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Kapitel 1 – Der stumme Rebell

Gelangweilt saß ich auf der kleinen Mauer vor unserem Haus und genoss die Hitze der Sonne, welche auf meine blasse Haut schien. Die Helligkeit dagegen verabscheute ich geradezu und fluchte innerlich bereits darüber keine Sonnenbrille mit hinaus genommen zu haben. Da ich allerdings unter einem erheblichen Vitamin D Mangel litt, wurde ich von meinen Eltern gezwungen jeden Tag mindestens dreißig Minuten in die Sonne zu sitzen. So war ich also hier gelandet. Ich schaute die leere Straße entlang, über die zahlreichen Vorgärten, hinunter bis zum Waldrand. Man sah wie der leichte Wind die Bäume sanft schwanken ließ, während am wolkenlosen Himmel eine Vogelschar zwitschernd über die Häuser flog. Eigentlich war unsere Straße doch recht schön, wenn man sie genauer betrachtete. Wir wohnten in einem kleinen Dorf, in welchem es ein wahres Highlight war, wenn mal ein Fahrradfahrer vorbeifuhr. Dafür hatte man hier wenigstens seine Ruhe und die Natur um sich. Gerüchten zufolge, wie sie so gern im Dorf erzählt wurden, würden wir heute neue Nachbarn bekommen. Warum unsere alten Nachbarn ausgezogen waren, wusste ich nicht. Auch wenn ich nie besonders mit ihnen zu tun gehabt hatte, vermisste ich sie. Zumindest die Kinder, auf die ich ab und zu aufpassen sollte, wenn sie im Garten spielten. Ein wenig schade, dass sie ausgezogen waren, doch vielleicht bekam ich jetzt ja auch endlich einmal Nachbarn in meinem Alter. Die meisten hier hatten entweder keine oder schon erwachsene Kinder, welche schon ausgezogen waren. Und mit den wenigen Familien, die noch jüngere Kinder hatten, konnte ich auch nichts anfangen, da diese höchstens im Grundschulalter waren. So hatte ich also nur meine reizende Schwester in der Nähe. Und ihre Klette von Freund, welcher vor einem Jahr zu uns gezogen war. Selbstverständlich ohne meine Einverständnis. Aber warum sollte man mich auch fragen? Als ob das meine Privatsphäre nicht stören würde. Als ob es mich nichts angehen würde, wenn plötzlich ein für mich völlig Fremder in unserer Wohnung herumrennt. Dummerweise verstand ich mich ebensowenig mit meiner charmanten kleinen Schwester. So freute also sogar ich mich auf unsere neuen Nachbarn, obwohl ich mich sonst nie leicht für etwas begeisterte. Meine Eltern dagegen waren die reinsten Nervenbündel. Ich verstand nicht, was daran so faszinierend war. Eigentlich hoffte ich nur, dass sie in meinem Alter waren und wenn möglich männlich. Mit Mädchen kam ich schlichtweg einfach nicht klar. Mit den meisten zumindest. Natürlich hatte ich auch weibliche Freunde. Zum Großteil jedoch bestand mein Freundeskreis aus Jungs. Die waren einfach umgänglicher. So sah ich also gespannt die Straße hinauf, als ein fremdes Auto um die Ecke bog. Ich verstand nicht besonders viel von Autos, aber es sah teuer aus. Es war wohl gemerkt ein schönes Auto. Schwarz und elegant würde ich es am ehesten beschreiben. Normalerweise sollte man sich wundern, dass sich reiche, beziehungsweise wohlhabendere Leute so eine langweilige Gegend aussuchten, doch ich war bereits von meinen Nachbarn gegenüber diesen Faible für Autos gewohnt. Sie besaßen mehr Autos als Personen, die bei ihnen wohnten. Dementsprechend regte mein Vater sich auch ständig über sie auf, wenn sie mit ihren Autos unsere Straße zustellten, anstatt ihre Garagen zu benutzen. Ich dagegen hatte aus Desinteresse noch nicht einmal mit meinem Führerschein angefangen und konnte mir daher nur schwer vorstellen wie nervig es sein musste aus der Ausfahrt herauszukommen, wenn die gegenüberliegende Straßenseite mit Autos zugestellt war. Meine Güte, jetzt machte ich mir schon Gedanken über Autos. Den Kopf schüttelnd, um wieder klare Gedanken zu bekommen, sah ich wieder nach rechts zu dem schwarzen Auto, welches vor unserem Nachbarhaus geparkt hatte. Die Türen wurden aufgestoßen und zwei junge Männer stiegen aus. Vielleicht Mitte zwanzig. Also ein bisschen älter als ich. Lächelnd und reichlich erleichtert sah ich mir die beiden an, bevor sie mich entdeckten. Doch sie beachteten mich gar nicht. Der braunhaarige Junge schien ziemlich schlechte Laune zu haben, denn er starrte seinen Begleiter unentwegt grimmig an. Ich machte mich also vorerst lieber nicht bemerkbar und beobachtete sie zunächst weiter. Wahrscheinlich waren sie Brüder oder nur Freunde, die zusammen wohnten. Wie ein Liebespaar sahen sie jedenfalls nicht aus. Außer sie hatten gerade eine Ehekrise. Während der andere Junge den Kofferraum öffnete und begann Kisten auszuräumen, verschwand der Braunhaarige schon im Haus. Ich entschied so höflich zu sein und den noch Verbliebenen – und augenscheinlich freundlicheren – zu begrüßen. Man musste ja nicht gleich von Anfang an einen schlechten Eindruck hinterlassen. Also hüpfte ich von unserer Mauer und tapste neugierig in seine Richtung. Dieser bemerkte mich allerdings tatsächlich erst als ich neben ihm stand und mich bemerkbar machte. Als er mich ansah, bekam ich eine Gänsehaut. Er hatte wunderschöne eisblaue Augen und dazu einen perfekt passenden hellen Teint und schwarze Haare. Mein Traumtyp wie ich ihn mir immer vorgestellt hatte. Zwar hatte ich noch nie einen Freund gehabt und ließ mich generell nicht leicht auf irgendwelche Beziehungen ein, dennoch war auch ich nur ein Mädchen. Und man durfte doch schwärmen, oder? Er lächelte mich freundlich, dennoch erschöpft, an und entschuldigte sich, dass er mich vorher nicht bemerkt hatte. „Weißt du, wir hatten einen ziemlich langen Tag und sind wohl beide schon ein bisschen müde.“ Ich lächelte ebenfalls und fragte wo sie denn herkommen würden. „Paris.“ war seine knappe Antwort und ich weitete die Augen. Das war eine meiner Lieblingsstädte und mit dem Zug vielleicht vier Stunden entfernt, obwohl ich in Deutschland wohnte. Mit dem Auto dauerte es natürlich länger. Kein Wunder, dass sein Freund so schlechte Laune hatte. Auf meine Bemerkung hin begann er zu lachen und meinte, dass er immer schlecht drauf war. Heute nur besonders. „Oh, entschuldige bitte“ fuhr er fort und streckte mir seine Hand entgegen. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Ciel und mein Cousin heißt René.“ Sie waren also Cousins. Dabei sahen sie sich gar nicht ähnlich. Der eine höflich und elegant gekleidet, der andere mies gelaunt mit Lederjacke und Nieten. Als ich Ciels Hand nahm, zog er mich ein wenig zu sich und gab mir einen leichten Handkuss. Ich musste es mir schwer verkneifen zu kichern und lächelte stattdessen einfach. Charmant. Wenn er jetzt noch intelligent war, würde ich ihn offiziell zu meinem Freund erklären. Ich stellte mich auch kurz vor und meinte, dass ich seinen Namen im übrigen unglaublich schön fand. Ciel bedeutete Himmel auf Französisch. „Dankeschön“ begann der faszinierende Junge und schenkte mir noch eines seiner Lächeln. „Dein Name ist aber auch schön, Mona.“ Zum Dank zwang ich mich lediglich zu einem Lächeln, da ich meinen Namen nicht großartig mochte. Es war ein schöner Name, da stimmte ich ihm zu. Aber durch Spitznamen, wie beispielsweise Mona-Lisa, war mir dieser Name ein wenig zuwider. Als ich hinter uns das Geräusch ihrer Haustür vernahm, drehte ich mich um und blickte direkt in zwei braune Augen, welche mich gefährlich anfunkelten. Ich hasste braune Augen. Das war mein einziger Gedanke, wobei ich mir vermutlich ganz andere Sorgen hätte machen sollen. Ich hatte grüne Augen und war durchaus zufrieden damit. Persönlich fand ich sie sehr schön. Mir wurde schon gesagt, dass ich manchmal wie eine Katze blicken würde. Die braunen Augen vor mir erinnerten mich ebenfalls an eine Katze. An eine zornige Raubkatze, deren Futter gerade gestohlen wurde. Dazu hatte er noch braune Haare. Das war mir zu 0815. Doch immerhin war er alles andere als gewöhnlich. Schon allein wegen seiner Kleidung. Ich mochte Individualität und verachtete unsere Gesellschaft schon allein wegen ihrer Dummheit, noch dazu waren alle gleich. Hier gab es schlichtweg keine Individualität und darum waren mir meistens die Leute am sympathischsten, die sich von anderen abhoben. „René“ begann Ciel sichtlich freundlich seinem Cousin gegenüber bemüht. „Das hier ist Mona, unsere neue Nachbarin.“ Er deutete auf mich und ich begrüßte den Jungen kurz. Dieser zwang sich aus Höflichkeit zu einem knappen „Hallo.“ Und ignorierte uns danach wieder. Er schnappte sich eine der Kisten und verschwand gleich wieder im Haus. Komischer Junge, dachte ich. Ciel seufzte nur und widmete sich auch wieder ihren Kisten. Ich fragte, ob ich helfen könne und er stimmte nach kurzer Diskussion auch zu. Nur weil ich ein Mädchen war, hieß das nicht, dass ich keine Kiste eine Treppe hinauf tragen konnte. Meine langen, rotbraunen Haare band ich mir schnell zu einem Pferdeschwanz, damit sie mir nicht ins Gesicht fielen und nahm mir eine der Kisten. Absichtlich eine, die in Renés Zimmer gehörte (Die Kisten waren vorbildlich beschriftet). Ich war noch nie in diesem Haus gewesen, obwohl ich schon so lange nebenan wohnte. Glücklicherweise war direkt am Eingang gleich die Treppe nach oben und Renés Zimmer lag oben gleich links daneben. Ich stellte die Kiste mit seinen Büchern auf den Boden und sah mir sein Bücherregal an, welches er bereits begonnen hatte einzuräumen. Anscheinend hatten sie ihre Möbel bereits im Vorfeld hergebracht. Es faszinierte mich ein wenig, dass es wirklich noch Jungs gab, die so viel lasen, konnte mir ein Kichern beim Anblick seiner Bücher allerdings nicht verkneifen. Er hatte denselben Geschmack wie ich. „Was ist so lustig?“ hörte ich hinter mir und drehte mich zu René um, welcher im Türrahmen stand und mich pessimistisch musterte. „Nichts, entschuldige“ begann ich noch immer lächelnd. „Ich fand es nur amüsant, dass wir den gleichen Geschmack haben was Bücher betrifft.“ Er zog die Augenbrauen hoch, ging an mir vorbei und begann sein Regal weiter einzuräumen. Er redete wohl nicht gerne. Na gut. „Welches ist dein Lieblingsbuch?“ fragte ich also, um im Gespräch zu bleiben. Genervt sah er mich an. „Halfway to the Grave.“ Dann widmete er sich wieder seinen Büchern. Ich mochte den Jungen. Fröhlich lehnte ich mich an sein Regal und sah ihm zu. „Das ist mein zweites Lieblingsbuch.“ meinte ich und wurde weiterhin von ihm ignoriert. „Mittlerweile ist es das Buch Weinrot.“ Kurz sah er auf. „Du magst also Vampire?“ Nein, ich liebte sie. Da ich ihn nicht noch mehr nerven wollte, ging ich nach einem kurzen Nicken lächelnd wieder nach draußen. Ciel war dabei die letzten Kisten hoch zu tragen und ich meinte noch eben, dass ich wieder nach Hause gehen würde. Meine Eltern würden sie ohnehin erst in ein paar Tagen kennen lernen können, da meine Mutter mit meiner Schwester bei ihrem Landschulheim dabei war, um mit den Lehrern auf die Schüler aufzupassen und mein Vater auf Geschäftsreise war. Dabei hatten die beiden sich am meisten auf unsere neuen Nachbarn gefreut. Welch Ironie. So war ich also nun alleine zu Hause. Das störte mich allerdings auch nicht sonderlich, beziehungsweise bemerkte ich es kaum, da man mir ohnehin keinerlei Beachtung schenkte. Meine Schwester dagegen bekam mehr als vierundzwanzig Stunden Aufmerksamkeit pro Tag. Ja, ein Tag hat nur vierundzwanzig Stunden. Mein einziges Problem war, dass ich nicht kochen konnte. Eine gute Hausfrau würde ich jedenfalls nie werden. Glücklicherweise wohnten meine Großeltern in der Nähe, sodass ich ab und zu bei ihnen essen konnte und mich nicht nur von Fast Food ernähren musste. In meinem Zimmer warf ich mich als erstes auf mein Bett und dachte darüber nach wie ich mich am besten mit den Jungs anfreunden konnte. Denn das war noch nie eine meiner Spezialitäten gewesen. Entweder man mochte mich so wie ich eben war oder man hatte Pech. Ich würde mich nicht verstellen, nur damit mich jemand mag. Keine gute Strategie, um Freunde zu finden, aber die ehrlichste. Was nützte es einem denn mit jemandem befreundet zu sein, der einen nur mochte, weil man ihm ständig etwas vorspielte? Deswegen hatte ich auch so wenig Freunde. Diese waren auch alle ausgesuchte Individuen und ich liebte jeden einzelnen von ihnen. Einfach weil sie mich so akzeptierten und mochten wie ich war, ebenso andersherum. Mein größtes Problem beim Freunde finden war allerdings ihre Intelligenz. Ich konnte mich mit niemandem anfreunden, der über keinen Intellekt verfügte. Sicher gab es noch intelligentere Leute als mich, aber ich kam einfach nicht mit Leuten klar, die absolut nichts kapierten, von dem was ich sagte. Deswegen galt ich bei anderen Leuten auch als recht introvertierter Typ. Soweit sie das Wort überhaupt kannten.

 

Am Abend schlug ich die Augen auf und blickte in mein bereits dunkles Zimmer. Ich war wohl eingeschlafen. Müde rieb ich mir die Augen und stand auf, um noch eben die Tür, welche auf unsere Terrasse heraus führte, zuzumachen. Gerade als ich die Glastür schließen wollte, fiel mein Blick auf den hinteren Garten unserer neuen Nachbarn. Ich erkannte René in der Dunkelheit und fragte mich, warum er um diese Uhrzeit noch draußen saß. Es war zwar Sommer, in der Nacht dennoch relativ kühl. Noch dazu hatte es angefangen zu regnen. Also beschloss ich zu ihm zu gehen und zu fragen. Mit einem Regenschirm bewaffnet stapfte ich über unsere Terrasse und hüpfte die kleine Mauer hinunter in ihren Garten. René schenkte mir erst Beachtung als ich neben ihm stand. Wobei Beachtung vielleicht zu viel gesagt wäre. Er sah mich kurz an und starrte dann weiter in den schwarzen Himmel. „Was machst du hier?“ fragte ich schließlich und erwartete schon kaum mehr eine Antwort. „Du wirst dich erkälten.“ Er sah mich nicht mal an. Ich seufzte und setzte mich neben ihn. Nicht zu nah, aber so, dass auch er von meinem Schirm vor dem Regen geschützt war. Eine Weile saßen wir da und ich begann langsam zu frieren. Aber ich war zu stur, um ihn nun einfach allein hier sitzen zu lassen. Also wartete ich noch ein wenig. Irgendwann nahm er eine Zigarettenschachtel heraus und sah sie zuerst kurz nachdenklich an, ehe er sie mir vor die Nase hielt. „Nein danke, ich rauche nicht.“ lehnte ich sein Angebot ab und sah ihn unbemerkt an als er sie wieder zu sich nahm. Ich wollte seine Reaktion sehen. Er sah wieder kurz die Schachtel an. „Ich eigentlich auch nicht …“ meinte er schließlich und ließ die Schachtel einfach ins nasse Gras fallen. Da er mich endlich nicht mehr ignorierte, nutzte ich die Chance und fragte noch einmal was er hier draußen machte. Er sah leicht beschämt zur Seite. Letztendlich antwortete er mir doch. „Ich hab' meinen Schlüssel verloren …“ Ich musste mich schwer dazu zwingen nicht zu lachen. Er hatte sich also ausgesperrt. Ein Grinsen unterdrückend fragte ich ihn warum er nicht einfach klingelte. Sein Cousin müsste doch da sein. Er nickte als Bestätigung und starrte weiter das Gras vor sich an. „Ich wollte ihn nicht wecken … Er war heute Abend so fertig vom Umzug …“ Nun konnte ich es mir wirklich nicht mehr verkneifen und fing an zu lachen. René sah mich verdutzt an und ich brauchte eine Weile, um mich wieder so beruhigt zu haben, um ihm zu erklären, dass ich es wirklich amüsant fand, dass er so abweisend wirkte und dennoch so fürsorglich mit Ciel umging. Eigentlich war er doch ein netter Kerl. Er sah mich weiter nur monoton an als verstünde er die Welt nicht mehr. Doch ich sah ihm an, dass er mich verstanden hatte, wahrscheinlich nur nicht glauben konnte, dass ihn jemand durchschaut hatte. Dabei war das doch ganz leicht. Schließlich stand ich auf und ging ein paar Schritte, bevor ich mich noch einmal umdrehte und ihn anlächelte. „Kommst du?“ fragte ich und sah weiterhin in ein verwirrtes Gesicht. Ich musste kichern. „Du glaubst doch nicht, dass ich dich die Nacht hier draußen lasse, oder? Und wenn du schon nicht zu dir willst, kommst du eben mit zu mir.“ Ich grinste ihn an und drehte mich wieder um. Hinter mir wurde ich von geweiteten Augen angestarrt als wäre ich die erste Person, die jemals freundlich zu ihm gewesen war. Schließlich stand er zögernd auf, wohl unschlüssig darüber was er tun sollte, folgte mir dann doch. Ich hüpfte die kleine Mauer hoch, gefolgt von René und spazierte ein paar Meter weiter in mein Zimmer. An der Tür blieb er stehen, während ich meinen Regenschirm wegpackte und sagte, dass er ruhig rein kommen könne. Ich schloss die Tür hinter ihm und sah ihm dabei zu wie er sich in meinem Zimmer umsah. Eigentlich war es nichts allzu Besonderes. Schwarze Möbel, weiße Wände, ein roter Teppich. Neben meinem Fenster und der Terrassentür stand mein Schreibtisch, dahinter mein Keyboard. Gegenüber stand mein Kleiderschrank, daneben meine Schul- und Zeichensachen. Wobei ich meistens nur am PC zeichnete. Ansonsten waren in meinem Zimmer nur noch mein Bett und mein Bücherregal daneben zu finden. An letzterem blieb Renés Blick schließlich hängen. Das war auch das erste gewesen, was mir an seinem Zimmer aufgefallen war. Ich musste lächeln als er bemüht, nicht neugierig zu wirken, ein Buch herausnahm und es beäugte. Es war wirklich amüsant ihn so niedlich zu sehen. Ich ließ ihm seinen Spaß und zog mir schon mal Schuhe und Jacke aus. „Du solltest dich auch ausziehen. Du wirst dich nur erkälten, wenn du weiter mit nassen Klamotten hier herumläufst.“ Er sah mich an als hätte ich ihm gesagt er solle jemanden ermorden gehen, während ich mich fragte was er nun schon wieder hatte. Er musste sich ja nicht komplett ausziehen, meine Güte. Nur die nassen Sachen. Noch einmal seufzte ich und ging schließlich auf den stummen Jungen zu. „Darf ich?“ fragte ich kurz und begann ihn einfach auszuziehen als ich keine Antwort bekam. Da er nicht nein gesagt hatte, hatte ich das als ein ja angesehen. Ich streifte ihm zunächst seine Jacke von den breiten Schultern und fragte mich was er wohl für Sport machte. Er war durchaus muskulös, sah mir aber nicht gerade wie jemand aus, der jeden Tag im Fitnessstudio trainierte. Eher wie jemand, der nur zuhause sitzt und den ganzen Tag schläft, weil er nichts Besseres zu tun hat. Letztendlich war das ja auch egal. Ich hing seine Jacke vorerst über meinen Stuhl und fragte nochmals, ob ich weiter machen dürfte oder er sich selbst ausziehen wolle. Wieder bekam ich keine Antwort. Er sah nur trübe auf den Boden und sah mich nicht mal an. Als wäre nur er in diesem Raum, unfähig sich zu bewegen. Vorsichtig knöpfte ich sein Hemd auf und achtete darauf, ja nicht zu grob zu sein. Ich hatte das Gefühl, wenn ich nicht vorsichtig genug mit ihm umginge, würde er zerbrechen. Als ich ihn schließlich all seiner Kleidung entledigt hatte – bis auf seine Boxershorts – nahm ich seine Sachen, brachte sie kurz zum Trocknen weg und schleifte ihn danach ins Badezimmer. Da er wohl schon etwas länger im Regen gesessen hatte, war tatsächlich auch seine Unterwäsche nass. Diese wollte ich ihm allerdings wirklich nur äußerst ungern ausziehen. Also kam ich auf die glorreiche Idee sie einfach zu föhnen. So stand ich also kurz darauf mit einem stummen, fremden Jungen in meinem Badezimmer und föhnte seine Boxershorts. Das war definitiv eine der merkwürdigsten Situationen, in denen ich jemals gewesen war. Zurück in meinem Zimmer hatte er immer noch kein Wort geredet, ich allerdings wurde langsam müde. Ich schnappte mir kurz meinen Pyjama und verschwand eben im Bad. Vor ihm musste ich mich ja nicht auch noch ausziehen. Als ich zurück kam, stand er immer noch etwas verloren in mitten des Zimmers und sah sich um. Ich lächelte und setzte mich auf mein Bett. „Also ich geh jetzt schlafen. Und du?“ meinte ich und deutete auf mein Bett. „Ist das … wirklich okay?“ Ich verstand seine Frage nicht und sah ihn nur verwirrt an. Er sah zur Seite. „Ich meine … ist es okay, wenn ich mit dir in einem Bett schlafe?“ Ich musste mir schon wieder ein Lachen unterdrücken, ließ mich in meine Kissen fallen und drehte mich um. „Natürlich ist das okay. Aber wenn du lieber auf dem Boden schlafen möchtest …“ Das konnte ich mir wirklich nicht verkneifen und grinste innerlich vor mich hin. Ein paar Minuten lag ich da, ohne ein Geräusch seinerseits zu vernehmen. Schließlich raffte er sich doch zusammen und legte sich neben mich. Er musste über mich drüber krabbeln, da ich mich mit Absicht auf diese Seite gelegt hatte. Da meine Piercings an meinem linken Ohr noch nicht ganz verheilt waren, konnte ich momentan nur auf der rechten Seite schlafen. Und ich wollte ihm wirklich gerne beim Schlafen zusehen. Ich fühlte mich schon wie eine Art Stalker. Oder Vergewaltiger. Immerhin hatte ich einen hilflosen Jungen in mein Haus geschleppt, ihn ausgezogen und zwang ihn dazu auf der Seite vom Bett zu schlafen, auf der ich ihn beobachten konnte. Vielleicht las ich aber auch einfach nur zu viele Krimis. Er hatte sich jedenfalls von mir weggedreht und fing nach einer Weile an zu zittern. Als er nieste, musste ich abermals seufzten. „Ich hab's ja gesagt … Deck dich wenigstens vernünftig zu.“ Da er keine Anstalten machte etwas zu tun, nahm ich meine Decke, welche wir uns teilten und zog sie höher bis zu seinem Kopf. Anstatt wieder zurückzuweichen, hielt ich es nicht mehr aus und umarmte ihn. Er sah aus als hätte er das dringend nötig. Ich selbst wurde auch selten umarmt. Schon gar nicht von meinen Eltern und schon zweimal nicht von meiner Schwester. Also kannte ich dieses Gefühl der Einsamkeit und wusste, dass eine Umarmung Wunder wirken konnte. Er wies mich nicht zurück, im Gegenteil. René entspannte sich langsam und schlief kurz darauf ein. Wahrscheinlich hatte auch ihn der Umzug ziemlich fertig gemacht. Das war für ihn sicher ein anstrengender Tag gewesen. Ich versuchte mir nicht allzu viele Gedanken darüber zu machen und schlief schließlich mit diesem komischen Jungen im Arm ein.

 

Am Morgen darauf wurde ich von der Sonne geweckt. Normalerweise verabscheute ich das Licht der Sonne, wenn ich schlafen wollte und war eigentlich grundsätzlich schlecht drauf, wenn ich geweckt wurde. Aber heute war ich merkwürdigerweise total entspannt und glücklich. Ich schlug die Augen langsam auf, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen und drückte mich noch ein wenig enger an den starken Körper neben mir. Urplötzlich war ich hellwach. Ich erinnerte mich daran, dass René ja hier geschlafen hatte, beziehungsweise es immer noch tat. Er hatte sich auf den Rücken gedreht, sodass ich sein Gesicht sehen konnte. Er sah wahnsinnig niedlich aus. Zum ersten Mal stand ich morgens lächelnd auf und tapste – noch in Top und Shorts – vor, in die Küche. Als ich wieder nach hinten kam, war René bereits aufgewacht und saß gähnend auf meinem Bett. Er sah mich nun endlich einmal an, wenn auch müde. Ich lehnte mich an den Türrahmen und lächelte ihn an. „Frühstück ist fertig.“ meinte ich und ging nach vorne. René im Schlepptau. Ich setzte mich ihm gegenüber und nahm mir ein Brötchen. Als wir fertig waren, starrte er auf seinen Teller. „Normalerweise frühstücke ich nicht …“ Ich sah ihn an und meinte dann leicht schmunzelnd: „Ich auch nicht.“ Aber ich wollte eine gute Gastgeberin sein. Als ich den Tisch abgeräumt hatte – er hatte mir nur dabei zugesehen – setzte ich mich noch mal kurz hin und sah ihn an. „Darf ich … dich was fragen?“ sagte er nach einer Weile und ich freute mich schon, dass er etwas lockerer geworden war. Auf seine Frage hin nickte ich kurz. „Warum machst du das alles für mich?“ Ich sah ihn erst verwundert, dann erheitert an. Warum sollte ich das nicht tun? Das war doch eher die Frage. Ich gluckste und meinte, dass das doch selbstverständlich war. Er sah mich daraufhin schon wieder an als verstünde er nur spanisch. Wahrscheinlich war er es wirklich nicht gewohnt, dass man ihn so behandelte. Ich wollte mir gar nicht vorstellen wie sein normales Umfeld bisher mit ihm umgegangen war. Nachdem er sich wieder angezogen hatte, begleitete ich ihn noch eben zu sich rüber. Anscheinend war Renés Abwesenheit nicht unbemerkt geblieben. Denn draußen kam Ciel uns bereits aufgeregt entgegen. „Wo warst du denn?!“ begann er sogleich seinen Mitbewohner auszufragen. Dieser stand nur da und sah zur Seite. Also antwortete ich. Ich erklärte Ciel die ganze Geschichte, während René schon hinein ging. Ciel hörte mir aufmerksam zu und bedankte sich anschließend noch seufzend bei mir. Ich winkte ab und fragte letztlich doch wie man sonst mit René umging. Ciel würde mir diese Frage wahrscheinlich eher beantworten als René selbst. „Naja …“ begann er zögernd. War er unschlüssig wie er anfangen sollte? Oder überlegte er nur, ob er es mir erzählen sollte? Vielleicht hatte er ja versprochen nichts darüber zu erzählen. „Also weißt du … Wir, sowohl René als auch ich, sind beide Leiter einer Firma.“ Okay. Mit diesem Satz hätte ich jetzt nicht gerechnet. Mir blieb sprichwörtlich der Mund offen stehen. Dabei fragte ich mich wie alt die beiden eigentlich waren. Sie sahen nicht älter aus als höchstens Mitte zwanzig. Ciel erzählte weiter. „Und Renés Eltern sind nun mal sehr streng mit ihm, da er nicht gerade der Motivierteste diesbezüglich ist. Folglich gehen sie nicht sonderlich gut mit ihm um. Und schon gar nicht wie mit einem Sohn. Ich glaube René hatte es einfach satt ständig herumgeschubst und niedergemacht zu werden. Denn wenn er etwas richtig machte, wurde es nicht anerkannt. Er wurde ignoriert. Wenn er aber etwas falsch machte … naja. Das kannst du dir vielleicht denken. Aufgemuntert wurde er natürlich auch nie. Zumindest nicht von seinen Eltern. Eigentlich sind die ganz nett … nur sehr streng was ihr Unternehmen angeht. Vielleicht hat es ihn auch gestört, dass seine jüngere Schwester immer präferiert wurde. Sein Verhalten ist wahrscheinlich auf diverse Ursachen zurückzuführen.“ Er seufzte und lächelte mich danach an. Ich hatte mich bereits wieder einigermaßen zusammengerissen. „Es fasziniert mich aber, dass du das bemerkt hast.“ lächelte er mich fröhlich an. Ich sah ihn daraufhin nur ganz normal an. „Unsinn.“ meinte ich schließlich. „Er hat mich gefragt, warum ich so nett zu ihm bin etc. Und da dachte ich eben, dass das wohl nicht viele machen.“ Auf Ciels geschockten Blick hin sah ich ihn fragend an. Seine Stimme zitterte ein wenig als er sprach. „René hat … mit dir geredet?“ Ich nickte verständnislos. „Das tut er nie. Er redet nur mit mir noch ein wenig. Sonst mit absolut niemandem. Nie.“ Dann fing er an zu lachen. Ich verstand ihn immernoch nicht. „Du musst wohl irgendwas Besonderes an dir haben.“ Wenn er meinte. Ich wurde eben höflich erzogen. Auch wenn ich mit meinen Eltern genauso wenig klar kam. Dennoch bemühte ich mich stets um Höflichkeit anderen gegenüber. Und es gehört sich nun mal, dass man jemandem hilft, wenn man kann. Mir fiel meine Frage von vorhin wieder ein. „Du, Ciel“ begann ich leise. „Darf ich so unhöflich sein und fragen wie alt ihr eigentlich seid? Ich meine, wenn ihr schon beide eine eigene Firma habt …“ Er schenkte mir abermals eines seiner zauberhaften Lächeln. „Ich bin vierundzwanzig. René ist ein Jahr jünger.“ Also doch. Bevor ich etwas sagen konnte, redete er auch schon weiter. „Wir haben ja nur beide den jeweiligen Betrieb unserer Eltern übernommen. Darauf wurden wir jahrelang vorbereitet. Zugegeben, es ist etwas langweilig, aber lustigerweise haben wir als Chefs relativ viel Freizeit. Oft arbeiten wir auch einfach zu Hause.“ Verstehe. Also wurden sie bereits dazu erzogen, den Betrieb irgendwann zu übernehmen. Das muss ja grausam sein. Hatten sie denn dann überhaupt eine vernünftige Kindheit gehabt? Ich fragte nach und bekam als Antwort wieder ein Lächeln. „Naja, wahrscheinlich nicht. Wir durften uns nur mit Kindern anderer Firmenleiter anfreunden. Beziehungsweise blieb uns gar nichts anderes übrig, da wir vor Lernen kaum Zeit hatten raus zu gehen und zu spielen etc. Auch haben wir nie eine Schule besucht. Wir hatten immer Privatunterricht. So hatten wir auch keinerlei Gelegenheit andere Kinder kennen zu lernen.“ In Deutschland war Privatunterricht meines Wissens nach verboten. War das in Frankreich anders? Vermutlich hätte ich mir nach dem Gesagten über ganz andere Dinge Gedanken machen sollen. Aber ich war schon immer so ein Typ gewesen, der auf die unwichtigeren Dinge achtete, die anderen nicht mal auffallen würden. Vielleicht sollte ich Detektiv werden. „Es würde mich freuen, wenn du dich mit René anfreunden würdest.“ Ciel strahlte mich geradezu an und auch ich freute mich aus irgendeinem Grund. Es kam selten vor, dass ich mich so schnell, oder überhaupt mit jemandem anfreundete. Wahrscheinlich ging es den beiden genauso. „Allerdings“ fuhr Ciel fort und wirkte plötzlich nicht mehr so fröhlich. „Allerdings werden wir bald wieder zurück nach Frankreich ziehen. Das hier ist mehr so eine Art Urlaub.“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Da hatte ich endlich zwei interessante Jungs kennengelernt, noch dazu in meinem Alter, und jetzt würden sie wieder wegziehen? „Das macht nichts.“ meinte ich. „Dann zieh ich eben mit euch um. Oder ich besuche euch. Paris ist ja mit dem Zug nicht allzu weit entfernt.“ Das stimmte sogar. Wir sollten das nicht so negativ sehen. Zwar hatte ich nur ein Semester lang französisch gehabt, sprach diese zauberhafte Sprache dennoch fließend. Ebenso englisch, spanisch und japanisch. Auch Lateinunterricht hatte ich gehabt. Nur war ich darin nicht sonderlich gut gewesen und erinnerte mich an fast nichts mehr. Und natürlich meine Muttersprache deutsch, auch, wenn ich das Land hasste. Und da ich kaum deutsche Freunde besaß, konnte ich mich auch in anderen Sprachen ein wenig unterhalten. Meine ehemals beste Freundin beispielsweise war Polin. Mein bester Freund Italiener. Andere kamen aus Vietnam, Finnland, Griechenland, etc. Meiner Meinung nach gab es in Deutschland mehr Ausländer als Deutsche. Konnte ich aber durchaus verstehen. Ich hasste das Land auch und würde am liebsten auswandern. Da kamen mir die beiden Jungen doch gerade recht. Ich würde einfach mit ihnen umziehen. In ein paar Wochen hatte ich ohnehin mein Abitur in der Tasche und es würde sich ja anbieten einfach in Frankreich zu studieren. „Ach, entschuldige bitte“ riss Ciel mich aus meinen Gedanken. Ich sah ihn an und direkt in das nächste wunderschöne Lächeln. „Darf ich fragen, wie alt du eigentlich bist?“ Oh. Das hatte ich völlig vergessen. Lachend entschuldigte ich mich für meine Unhöflichkeit und meinte, dass ich einundzwanzig wäre. Ja, ich machte erst mit einundzwanzig mein Abitur, da ich zwischenzeitlich noch zusätzlich zwei Jahre auf einem kaufmännischen Berufskolleg war, bevor ich mich entschieden habe mein normales Abitur zu machen. Auf Ciels Frage nach meinem Geburtstag verfinsterte sich mein Blick. Ich mochte meinen Geburtstag nicht. An Neujahr Geburtstag zu haben fand ich eher grausam als schön. Andere beneideten mich darum und ich wünschte ich hätte an keinem Feiertag Geburtstag. Denn dann kümmerten sich alle nur um Silvester und Neujahr und ignorierten mich völlig. An meinem dreizehnten Geburtstag stand ich damals um Mitternacht heulend vor dem Fenster. Eigentlich dachte ich, dass man diesen Geburtstag in puncto Grausamkeit nicht übertreffen konnte, doch ich wurde eines besseren belehrt. Mein siebzehnter Geburtstag – und das komplette Jahr darauf – war mit Abstand eine der schlimmsten Zeiten meines Lebens gewesen. Und ich war so froh gewesen, dieses grässliche Jahr endlich hinter mir zu haben. Ich möchte gar nicht aufzählen, was alles Furchtbares in diesem Jahr geschehen ist. Dann würde ich mich nur wieder stundenlang aufregen. Als ich Ciel jedoch meinen Geburtstag nannte, bekam ich nicht die übliche Reaktion. Er starrte mich an als hätte er sich eben verhört. Dann fing er an zu lachen und sah mir mit seinen blauen Augen direkt in meine. „Meine beiden Brüder und ich haben am selben Tag Geburtstag.“ Er hatte zwei Brüder? Und alle drei hatten am selben Tag Geburtstag? Meiner Faszination trat er ganz cool entgegen und meinte, dass er einen Zwillingsbruder hätte. Bei ihrem ein Jahr älteren Bruder sei es allerdings Zufall gewesen. Da er seinen Geburtstag offensichtlich mochte, konnte ich davon ausgehen, dass ihre Eltern sie wohl nicht konsequent ignorierten. Naja, eigentlich sollte ich mich nicht beschweren. Ursprünglich hätte ich am vierundzwanzigsten Dezember auf die Welt kommen sollen. Das war auch nicht besser. Ich fragte Ciel wann René Geburtstag hatte und bekam abermals eine Antwort, mit der ich nicht gerechnet hätte. „An Heiligabend.“ Nun stand ich wieder mit offenem Mund da. Und das einzig Glorreiche, was ich in dieser Situation zu antworten vermochte, waren folgende Worte: „Verarsch' mich nicht.“

 

Die folgenden Tage waren besser verlaufen als ich erwartet hätte. Ich war eigentlich jeden Tag bei den Jungs gewesen, hatte ihnen mein Dorf ein wenig gezeigt – auch wenn es dort wahrlich nichts Spektakuläres gab – und hatte mich in der Tat mit allen beiden ungewöhnlich schnell angefreundet. Nun rückten wir aber einem Tag immer näher. Dem Tag, an dem meine Eltern und meine reizende Schwester wieder kamen. Und natürlich ihr Versager von Freund. Dieser war natürlich mit auf Klassenfahrt gegangen. War das überhaupt erlaubt? Jedenfalls sank meine Laune zunehmend. Die beiden Jungs versuchten natürlich mich aufzumuntern und versprachen, mich nicht zu ignorieren. Ich war tatsächlich eher ein Schatten. War man mit mir alleine, dominierte ich alleine durch meine Aura. Kamen jedoch andere Leute dazu, zerquetschte mich ihr Licht förmlich und man nahm mich nicht mehr wahr. Alles und jeder schien dann interessanter zu sein als ich. Darum trat ich dem Versprechen der Jungs auch skeptisch gegenüber, beließ es aber dabei. Schlecht gelaunt stand ich schließlich vor unserem Haus und wartete zusammen mit meinen beiden neuen Freunden, da meine Eltern eben angerufen und gemeint hatten, dass sie wohl in den nächsten Minuten ankommen würden. Als ich unser Auto um die Ecke fahren sah, wurde mir beinah schlecht. Denn mir war klar, dass besonders meine Mutter nach einer langen Autofahrt oder generell nach anstrengenden Tagen – die sie zweifelsfrei gehabt hatte – schlechte Laune hatte. Mit meinem Vater, der sie nach Ende seiner Geschäftsreise abgeholt hatte, hatte sie wahrscheinlich die Autofahrt über gestritten, da sie sich eigentlich nie einig waren. Doch sobald sie in die Öffentlichkeit traten, mimten sie die perfekten Eltern. Ihr fröhliches Gehabe, obwohl man genau wusste, welche Laune sie hatten, nervte mich tierisch. Ich persönlich war da ja ganz anders. Mir sah man an, wenn ich scheiße drauf war. Wieso sollte ich das auf verstecken? Dann waren andere wenigstens gleich gewarnt, dass man mich besser nicht ansprechen sollte. Lediglich Respektspersonen gegenüber – wenn ich dazu gezwungen war mit solchen zu reden – verhielt ich mich wie die perfekte Lady. Immer ein Lächeln auf den Lippen, höflich, charmant, wie man es eben erwartete. Zugegeben, ich bemühte mich prinzipiell jedem gegenüber um Höflichkeit. Egal wie sehr ich sie hasste und ihnen am liebsten ins Gesicht springen würde. Zwar gab ich mich oftmals arrogant und durchaus auch gemein, aber niemals unhöflich. Eigentlich ging ich mit jedem so um, wie er mit mir. Ich brachte jedem individuell so viel Respekt gegenüber, wie er mir. Oder eben nicht. Jedenfalls fuhren meine Eltern vor und stiegen – wie ich es mir gedacht hatte – mit merklich mieser Stimmung aus. Meine reizende Schwester, plus Anhang, im Schlepptau, welche sich nur auf ihr Handy konzentrierte und durch ihre Kopfhörer wahrscheinlich nichts hörte von dem was wir sagten. Besser so. Das Geschleime, besonders von meinem Vater, nervte extrem. Natürlich kam er sofort übertrieben fröhlich und enthusiastisch auf unsere beiden neuen Nachbarn zu und begrüßte sie lautstark. Ciel und sogar René mimten ebenfalls die perfekten Gentlemen. Wahrscheinlich waren sie das gewohnt, da sie ja beide eine eigene Firma besaßen. Beziehungsweise einen Betrieb. Der Begriff 'Firma' war ja genaugenommen nur der Name. Meine Güte, ich war definitiv zu lange auf dieser kaufmännischen Schule gewesen. „Wie lange bleiben Sie denn noch hier, wenn Sie sagen, dass Ihr Aufenthalt hier eher dem Urlaubszwecke dient?“ fragte mein Vater schließlich. Auch ich hatte mich das schon gefragt. Doch ich wollte es gar nicht wissen. Lieber genoss ich so die Zeit mit ihnen. Ciel antwortete nach einem seiner wunderschönen Lächeln. „Ehrlich gesagt haben wir uns schon sehr erholt, dank ihrer Tochter. Also werden wir wohl demnächst wieder nach Paris ziehen.“ Mir blieb die Sprache weg. Ich starrte ihn nur an und überlegte mir innerlich bereits wie ich meinen Eltern erklären sollte, dass ich nach Frankreich ziehen wollte und plante bereits alles Organisatorische in meinem Kopf, was nötig war. Nachdem mein Vater mit seiner endlosen Fragerei fertig war, waren wir wieder in unsere jeweiligen Häuser zurückgekehrt. Ohne ein Wort zu sagen, hatte ich bereits begonnen meine Sachen zu packen. Die Jungs wussten ja von meinen Plänen und waren auch einverstanden, dass ich bei ihnen wohnte. Beziehungsweise bei einem von ihnen – oder abwechselnd – wohnen würde, da sie in Paris getrennt wohnten. Ciel hatte auch gemeint, dass ich nicht allzu viel mitnehmen müsste, da ich mir da ja einfach neue Sachen kaufen könne und an Möbeln etc. bräuchte ich ja logischerweise auch nichts, wenn ich bei ihnen wohnen würde. So kam es also, dass ich nach ein paar Wochen mit zwei fremden Männern in ein anderes Land zog. Weg von all dem Mist hier. Meinen Eltern, meiner Schwester, ihrem Freund, eigentlich meinem gesamten Umfeld. Nein, eigentlich sogar endlich weg von diesem dummem Land. Vielleicht nicht die klügste Entscheidung, da ich die beiden noch nicht lange kannte, aber notfalls hatte ich ja selbst noch Verwandte in der Nähe von Paris, zu denen ich konnte. Wie auch immer. So hatte alles begonnen.

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Tag der Veröffentlichung: 05.11.2016

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