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Kapitel 1

Zwei wunderschöne strahlend weiße Flügel. Das war das erste, woran ich mich in dieser Nacht erinnerte. Alles um mich herum war weiß. Ich war in einem endlos weiterführenden Raum, so schien es mir. Bis vor meinen Augen plötzlich weiße Federn erschienen. Ich erkannte, dass es große Engelsflügel waren. Ein Engel. Vor mir stand ein Engel. Erst dachte ich, ich würde nur träumen, trotz dessen, dass es sich so echt anfühlte. Die eisblauen Augen des jungen Engels trafen das grün meiner. Ich stand einfach nur da, unfähig etwas zu sagen oder mich zu bewegen. Ich versuchte zu erraten, wie alt er wohl war. In Menschenjahren natürlich. Damals wusste ich noch nicht, wie alt Engel sein konnten. Etwa an die Anfang zwanzig schätzte ich ihn damals ein. Ich selbst war erst sechzehn und mit meinen 1,61 gut einen Kopf kleiner als er. Er hatte tiefschwarzes Haar, welches ihm über die Ohren fiel, und war an und für sich relativ blass. Ebenso wie ich. Nur dass ich nicht dieses unglaubliche schwarz, welches bei seinem sonst so in weiß gehaltenem Anzug, den Flügeln und seinem blassen Teint in Kontrast stand, in den Haaren hatte, sondern ein ziemlich unspektakuläres rot-braun. Gut gebaut war er ebenfalls, ganz im Gegensatz zu meinem zierlichen Frauenkörper. Auch er musterte mich mit einem sanften Lächeln auf den Lippen, was mich etwas erröten lies. Wie ich wohl auf ihn, einen so ästhetischen Engel, wirken musste. Dies fragte ich mich, während ich merkte, dass er zum Sprechen ansetzte. Er hatte eine sehr helle Stimmfarbe. Nicht zu laut und nicht leise. Sie war eher … melodisch. Passend für einen Engel. „Mein Name ist Ciel.“ Begann er seinen Satz. Ciel. Das bedeutete 'Himmel' auf Französisch. „Ich bin dein Schutzengel. Darf ich dich etwas fragen?“ Mit leichtem Lächeln schaute er in meine sich weitenden Augen. Immer noch unfähig zu sprechen, nickte ich einfach vorsichtig. Sein Lächeln wurde etwas breiter und nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, fragte er mich, … ob ich nicht auch gerne ein Engel werden möchte. Zu Anfang stand ich erst etwas irritiert da, doch da es sich hierbei ja nur um einen Traum handeln konnte und ja wohl nichts Schlimmes passieren würde, so dachte ich mir, bejahte ich einfach kurzerhand und versuchte ebenfalls ein leichtes Lächeln zustande zu bringen.

 

Als ich morgens blinzelnd von den Sonnenstrahlen, welche in mein Zimmer fielen, geweckt wurde, fiel mir mein Traum wieder ein. Ich lag noch eine Weile da und versuchte mich zu erinnern, ob noch etwas geschehen war, nachdem ich mein erstes Wort mit dem Engel gewechselt hatte. Doch so sehr und so lange ich auch überlegte, weiter fiel mir nichts mehr ein, außer, dass ich danach aufgeweckt wurde von dieser nervenden Sonne. Über den Morgen und die Sonne fluchend, stand ich langsam auf und zog mich widerwillig an. Viel lieber wäre ich noch in meinem schönen warmen Bett geblieben. Ja, ich war kein Frühaufsteher. Vor allem nicht mitten im Winter. Wir hatten Ende Dezember, Weihnachten war vorbei, morgen war Silvester und übermorgen mein Geburtstag. In der Stille hoffte ich, an meinem Geburtstag nicht auch so früh aufstehen zu müssen. Wobei das Wörtchen 'früh' sich bei mir auf zehn Uhr morgens bezog. Meine Eltern hatten Urlaub und meine kleine Schwester und ich Schulferien. Trotzdem ging es bei uns in den Weihnachtsferien immer unglaublich hektisch zu. So ziemlich meine halbe Familie hatte um Weihnachten und Neujahr herum Geburtstag. Zudem waren ja da dann noch die Feiertage an sich. Gerade, als ich vor in unser Wohlzimmer lief, rannte ich beinahe in meine kleine Schwester, welche ein Paket aufgereckt vor meine Nase hielt. Sie redete irgendwas davon, dass es gerade gekommen wäre und an mich adressiert war. Im Gegensatz zu mir, konnte sie nie erwarten ein Paket oder ein Geschenk oder sonst etwas zu öffnen. Langsam nahm ich es ihr ab und ging damit ins Esszimmer, um mir eine Schere zu holen. Das Paket an sich war relativ schlicht und sah nicht großartig besonders aus, bis auf die beiden Engelsflügel, welche auf dem Deckel aufgedruckt waren. Dabei musste ich an ein Paket denken, welches ich einmal an eine Freundin geschickt hatte, auf welchem kleine rosa Herzen abgebildet waren. Noch während ich über mein peinliches Geschenk nachdachte, nervte meine Schwester schon wieder von der Seite, dass ich es endlich öffnen sollte. Als ich mich daran machte, fragte ich mich, ob das wohl ein verspätetes Weihnachtgeschenk war oder ein zu frühes Geburtstagsgeschenk. Und es stand nicht einmal ein Absender darauf. Lächelnd dachte ich daran, dass es womöglich eine Bombe sein könnte. In diesem Moment wurde mir wieder bewusst, dass ich definitiv zu viele Krimis las. Als ich das Paket öffnete, fand ich darin eine Menge Watte und in der Mitte eine kleine silberne Schatulle. Ich holte sie heraus und fand darin ein wunderschönes silbernes Armband. Daran waren kleine silberne Anhänger befestigt. Ein Anhänger bestand aus – und ich wunderte mich nicht einmal mehr – zwei kleinen Engelsflügeln. An einem anderen war ein kleines Herz mit einem kleinen Stein darin befestigt und die restlichen vier Anhänger bestanden aus den Buchstaben Y – U – K – I. Da ich seit einem Jahr japanisch lernte und mich für das Land schon seit meiner Kindheit interessierte, wusste ich, dass 'Yuki' ein japanischer Name war und Schnee bedeutete. Schnee. Davon hatten wir dieses Jahr schon wirklich genug gehabt. Dafür in den letzten Jahren kaum etwas davon gesehen. Noch bevor meine neugierige Schwester mir mein Geschenk wegnehmen und selbst begutachten konnte, packte ich es wieder in die kleine Schatulle und verschwand damit in mein Zimmer. Dort angekommen, setzte ich mich auf mein Bett und sah mir das Armband noch einmal genauer an. Wer hatte mir das geschenkt? Und warum hatte er anonym bleiben wollen. Etwas skeptisch schaute ich mir das Silberarmband noch einmal genauer an. Dann bemerkte ich etwas. An der Hinterseite der Engelsflügel war etwas eingraviert. Es war sehr klein, doch erkennbar. 'Cadeau d'un ange' stand dort geschrieben. Meine französisch Kenntnisse ließen wirklich zu wünschen übrig, da ich erst seit knapp einem halbem Jahr Französischunterricht hatte. Doch meines Wissens nach bedeutete der Satz soviel wie 'Geschenk eines Engels'. Ich dachte wieder an meinen Traum von letzter Nacht, aber das konnte damit ja nichts zu tun haben. Es sei denn, jemand hatte sich als Engel verkleidet, wäre in unser Haus eingebrochen und hätte mir vorgegaukelt, ich würde träumen. Aber so etwas würde doch keiner tun, … oder? Trotz aller Skepsis war es ein wahnsinnig schönes Armband. Nachdem ich es noch weitere fünf Minuten angestarrt hatte, überwand ich mich dazu, es anzuziehen. Doch gerade in dem Moment, als ich es um mein Handgelenk streifte, fing es an fürchterlich hell zu leuchten. Erst dachte ich, es würde vielleicht nur das Licht widerspiegeln, doch dann wurde plötzlich alles weiß um mich herum, mir wurde schwindelig und ich verlor langsam die Orientierung …

 

Ich hatte die Augen zugekniffen. War ich noch in meinem Zimmer? Ich hörte um mich herum leise Geräusche, welche sich wie Flüstern anhörten. Waren hier Leute? Und wo war ich überhaupt? Es fühlte sich so an, als würde ich schweben. Aber das war vollkommen unmöglich. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Ich erkannte einen in weiß und -goldtönen gehaltenen Raum. Vor mir stand eine Art Thron und darauf saß ein ziemlich verwirrend aussehender älterer Mann mit einer goldenen Krone und sehr großen … Flügeln?! Ich riss die Augen auf und sah mich um. Rings um mich herum waren Engel versammelt. Und alle starrten mich an als wäre ich ein Außerirdischer. Ich schaute auf den Boden und bemerkte, dass ich tatsächlich knapp über dem Boden schwebte. Langsam sank ich hinunter, bis meine Füße den weißen Marmorboden berührten. Im Saal war es mittlerweile sehr still geworden. Etwas ängstlich hob ich meinen Blick wieder etwas und sah, dass der Mann vor mir sich erhoben hatte und auf mich zukam. Ich blieb wie angewurzelt stehen und fragte mich, ob das gerade wirklich alles passierte. Als der Mann vor mir stand und mich misstrauisch ansah, fragte er mich, wie ich hierhergekommen war. Ich hätte ihm ja wirklich gerne geantwortet, doch ich wusste es selbst nicht. Das einzige, was ich getan hatte war, dieses Armband anzuziehen und … Das Armband, natürlich. Als ich es ansah, weiteten sich nicht nur die Augen des Mannes vor mir, sondern auch die, der anderen Engel im Raum. „Wo hast du das her?!“ rief einer der anderen Engel mir zu. Während ich nach einer halbwegs glaubwürdigen Antwort suchte, betrat noch ein Engel dem Saal. „Ich habe es ihr gegeben.“ In diesem Moment starrten ihn alle an. Insbesondere ich. Ciel. Er hatte es mir gegeben? Dann hatte er mir dieses Paket geschickt. Aber dann war mein Traum ja gar kein Traum gewesen. Ich hatte ihn, meinen Schutzengel, heute Nacht tatsächlich getroffen. Und ich hatte wirklich … gesagt, dass ich ein Engel werden möchte. Meine Güte, dann war dieses einzelne einfache Wort von mir für all das hier verantwortlich? Würde ich jetzt zu einem Engel werden? Wenn ja, wie sollte das gehen? Würde dieser Mann, der offensichtlich hier der Engelskönig oder etwas Ähnliches zu sein schien, irgendeine magische Formel sprechen und mir würden Flügel wachsen? Das alles kam mir so unwirklich vor. Genaugenommen kam mir da mein Traum-welcher-kein-Traum-war noch realistischer vor. „Ciel, … du? Weswegen hast du diesem Menschen, auf welchen du Acht geben solltest, ein Bracelange gegeben?“ fragte der etwas erschütterte König. Aber ein Bracelange? Das war das also. Ich konnte nur vermuten, dass es aus Wörtern, wie 'bracelet' und 'ange' zusammengesetzt wurde. Und wie ich festgestellt hatte, konnte man damit wohl ins Engelsland, oder wie man das hier nannte, reisen. Noch während alle meinen Schutzengel anstarrten, wandte dieser sich an mich und sprach in die Runde: „Weil sie ein einzigartiger Mensch ist.“ Begann er mit demselben sanften Lächeln wie heute Nacht. „Sie ist eine unter Tausenden. Ein unglaublich reiner und uns Engeln zugewandter Mensch. Und darum möchte ich, dass auch sie zu einem der unseren wird.“ Damit blickte er wieder den König an. Diesmal mit etwas ernsterem Gesicht. Während dieser zu überlegen schien, was er wohl entscheiden würde, blickte ich immer noch recht verwirrt in der Gegend herum. Das war mir alles zu viel auf einmal. Ich war zwar intelligent und verstand, was hier vor sich zu gehen schien und ebenso hatte ich schon vor dieser Nacht an Engel geglaubt, aber jetzt stand ich plötzlich wegen einem magischen Armband im Engelsland und sollte einer von ihnen werden? Moment mal. Musste ich als Engel nicht auch auf einen Menschen aufpassen? Dazu hatte ich eigentlich keine so große Lust. Ständig jemandem hinterher zu rennen und aufzupassen. Ich konnte es ja schon nicht leiden, für meine kleine Schwester mal einen Tag lang den Babysitter zu spielen. „Nicht ganz.“ Dieser Satz galt mir. Und er kam von dem Engel vor mir, von Ciel. Allerdings verstand ich nicht ganz, was er meinte. Ich hatte doch gar nichts gesagt. Er setzte seinen Satz mit einem Lächeln fort. „Es stimmt nicht ganz, dass Engel nur auf Menschen Acht geben müssen. Einige zumindest. Andere sind die meiste Zeit hier im Observatorium und wieder andere kümmern sich um Dämonen auf der Erde. Es gibt also drei verschiedene Richtungen, welche sich die Auszubildenden Engel aussuchen können und auf welche sie sich nach der Ausbildung spezialisieren. Es ist ein wenig so wie in deiner Welt in der Schule, wenn man sich irgendwann für einen Beruf entscheiden muss. Nur dass hier in gewissem Sinne nur drei verschiedene zur Auswahl stehen. Wenn man sich allerdings den Weg eines in deiner Welt sogenannten Exorzisten wählt, gibt es wieder verschiedene Bereiche, zum Beispiel die Waffe auf die du dich spezialisierst. Es ist im Grunde gar nicht so kompliziert, wie es sich für dich jetzt vielleicht anhören muss.“ Mit einem weiteren Lächeln beendete er seine Leerstunde. Ich dagegen stand mit offenem Mund da. Weniger dessen, was er eben sagte, mehr darum, gerade weil er es gesagt hatte. Ich hatte nicht ein Wort über meine Frage verloren. Konnten Engel etwa Gedanken lesen? Ein leises Kichern huschte über die Lippen meines Schutzengels. Verwirrt sah ich ihn an. Er wiederum antwortete mir abermals auf meine nicht gestellte Frage. „Nun ja, in gewissem Sinne schon. Ein Schutzengel kann die Gedanken des Menschen lesen, auf den er Acht gibt. Allerdings nur, wenn die beiden eng miteinander verbunden sind. Und das kommt selbst unter Engeln selten vor.“ Er schaute mir wieder mit diesen eisblauen wundervollen Augen in die meinen. „Ich sagte ja, dass du etwas Besonderes bist.“ Meinte er noch mit einem seiner zauberhaften Lächeln. „So so …“ begann der König recht theatralisch wirkend. „Dann ist dieses Mädchen tatsächlich eine mit uns verwandte Seele. Nun, in Anbetracht dessen … wäre es wohl nicht verkehrt, sie zu einem von uns zu machen.“ Abermals weiteten sich meine Augen. „Selbstverständlich nur, wenn sie auch einverstanden ist. Ansonsten würden wir dir deine Gedanken an diesen Ort hier löschen und dich wieder nach Hause schicken. Deinen Schutzengel würdest du natürlich behalten. Oder möchtest du zu uns gehören?“ „Das habe ich schon übernommen.“ hörte ich die Stimme des eben genannten Engels. „Ich habe sie schon gefragt, ob sie ein Engel werden möchte. Nachdem sie bejaht hatte, habe ich ihr dieses Armband geschenkt.“ Ja richtig, ich hatte ja bereits zugestimmt. Allerdings dachte ich da auch, dass das nur ein Traum sei. Aber in der Wirklichkeit … Ich – ein Engel? Nun, einen gewissen Reiz hatte es schon. Wenn ich es mir so recht überlegte, wollte ich schon immer einmal selbst ein Engel sein, mit Engelsflügeln und allem drum und dran. Doch hätte ich mir nie träumen lassen, dass das tatsächlich einmal der Fall sein könnte. War ich dessen denn überhaupt gewachsen? Konnte ich ein guter Engel werden? Ich spürte eine sanfte Hand, welche sich auf meine Schulter legte. Als ich den Kopf hob, sah ich in zwei wunderschöne blaue Augen, welche mir zu verstehen gaben: Du schaffst das. Ich glaube an dich. Richtig, ich hatte schon wieder vergessen, dass er ja meine Gedanken lesen konnte. Aber er hatte recht. Ich konnte das schaffen. Ich würde ein fantastischer Engel werden. Wenn er, ein Engel, an mich glaubte, konnte ich das auch. Vorsichtig nickte ich dem König zu. „Es stimmt was Ciel sagt. Ich möchte ein Engel werden.“

 

Unterricht. Ich musste doch tatsächlich sogar hier in den Unterricht. Gestern hatte Ciel mir noch mein Zimmer im Observatorium gezeigt und meinte, dass ich ab heute in den regulären Unterricht müsste, wie die anderen Auszubildenden Engel auch. Wenn ich das recht verstanden hatte, war das eine völlig normale Schulklasse, nur eben, dass sie irgendetwas über Engel lernten. Anscheinend gab es sogar eine eigene Sprache in der man schrieb. Sprechen taten sie dieselben Sprachen wie wir Menschen. Je nach Ort gab es andere Sprachen, wie bei uns in den verschiedenen Ländern. Nur schreiben tat man in 'Languel'. Was auch immer das sein sollte. Als ich mit Ciel zusammen den Klassenraum betrat, war ich schon etwas nervös. Doch als ich die Klasse sah, bemerkte ich, dass sie wirklich wie eine vollkommen normale Schulklasse aussah. Mit Ausnahme, dass sie alle kleine Flügel hatten. Anscheinend bekommt man größere Flügel, sobald man ein richtiger Engel war. Nur ich hatte natürlich keine. Ciel hatte mir allerdings versichert, dass auch ich welche bekommen würde, sobald ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte. Und die schien offensichtlich nicht sehr lange zu dauern. Denn meines Wissens nach waren die Prüfungen schon in den nächsten Tagen.

Auf die Frage hin, wie ich den ganzen Unterrichtsstoff in nur ein paar Tagen nachholen sollte, hatte Ciel lediglich kurz gelacht und gemeint: „Mach dir darüber keine Sorgen. Für dich wird das sicherlich nicht schwerer als für die anderen.“ Ich hatte zwar keine Ahnung, was er damit gemeint hatte, aber ich ließ es einfach mal auf mich zukommen. Als die Lehrerin Ciel sah, begrüßte sie ihn wie einen alten Freund. Offensichtlich war Ciel früher auch bei ihr ein Schüler gewesen. Trotz dessen, behandelte sie ihn recht formell. Ich allerdings würde es auch nicht anders tun, wenn ich ihn nicht so gut kennen würde. In gewissem Sinne zumindest. Immerhin war er schon mein ganzes Leben lang bei mir. Ich hätte ihn gerne schon früher persönlich kennengelernt. Als Ciel das Klassenzimmer wieder verließ, wandte die Lehrerin sich an mich. Bei der Frage nach meinem Namen, zögerte ich erst kurz. Ciel hatte mir erklärt, dass ich einen Angenom bräuchte. Eine Art Pseudonym. Da er gewusst hatte, welchen Namen ich am liebsten hätte, da er ja meine Gedanken lesen konnte, hatte er mir mein Armband gleich mit meinem Namen geschenkt. „Mein Name ist Yuki.“ antwortete ich ruhig und gelassen. Nachdem ich mich auf einen Platz in der letzten Reihe gesetzt hatte, drehte sich der Junge vor mir um und meinte: „So, … dann stimmt es also, dass ein Mensch hier ist. Ich wusste gar nicht, dass jetzt schon Menschen hierher dürfen.“ Sein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören. Trotzdem ignorierte ich ihn und meinte mit einem Lächeln: „Freut mich auch dich kennen zu lernen.“ Daraufhin grinste er nur und drehte sich wieder um. Hoffentlich gab es hier auch etwas nettere Engel Azubis. Plötzlich spürte ich ein leichtes Tippen an meiner rechten Schulter. Als ich mich zur Seite drehte, sah ich einen recht schüchtern wirkenden Engel mich anlächeln. Ich erwiderte es und meinte auch zu ihm, dass es schön sei ihn kennen zu lernen.

Er nickte und flüsterte mir seinen Namen zu. Armin. Ein schöner Name. Und auch er schien nett zu sein. Zumindest wesentlich netter als der junge Herr vor mir. Als der Unterricht begann, verstand ich auch, warum Ciel meinte, dass es nicht sonderlich schwer für mich werden würde. Fast der gesamte Unterricht bestand aus Religionsunterricht. Was hatte ich auch anderes erwartet? Dass sie die Geschichte der Länder in meiner Welt redeten? Der Unterricht hier war allerdings sehr interessant. Es ging nicht ausschließlich allgemein um Religion, sondern auch um verschiedene Engel und auch Dämonen. Ein Glück, dass ich mich schon immer sehr für dieses Thema interessiert hatte und selbst schon einiges darüber wusste. Diese Prüfung würde ein Kinderspiel werden. Das dachte ich zumindest, bis ich das erste Arbeitsblatt bekam. Ich hatte völlig vergessen, was Ciel mir über die Schrift gesagt hatte. Dass die Engel eine eigene hätten. Und ich konnte nicht ein Wort lesen. Was auch zur Folge hatte, dass ich das Blatt erst mal ziemlich ratlos anstarrte. Bis mir auffiel, dass die Buchstaben, oder besser die Zeichen, in einer wunderschönen Gold schimmernden Schrift erstrahlten. Das war wirklich eine Engelsschrift. Nur leider konnte ich sie nicht lesen. Plötzlich nahm mir jemand mein Blatt weg. Armin. Er hatte wohl verstanden, dass ich es nicht lesen konnte, denn er übersetzte es mir in meiner Sprache, indem er es klein über die Zeichen schrieb. Dankend nahm ich das Blatt wieder an mich. Beantworten konnte ich die Fragen jetzt zwar, nur würde mir das in der Prüfung nicht weiterhelfen. Womit feststand, dass ich innerhalb von drei Tagen eine Sprache lernen musste. Das schien auch dem arroganten Kerl vor mir bewusst zu sein, denn der lachte nun schadenfroh darüber. Na warte, dachte ich. Ich war zwar kein Genie, aber für Sprachen hatte ich mich schon immer interessiert. Ich würde das schon hinbekommen.

 

Und darum saß ich nach dem Unterricht auch den ganzen Tag an meinem Schreibtisch und lernte. Bis es an meiner Tür klopfte. Ich schaute kurz auf die Uhr, um mit Schrecken zu bemerken, dass es bereits nach Mitternacht war. Mit dem Gedanken, bald ins Bett gehen zu müssen, öffnete ich meine Tür und schaute geradewegs in zwei mir nur all zu bekannte blaue Augen. Mit einem Lächeln entschuldigte er sich, so spät noch zu stören. Ein leichtes Kopfschütteln meinerseits und ich bat ihn hereinzukommen. Elegant setzte er sich auf mein viel zu großes Himmelbett und holte etwas aus seiner Tasche. Ich dagegen konnte gar nicht aufhören ihn anzustarren. Mit dem halboffenen weißen Shirt, seinen wundervollen Flügeln und seiner natürlichen Schönheit war er die Ästhetik pur. Irgendwie hatte er eine völlig andere Ausstrahlung als die Engel Azubis, aber auch als die anderen Engel, welche ihre Ausbildung bereits abgeschlossen hatten. Vielleicht lag das aber auch einfach nur an der Verbundenheit zwischen Schutzengel und Mensch, dass ich so etwas wahrnahm. Ich fragte mich, ob das wohl enden würde, sobald auch ich ein Engel war. Würden wir dann noch Kontakt haben? Das hoffte ich zumindest. Ich mochte Ciel sehr. Doch für ihn war ich vermutlich nicht mehr als ein einfacher Mensch, welcher in seiner Engelsausbildung steckte. Soweit man das als normal bezeichnen konnte. Dabei fiel mir wieder ein, dass er ja meine Gedanken lesen konnte. Doch er sagte diesmal nichts dazu. Er hielt mir einfach eine kleine Schatulle entgegen, ähnlich wie die, in der mein Armband war. Ich trat einen Schritt näher zu ihm und nahm den kleinen Gegenstand an mich. Als ich ihn öffnete, fand ich darin eine Kette. Eine wunderschöne silberne Kette, wohl aus demselben Material wie mein Armband. Und auch hier war als Anhänger ein Engelsflügel angebracht. Allerdings nur einer, und auch etwas größer, als bei dem Armband. „Ich hab den anderen.“ meinte Ciel und zog eine weitere Kette aus seiner Tasche und machte sie sich um. Danach half er mir meine anzuziehen. Ich hob meine hüftlangen Haare hoch und gewährte ihm so, die Kette an meinen zierlichen Hals anzubringen. Als seine Hände meine Haut berührten, zitterte ich am ganzen Körper. Sie waren kühl, aber nicht kalt. Und unglaublich sanft. Ich spürte, wie er zart meinen Hals entlang strich und mich dann sanft von hinten umarmte. Auch seine Flügel schlossen sich um uns. Sie waren wundervoll weich und warm. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken als er seinen Kopf auf meine Schulter legte. Normalerweise vertraute ich nie so schnell anderen Leuten, die ich nicht kannte. Aber erstens war er ein Engel und zweitens war er ja schon immer bei mir gewesen, oder? Er kannte mich also schon so lange … Ich wünschte, ich hätte ihn schon früher kennen gelernt. Plötzlich verspürte ich eine furchtbare Müdigkeit. Ich hatte wohl doch zu lange am Lernen gesessen. Aber ich konnte doch jetzt in seinen Armen nicht einfach einschlafen. Trotz allem wurden meine Augen immer schwerer. Bis sie schließlich zufielen.

 

Als ich die Augen aufschlug, freute ich mich erstmals, nicht von der Sonne geweckt worden zu sein, doch im nächsten Moment erstarrte ich auch schon wieder. Ich war doch tatsächlich in Ciels Armen eingeschlafen und der hatte mich dann wohl ins Bett gelegt. Aber … warum lag er nun neben mir? Sein Gesicht war so nah an meinem. Nur Millimeter trennten uns noch voneinander. Ich hörte ihn gleichmäßig und ruhig atmen. Unsere Körper waren fest miteinander verschlungen. Mich in seinen Armen haltend kam er mir so friedlich vor. Er war so schön warm … Und er wachte gerade auf. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Daher stellte ich mich einfach wieder schlafend. Mein Gesicht war sicherlich puterrot. Hoffentlich bemerkte er es nicht. Immerhin waren die Vorhänge meines Fensters noch zugezogen und nur wenig Licht drang zu uns ins Zimmer. Ich merkte, wie er mich noch etwas fester in die Arme nahm und mich leicht auf die Stirn küsste. Erst war ich etwas verwirrt, doch dann tat ich so als würde ich gerade erst aufwachen. Leicht blinzelnd, schaute ich ihm in die blauen Augen. „Guten Morgen.“ meinte er gelassen mit diesem hinreisenden Lächeln. Ich dagegen stotterte nur irgendetwas mit gesenktem Blick zusammen. „G – guten Morgen …“ Er kicherte leise und setzte sich dann auf. Ich tat es ihm gleich um fragte nun doch, weshalb er neben mir geschlafen hatte. Als er mir daraufhin erklärte, dass ich in seinen Armen eingeschlafen war und ich ihn nicht losgelassen hatte, nachdem er mich ins Bett gelegt hatte, stieg mir abermals die Röte ins Gesicht. Woraufhin er mich nur mit einem Lächeln anschaute. Ich dachte daran, dass es wirklich schön war, neben ihm aufzuwachen und musste auch lächeln. Sonst weckte meine Mutter mich immer auf. Und zwar nicht gerade einfühlsam. Langsam weiteten sich meine Augen als ich bemerkte, dass ich hier war. Und nicht zu Hause. Natürlich war es toll hier, aber … es war meinen Eltern mit Sicherheit schon aufgefallen, dass ich nicht da war. Bei dem Gedanken legte Ciel mir eine Hand auf die Schulter und nahm mir so den ersten Schreck. „Es ist so … Wenn du möchtest, dann löschen wir die Erinnerungen aller Leute, die jemals mit dir zu tun hatten.“ Was? Das wollte ich auf keinen Fall. Noch bevor ich verneinen konnte, fuhr Ciel schon fort. „Oder du könntest ihnen einen Brief schreiben. Das ist zwar nicht die feinste Art, um zu sagen, dass du nicht mehr zu ihnen kommst, aber … dann wüssten sie wenigstens, dass du nicht entführt worden bist.“ Das war eine äußerst seltsame Vorstellung. Was sollte ich denn schreiben? Hallo Mama, ich bin jetzt ein Engel Azubi und wohne jetzt im Observatorium? Wohl kaum. Aber etwas anderes blieb mir wohl nicht übrig. Ich hatte mich entschieden hier zu bleiben. Zu Hause hielt mich ohnehin nicht viel. Außer meinen wenigen Freunden vielleicht. Viel über meine Vergangenheit wollte ich eigentlich nicht weiter nachdenken. Ich wollte neue Erinnerungen schaffen. Mit Ciel und Armin und meinetwegen auch mit meinem arroganten Mitschüler. Ciel kicherte neben mir. „Eine gute Einstellung.“

 

Nachdem er wieder auf sein Zimmer gegangen war, machte ich mich auf den Weg in mein Klassenzimmer. Wahrscheinlich war mein Gesicht immer noch etwas errötet, denn als ich mich auf meinen Platz setzte, begrüßte mein lieber Vorsitzer mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Was hast du denn Süße? Ist dir unterwegs ein heißer Kerl vorbeigelaufen und dir ist klar geworden, dass wir Engel viel cooler sind als Menschenjungen?“ Mit einem Ruck starrte ich ihn an. „Was fällt dir ein so was zu sagen?! Und nenne mich nie wieder Süße, kapiert!“ Ein paar unserer Mitschüler drehten sich zu uns um und fingen an zu lachen. Einer meinte sogar, dass es gut sei, dass der Kerl auch mal was abbekommen hätte. Daraufhin wurde dieser dafür umso ruhiger und drehte sich wieder um. Sein Grinsen war ihm auch vergangen.

 

Nach dem Unterricht hatte ich mir eigentlich vorgenommen, mich wieder in mein Zimmer zu setzen und zu lernen. Doch dann hörte ich leise meinen Namen hinter. Als ich mich umdrehte, erkannte ich Armin. Er schien recht nervös zu sein, blickte auf den Boden und stotterte irgendetwas vor sich hin. Leider verstand ich kein Wort. Als ich darum bat, es zu wiederholen, hob er den Kopf, welcher inzwischen furchtbar rot war und meinte etwas lauter: „Ha – hast du Lust mit mir heute Abend zu der Party zu gehen?“ Auf meine etwas verwirrte Reaktion, fiel ihm auf, dass ich von einer Party gar nichts wusste. Er meinte, da heute Silvester sei, würde im Saal eine Feier stattfinden, auf die alle Engel und Azubis eingeladen waren. „Silvesterparty … Silvester …“ murmelte ich vor mich hin. Da war doch irgendwas. Plötzlich fiel es mir wieder ein. „Natürlich! Ich habe morgen Geburtstag!“ Armins Augen weiteten sich. Da fiel mir auf, dass ich ihn gerade angeschrien hatte. Ich entschuldigte mich, doch er starrte mich nur weiter an. Bis er anfing breit zu grinsen. „Das ist doch perfekt! Dann können wir auf der Party in deinen und Ciels Geburtstag hinein feiern!“ Ciels Geburtstag? Er hatte am selben Tag wie ich Geburtstag? „Heißt das, du gehst mit mir zu der Party?“ vernahm ich eine leise Stimme neben mir. Kurzerhand bejahte ich und entschuldigte mich.

 

Ich stürmte geradezu auf Ciels Zimmer zu. Als ich die Tür aufriss, fing ich auch sofort an zu reden. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du morgen Geburtstag hast?! Wie könnten doch zusammen feiern. Zumindest wenn du Partys magst. Heute Abend ist ja auch diese Silvesterparty und …“ Ich hörte auf zu reden als mir bewusst wurde, dass ich wohl besser hätte anklopfen sollen. Ciel stand mit ziemlich überraschtem Gesichtsausdruck und mit nichts weiter als ein paar Shorts vor mir. Sofort wurde ich rot und entschuldigte mich stotternd. „Ich … ich, das tut mir … wirklich leid. Ich wollte nicht …“ Noch während ich versuchte einen anständigen Satz heraus zu bekommen, drehte ich mich um und wollte das Zimmer wieder verlassen. Jedoch wurde ich von einer Hand, welche mich zurückhielt, aufgehalten. „Ist schon in Ordnung.“ Begann er mit dieser wundervoll sanften Stimme. „Es macht mir nichts aus, wenn du mich so siehst.“ Ein Schauer lief mir den Nacken hinunter. Warum sagte er so etwas? Warum war er mir gegenüber so zutraulich, während ich nicht einmal wusste, dass wir am selben Tag Geburtstag hatten. Noch immer drehte ich mich nicht um. Ich wollte schon antworten, dass es aber mir etwas ausmachte, doch damit würde ich lügen. Daher sagte ich nur: „Tut mir leid, dass ich einfach in dein Zimmer geplatzt bin. Wir sehen uns dann später auf der Party, ja?“ Und mit diesen Worten verließ ich den Raum, ohne mich noch einmal umzudrehen.

 

Für die Silvesterparty hatte ich mich nicht großartig herausgeputzt. Ich hatte lediglich ein weißes Kleid mit ein paar Verzierungen angezogen. Weiß schien mir passend, da ich bisher noch kaum einen Engel, bis auf ein paar Azubis, gesehen hatte, die großartig eine andere Farbe trugen. Als ich den Saal betrat, in welchem ich schon gestern hier angekommen war, breitete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus. Partys hatte ich noch nie sonderlich gemocht. Aber das hier war nun wirklich keine Party. Eher eine formelle Feier. Die meisten männlichen Engel und selbst die Azubis hatten Anzüge an – überwiegend weiß und beige – die weiblichen Gäste trugen die verschiedensten Kleider und Schmuck und alles in allem war es wirklich wundervoll. Das erinnerte mich irgendwie an meine Abschlussfeier meiner alten Schule. Nur dass wir da hauptsächlich vor der Bühne oder im Klassenzimmer gesessen hatten und dem Lehrer zugehört hatten. Das hier dagegen war mehr eine Art Ball. Fasziniert über das ganze Geschehen und darüber, dass Engel noch schöner sein konnten, als für gewöhnlich, merkte ich, wie Armin auf mich zukam. Auch er hatte einen weißen Anzug an, worin er wirklich niedlich aussah, allein aus dem Grund, dass das so gar nicht sein Stil war. Ich lächelte ihn freundlich an als er mich fröhlich begrüßte. Als jedoch ein weiterer Engel den Raum betrat, schenkte ich Armin keinerlei Aufmerksamkeit mehr. In einem edlen weißen Anzug sah er sogar noch ästhetischer aus als sonst ohnehin schon. Wobei ich mich wirklich fragte, ob das überhaupt noch möglich war. Mit diesem zauberhaften Lächeln, welches ich so sehr liebte, kam auch er zu uns und begrüßte mich mit einem flüchtigen Handkuss und meinen Begleiter mit einer einfachen und höflichen, wenn auch etwas distanzierten, Begrüßung. Danach wand er sich wieder voll und ganz mir zu. Dass ich dabei Armin völlig vernachlässigte, vergaß ich kurzerhand. Dieser war aber wohl irgendwann gegangen, nachdem er gemerkt hatte, dass ich ihn ignorierte. Im Nachhinein tat mir das auch schrecklich leid. Allerdings hatte ich das überhaupt erst viel später gemerkt. Ciel und ich verbrachten die ganze Nacht zusammen. Und damit meinte ich die ganze Nacht. Auf der Party hatte er keinem anderen außer mir Beachtung geschenkt. Wir hatten eine Weile lang getanzt, uns ein wenig unterhalten, jedoch nicht besonders viel. Ciel war wohl nicht unbedingt der redegewandte Typ. Wobei auch ich selbst meistens sehr introvertiert war. Mit Ciel allerdings hatte ich das Gefühl, dass ich mit ihm über alles reden konnte. Was auch anders gar nicht möglich gewesen wäre, da er ja meine Gedanken lesen konnte. Wobei mich das nicht störte. Ich hatte keine Geheimnisse vor ihm. Ich fragte mich jedoch, woran es lag, dass ich so vertraut mit ihm war, obwohl ich ihn erst seit ein paar Tagen persönlich kannte.

 

Um Mitternacht hatten wir letztendlich noch mit den anderen Engeln und Engel Azubis in unseren Geburtstag hinein gefeiert. Ciel war zwanzig geworden, wie ich im Nachhinein noch erfahren hatte.

Und nachdem uns alle gratuliert hatten, waren wir zusammen auf mein Zimmer gegangen. Ciel meinte, dass er mich nur noch dort hin begleiten wolle, dass er jedoch auch bleiben wollte, merkte ich erst nachdem er hinter sich die Tür geschlossen hatte. Etwas irritiert sah ich ihn an. Er jedoch kam mit seiner immerwährenden Gelassenheit lächelnd auf mich zu und umarmte mich abermals. Diesmal jedoch von vorne. So konnte auch ich meine Arme um seinen schlanken und muskulösen Körper gleiten lassen. Nachdem wir eine Weile so dagestanden hatten, legte er mich vorsichtig ins Bett und gesellte sich anschließend zu mir. Wie sehr ich seine Nähe doch liebte …

Kapitel 2

Am nächsten Morgen wurde ich glücklicherweise wieder nicht von der Sonne, sondern von einem sanften Kuss auf die Stirn geweckt. Dieses Mal war er sogar vor mir aufgewacht. Normalerweise konnte ich nie besonders lange schlafen. Aber neben ihm war das ganz anders. Es war wirklich schön, aufzuwachen und in diese wunderschönen blauen Augen zu blicken. Noch dazu, wenn mich jene Person in den Armen hielt. Doch nach diesem wundervollen Erwachen fiel mir etwas Fürchterliches auf. „Ciel … heute sind die Prüfungen.“

 

Im Klassenraum angekommen, saß ich voller Anspannung auf meinem Platz. Eigentlich hatte ich mir ja vorgenommen, die paar Tage hierfür zu lernen. Doch letztendlich wurde mir bewusst, dass ich lediglich einen einzigen Tag die Sprache gelernt hatte. Die konnte ich jetzt zwar einigermaßen, jedoch hatte ich mich nicht einen Tag mit dem Thema beschäftigt. Kurz um: Ich konnte die Sprache gerade so und hatte keinen Plan, worum es in der Prüfung ging.

 

Als ich den Klassenraum wieder verließ, fiel mir sprichwörtlich ein Stein vom Herzen. Diese Prüfung war ein Witz gewesen. Die besagten Themen hatte ich entweder selbst schon Jahre zuvor im Religionsunterricht gehabt oder hatte mich schon persönlich damit beschäftigt. Wenn ich in dieser Prüfung durchfallen würde, würde ich mich höchstpersönlich beschweren gehen. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war das, was Armin mir nach jener Prüfung sagte. „Erste Prüfung?!“ Fing ich abermals an, ihn anzuschreien. „Was meinst du mit erste Prüfung? Jetzt sag mir nicht, dass es noch eine gibt.“ Daraufhin senkte Armin schüchtern den Kopf und meinte leise, dass es sogar noch zwei Prüfungen geben sollte. Als ich jedoch erfuhr, worum es in besagten Prüfungen ging, wusste ich wirklich nicht mehr weiter.

 

„Flugprüfung?“ Waren meine ersten Worte, als ich Ciels Zimmer abermals, und diesmal mit vorher anzuklopfen, betrat. Trotz dessen, dass ich ihm eine ganze Weile vorwarf, dass er mir nichts davon gesagt hatte, blieb er wie üblich ruhig und lächelte mich seelenruhig an. „Zu deinem Geburtstag würde ich dir gerne etwas schenken“ fing er mit derselben sanften Stimme wie sonst auch, an zu reden. „Ciel … nichts für ungut, aber ich bin gerade wirklich nicht in Geburtstagsstimmung.“ Doch noch während ich ihm ins Wort fiel, kam er zu mir und hauchte einen Kuss auf die Kette, welche er mir zuvor geschenkt hatte. Als ich ihn schon fragen wollte, was das sollte, meinte er plötzlich, dass ich einfach ruhig sein und abwarten solle. Richtig. Die Nummer mit dem Gedankenlesen. Also wartete ich einen Moment.

 

Als ich Mittags auf den äußeren Hof trat, auf welchem die Flugprüfung stattfinden sollte, starrten mich alle an. Auch Armin bekam den Mund nicht mehr zu, nachdem ich mich neben ihn in die Reihe gestellt hatte. „W – wieso hast du Flügel?“ Das waren die ersten Worte, nachdem er wieder zu sich gekommen war. Während ich grinste, kam auch mein lieber Vorsitzer, Estelle, auf den Platz und meinte völlig gelassen, ohne sein übliches Grinsen, aber dennoch mit einem leichten Sarkasmus im Unterton, dass er gehofft hatte, wenigstens in dieser Prüfung besser als ich zu sein. Entweder war er heute nicht gut drauf, wegen meiner Standpauke von letztem Mal, oder weil er ein paar Punkte weniger in der vorigen Prüfung gehabt hatte als ich. Kurz vor der Flugprüfung hatten wir unsere Ergebnisse erhalten, und nach mir war Estelle Klassenbester. Trotzdem hatte er sich so darüber aufgeregt, dass ich, ein Mensch, besser war als er, ein schön lange übender Engel Azubi.

 

Die Flugprüfung bestand darin, dass jeder einzeln durch drei sehr hoch aufgestellte Ringe fliegen sollte und nachdem wir den letzten Ring passiert hatten, ein Päckchen, welches hoch oben, neben dem letzten Ring, aufgehängt war, holen sollten und dann so elegant wie möglich wieder zu Boden kamen. Kurz bevor die Prüfung begann, meinte Estelle, welcher zu meiner rechten stand, mit seinem üblichen Grinsen: „Immerhin habe ich schon lange fliegen trainiert. Du dagegen bist noch nie geflogen!“ Ich machte mir zwar nichts aus dem, was er mir gesagt hatte, aber als ich ihn fliegen sah, war ich wirklich beeindruckt. Er flog unglaublich elegant und exakt. Man hatte wirklich das Gefühl, er würde schon ewig fliegen. Mit einem stolzen Lächeln gesellte er sich wieder in die Reihe. Nachdem ich jedoch dran gewesen war und mich wieder zurückstellt hatte, kochte er schon beinahe vor Wut. Woher sollte er auch wissen, dass Ciel mir gestern fliegen beigebracht hatte?

Allerdings hatte Ciel mir auch gesagt, dass meine Flügel nach der Prüfung wieder verschwinden würden. Zumindest solange, bis ich ein richtiger Engel war.

 

Nachdem alle an der Reihe waren, sagte unsere Lehrerin uns, dass wir nun unsere Päckchen öffnen sollten. Ich fand darin eine wunderschöne Kette mit einem goldenen Mond als Anhänger. Engel legten offenbar viel Wert auf Schmuck. Danach erklärte unsere Lehrerin uns, dass diese Ketten Teil der dritten Prüfung, der Schnitzeljagd, wie sie es nannte, wäre. Wir sollten die Person finden, die denselben Anhänger hatte und mit ihm ein Team bilden. Es dauerte nicht lange, bis ich meinen Partner gefunden hatte, da er ziemlich laut zu protestieren anfing, als er meine Kette sah.

 

Estelle wartete bereits am nächsten Tag auf mich, an dem Ort, von dem aus wir die Schnitzeljagd beginnen sollten. Anscheinend sollten wir irgend einen blauen Kristall mitten im Wald finden. Wir hatten zwar eine Karte, die uns den Weg beschrieb, allerdings war mein Orientierungssinn nicht der beste und Karten hatte ich noch nie lesen können. Glücklicherweise war Estelle sehr viel besser darin als ich. Als ich ihn auf dem Weg fragte, was an dieser Prüfung so schwer sein soll, meinte er, dass es hierbei um Teambildung ging und man sich auf seinen Partner verlassen können muss. Ich wollte gerade fragen, weswegen man sich auf den anderen verlassen können muss, als sich meine Frage erübrigte. Wir standen plötzlich vor einer riesigen Schlucht. Für Estelle war es natürlich kein Problem darüber zu fliegen, ich allerdings hatte ja keine Flügel. Als ich schon sagen wollte, dass wir besser einen Umweg machen sollten, hob Estelle mich plötzlich hoch und flog los. „Man … kannst du nicht ein bisschen locker lassen?!“ Er klang ziemlich genervt. Ich jedoch war viel zu sehr damit beschäftigt, mich, dank meiner furchtbaren Höhenangst, an ihn zu krallen, anstatt auf seine Worte zu hören. Am anderen Ende der Schlucht ließ er mich wieder hinunter. Doch trotz dessen, dass ich wieder Boden unter den Füßen spürte, klammerte ich mich immer noch zitternd an ihn. „Hey …“ begann Estelle vorsichtig. „Hast du solche Angst vor dem Fliegen? Gestern bist du doch auch so toll geflogen. Sogar fast besser als ich.“ Mich nicht einmal darüber wundernd, dass er auf einmal zu fürsorglich war, schluchzte ich einfach irgendetwas vor mich hin. „Die … die Ringe waren aber auch nicht s – so hoch und ich konnte den Boden immerhin sehen … Wenn du mich nun losgelassen hättest …“ In dem Moment, in dem ich das aussprach, umarmte Estelle mich auf einmal und legte seinen Kopf auf meine Schulter. „Ich werde dich niemals loslassen … Ich werde dich immer beschützen.“ Ich verstand nicht ganz, was er damit meinte, da redete er auch schon wieder weiter. Diesmal etwas leiser. „Weißt du … ich war schon immer eifersüchtig auf Ciel … eigentlich wollte ich dein Schutzengel werden Yuki … Nur da ich noch Azubi bin, durfte ich das nicht und Ciel wurde dein Beschützer. Er war natürlich glücklich darüber, da auch er unbedingt dein Schutzengel sein wollte. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass auch ich Interesse an dir hatte …“ Während er das sagte, wurde er immer leiser. Irgendwann löste ich die Umarmung auf und lächelte ihn an. „Red' nicht so viel, Estelle. Wir haben noch eine Schnitzeljagd zu gewinnen … Partner.“ Bei dem letzten Wort drehte ich mich lächelnd um, nahm seine Hand und ging weiter.

 

Der Rest der Schnitzeljagd war ganz einfach gewesen. Wir hatten den Kristall schnell gefunden und auch Estelle wurde wieder fröhlicher. Nun saß ich in meinem Zimmer und wollte eigentlich gerade schlafen gehen. Als es jedoch an meiner Tür klopfte, stand ich noch einmal auf, um Ciel, den ich davor fand, zu öffnen. Ich hatte ohnehin vor, ihn noch etwas zu fragen. Schon als er mein Zimmer betrat, dachte ich kurz an meine Frage. Daraufhin blieb mein Gast plötzlich stehen. Er hatte meine Frage gehört. Ich blieb weiterhin hinter ihm stehen und wartete darauf, dass er mir antwortete. Kurz darauf drehte er sich langsam zu mir um und sah mich an. Was genau es war, was sich in seinen Augen widerspiegelte, konnte ich nicht sagen. Trauer? Oder Besorgnis? „Ja.“ Begann er seinen Satz. „Ja, ich wusste, dass auch Estelle dein Schutzengel sein wollte. Da er aber noch Azubi ist, wurde ich dein Beschützer Yuki.“ Das hatte Estelle mir auch gesagt. „Es tut mir wirklich leid, wenn du lieber ihn als deinen Schutzengel gehabt hättest …“ Nach diesen Worten fing ich an zu lachen. Auf den verwirrten Blick meines Gegenüber hin, musste ich noch ein wenig mehr kichern. „Ciel … ich könnte mir keinen wundervolleren Schutzengel als dich wünschen.“ Ich ging auf ihn zu und umarmte ihn. Er tat es mir gleich. „Danke …“ waren seine nächsten Worte. „Das macht mich wirklich glücklich, so etwas von dir zu hören … du musst wissen, ich wollte immer dein Schutzengel sein. Ich wollte immer für dich da sein.“ In diesem Moment kam es mir vor wie eine Art Déjà-vu.

 

Auch in dieser Nacht schlief Ciel wieder bei mir. Dieses Mal hielt er mich sogar noch etwas fester als für gewöhnlich. Für gewöhnlich. Da wurde mir bewusst, dass bisher kaum eine Nacht hier im Observatorium vergangen war, in der er nicht bei mir geschlafen hatte. Da ich jedoch auch nichts dagegen hatte, machte ich mir nicht weiter Gedanken darüber und schlief friedlich in seinen Armen ein.

 

Am nächsten Tag war diese Engelszeremonie. Wie auch immer man das hier nannte. Der Tag, an dem wir Azubis zu richtigen Engeln anerkannt wurden. Als ich den großen Saal betrat, waren schon fast alle da. Und auch fast alle wirkten ziemlich nervös. Ich selbst war da die Ruhe in Person. Nacheinander wurden wir vor zum Thron dieses Königs gerufen. Zum Schluss waren nur noch drei Stück übrig. Erst kam Armin an der Reihe, dann Estelle, und schließlich ich. Bei der Zeremonie, so hatte ich beobachtet, veränderten sich Kleidung und Flügel etwas. Die Flügel wurden größer und die Kleidung änderte sich je nach Person unterschiedlich. So hatte Armin zum Beispiel ein recht verspielt aussehenden weißen Anzug erhalten und Estelle einen weniger eleganten trotzdem sehr zu ihm passenden. Die Mädchen hatten meistens Kleider bekommen, wobei auch einige Hosen trugen. Nicht immer in weiß, es waren auch sehr knallige Farben wie rot, violett oder grün dabei.

 

Als ich vor trat, lächelte der König vor mir mich an. „Ein Mensch, der zu einem Engel wird. Ein wahrhaft glorreicher Tag in der Geschichte.“ Ich hob ihm meine linke Hand entgegen und er berührte mein Bracelange. Dann sagte er irgendeine seltsam klingende Formel auf und als er fertig war, senkte er seine Hand wieder und ich trat einen Schritt zurück, wie ich es bei den anderen beobachtet hatte. Daraufhin fing ich an hell zu leuchten. Ich schwebte einen Moment in der Luft und sank dann wieder sanft zu Boden. Als ich die Augen öffnete, sah ich in den Spiegel zu meiner rechten und erblickte zwei majestätisch in den Himmel gerichtete wunderschöne weiße Flügel. Ich senkte sie und sah mir meine Kleidung an. Nicht weiß, sondern grün. Schwarze Hotpants, ein grünes Top, zwei silberne Gürtel, schwarze Stiefel und ein paar Accessoires. Alles in allem sah ich ja ganz gut aus, wie ich fand. Auch die pinken Haare passten ganz gut dazu. Moment. Pinke Haare? Bei einigen anderen hatten sich Augen – und Haarfarbe ebenfalls verändert. Meine Augen jedoch hatten immer noch dasselbe grün wie zuvor. In dem Moment kam Armin fröhlich zu mir gelaufen und meinte mir etwas erröteten Wangen, dass ich toll aussehen würde. Ich bedankte mich und feierte im Anschluss noch eine Weile mit den anderen ehemaligen Azubis. Auf der Feier hatten mich einige gefragt, was ich jetzt machen würde. Da war mir auch wieder eingefallen, dass es ja drei verschiedene Möglichkeiten gab, die ein Engel tun konnte. Ich konnte entweder ein Schutzengel werden, mich hier im Observatorium um organisatorisches kümmern oder auf der Erde Exorzist werden. Da ich Babysitten nicht mochte, fiel das erste schon einmal weg. Außerdem wollte ich weiter mit Ciel und den anderen in Kontakt bleiben. Organisieren konnte ich zwar schon immer gut, allerdings reizte mich die dritte Wahl mehr. Dämonen auszutreiben war sicher interessant und auch hilfreich. Ciel hatte mir ja am Anfang erklärt, dass es bei dieser Wahl noch einige Unterthemen gab, wie zum Beispiel die Waffe, mit der wir kämpfen würden. Darum fragte ich jetzt auch genauer nach. Es gab da:

  • Knight: Welche mit Schwertern oder Pfeil und Bogen kämpften.

  • Dragoon: Welche mit Schusswaffen kämpften.

  • Tamer: Welche Dämonen beschwörten und mit ihnen kämpften.

  • Aria: Welche durch Zitate der Bibel den sogenannten „Todesvers“ eines Dämons aufsagten.

  • Und Doctor: Welche andere Exorzisten heilten.

Da ich es nicht einmal sehen konnte, wenn jemand mit einer Nadel gestochen wurde, fiel bei mir Doctor schon einmal weg. Aria war auch nicht mein Fall, da ich nicht das ganze Buch auswendig lernen wollte. Tamer war mir nicht geheuer, da ich nur äußerst ungern Dämonen beschwörte. Schusswaffen fand ich ebenfalls etwas unpraktisch, da man ja ständig das Magazin nachfüllen musste, wenn man es verschossen hatte, und praktisch ein ganzes Waffenarsenal mit sich herumtragen musste. Blieb also nur noch Knight. Mit Pfeil und Bogen wollte ich unbedingt mal wieder kämpfen. Das hatte ich vor ein paar Jahren schon mal ausprobiert. Und da ich wusste, dass ich darin auch recht gut war, fiel meine Entscheidung auf diese Waffe.

 

Als ich gerade zu Ciel ging, um ihm zu sagen, was ich machen würde, lief ich auf dem Weg zu seinem Zimmer direkt in ihn hinein. Meine Flügel hatte ich kleiner werden lassen, da sie ja recht schwer waren. Glücklicherweise konnte man seine Flügel als normaler Engel größer und kleiner ausfahren. Trotz dessen, taumelte ich ein Stück rückwärts, bevor Ciel mich auffing und sich entschuldigte. Dann meinte er, dass er sowieso mit mir reden wolle. Er schien ein wenig besorgt zu sein. Während ich mich fragte, weshalb er so aussah, gingen wir zusammen in sein Zimmer. Dort angekommen, nahm Ciel mich sofort wieder in den Arm und drückte mich an ihn. „Ciel … was ist denn los?“ Als Antwort drückte er mich nur noch ein wenig fester, ehe er von mir abließ und sich auf sein Bett setzte. Ich setzte mich neben ihn und sah ihn fragend an.

„Was wirst du machen?“ Das waren seine ersten Worte nach einer ganzen Weile. „Wirst du ein Schutzengel …? Oder wirst du hier im Observatorium bleiben? Oder Exorzist? Wenn du eines der letzten beiden nimmst, werde ich dafür sorgen, dass wir ein Team bilden können … Natürlich nur, wenn du das möchtest. Bei dem ersten …“ Als er das sagte, klang er fürchterlich traurig. Vermisste er mich etwa, obwohl ich noch hier neben ihm saß? „Ciel … ich möchte ein Exorzist werden. Würdest du mit mir ein Team bilden?“ Nach meinen Worten, hellte sich sein wunderschönes Gesicht sofort wieder auf. Währenddessen fragte ich mich, ob er wohl noch meine Gedanken lesen konnte, jetzt, nachdem ich ein Engel war. Ein kurzes Kichern zu meiner rechten verriet mir die Antwort. „Ja, das kann ich noch.“ Dies meinte er wieder mit einem seiner bezaubernden Lächeln, welche ich so an ihm liebte. Nachdem ich ihn gefragt hatte, mit was er als Exorzist kämpfen würde, meinte er, dass er Doctor und Dragoon wäre. Ich fand es gar nicht verwunderlich, dass er gleich zwei Dinge tat. Dabei fragte ich mich, ob es auch einen Schwachpunkt an Ciel gäbe. Als ich die Frage dachte, umarmte Ciel mich abermals und flüsterte mir etwas ins Ohr. „Ja, ich habe eine Schwäche … und das bist du.“

 

Nachdem ich diesmal bei ihm übernachtet und abermals in seinen Armen aufgewacht war, machte ich mich auf den Weg zu Armin und Estelle. Ich wollte die beiden Fragen, ob sie mit Ciel und mir ein Team bilden würden, da mir beide gesagt hatten, dass sie Exorzisten werden wollen und ein Exorzistenteam aus vier Mitgliedern bestand. Als ich meine beiden neuen Freunde gefunden hatte, stimmten beide sofort zu, wobei Estelle von Ciel weniger begeistert war, letztendlich dann aber doch zugestimmt hatte, mit der Begründung, dass er mich so immerhin nicht mit ihm alleine lassen würde. Daraufhin hatte Armin rote Wangen bekommen und seine mittlerweile hellblauen Haarsträhnen waren ihm über das Gesicht gefallen, als er Estelle einen Vortrag darüber gehalten hatte, dass man so etwas nicht sagen würde. Ich musste daraufhin allerdings lachen, als ich diese Szene sah.

 

Gleichwohl, dass wir nun ein Team gebildet hatten, durften wir alle vier erst einmal so etwas wie Urlaub machen. Die meisten Engel verbrachten ihre Ferien auf der Erde, da sie es dort sehr viel interessanter fanden. Darum machten auch mein Team und ich dort Ferien, da Armin und Estelle noch nie dort waren. Immerhin durfte ich das Land aussuchen. Und da kam für mich natürlich nur ein Land in Frage. Mein über alles geliebtes Japan. Ich selbst war auch noch nie da gewesen, sprach allerdings fließend japanisch und beschäftigte mich mit diesem Land schon seit meiner Kindheit. Auch hatte ich zwei Brieffreundinnen in Hiroshima, die ich leider nicht besuchen konnte, da es vermutlich etwas seltsam wäre, einfach mal eben dort aufzutauchen, wo ich doch eigentlich am anderen Ende der Welt wohnen sollte. Die beiden hatten mich allerdings diesen Sommer schon einmal besucht.

 

Armin, Estelle, Ciel und ich quartierten uns in einem Hotel in Tokyo ein. Das Reden übernahm ich, obwohl auch Ciel japanisch konnte, welcher allerdings nur die Rechnung übernahm. Armin war sofort völlig fasziniert von der ganzen Stadt, sodass er alle zwei Minuten fröhlich in das nächste Geschäft hüpfte. Estelle dagegen gab sich wie immer cool, wobei ich mir sicher war, dass auch ihm Japan gefiel. Selbst Ciel war von vielen Dingen beeindruckt. Aber am meisten mochte er wohl die japanische Küche. Als wir schließlich vollgestopft von Donburi und Takoyaki ein Restaurant wieder verließen, war es bereits Abend und wir gingen zurück in unser Hotel. Dort angekommen, teilten wir die beiden Schlafzimmer auf. Armin schlief mit Estelle in einem Zimmer und Ciel mit mir neben an. Während wir draußen herum liefen, mussten wir unsere Flügel natürlich verkleinern und verstecken. Jetzt jedoch konnte ich sie endlich wieder freilassen. Ich konnte verstehen, warum Ciel sie die meiste Zeit groß und offen hatte. Zudem sah er damit auch noch blendend aus. Als ich sein Lächeln auf meinen Gedanken hin sah, fiel mir wieder ein, dass er das ja gehört hatte. Ich wurde leicht rot und legte mich schnell in mein Bett. Ciel hatte zwar sein eigenes, legte sich jedoch trotzdem zu mir. Da es ein kleineres Bett war, als das im Observatorium, mussten wir näher beieinander liegen, was allerdings weder Ciel noch mich störte. Wir hatten ja schon vorher Arm in Arm zusammen geschlafen. Ich kam mir fast wie ein verliebtes Pärchen mit ihm zusammen vor. Ob er wohl etwas Ähnliches für mich empfand? Immerhin war er immer so zutraulich zu mir. Doch ich machte mir nicht weiter Gedanken darüber und schlief glücklich in seinen Armen ein.

 

Am nächsten Morgen wurde ich abermals von einem Kuss auf die Stirn zärtlich geweckt, ehe ich aufstand und missmutig die Vorhänge aufzog. Ich war einfach ein Morgenmuffel. Das war schon immer so. Bei dem Anblick, der sich mir jedoch bot, nachdem ich die Vorhänge beiseite gezogen hatte, fing ich an zu lächeln. Tokyo. Ich hatte schon immer davon geträumt hier her zu kommen. Ich liebte einfach alles an diesem Land. Die Kultur, die Traditionen, die Sprache, das ganze Leben hier. Ich war wirklich glücklich hierher gekommen zu sein. Ursprünglich hätten wir eigentlich nach Paris gehen sollen, welche Stadt ich im übrigen ebenfalls liebte, jedoch war einer aus unserem Team dezent dagegen gewesen. Estelle hatte sich strikt geweigert nach Frankreich zu gehen, was ich erst nicht ganz nachvollziehen konnte, bis mir einfiel, dass der Name 'Estelle' in unserer Welt ja ein Mädchenname war. Er wollte darum auf keinen Fall nach Paris gehen, was ich persönlich ja eher recht amüsant fand.

 

Am Mittag spazierten wir abermals ein wenig durch die Stadt, bis Armin uns schon wieder in irgend ein Geschäft ziehen wollte. Ich mochte seine fröhliche Art zwar, doch konnte ich die ganzen Süßigkeiten, die er dort kaufte nicht mehr sehen. Also entschuldigte ich mich vorsichtig und meinte, dass ich im nahegelegenen Park warten würde. Es war schön dort. Die Kirschblütenbäume standen gerade in voller Blüte und es kam einem vor als ob man durch einen roséfarbenen Regen lief, wenn die Blüten vom Wind um einen herum wehten. Da ich nur auf die Ästhetik der Bäume achtete, schenkte ich dem Weg natürlich keine Beachtung und rannte in jemanden hinein. Ungeschickt fiel ich zu Boden und riss mein Gegenüber gleich mit. Nachdem ich mich entschuldigt hatte, stand der Junge auf und streckte mir eine Hand entgegen. Dankend nahm ich sie an und entschuldigte mich noch einmal. Da bin ich ein mal in Japan und gleich passiert mir so etwas Peinliches. Das konnte auch nur mir passieren. „Macht doch nichts.“ meinte er nur und lächelte mich an. Er sah nicht aus wie ein Japaner. Zwar hatte er dunkle Haare und Augen, doch sah er eher europäischer Abstammung aus. Er war auch dunkel gekleidet. Schwarz und dunkelrot. Das passte auch zu ihm. Ach, worüber machte ich mir hier Gedanken? Ich schüttelte den Kopf und wurde von seinem nächsten Satz vollends aus meinen Gedanken gerissen. „Ich kann wirklich nicht verstehen, wie dein Freund eine so hübsche junge Dame hier alleine lassen kann.“ Kein besonders origineller Anmachspruch. Doch er sagte das so charmant, dass ich kaum eine Antwort herausbrachte, außer, dass ich keinen Freund hätte. „Yuki!“ hörte ich eine Stimme hinter mir rufen und erkannte Estelle auf uns zukommen. Der Junge vor mir grinste meinen Freund an, während dieser ihm einen äußerst missbilligenden Blick zuwarf und einen Arm um meine Schulter legte als er neben uns stand. Der Unbekannte lächelte nur. „Yuki? Du siehst gar nicht aus wie eine Japanerin. Und meintest du nicht eben, dass du keinen Freund hättest?“ Mit einem weiteren Lächeln sah er Estelle an, welcher vor Eifersucht kurz davor war auf ihn loszugehen. Und ich dachte immer, dass Engel nur positive Seiten hätten. Tja. Ich antwortete dem Jungen, dass ich weder eine Japanerin sei, noch dass Estelle mein Freund wäre. Daraufhin streifte ich auch seinen Arm von meinen Schultern und deutete ihm mit einem Blick, dass er keinen Grund hatte eifersüchtig zu sein. Doch Estelle wurde aus irgendwelchen Gründen nur noch wütender. Was hatte er denn gegen den Jungen? Er starrte ihn an als wäre er ein Dämon oder so. Da fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste woran man einen Dämonen erkannte. Konnten Engel das spüren? Bei Gelegenheit würde ich fragen. Das erübrigte sich allerdings, was sich gleich herausstellen sollte. Estelle ging geradewegs auf den Jungen zu und ehe ich reagieren konnte, zog er ihm seine Jacke aus, sodass man freien Blick auf ein Tattoo auf seinem rechten Oberarm hatte. Zunächst geschockt darüber, dass Estelle so brutal sein konnte, stand ich einfach nur daneben und sah zu, wie der andere Junge ihn anbrüllte und sie nun gegenseitig aufeinander losgingen. Irgendwann war ich wieder soweit klar, dass ich mich dazwischenwerfen konnte und fragte Estelle was das bitte sollte. „Sie dir sein Tattoo an! Er ist ein Dämon. Dieses Tattoo haben alle Dämonen irgendwo am Körper.“ Immer noch leicht verwirrt sah ich mir den Arm des Jungen an, um festzustellen, dass sein Tattoo ungewöhnlich rötlich leuchtete. Nachdem ich die Lage nun auch endlich verstanden hatte, trat ich vorsichtig einen Schritt zurück und starrte ihn nur an. Estelle stellte sich sofort vor mich und fing schon wieder an sich mit dem Jungen prügeln. Da wir hier ja eigentlich im Urlaub waren, hatten wir natürlich keinerlei Waffen dabei. Dieses Problem sollte ich definitiv mal im Observatorium ansprechen. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Estelle schubste seinen Gegenüber, dieser rutschte aus und fiel die Wiese herunter in den Fluss, welcher durch den Park floss. Instinktiv rannte ich zu ihm herunter, um mich zu vergewissern, ob er verletzt war. Er saß vor mir im Wasser und fluchte, während ich daneben stehen blieb. „Alles okay?“ Das war vermutlich nicht die richtige Reaktion gegenüber einem Wesen, welches eigentlich mein Feind war, aber naja. „Was …?“ fragte der Junge langsam, hob den Kopf und sah mich verwirrt an. „Ein Engel, der mir helfen möchte?“ Eigentlich fand ich ihn so sitzend richtig niedlich und musste deswegen lächeln als ich ihm eine Hand entgegenstreckte. „Du hast mir schließlich vorhin auch geholfen. Das ist nur meine Revange. Außerdem wurde ich so erzogen, dass man jemandem hilft, wenn er Hilfe braucht.“ Immer noch erstaunt nahm er meine Hand und ließ sich von mir helfen. Estelle dagegen stand völlig fassungslos am Ufer und schüttelte den Kopf. Wieder oben bei ihm angekommen fluchte der Junge noch einmal darüber, dass er nun komplett nass war, doch im nächsten Moment sah ich schon, wie er anfing zu glühen und beinah Feuer mit seinem bloßem Körper entfachte. Fasziniert sah ich dabei zu, wie er sich selbst trocknete, sich noch einmal zu mir umdrehte, um mich anzugrinsen und sich anschließend in einer schwarzen Rauchwolke auflöste. Einfach so. „Yuki!“ Ciels Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich sah ihn und Armin nun auch auf uns zukommen. Ihre Besorgnis war nicht zu übersehen, doch ich versicherte ihnen, dass alles in Ordnung sei. Estelle war da zwar anderer Meinung, sagte aber auch nicht mehr allzu viel, da der Typ ja nun verschwunden war.

 

Ein paar Stunden später hatten sich alle soweit wieder beruhigt und wir schlenderten nun wieder gemütlich durch die Straßen. Ciel hielt meine Hand. Sie war so schön warm … Trotzdem bekam ich bei seiner bloßen Berührung schon eine Gänsehaut. Es faszinierte mich wirklich, dass er meine Gedanken so professionell ignorierte und nichts dazu sagte. Dabei müsste er mittlerweile sicher wissen, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Peinlich berührt über diesen Gedanken ließ ich mich von ihm zu einem Laden ziehen, in den Estelle und Armin unbedingt wollten. Der Junge hatte also inzwischen auch schon Estelle mit seinem Kaufrausch angesteckt. Seufzend blieb ich vor dem Laden stehen und sah in Ciels lächelndes Gesicht. „Wenn du möchtest, kannst du ja eben hier draußen warten. Ich versuche sie so schnell es geht wieder da raus zu holen, okay?“ Das war unglaublich nett von Ciel. Ich nickte, fühlte mich dennoch ein wenig schlecht, da ich den beiden Jungs ja nicht den Spaß verderben wollte. Wegen mir konnten sie ruhig den ganzen Tag shoppen gehen. Nur warum ich mit? So wartete ich also draußen und sah mich ein wenig um. Die Straße, in der wir waren, war so überfüllt, dass ich ein paar Meter weiter ging. Dort war ein kleineres Gebäude, direkt neben einer Wiese. Hier war nicht so viel los. Eigentlich gar nichts. Sehr merkwürdig. Warum waren alle so im Kaufrausch, anstatt sich an der Natur zu erfreuen? Meine Güte, ich klang schon fast so als ob mich die Natur großartig interessieren würde … Natürlich war sie wunderschön und auch relevant, aber da ich auf dem Land aufgewachsen war, hatte ich wahrlich schon genug Natur um mich herum gehabt. Irgendwann wurde es langweilig. Immer noch in Gedanken versunken, bemerkte ich den Jungen erst als er mir von hinten auf die Schulter tippte. Ich zuckte kurz zusammen, drehte mich dann um und starrte ihn ungläubig an. Der Dämon von vorhin. War er mir gefolgt? Warum war er wieder da? Er hielt mir einen Finger vor die Lippen, um mir zu signalisieren, dass ich ruhig sein sollte. Ich brachte sowieso keinen Ton heraus. Viel mehr überlegte ich, was ich tun sollte. Den Teil, wie man gegen Dämonen kämpfte, hatte ich in der Ausbildung leider verpasst. Ursprünglich war geplant gewesen, dass meine drei Kameraden mir das nach unserem Urlaub beibrachten. Der Junge kam mir noch ein Stückchen näher und hielt mich mit einer Hand so an der Hüfte fest, dass ich nicht zurückweichen konnte. Er sah mir direkt in die Augen. Ich versuchte tapfer zu sein und nicht wegzuschauen. Dafür fand ich meine Sprache wieder und fragte warum er mich verfolgte. Er grinste mich nur an. „Weil du mir gefällst.“ Wie bitte? Ungläubig starrte ich den Jungen an, nicht fähig darauf zu reagieren. Irgendwann fing er an zu kichern. „Ich habe noch nie einen Engel getroffen, der mir geholfen hat. Du bist wirklich süß.“ Immer noch stand ich nur verdutzt da und hoffte, dass Ciel oder Estelle um die Ecke kommen und mir helfen würden. Selbst Armin wäre mir Recht. Irgendwer … Nach einer Weile leckte der Junge sich über die Lippen und versuchte mich zu küssen. Augenblicklich stieg mein Adrenalinspiegel an und ich stieß ihn grob von mir weg. Stolpernd taumelte ich ein paar Schritte zurück und hielt kurz den Atem an. Mein Herz schlug wie wild und ich wollte mich am liebsten umdrehen und wegrennen. Aber dann hätte ich in meiner Position als Engel wohl versagt, oder nicht? Ich musste mich so etwas doch stellen können. Der Junge fing auf meine Reaktion an nur wieder zu lachen. Er packte mich beim Handgelenk, grinste mich an und ich spürte auf einmal eine furchtbare Kälte um uns herum. Und sah schwarzen Nebel an unseren Füßen?! Nein! Letztes Mal war er nach diesem Phänomen einfach verschwunden. Was, wenn er mich mitnehmen wollte? „Ich zeige dir jetzt meine Welt, Yuki …“ Noch ehe ich reagieren konnte, wurde der Nebel um uns herum dichter und mir wurde so schwindelig, dass ich mich halb ohnmächtig werdend in seine Arme fallen ließ …

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.06.2016

Alle Rechte vorbehalten

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Für Seri

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