bis es schließlich am Horizont verschwand.
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2020
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